"Die Morgenlandfahrt" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)IDa es mir beschieden war, etwas grosses mitzuerleben, da ich das Glück gehabt habe, dem »Bunde« anzugehören und einer der Teilnehmer jener einzigartigen Reise sein zu dürfen, deren Wunder damals wie ein Meteor aufstrahlte und die nachher so wunderlich rasch in Vergessenheit, ja in Verruf geriet, habe ich mich entschlossen, den Versuch einer kurzen Beschreibung dieser unerhörten Reise zu wagen: einer Reise, wie sie seit den Tagen Hüons und des Rasenden Roland von Menschen nicht mehr gewagt worden war bis in unsre merkwürdige Zeit: die trübe, verzweifelte und doch so fruchtbare Zeit nach dem großen Kriege. Über die Schwierigkeiten meines Versuches glaube ich mich keiner Täuschung hinzugeben; sie sind sehr groß, und sie sind nicht nur subjektiver Natur, obwohl schon diese beträchtlich genug wären. Denn nicht nur besitze ich heute aus der Zeit der Reise keinerlei Erinnerungsstücke mehr, keine Andenken, keine Dokumente, keine Tagebücher — nein, es ist mir in den seither verflossenen schweren Jahren des Mißgeschicks, der Krankheit und tiefen Heimsuchung auch ein großer Teil der Erinnerungen verlorengegangen; infolge von Schicksalsschlägen und immer neuen Entmutigungen ist sowohl mein Gedächtnis selbst wie auch mein Vertrauen in dies früher so treue Gedächtnis beschämend schwach geworden. Aber, von diesen rein persönlichen Nöten abgesehen, sind mir zum Teil auch durch mein einstiges Bundesgelübde die Hände gebunden; denn dies Gelübde erlaubt mir zwar die schrankenlose Mitteilung meiner persönlichen Erlebnisse, verbietet aber jede Enthüllung über das Bundesgeheimnis selbst. Und wenn auch seit Jahr und Tag der Bund keine sichtbare Existenz mehr zu haben scheint und ich keines seiner Mitglieder wiedergesehen habe, so würde doch keine Verlockung und keine Bedrohung der Welt mich dazu bringen können, das Gelübde zu brechen. Im Gegenteil: würde ich heut oder morgen vor ein Kriegsgericht und vor die Wahl gestellt, mich töten zu lassen oder das Geheimnis des Bundes zu verraten, o mit welch glühender Freude würde ich mein Bundesgelübde durch den Tod besiegeln! Es sei hier nebenbei bemerkt: Seit dem Reisetagebuch des Grafen Keyserling sind mehrmals Bücher erschienen, deren Autoren teils unbewußt, teils aber auch mit Absicht den Anschein erweckten, als seien sie Bundesbrüder und hätten an der Morgenlandreise teilgenommen. Sogar die abenteuerlichen Reiseberichte von Ossendowski gerieten gelegentlich in diesen ehrenden Verdacht. Aber sie alle haben mit dem Bunde und mit unsrer Morgenlandfahrt nicht das mindeste zu tun, oder doch im besten Falle nicht mehr, als die Prediger kleiner pietistischer Sekten mit dem Heiland, den Aposteln und dem Heiligen Geiste zu tun haben, auf deren spezielle Gunst und Mitgliedschaft sie sich berufen. Mag Graf Keyserling wirklich mit Komfort die Welt umschifft und mag Ossendowski wirklich die von ihm beschriebenen Länder durchquert haben, so waren ihre Reisen doch keine Wunder und haben keine neuen Gebiete entdeckt, während gewisse Etappen unsrer Morgenlandfahrt, indem sie auf alle die banalen Hilfsmittel moderner Dutzendreisen, auf Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraph, Auto, Flugzeug und so weiter verzichteten, wirklich ins Heroische und Magische durchgestoßen sind. Es war ja damals kurz nach dem Weltkriege, und namentlich für das Denken der besiegten Völker, ein außerordentlicher Zustand von Unwirklichkeit, von Bereitschaft für das Überwirkliche gegeben, wenn auch nur an ganz wenigen Punkten tatsächlich Grenzen durchbrochen und Vorstöße in das Reich einer kommenden Psychokratie getan wurden. Unsre Fahrt damals durch das Mondmeer nach Famagusta, unter der Führung Albertus des Großen, oder etwa dieEntdeckung der Schmetterlingsinsel, zwölf Linien hinter Zipangu, oder die erhabene Bundesfeier am Grabe Rüdigers — das sind Taten und Erlebnisse, wie sie Menschen unserer Zeit und Zone nur dies eine Mal vergönnt waren. Schon hier, wie ich sehe, stoße ich auf eins der größten Hindernisse meines Berichtes. Es wäre die Ebene, auf welcher unsere Taten sich vollzogen, es wäre die seelische Erlebnisschicht, welcher sie angehören, dem Leser verhältnismäßig leicht zugänglich zu machen, wenn es erlaubt wäre, ihn ins Innere des Bundesgeheimnisses zu führen. So aber wird vieles, wird vielleicht alles ihm unglaublich scheinen und unfaßbar bleiben. Allein das Paradoxe muß immer wieder gewagt, das an sich Unmögliche muß immer neu unternommen werden. Ich halte es mit Siddhartha, unsrem weisen Freund aus dem Osten, der einmal gesagt hat: »Die Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch — ja, und auch das ist gut, auch damit bin ich einverstanden, daß das, was eines Menschen Schatz und Weisheit ist, dem ändern immer wie Narrheit klingt.