"Der Stolz der Flotte: Flaggkapitän Bolitho vor der Barbareskenküste" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)VIII Die PriseVizeadmiral Broughton riß dem Midshipman der Wache das Teleskop aus der Hand, trat flotten Schritts neben Bolitho und richtete das Glas auf den Spanier, der eine halbe Kabellänge in Lee der Bolitho antwortete nicht. Auch er musterte das rollende Schiff, auf dem der endlich gehißte weiße Wimpel vom Masttopp flatterte — also hatte Leutnant Meheux mit seinem Prisenkommando wenigstens etwas zustande gebracht. Er sah zu seinen killenden Segeln und losen Schoten hoch. Es war fast eine Stunde her, seit die Boote abgefiert worden waren, die Me-heux und seine Männer zu der Prise hinübergebracht hatten; und inzwischen hatte sich das Wetter deutlich und besorgniserregend verändert. Der Himmel bezog sich sehr schnell, die See wurde bleiern und glanzlos, die schnellen, weißmützigen Wellen waren jetzt schmutziggrau und drohend. Nur die Kimm blieb klar und kaltglänzend wie Stahl, als würde sie von einem anderen Licht als der untergehenden Sonne erhellt. Ohne auf den Stander zu sehen, wußte Bolitho, daß der Wind gedreht hatte und jetzt fast genau von Westen kam; mit jeder Minute frischte er bedrohlich auf. Ein Sturm war im Anzug. Angesichts des manövrierunfähigen spanischen Schiffes und der Ungewißheit über Meheux kam er zur allerungünstigsten Zeit. «Endlich kehrt die Jolle zurück — wird auch verdammt Zeit!«schimpfte Broughton. Es sah gefährlich aus, wie das kleine Boot durch den hohen Seegang stampfte; schon daran merkte man deutlich, wie sehr sich das Wetter verschlechtert hatte. Die anderen Boote waren bereits zurückgerufen und an Bord gehievt worden. Die Jolle war Meheux' letzte Verbindung zum Flaggschiff. In der Ducht saß sprungbereit Midshipman Ashton. Er und ein Steuermannsmaat, dazu ein verläßlicher Unteroffizier und eine Anzahl Matrosen waren unter Meheux als Prisenkommando hinübergeschickt worden. Während das kleine Boot schwer arbeitend auf das Achterdeck der Bolitho beugte sich über die Reling und rief:»Wie heißt das Schiff? Warum dauert das so lange?» «Die «Himmeldonnerwetter, Bolitho! Fragen Sie diesen jungen Idioten, was der Kapitän gesagt hat!» Aber Ashton antwortete ihm direkt:»Der ist tot, Sir. Bei der Breitseite gefallen. Die meisten Offiziere auch. Das Schiff ist in einem schauderhaften Zustand, Sir«, schloß er verzweifelt. Bolitho winkte Keverne herbei.»Ich denke, Sie setzen am besten über. Der Seegang nimmt zu, und an der Prise scheint mehr dran zu sein, als wir dachten.» Aber Broughton hielt Keverne zurück.»Befehl belegt. «Kalt glänzten seine Augen in dem seltsamen Licht.»Und wenn Keverne mit der Sache nicht fertig wird — was dann?«wandte er sich an Bolitho.»Noch mehr Verzögerung, und wir kommen obendrein in einen Sturm! Nein, «Jawohl, Sir«, nickte Bolitho. Keverne war sichtlich enttäuscht. Erst war ihm das Kommando über die Er verbannte diesen Gedanken und signalisierte der Jolle. Wenn der Wind noch stärker wurde, gab es vielleicht in einer Stunde überhaupt keine Prise mehr. Allday war neben ihm aufgetaucht und half ihm in den Bootsmantel.»Sie brauchen mich natürlich, Captain.» Bolitho blickte ihm kurz ins Gesicht. Er sah genauso besorgt aus wie damals, als er ohne ihn auf das Werferschiff gegangen war.»Ganz recht, Allday — natürlich«, lächelte er. Ins Boot zu kommen, war ebenso gefährlich wie unbequem. In einem Moment wurde es hart gegen die Schiffswand geworfen, im anderen sackte es tief in ein Wellental; fluchend mühten sich die Ruderer ab, damit die Bootsplanken nicht eingedrückt wurden. Bolitho sprang von der Bordwand weg und hinunter, im Bewußtsein, daß er, wenn er fehlsprang, unter die Rundung des Rumpfes gesaugt oder von der tanzenden Jolle zerquetscht werden würde. Atemlos sank er in der Flicht zusammen, von Gischt geblendet und fast bewußtlos von dem Sprung, der eher ein Fall gewesen war. Grinsend sah Allday durch die fliegenden Schaumfetzen zu, wie die Rudergasten das Boot von der Bordwand wegdrückten und sich anschickten, zur «Es weht ganz hübsch, Captain!» «Solche Böen können in Minuten vorüber sein«, erwiderte Bolitho. «Oder aber sie bringen ein Schiff zur Verzweiflung. «Erstaunlich, wie rasch Allday jetzt, da er wieder bei ihm war, seine gute Laune wiedergefunden hatte! Achteraus sah er die Selbst im Zwielicht waren die schweren Wunden des spanischen Schiffes deutlich zu erkennen. Kampanje und Achterschiff hatten gähnende Löcher an verschiedenen Stellen, die geschwärzten Balken ragten heraus wie brüchige Zähne. Das alles hatte diese eine und nicht einmal volle Breitseite verursacht. Midshipman Ashton rief:»Mr. Meheux hat ein paar Schwenkgeschütze montiert, Sir. Aber die Mannschaft ist so durcheinander, daß sie kaum versuchen wird, das Schiff zurückzuerobern.» «Da wird bald nichts mehr zurückzuerobern sein«, brummte Allday. Beim vierten Versuch gelangte das Boot endlich in Lee der Navarra und konnte an den Großrüsten festmachen. Bolitho nahm seine Würde in beide Hände und versuchte einen wilden Sprung nach dem Fallreep, wobei ihm der Hut vom Kopf flog und er selbst von einem die Bordwand entlanglaufenden Brecher bis zum Gürtel durchweicht und beinahe weggespült wurde. Mehrere Hände streckten sich ihm über die Schanz entgegen und hievten ihn unzeremoniell an Deck, wo Meheux und der Steuermannsmaat ihn empfingen, sichtlich überrascht von seinem plötzlichen und wenig würdevollen Auftauchen. Nach ihm kletterte Allday an Bord; er hatte es sogar irgendwie geschafft, den verlorenen Hut aufzufischen, allerdings war die ursprüngliche Form unwiderbringlich dahin. Bolitho nahm ihn entgegen und musterte ihn kritisch, während er langsam wieder zu Atem kam und mit ein paar raschen Blicken den Umfang des angerichteten Schadens abschätzte. Da war der gestürzte Besanmast, das Gewirr von Stagen und Leinwand, eine Anzahl Tote mit klaffenden Wunden, deren Blut mitsamt dem überkommenden Sprühwasser weggeschwemmt wurde wie das Leben selbst. «Nun, Mr. Meheux«, sagte er,»ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir mitteilen würden, was Sie gesehen und welche Schlüsse Sie daraus gezogen haben. «Er fuhr herum, denn von irgendwo fiel ein Block herunter und schlug in einen Haufen zerschmetterter Planken ein, die einst ein Boot gewesen waren.»Aber bitte kurz.» Der Zweite der Bolitho rieb sich das Kinn. Alle diese Passagiere. Warum hatte der Kapitän eigentlich deren Leben riskiert, als er gegen einen Dreidecker zu kämpfen versuchte? Das war doch sinnlos. Es paßte auch gar nicht zu der gewohnten Haltung der Spanier, wenn es ums eigene Überleben ging. «Sie haben dreißig Mann unter Ihrem Befehl, Mr. Meheux. «Er versuchte, nicht an die unten in Todesangst zusammengedrängten Menschen zu denken.»Lassen Sie noch ein paar Matrosen der «Mein Unteroffizier, Mr. McEwen, kümmert sich um die Züge, Sir. «Meheux schüttelte den Kopf. Offenbar hielt er das alles für Zeitverschwendung.»Aber auch der Kopf der Ruderpinne ist beschädigt und wird in schwerer See bestimmt brechen.» Midshipman Ashton war durch die Schanzpforte an Deck geklettert und schüttelte sich wie ein halb ertrunkener Terrier. Bolitho warf rasch einen Blick zum