« Auch haben schon vor Jahrhunderten die Mitglieder und die Geschichtsschreiber unsres Bundes diese Schwierigkeit gekannt und ihr tapfer die Stirn geboten, und einer von ihnen, einer der Größten, hat sich in einem unsterblichen Verse so darüber geäußert: Diese »Unerfahrenheit« hat es denn auch zustande gebracht, daß heute in der Öffentlichkeit unsre Reise, welche einst Tausende bis zur Ekstase erregt hat, nicht nur vergessen, sondern daß ihr Gedächtnis mit einem richtigen Tabu belegt ist. Nun, die Geschichte ist ja reich an Beispielen ähnlicher Art. Die ganze Weltgeschichte scheint mir oft nichts andres zu sein als ein Bilderbuch, das die heftigste und blindeste Sehnsucht der Menschen spiegelt: die Sehnsucht nach Vergessen. Tilgt da nicht jede Generation mit den Mitteln des Verbotes, des Totschweigens, des Spottes immer gerade das aus, was der vorigen Generation das Wichtigste schien? Haben wir es nicht eben erst erlebt, daß ein ungeheurer, jahrelanger, grauenhafter Krieg von ganzen Völkern jahrelang vergessen, geleugnet, verdrängt und weggezaubert worden ist und daß diese Völker jetzt, wo sie sich ein klein wenig ausgeruht haben, mit Hilfe spannender Kriegsromane sich dessen wieder zu erinnern suchen, was sie vor einigen Jahren selber angerichtet und erlitten haben? So wird auch für die Taten und Leiden unsres Bundes, welche heut vergessen oder der Welt ein Gelächter sind, der Tag der Wiederentdeckung kommen, und meine Aufzeichnungen sollen dazu ein weniges beitragen. Zu den Besonderheiten der Morgenlandfahrt gehörte unter ändern auch diese, daß zwar der Bund mit dieser Reise ganz bestimmte, sehr hohe Ziele anstrebte (sie gehören der Zone des Geheimnisses an, sind also nicht mitteilbar), daß aber jeder einzelne Teilnehmer auch seine privaten Reiseziele haben konnte, ja haben mußte, denn es wurde keiner mitgenommen, den nicht solche privaten Ziele antrieben, und jeder einzelne von uns, während er gemeinsamen Idealen und Zielen zu folgen und unter einer gemeinsamen Fahne zu kämpfen schien, trug als innerste Kraft und letzten Trost seinen eigenen, törichten Kindertraum im Herzen mit sich. Was nun mein eigenes Reiseziel betrifft, um das ich vor meiner Aufnahme in den Bund vom Hohen Stuhl befragt wurde, so war es ein einfaches, während manche andre Bundesbrüder sich Ziele gesetzt hatten, welche ich zwar wohl zu achten, nicht aber ganz zu begreifen vermochte. Einer zum Beispiel war Schatzsucher und hatte nichts andres im Sinn als die Gewinnung eines hohen Schatzes, den er »Tao« nannte, ein andrer aber hatte sich gar in den Kopf gesetzt, eine gewisse Schlange fangen zu wollen, welcher er Zauberkräfte zuschrieb und die er Kundalini nannte. Mein eigenes Reise- und Lebensziel hingegen, das mir schon seit den späteren Knabenjahren in Träumen vorgeschwebt hatte, war dieses: die schöne Prinzessin Fatme zu sehen und womöglich ihre Liebe zu gewinnen. Zu jener Zeit, da ich dem Bunde beitreten zu dürfen das Glück hatte, nämlich unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges, war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches. Erschüttert vom Kriege, verzweifelt durch Not und Hunger, tief enttäuscht durch die anscheinende Nutzlosigkeit all der geleisteten Opfer an Blut und Gut, war unser Volk damals manchen Hirngespinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele zugänglich, es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen, es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder hinzuweisen schien; auch eine Hinneigung zu indischen, altpersischen und anderen östlichen Geheimnissen und Kulten war damals weitverbreitet, und all dies hat dazu geführt, daß auch unser Bund, der uralte, den meisten als eines der vielen hastig aufgeblühten Modegewächse erschien und daß er nach einigen Jahren mit ihnen teils in Vergessenheit, teils in Verachtung und Verruf geraten ist. Die Treugebliebenen unter seinen Jüngern kann dies nicht anfechten. Wie wohl erinnere ich mich der Stunde, da ich nach Ablauf meines Probejahres mich dem Hohen Stuhl vorstellte, vom Sprecher in den Plan der Morgenlandfahrt eingeweiht und, als ich mich diesem Plane mit Leib und Leben zur Verfügung stellte, freundlich danach befragt wurde, was es denn