Himmel. In dem schwindenden Licht schienen sich die Wolken schneller auszubreiten und tiefer herabzukommen. Auf jeden Fall haben wir eine böse Nacht vor uns, dachte er grimmig. Er sah, daß Meheux ihn besorgt beobachtete, zweifellos neugierig, wie sein Kommandant mit einer unlösbaren Aufgabe fertig werden würde. Mit einer Zuversicht, die er ganz bestimmt nicht verspürte, schlug Bolitho dem Leutnant auf die Schulter.»Aber Mr. Meheux, Sie machen ja ein Gesicht wie ein Säufer über einer Schale Milch! Jetzt schicken Sie Ihre Männer an die Arbeit, und Mr. Ashton soll mir die Passagiere zeigen.» Er ging mit Ashton zum Kampanjeluk. Dort lag ein Toter in goldbetreßtem Rock, der von der brennenden Leiter gefallen war. Das mußte wohl der Kapitän sein. Das Gesicht war fast weggerissen, doch auf dem makellos sauberen Rock war kaum ein Tröpfchen Blut. Zwei bezopfte Matrosen standen am Rad und drehten es vorsichtig nach den rauhen Anweisungen des Unteroffiziers. Sie sahen Bolitho, und der eine von ihnen grinste mit offensichtlicher Erleichterung.»Wir gehen doch von Bord, Sir? Die läßt sich nie mehr ordentlich steuern, so wie das aussieht.» Daß sie auf einmal ihren Kommandanten höchstselbst zu Gesicht bekamen, nachdem sie schon gedacht hatten, sie seien auf diesem havarierten Kahn ihrem Schicksal ausgeliefert, ließ ihn vorübergehend den gewohnten Respekt beim Anreden eines Offiziers vergessen. Aber Bolitho sah nur, wie sich das zutrauliche Gesicht des Mannes in einem breiten Grinsen spaltete. Unter den mehr als achthundert Seelen der Er lächelte.»Ich glaube, so ein Schiff ist immer noch besser als ein Floß.» Als er sich unter die Decksbalken duckte, blinzelte der Matrose seinem Kameraden zu.»Was hab ich dir gesagt? Hab doch gewußt, unser Dick[24] läßt uns nich' lange allein!» Der Unteroffizier, dessen Hände und Unterarme mit schwarzglänzender Ruderschmiere bedeckt waren, tauchte hinter ihnen auf und knurrte:»Wahrscheinlich weiß er, daß er sich nich' auf euch verlassen kann — genau wie ich. «Aber sogar er war überrascht, daß sein Kommandant an Bord gekommen war — und das genügte ihm vorerst. Ein Deck tiefer ging Bolitho hinter Ashton den gefährlich schiefen Gang hinunter und vernahm bei jedem Schritt das Knarren und Stöhnen der Balken, das Klappern und Rasseln von zerbrochenem Gerät und allerlei weggeworfenem Zeug. Auch die gegen den Rumpf schlagenden Wellen waren zu hören und das lange, zitternde Protestieren der Planken, wenn sich das Schiff durch ein Wellental quälte und dann schwerfällig wieder hob. Einmal stolperte er und sah im Licht der schwankenden Laterne den Leichnam eines Mannes über dem Lukensüll liegen. Der Körper war von einer Kanonenkugel, die durch eine offene Stückpforte geflogen sein mußte, fast entzweigeschnitten; sie mußte ihn erwischt haben, als er eine Meldung an Deck bringen wollte oder vor dem gnadenlosen Bombardement um sein Leben gerannt war. Zwei Matrosen standen an einem anderen Niedergang, der oben mit einem schweren Lukendeckel gesichert war. Beide waren bewaffnet und starrten Bolitho überrascht und beinahe schuldbewußt an. Vermutlich haben sie ein paar Kabinen durchstöbert, dachte er. Hauptsache, daß sie nicht an das Schnapslager geraten waren oder in der Seekiste eines Offiziers Wein gefunden hatten. Dreißig angetrunkene Männer wären für die Rettung des Schiffes kaum von Nutzen gewesen. «Sind alle Passagiere hier unten?«fragte er scharf.»Aye, Sir. «Der eine stieß mit seiner Muskete auf den Lukendek-kel.»Die meisten sind schon vor dem Angriff runtergebracht worden, Sir.» «Aha. «Das war eine kluge Maßnahme gewesen, so schrecklich es auch sein mochte, dem Geschützfeuer hier unten hilflos ausgesetzt zu sein. Aber andernfalls hätte es sicher außer dem Kapitän und den Offizieren noch mehr Tote gegeben. «Sie wollen doch nicht etwa runter, Captain?«flüsterte Allday. Bolitho hörte gar nicht hin.»Macht das Luk auf!» Mit geneigtem Kopf hörte er zu, wie Meheux oben seine Befehle brüllte, und horchte auf das darauffolgende Tappen nackter Füße an Deck. Anscheinend war da wieder eine gefährliche Situation eingetreten; aber Meheux konnte allein damit fertig werden. Jetzt mußte er erst die Passagiere sehen, denn hier unter der Wasserlinie würde er sicher die Antwort auf eine seiner Fragen finden. Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen. Aber als die Matrosen den Lukendeckel aufgeklappt hatten und Ashton seine Laterne direkt über die Leiter hielt, spürte er die plötzlich von unten hochsteigende Angst und Spannung wie etwas Körperliches. Er stieg zwei Stufen hinab, und als das Licht der Laterne auf ihn fiel, barsten ihm fast die Ohren von dem wilden Geschrei. Hunderte von Augen, so kam es ihm vor, glühten in dem grellen Lichtstrahl auf, wie von allem Menschlichen losgelöst. Aber die Stimmen waren menschlich genug. Über dem Schreckens- und Angstgebrüll erhoben sich die schrillen Schreie von Frauen und Kindern. Dabei wurde ihm klar, daß viele von denen da unten überhaupt nicht wußten, was an der Oberwelt geschehen war. Er blieb stehen.»Still da unten!«brüllte er hinab.»Ich sorge dafür, daß euch nichts.» Es war hoffnungslos. Schon faßten Händen nach den Stufen und nach seinen Beinen, die Masse der glühenden Augen kam schwankend näher, weil die weiter hinten Stehenden nachdrängten. «Lassen Sie mich versuchen, Sir«, keuchte Ashton,»ich kann ein bißchen Spanisch.» Bolitho zog ihn die Leiter hinunter und brüllte:»Sagen Sie ihnen bloß, sie sollen ruhig sein!» Ashton versuchte, sich in dem Getöse verständlich zu machen, und Bolitho rief den beiden Matrosen zu:»Holt noch ein paar Mann her! Schnell, sonst trampeln sie euch zu Mus!» Ashton zupfte ihn am Ärmel.»Sir! Da will Ihnen jemand etwas sagen!» Es war ein dicker, ängstlicher Mann, dessen kahler Kopf im Laternenlicht wie polierter Marmor schimmerte.»Ich spreche englisch, Captain! Ich werde ihnen sagen, daß sie gehorchen sollen; Sie müssen mich nur aus diesem schrecklichen Loch herausholen!«Vor Angst und Erschöpfung weinte er fast, aber er hielt noch irgend etwas krampfhaft fest in der Hand — eine Perücke, wie Bolitho jetzt erkannte. «Ich hole Sie sofort heraus. Bleiben Sie auf der Leiter und sagen Sie ihnen Bescheid!«Der Unbekannte, der weder jung noch fest auf den Füßen war, tat ihm plötzlich leid. Aber im Augenblick war er sehr wertvoll, und man durfte ihn keinesfalls aus den Augen verlieren. Der Kahlkopf besaß eine bemerkenswert tragende Stimme, wenn er auch ein paarmal absetzen mußte, um wieder zu Atem zu kommen. Die Leute schrien nicht mehr ganz so laut, und auf seine Beschwörungen hin ließ der Ansturm auf die Leiter etwas nach. Keuchend kam der Steuermannsmaat mit drei Matrosen herbeigeeilt.»Ah, Mr. Grindle, das ging schnell«, rief Bolitho ihnen entgegen.»Jetzt fangen Sie an, die Kinder nach oben zu bringen; weiß der Himmel, wieviel es sind. Und dann die Frauen. «Er brach ab, denn ein völlig verstörter Mann versuchte, an Ashton vorbei die Leiter hinaufzukommen. Er packte ihn am Rock und sagte grob:»Erklären Sie dem Mann, daß ich ihn über Bord werfen lasse, wenn er den Befehlen nicht gehorcht!