sei, das ich mir von dieser Fahrt ins Märchenreich verspreche! Errötend zwar, aber freimütig und ohne Zögern bekannte ich mich vor den versammelten Oberen zu meinem Herzenswunsche, die Prinzessin Fatme mit meinen Augen sehen zu dürfen. Und der Sprecher, die Gebärde der Verhüllten dolmetschend, legte mir gütig die Hand auf den Scheitel, segnete mich und sprach die Formel, welche meine Aufnahme als Bruder des Bundes bekräftigte. »Anima pia«, redete er mich an und ermahnte mich zur Treue im Glauben, zum Heldenmut in Gefahr, zur brüderlichen Liebe. Während des Probejahres wohlvorbereitet, leistete ich den Eid, schwor der Welt und ihrem Irrglauben ab und bekam den Bundesring an den Finger gesteckt, mit jenen Ringworten aus einem der schönsten Kapitel unsrer Bundesgeschichte: Es wurde mir auch zu meiner Freude gleich bei der Aufnahme eine der Erleuchtungen zuteil, wie sie uns Novizen in Aussicht gestellt waren. Kaum nämlich hatte ich, den Weisungen der Oberen folgend, mich einer der Zehnergruppen angeschlossen, welche überall im Lande unterwegs waren, um zum Bundeszuge zu stoßen, so wurde eins der Geheimnisse unsres Zuges mir alsbald durchdringend klar. Ich erkannte: wohl hatte ich mich einer Pilgerfahrt nach dem Morgenlande angeschlossen, einer bestimmten und einmaligen Pilgerfahrt dem Anscheine nach — aber in Wirklichkeit, im höheren und eigentlichen Sinne, war dieser Zug zum Morgenlande nicht bloß der meine und nicht bloß dieser gegenwärtige, sondern es strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts, unaufhörlich und ewig, er war immerdar durch alle Jahrhunderte unterwegs, dem Licht und dem Wunder entgegen, und jeder von uns Brüdern, jede unsrer Gruppen, ja unser ganzes Heer und seine große Heerfahrt war nur eine Welle im ewigen Strom der Seelen, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Strahl, und zugleich erwachte in meinem Herzen ein Wort, das ich während meines Novizenjahres gelernt und das mir immer wunderbar Wohlgefallen hatte, ohne daß ich es doch eigentlich verstanden hätte, das Wort des Dichters Novalis: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.« Inzwischen hatte unsre Gruppe die Wanderung angetreten, bald trafen wir mit anderen Gruppen zusammen, und es erfüllte und beglückte uns mehr und mehr das Gefühl der Einigkeit und des gemeinsamen Zieles. Den Vorschriften getreu, lebten wir als Pilger und machten von keiner jener Einrichtungen Gebrauch, welche einer von Geld, Zahl und Zeit betörten Welt entstammen und das Leben seines Inhaltes entle eren; vor allem gehörten dazu Maschinen, wie Eisenbahnen, Uhren und dergleichen. Ein andrer unsrer einmütig eingehaltenen Grundsätze gebot uns, alle Stätten und Erinnerungen aufzusuchen und zu verehren, welche mit der uralten Geschichte unsres Bundes und seines Glaubens zusammenhingen. Alle frommen Orte und Denkmäler, Kirchen, ehrwürdige Grabstätten, welche irgend am Wege lagen, wurden besucht und gefeiert, die Kapellen und Altäre mit Blumen geschmückt, die Ruinen mit Liedern oder stiller Betrachtung geehrt, der Toten mit Musik und Gebeten gedacht. Nicht selten wurden wir dabei von den Ungläubigen verspottet und gestört, aber es geschah auch häufig genug, daß Prie — ster uns segneten und zu Gaste luden, daß Kinder sich uns begeistert anschlössen, unsre Lieder lernten, uns nur mit Tränen weiterziehen sahen, daß ein alter Mann uns vergessene Denkmale der Vergangenheit zeigte oder eine Sage seiner Gegend berichtete, daß Jünglinge eine Strecke Weges mit uns gingen und in den Bund aufgenommen zu werden begehrten. Diesen wurde Rat erteilt und die ersten Gebräuche und Übungen des Noviziates mitgeteilt. Es geschahen die ersten Wunder, teils vor unsern sehenden Augen, teils waren Berichte und Legenden von ihnen plötzlich da. Eines Tages, ich war noch ganz Neuling, sprach urplötzlich jedermann davon, daß im Zelt unsrer Führer der Riese Agramant zu Gaste sei und die Führer zu überreden suche, den Weg über Afrika zu nehmen, um dort einige Bundesbrüder aus maurischer Gefangenschaft zu befreien. Ein andres Mal wurde das Hutzelmännlein gesehen, der Pechschwitzer, der Tröster, und man vermutete, unsre Wanderung werde sich gegen den Blautopf richten. Die erste wunderhafte Erscheinung aber, die ich mit eigenen Augen sah, war diese: Wir hatten bei einer halbverfallenen Kapelle im Oberamt Spaichendorf Andacht und Rast gehalten, an die einzige unbeschädigte Mauer der Kapelle war ein riesengroßer heiliger Christoffer gemalt, auf seiner Schulter saß klein und vor Alter