«Etwas ruhiger fuhr er fort:»Bringen Sie alle arbeitsfähigen Männer an Deck zu Mr. Meheux!» Zweifelnd wandte Grindle ein:»Das sind doch keine Seeleute, Sir!» «Ganz egal. Geben Sie ihnen Äxte; sie sollen die Wrackteile kappen und alles losgerissene laufende Gut. Sie können auch die Geschütze über Bord werfen, wenn Sie es schaffen, ohne daß die Dinger an Deck herumrollen. «Er hielt inne und horchte auf den Wind, der gegen die Bordwand peitschte, auf das immer stärker werdende Stöhnen und Krachen der Planken, das von allen Seiten zu kommen schien. Grindle nickte.»Aye, Sir. Aber retten werden wir das Schiff damit doch nicht.» «Tun Sie, was ich sage. «Grindle wollte fort, aber Bolitho hielt ihn zurück.»Hören Sie, Mr. Grindle, eins müssen Sie kapieren: diese Menschen können nicht von Bord, denn es sind keine Boote mehr da, und bei diesem Seegang kann man kein Floß bauen. Ihre Offiziere sind tot, und jeden Moment kann Panik ausbrechen. «Grindle war ein erfahrener Mann; es gehörte sich, daß man ihm die Zusammenhänge erklärte, selbst in diesem kritischen Augenblick. Der Steuermannsmaat nickte.»Aye, Sir. Ich tue, was ich kann.» Er hob die Stimme:»He, ihr beiden da! Bewacht das Luk, wir gehen jetzt runter und holen die Kinder.» Stolpernd kam ein Matrose durch den Gang.»Captain, Sir! Empfehlung von Mr. Meheux, und die «Helft Mr. Grindle!«befahl er scharf. Dann rief er Ashton zu:»Gehen Sie an Deck, sehen Sie nach, was sie will! Aber machen Sie schnell, mein Junge! Ich brauche bestimmt gleich wieder Ihre Spa-nisch-Kenntnisse!» Mit jeder Minute schwoll die Flut der stolpernden, keuchenden Gestalten an; ab und zu griff ein Matrose dazwischen und holte einen Mann heraus, der sich zwischen den Frauen verbergen wollte. Bolitho gewann einen verschwommenen Eindruck von schwarzen Haaren und angstvollen Augen, von Tränenspuren in Gesichtern, von Verzweiflung, die jeden Moment in Panik umschlagen konnte. Ashton war wieder da, er drängte und stieß sich durch die Menge, der Hut saß ihm schief.»Der Admiral wünscht zu wissen, wann Sie zurückkommen, Sir«, meldete er. Bolitho versuchte, sich durch die Angst und den Lärm, die ihn von allen Seiten bedrängten, verständlich zu machen.»Signalisieren Sie zurück: gt;Brauche mehr Zeitlt;. In Kürze ist es stockfinster.» Ashton starrte ihn ratlos an.»Es ist ja jetzt schon fast dunkel, Sir.» «Und der Wind?«Er mußte nachdenken. Mußte seine Gedanken von der Masse dieser verschreckten, unwirklichen Gestalten losreißen. «Stark, Sir. Mr. Meheux sagt, er wird immer stärker.» Bolitho wandte sich ab. Es war entschieden. Vielleicht hatte er von Anfang an nicht daran gezweifelt.»Gehen Sie, setzen Sie Ihr Signal ab. Geben Sie noch durch, daß ich versuchen will, das Schiff binnen einer Stunde in Fahrt zu bringen.» Ashton war völlig erschlagen. Vielleicht hatte er erwartet, daß Bo-litho befahl, das Schiff zu verlassen. Die Jolle konnte immer noch fahren, wenigstens mit einem Teil des Prisenkommandos. Keuchend kam Grindle herbei, das graue Haar gesträubt wie dürres Gras.»Wie viele bis jetzt?«rief Bolitho ihn an. Er kratzte sich den Kopf.»Ungefähr zwanzig Gören. Und Frauen sind es zirka fünfzig. «Grinsend bleckte er seine unregelmäßigen Zähne.»Des Seemanns Traum, möcht' man sprechen, Sir.» Grindles Humor gab Bolitho die Ruhe wieder. Beinahe hätte er den Midshipman zurückgerufen, ehe er das Signal setzen konnte. Um in letzter Minute einen Kompromißvorschlag zu machen, den Broughton mit voller Berechtigung ablehnen würde, um ihn auf die Ashton kehrte sehr schnell wieder zurück. Er war kreidebleich und sichtlich erschüttert.»Signal von der «Dann bestätigen Sie, Mr. Ashton!» «In diesem Falle«, fuhr der Midshipman fort,»sollen Sie aus