halbvergangen das Erlöserkind. Die Führer, wie sie es zuweilen taten, schlugen nicht einfach den Weg ein, der uns weiterführen sollte, sondern forderten uns alle auf, unsre Meinung darüber zu sagen, denn die Kapelle lag an einem dreifachen Kreuzweg, und wir hatten die Wahl. Nur wenige von uns äußerten einen Wunsch oder Rat, einer aber deutete nach links hinüber und forderte uns eindringlich auf, diesen Weg zu wählen. Wir schwiegen nun und warteten auf den Entscheid der Führer, da hob der heilige Christoffer an der Wand seinen Arm mit dem langen groben Stabe und deutete dorthin, nach links, wohin unser Bruder strebte. Wir sahen es alle, schweigend, und schweigend wendeten die Führer sich nach links und gingen diesen Weg, und wir folgten mit der innigsten Freude. Wir waren noch nicht lange in Schwaben unterwegs, da machte sich eine Macht bemerkbar, an welche wir nicht gedacht hatten und deren Einfluß wir längere Zeit stark zu spüren bekamen, ohne doch zu wissen, ob diese Macht eine freundliche oder feindliche bedeute. Es war die Macht der Kronenwächter, welche in jenem Lande seit alters das Andenken und Erbe der Hohenstaufer bewahren. Ich weiß nicht, ob unsre Führer mehr darüber wußten und Weisungen hatten. Ich weiß nur, daß uns von jener Seite mehrmals Ermunterungen oder Warnungen zugekommen sind, so auf jenem Hügel am Wege nach Bopfingen, wo ein eisgrauer Geharnischter uns entgegentrat, bei geschlossenen Augen den greisen Kopf schüttelte und alsbald ohne Spur wieder verschwunden war. Unsre Führer nahmen die Warnung an, wir kehrten auf der Stelle um und haben Bopfingen nicht zu sehen bekommen. Dagegen geschah es in der Nähe von Urach, daß ein Abgesandter der Kronenwächter, wie aus dem Boden gewachsen, mitten im Führerzelt erschien und die Führer mit Versprechungen und Drohungen bestimmen wollte, unsern Zug in den Dienst der Staufer zu stellen und namentlich die Eroberung Siziliens vorzubereiten. Er soll, als die Führer sich dieser Gefolgschaft entschieden weigerten, über den Bund und über unsre Heerfahrt einen furchtbaren Fluch gesprochen haben. Doch berichte ich da nur, was eben unter uns darüber geflüstert worden ist; die Führer selbst haben kein Wort darüber geäußert. Immerhin scheint es möglich, daß unsre schwankenden Beziehungen zu den Kronenwächtern es waren, welche damals unsren Bund eine Zeitlang in den unverdienten Ruf brachten, ein Geheimbund zur Wiederaufrichtung der Monarchie zu sein. Einmal habe ich es auch miterleben müssen, daß einer meiner Kameraden reuig wurde, sein Gelübde mit Füßen trat und in den Unglauben zurückfiel. Es war ein junger Mensch, den ich recht gern gemocht hatte. Der persönliche Grund, warum er mit nach dem Morgenlande zog, war sein Wunsch, den Sarg des Propheten Mohammed zu sehen, von welchem er hatte sagen hören, daß er durch Zauber frei in der Luft schwebe. In einem jener schwäbischen oder alemannischen Städtchen, wo wir uns einige Tage aufhielten, weil eine Opposition von Saturn und Mond unsern Weitermarsch hemmte, traf dieser Unglückliche, der schon seit einer Weile traurig und unfrei aussah, einen seiner ehemaligen Lehrer an, dem er von seinen Schuljahren her anhänglich geblieben war; und diesem Lehrer gelang es, den Jüngling unsere Sache wieder in jenem Lichte sehen zu lassen, in welchem sie den Unglä ubigen erscheint. Der arme Mensch kam von einem Besuche bei diesem Lehrer zurück zu unsrem Lager, in schrecklicher Erregung, mit verzerrtem Gesicht, er schlug Lärm vor dem Führerzelt, und als der Sprecher heraustrat, schrie er diesen zornig an: er habe es satt, diesen Narrenzug mitzumachen, der uns niemals nach dem Orient bringen werde, er habe es satt, wegen dummer astrologischer Bedenken tagelang die Reise zu unterbrechen, er habe den Müßiggang, die kindischen Umzüge, die Blumenfeste, die Wichtigtuerei mit Magie, das Durcheinanderwerfen von Leben und Dichtung — all das habe er übersatt, er werfe den Führern seinen Ring vor die Füße und nehme Abschied, um mit der bewährten Eisenbahn in seine Heimat und an seine nützliche Arbeit zurückzukehren. Es war ein häßlicher und kläglicher Anblick, uns zog sich das Herz zusammen vor Scham und zugleich vor Mitleid mit dem Verblendeten. Der Sprecher hörte ihn freundlich an und bückte sich lächelnd nach dem weggeworfenen Ring und sagte mit einer Stimme, deren heitere Ruhe den Stürmer beschämen mußte: »Du hast Abschied genommen von uns und wirst also zur Eisenbahn, zur Vernunft und zur nützlichen Arbeit zurückkehren. Du hast Abschied genommen vom Bund, Abschied vom Zuge nach Osten, Abschied von der Magie, von den Blumenfesten, von der Poesie. Du bist frei, du bist von deinem Gelübde entbunden.