eigener Kraft zum Treffpunkt des Geschwaders laufen. Das Flaggschiff setzt Segel.» Bolitho versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Zweifellos war es Broughtons allergrößte Sorge, nicht die Kontrolle über sein Geschwader zu verlieren. Dort lag schließlich seine Hauptverantwortung. Wenn er sich von einem kräftigen Sturm erwischen ließ, konnte es ihn Tage kosten, bis er seine Schiffe wiederfand und erfuhr, ob Draffen etwas Nützliches herausgefunden hatte. Nüchtern überdachte Bolitho die Folgen seines Entschlusses. Keverne konnte recht gut auf eigene Faust fertig werden, das hatte er bereits bewiesen. Hier dagegen. Lieber nicht weiterdenken. Er schlug Ashton auf die Schulter.»Jetzt ab mit Ihnen!«Ashton rannte los, aber er rief hinter ihm her:»Gehen Sie langsam! Es kann nichts schaden, wenn Sie ruhig wirken, ganz egal, wie Ihnen dabei zumute ist.» Der Midshipman wandte sich nach ihm um, rang sich ein Lächeln ab und setzte seinen Weg fort. Im Schritt. Alldays Stimme übertönte den Lärm:»Können Sie an Deck kommen, Captain?«Er sah ein paar Passagieren nach, die von zwei bewaffneten Matrosen in die entgegengesetzte Richtung gescheucht wurden.»Verflucht noch mal, Captain, das ist ja, als ob die Tore der Hölle aufspringen!» «Was soll «Halten Sie die Passagiere ruhig, bis ich Sie ablösen lassen kann. Anschließend versuchen Sie, Seekarten aufzutreiben, und dann werden wir besprechen, was als nächstes zu tun ist.» Er stieg hinter Allday die Leiter hoch und sagte dann:»Lassen Sie diesen Toten wegschaffen. Das ist kein Anblick für die Kinder, wenn es morgen hell wird.» Allday sah ihn von der Seite an und lächelte grimmig. Erst hatte es so ausgesehen, als müßten sie das Schiff aufgeben. Jetzt sprach er von morgen früh. Vielleicht stand dann alles schon besser. Oben an Deck fielen Wind und See Bolitho an wie tollwütige Meeresungeheuer. Es war schon fast kein Licht mehr, nur schmale Streifen von hellerem Grau leuchteten zwischen den schwarzen Wolken. Gerade so viel, daß er die Männer sehen konnte, die über das zernarbte Deck taumelten, und die leere Stelle, wo der zerschossene Besanmast zwischen dem zerfetzten laufenden Gut gelegen hatte. Scharf gab er seine Befehle und sagte dann zu Meheux:»Das ist schon sehr schön für den Anfang.» Meheux hob den Arm und deutete über die Reling. Bolitho sah hin: die «Wir müssen vorm Wind bleiben, Mr. Meheux. Sowie wir versuchen, gegenanzukreuzen, verlieren wir das Ruder, oder es passiert noch Schlimmeres.» Aus der Finsternis stolperte der Steuermannsmaat heran; er hielt eine Karte an die Brust gepreßt. «Sie wollte nach Port Mahon, Sir. Die meisten Passagiere sind Kaufleute mit ihren Familien, soweit ich verstanden habe.» Bolitho runzelte die Stirn. Dann hatte die «Wir wollen versuchen, das Marssegel zu setzen, Mr. Meheux. Stellen Sie zwei gute Männer ans Rad. Mr. Ashton kann Ihre Befehle den spanischen Matrosen übersetzen.» Er schaute noch einmal nach der Meheux verzog das Gesicht.»Wird ihnen wenig Spaß machen, bei diesem Wind aufzuentern, Sir.» «Sagen Sie ihnen, wenn sie sich weigern, dann gibt es für sie nur einen Ort — etwa tausend Faden senkrecht abwärts!» Ein Matrose kam herbeigelaufen und rief:»Unten im Logis sind etwa fünfzig Verwundete, Sir! Alles voll Blut — ein scheußlicher Anblick!» Bolitho sah den schattenhaften Gestalten nach, die vorsichtig in den Wanten hochkletterten, angetrieben von Meheux' Befehlen in improvisiertem Spanisch und wütenden Armbewegungen. «Geht hinunter und sagt Mr. McEven, er soll feststellen, ob ein Arzt unter den Passagieren ist. Wenn ja, soll er an Deck kommen«, befahl er dem Matrosen. Wieder rief Meheux ihn an:»Am Großmast sind eine ganze Menge Stage gebrochen, Sir! Der könnte runterkommen, sobald wir Segel setzen!» Bolitho erschauerte — erst jetzt merkte er, daß er bis auf die Haut durchgeweicht war.»Be mannen Sie die Brassen, Mr. Meheux. Stellen Sie ein paar von den Passagieren dazu an. Ich brauche jeden verdammten Muskel, den Sie nur auf treiben können!