« »Auch von der Schweigepflicht?« rief heftig der Abtrünnige. »Auch von der Schweigepflicht«, gab der Sprecher Antwort. »Erinnere dich: du hast geschworen, über das Geheimnis des Bundes vor den Ungläubigen zu schweigen. Da du, wie wir sehen, das Geheimnis vergessen hast, wirst du es niemand mitteilen können.« »Vergessen hätte ich etwas? Ich habe nichts vergessen! « rief der Jüngling, war aber unsicher geworden, und als der Sprecher ihm den Rücken kehrte und sich ins Zelt zurückzog, lief er plötzlich rasch davon. Er tat uns leid, doch waren jene Tage so gedrängt voll von Erlebnissen, daß ich ihn merkwürdig schnell vergaß. Nun aber geschah es eine Weile später, als wohl schon keiner von uns mehr an ihn dachte, daß wir in mehreren Dörfern und Städten, durch die wir zogen, die Einwohner von ebendiesem Jüngling erzählen hörten. Es sei ein junger Mensch dagewesen (und sie beschrieben ihn genau und nannten seinen Namen), der sei überall auf der Suche nach uns. Erst habe er erzählt, er gehöre zu uns und sei auf dem Marsch zurückgeblieben und verirrt, dann aber habe er zu weinen begonnen und habe berichtet, er sei uns untreu geworden und entlaufen, jetzt aber sehe er, daß er außerhalb des Bundes nicht mehr leben könne, er wolle und müsse uns rinden, um den Führern zu Füßen zu fallen und ihre Verzeihung zu erflehen. Da und dort und immer wie — der wurde uns diese Geschichte erzählt; wo wir hinkamen, da war der Arme eben gewesen. Wir fragten den Sprecher, was er davon halte und was daraus werden solle. »Ich glaube nicht, daß er uns finden wird«, sagte der Sprecher kurz. Und er fand uns nicht, wir sahen ihn nicht wieder. Einst, als einer der Führer mich in ein vertrauliches Gespräch gezogen hatte, faßte ich Mut und fragte ihn, wie das nun mit diesem abtrünnigen Bruder sei. Er sei doch reuig und sei auf der Suche nach uns, sagte ich, man müsse ihm doch helfen, seinen Fehler wieder gutzumachen, gewiß werde er künftig der treueste Bundesbruder sein. Der Führer meinte: »Es wird uns eine Freude sein, wenn er zurückfindet. Erleichtern können wir es ihm nicht. Er hat es sich schwer gemacht, den Glauben wiederzufinden, er wird, so fürchte ich, uns nicht sehen und erkennen, auch wenn wir dicht an ihm vorüberziehen. Er ist blind geworden. Die Reue allein hilft nichts, man kann die Gnade nicht durch Reue erkaufen, man kann sie überhaupt nicht erkaufen. Es ist schon vielen ähnlich gegangen, große und berühmte Männer sind Schicksalsbrüder dieses Jünglings gewesen. Einmal in der Jungend hat das Licht ihnen geleuchtet, einmal wurden sie sehend und folgten dem Stern, aber es kam die Vernunft und der Spott der Welt, es kam Kleinmut, es kamen scheinbare Mißerfolge, es kam Müdigkeit und Enttäuschung, und so haben sie sich wieder verloren, sind wieder blind geworden. Manche haben zeitlebens immer und immer wieder nach uns gesucht, uns aber nicht mehr finden können, und haben dann in der Welt gelehrt, unser Bund sei nur eine hübsche Sage, durch welche man sich nicht dürfe verführen lassen. Andre sind heftige Feinde geworden und haben dem Bund jede Schmähung und jeden Schaden angetan, der ihnen möglich war.« Wunderbar festliche Tage waren es jedesmal, wenn wir auf unsrem Zuge mit ändern Teilen des Bundesheeres zusammentrafen, wir bildeten dann zuweilen ein Heerlager von Hunderten, ja von Tausenden. Der Zug nämlich verlief nicht in einer festen Ordnung, so daß alle Teilnehmer in mehr oder weniger geschlossenen Heersäulen, alle in gleicher Richtung, gezogen wären. Vielmehr waren zahllose Gruppen gleichzeitig unterwegs, jede ihren Führern und ihren Sternen folgend, jede stets bereit, sich in eine größere Einheit aufzulösen und eine Weile ihr anzugehören, aber nicht minder bereit, stets wieder vereinzelt weiterzuziehen. Mancher zog auch ganz allein seines Weges, auch ich bin zuzeiten allein marschiert, wenn irgendein Zeichen oder Ruf mich auf eigene Wege lockte. Ich erinnere mich einer auserlesenen kleinen Gruppe, mit welcher wir einige Tage gemeinsam marschierten und lagerten; diese Gruppe hatte es auf sich genommen, die in Afrika gefangenliegenden Bundesbrüder und die Prinzessin Isabella aus den Händen der Mauren zu befreien. Von ihnen hieß es, sie besäßen das Hörn des Hüon, und unter ihnen waren der mir befreundete Dichter Lauscher, der Maler Klingsor und der Maler Paul Klee; sie sprachen von nichts als von Afrika und der gefangenen Prinzessin, und ihre Bibel war das Buch von den Taten Don Quixotes, dem zu Ehren sie ihren Weg über Spanien zu nehmen dachten. Schön war es jedesmal, einer solchen Freundesgruppe zu begegnen, ihren Festen und Andachten beizuwohnen, sie zu den unseren einzuladen, ihre Taten und Pläne zu hören, sie beim Abschied zu segnen und zu wissen: sie zogen ihren Weg, wie wir den unsern, es hatte jeder einzelne von ihnen seinen Traum, seinen Wunsch, sein heimliches Spiel im Herzen, und doch flössen sie alle mit im großen Strom und gehörten alle zusammen, trugen dieselbe Ehrfurcht im Herzen, denselben Glauben, hatten alle dasselbe Gelübde abgelegt! Ich traf Jup, den Magier, der das Glück seines Lebens in Kaschmir zu pflücken gedachte, ich traf Collofino, den Rauchzauberer, seine Lieblingsstelle aus dem Abenteuerlichen Simplizissimus zitierend, ich traf Louis den Grausamen, dessen Traum es war, im Heiligen Lande einen ölgarten zu pflanzen und Sklaven zu halten, Arm in Arm ging er mit Anselm, der die blaue Irisblume seiner Kindheit suchen ging. Ich traf und liebte Ninon, als »die Ausländerin« bekannt, dunkel blickten ihre Augen unter schwarzen Haaren, sie war eifersüchtig auf Fatme, die Prinzessin meines Traumes, und war ja doch wahrscheinlich selber Fatme, ohne es zu wissen. So wie wir dahingezogen, so waren einst Pilger, Kaiser und Kreuzritter gezogen, um das Grab des Heilands zu befreien oder um arabische Magie zu studieren, spanische Ritter waren diesen Weg gepilgert und deutsche Gelehrte, irische Mönche und französische Dichter. Mir, der ich von Beruf eigentlich nur Violinspieler und Märchenleser war, lag es ob, in unsrer Gruppe für die Musik zu sorgen, und ich erfuhr es damals, wie eine große Zeit den kleinen Einzelnen hebt und seine Kräfte steigert. Ich spielte nicht nur die Violine und leitete unsre Chöre, ich sammelte auch alte Lieder und Choräle, schrieb sechs— und achtstimmige Motetten und Madrigale und studierte sie ein. Doch nicht davon will ich berichten. Viele unter meinen Kameraden und Vorgesetzten wurden mir sehr lieb. Aber kaum einer hat, während er damals scheinbar wenig beachtet wurde, nachher meine Erinnerung so viel beschäftigt wie Leo. Leo war einer unsrer Diener (welche natürlich Freiwillige waren wie wir), er half beim Gepäcktragen und war häufig dem persönlichen Dienst beim Sprecher zugeteilt. Dieser unscheinbare Mann hatte etwas so Gefälliges, unaufdringlich Gewinnendes an sich, daß wir alle ihn liebten. Er tat seine Arbeit fröhlich, sang oder pfiff meistens vor sich hin, war nie zu sehen, als wenn man ihn brauchte, ein idealer Diener. Außerdem hingen alle Tiere ihm an, beinahe immer hatten wir irgendeinen Hund bei uns, der Leos wegen mitgelaufen war; er konnte Vögel zahm machen und Schmetterlinge an sich locken. Was ihn nach dem Morgenlande zog, war sein Wunsch, nach salomonischem Schlüssel die Sprachen der Vögel verstehen zu lernen. Neben manchen Gestalten unsres Bundes, welche unbeschadet ihres Wertes und ihrer Bundestreue doch vielleicht irgend etwas Übersteigertes, etwas Absonderliches, Feierliches oder Phantastisches an sich hatten, wirkte dieser Diener Leo einfach und natürlich, so rotbäckig gesund und freundlich anspruchslos. Was mir die Erzählung besonders erschwert, das ist die große Verschiedenheit meiner einzelnen Erinnerungsbilder. Ich sagte ja schon, daß wir bald nur als kleine Gruppe marschierten, bald eine Schar oder gar ein Heer bildeten, zuweilen blieb ich aber auch nur mit einem einzigen Kameraden, oder auch ganz allein, in irgendeiner Gegend zurück, ohne Zelte, ohne Führer, ohne Sprecher. Schwierig wird das Erzählen ferner dadurch, daß wir ja nicht nur durch Räume wanderten, sondern ganz ebenso durch Zeiten. Wir zogen nach Morgenland, wir zogen aber auch ins Mittelalter oder ins goldne Zeitalter, wir streiften Italien oder die Schweiz, wir nächtigten aber auch zuweilen im zehnten Jahrhundert und wohnten bei den Patriarchen oder bei Feen. In den Zeiten meines Alleinbleibens fand ich häufig Gegenden und Menschen meiner eigenen Vergangenheit wieder, wanderte mit meiner gewesenen Braut an den Waldufern des oberen Rheins, zechte mit Jugendfreunden in Tübingen, in Basel oder Florenz, oder war ein Knabe und zog mit den Kameraden meiner Schulzeit aus, um Schmetterlinge zu fangen oder einen Fischotter zu belauschen, oder meine Gesellschaft bestand aus den Lieblingsfiguren meiner Bücher, es ritten Almansor und Parzival, Witiko oder Goldmund neben mir, oder Sancho Pansa, oder wir waren bei den Barmekiden zu Gast. Fand ich mich dann in irgendwelchem Tale wie — der zu unsrer Gruppe zurück, hörte die Bundeslieder und lagerte dem Führerzelt gegenüber, so ward mir alsbald klar, daß mein Weg in die Kindheit oder mein Ritt mit Sancho notwendig mit zu dieser Reise gehörten; denn unser Ziel war ja nicht nur das Morgenland, oder vielmehr: unser Morgenland war ja nicht nur ein Land und etwas Geographisches, sondern es war die Heimat und Jugend der Seele, es war das Überall und Nirgends, war das Einswerden aller Zeiten. Doch wurde mir dies nur je und je für einen Augenblick bewußt, und darin eben bestand das große Glück, das ich damals genoß. Denn später, sobald dies Glück mir wieder verlorengegangen war, sah ich diese Zusammenhänge deutlich ein, ohne doch den mindesten Nutzen oder Trost davon zu haben. Wenn etwas Köstliches und Unwiederbringliches dahin ist, dann haben wir wohl das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein. In meinem Falle ist dies Gefühl unheimlich richtig. Denn mein Glück bestand tatsächlich aus dem gleichen Geheimnis wie das Glück der Träume, es bestand aus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleichzeitig zu erleben, Außen und Innen spielend zu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben. So wie wir Bundesbrüder ohne Auto oder Schiff die Welt durchreisten, wie wir die vom Kriege erschütterte Welt durch unsern Glauben bezwangen und zum Paradiese machten, so riefen wir das Gewesene, das Zukünftige, das Erdichtete schöpferisch in den gegenwärtigen Augenblick. Und immer wieder, in Schwaben, am Bodensee, in der Schweiz und überall, begegneten uns Menschen, die uns verstanden oder die uns doch auf irgendeine Weise dafür dankbar waren, daß es uns und unsern Bund und unsre Morgendlandfahrt gab. Wir haben, mitten zwischen den Trambahnen und Bankhäusern von Zürich, die Arche Noah angetroffen, bewacht von mehreren alten Hunden, welche alle den gleichen Rufnamen hatten, und tapfer durch die Untiefen einer nüchternen Zeit gesteuert von Hans C., dem Nachkommen der Noachide, dem Freund der Künste, und wir waren in Winterthur, eine Treppe tief unter Stoecklins Zauberkabinett, im chinesischen Tempel zu Gast, wo unter der bronzenen Maja die Räucherstäbchen glühten und zum bebenden Ton des Tempelgongs der schwarze König zart die Flöte blies. Und am Fuße des Sonnenbergs stie — ßen wir auf Suon Mali, eine Kolonie des Königs von Siam, wo wir zwischen den steinernen und ehernen Buddhas, dankbare Gäste, unsre Trankund Rauchopfer darbrachten. Eines der schönsten Erlebnisse war die Bundesfeier in Bremgarten, dicht war da der magische Kreis um uns geschlossen. Von den Schloßherren Max und Tilli empfangen, hörten wir Othmar im hohen Saale auf dem Flügel Mozart spielen, fanden den Park von Papageien und ändern sprechenden Tieren bevölkert, hörten am Springbrunnen die Fee Armida singen, und mit wehender Locke nickte das schwarze Haupt des Sterndeuters Longus neben dem lieben Antlitz Heinrichs von Ofterdingen. Im Garten schrien die Pfauen, und Louis unterhielt sich auf Spanisch mit dem gestiefelten Kater, während Hans Resom, erschüttert durch seine Einblicke in das Maskenspiel des Lebens, eine Wallfahrt an das Grab Karls des Großen gelobte. Es war eine der Triumphzeiten unsrer Fahrt: wir hatten die Zauberwelle mitgebracht, sie spülte alles fort, die Eingeborenen huldigten auf Knien der Schönheit, der Schloßherr trug ein Gedicht vor, das von unsern Abendtaten handelte, dicht gedrängt um die Schloßmauern lauschten die Tiere des Waldes, und im Flusse bewegten sich blinkend in feierlichen Zügen die Fische und wurden mit Backwerk und Wein bewirtet. Gerade diese besten Erlebnisse lassen sich eigentlich nur dem erzählen, welcher selbst von ihrem Geist berührt war; sie klingen in meiner Darstellung arm und vielleicht töricht; aber jeder, der die Tage von Bremgarten miterlebt und gefeiert hat, wird mir jede Einzelheit bestätigen und durch hundert schönere ergänzen. Wie beim Mondaufgang aus den hohen Bäumen die Schweife der Pfauen schimmerten, und am beschatteten Ufer zwischen den Felsen die emportauchenden Wasserfrauen süß und silbern glänzten, und einsam unterm Kastanienbaume beim Brunnen der hagere Don Quixote stand und die erste Nachtwache hielt, indessen überm Schloßturm die letzten Leuchtkugeln des Feuerwerks so sanft in die Mondnacht sanken, und mein Kollege Pablo, mit Rosen bekränzt, vor den Mädchen die persische Rohrflöte spielte, wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Oh, wer von uns hätte gedacht, daß der Zauberkreis so bald zerbrechen, daß fast alle von uns — und auch ich, auch ich! — uns wieder in die klanglosen Öden der abgestempelten Wirklichkeit verirren würden, so wie Beamte und Ladendiener nach einem Gelage oder Sonntagsausflug sich ernüchtert wieder in den Alltag der Geschäfte ducken! In jenen Tagen war keiner von uns solcher Gedanken fähig. Im Schloßturm von Bremgarten duftete mir der Flieder ins Schlafzimmer, durch die Bäume hindurch hörte ich den Fluß rauschen, durchs Fenster stieg ich in tiefer Nacht, von Glück und Sehnsucht trunken, schlich am wachenden Ritter und an eingeschlafenen Zechern vorüber zum Ufer hinab, zu den rauschenden Wassern, zu den weißen leuchtenden Meerjungfern, und sie nahmen mich mit sich hinab in die mondkühle Kristallwelt ihrer Heimat, wo sie unerlöst und träumerisdi mit den Kronen und Goldketten ihrer Schatzkammern spielen. Monate schienen mir in der funkelnden Tiefe zu vergehen, und als ich emportauchte und tief durchkühlt ans Ufer schwamm, da klang noch immer Pablos Rohrflöte fern aus den Gärten, und noch immer stand hoch am Himmel der Mond. Ich sah Leo mit zwei weißen Pudeln spielen, sein kluges Knabengesicht strahlte vor Freude. Ich fand Longus im Gehölze sitzen, ein pergamentenes Buch auf den Knien, in das er griechische und hebräische Zeichen schrieb: Worte, aus deren Buchstaben Drachen flogen und farbige Schlangen sich bäumten. Er sah mich nicht, er malte versunken seine bunte Schlangenschrift, lange blickte ich über seine gebeugten Schultern in das Buch, sah die Schlangen und Drachen aus den Zeilen quellen, sich wälzen, sich lautlos ins nächtliche Gebüsch verlieren. »Longus«, sagte ich leise, »lieber Freund!« Er hörte mich nicht, meine Welt war ihm fern, er war versunken. Und abseits unter den Mondbäumen wandelte Anselm, eine Schwertlilie in der Hand, verloren starrte er und lächelnd in den violetten Kelch der Blüte. Etwas, was ich schon mehrmals auf unsrer Fahrt beobachtet hatte, ohne doch richtig darüber nachgedacht zu haben, fiel mir in den Bremgartner Tagen wieder auf, wunderlich und ein wenig schmerzlich. Es waren unter uns viele Künstle r, viele Maler, Musikanten, Dichter, es war der glühende Klingsor da und der unstete Hugo Wolf, der wortkarge Lauscher und der glänzende Brentano — aber mochten auch diese Künstler, oder einige von ihnen, sehr lebendig und liebenswerte Gestalten sein, so waren die von ihnen erdachten Figuren doch ohne Ausnahme viel lebendiger, schöner, froher und gewissermaßen richtiger und wirklicher als die Dichter und Schöpfer selber. Pablo saß da in entzückender Unschuld und Lebenslust mit seiner Flöte, sein Dichter aber schlich schattenhaft, vom Mond halb durchschienen, am Ufer hin und suchte Einsamkeit. Flackernd und ziemlich betrunken lief Hoffmann zwischen den Gästen hin und wider, viel sprechend, klein, koboldisch, und auch er war, wie sie alle, an Gestalt nur halbwirklich, nur halbvorhanden, nicht ganz dicht, nicht ganz echt, während der Archivar Lindhorst, zum Spaße den Drachen spielend, mit jedem Atemzug Feuer schnob und Kraft aushauchte wie ein Automobil. Ich fragte den Diener Leo, warum das wohl so sei, daß die Künstler manchmal nur wie halbe Menschen erschienen, während ihre Bilder so unwiderleglich lebendig aussähen. Leo sah mich an, verwundert über meine Frage. Dann ließ er den Pudel los, den er auf dem Arm getragen hatte, und sagte: »Bei den Müttern ist es auch so. Wenn sie die Kinder geboren und ihnen ihre Milch und ihre Schönheit und Kraft mitgegeben haben, dann werden sie selber unscheinbar, und es fragt niemand mehr nach ihnen.« »Das ist aber traurig«, sagte ich, ohne eigentlich viel dabei zu denken. »Ich denke, es ist nicht trauriger als alles andre auch«, sagte Leo, »es ist vielleicht traurig, und es ist auch schön. Das Gesetz will es so.« »Das Gesetz?« fragte ich neugierig. »Was ist das für ein Gesetz, Leo?« »Es ist das Gesetz vom Dienen. Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange.« »Warum streben dann so viele nach Herrschaft?« »Weil sie es nicht wissen. Es gibt wenige, die zum Herrschen geboren sind, sie bleiben dabei fröhlich und gesund. Die ändern aber, die sich bloß durch Streberei zu Herren gemacht haben, die enden alle im Nichts.« »In welchem Nichts, Leo?« »Zum Beispiel in den Sanatorien.« Ich verstand wenig davon, und dennoch blieben die Worte mir im Gedächtnis, und im Herzen blieb mir ein Gefühl, daß dieser Leo allerlei wisse, daß er vielleicht mehr wisse als wir ändern, die scheinbar seine Herren waren. |
|
|