«Und zu Grindle schrie er hinüber:»Klar bei Ruder!«Seine Stimme ging im Geheul des Windes und dem Sprühwasservorhang an der Luvseite fast unter, als wollten die Seegespenster sie über Bord und in die Tiefe ziehen. Er blickte sich nach einer Sprechtrompete um, sah aber nur die Gesichter der Männer am Ruder wie Wachsmasken im Licht der Kompaßlampe glänzen. War es richtig, was er tat? Der Sturm konnte in der nächsten Minute vorbei sein, dann wäre er besser unter gerefftem Großmarssegel liegen geblieben. Aber wenn der Sturm nicht so schnell abflaute, wie er gekommen war, mußte er ihn abreiten. Das war die einzige Chance. Selbst dann konnte das Ruder wegbrechen oder die Pumpen das ständig einströmende Wasser nicht mehr schaffen. Und vor Tageslicht war es unmöglich, den ganzen Schaden, das Ausmaß der Havarie, festzustellen. «Fertig, Sir!«schrie Meheux heiser. Bolitho fiel Broughtons Kommentar wieder ein.»Na schön!«hatte er gesagt. Lieber Gott, wie lange schien das her zu sein! Und dabei wehte ihre Flagge erst seit gut drei Stunden über der Am Vorschiff hörte er den Klüver wütend knattern und die Blöcke ungeduldig rasseln. Er mußte an die Männer auf den Rahen denken — hilflos wie Mäuse auf Treibholz. «Vormarssegel setzen!«Schon rannte Meheux nach vorn, um seine Befehle zu geben.»Ruder legen, Mr. Grindle!«Heftig schwenkte er den Arm.»Sachte! Vorsicht mit den neuen Ruderzügen!» Vom Vorschiff kam durch die Finsternis plötzlich das Knattern sich füllender Segel, dazu undeutliches Rufen hoch oben vom Mast. «An die Leebrassen!«Er rutschte auf dem unbekannten Deck aus, spähte aber angestrengt nach vorn.»Großmarssegel setzen!» Erregt schrie Grindle:»Sie reagiert, Sir!» Rollend, gegen den Druck von Ruder und Segeln ankämpfend, glitt die Rahen dem stetigen Druck nach.»Hart Backbord, Mr. Grindle!«Bo-litho rannte wieder zur Schanz und beobachtete gespannt das im Dunkel undeutlich schimmernde Großmarssegel, unter dessen Druck das Schiff sich drehte. Weiter drehte sich das Rad, und Bolitho brüllte den unsichtbaren Männern seine Befehle zu, bis seine Kehle wund wie rohes Fleisch war. Aber die Bolitho wischte sich Gischt aus den Augen und rannte zur Luvseite. Schon hatte sich der Winkel des Seegangs verändert, und die wütend brechenden Wellenkämme kamen jetzt direkt von Steuerbord. Überall stöhnten Holz und Hanf, klapperte gebrochenes Geschirr; er wartete nur darauf, daß irgend etwas mit reißendem Ton von oben kam, als Signal seiner Niederlage. Aber nichts geschah, und die Männer am Rad behielten das Ruder unter Kontrolle. Wer die «Wir steuern genau Ost, Mr. Grindle!«Er mußte es zweimal rufen, damit sie ihn hörten. Oder vielleicht waren sie wie er selbst nur zu zerschlagen vom tobenden Wetter, um noch vernünftig zu denken, etwas verstehen zu können. «Klar bei Brassen!«Im Dunkel war es, als schreie er über ein leeres Deck. Ein Geisterschiff, auf dem er ganz allein war — hoffnungslos.»Schoten los und hol dicht!«War es die Dunkelheit, war es die Anstrengung — anscheinend konnte er nicht richtig sehen; er mußte die Sekunden zählen, um das Rundkommen der Rahen abzuschätzen; seinen tränenden Augen konnte er nicht mehr trauen. Meheux kam nach achtern gestolpert, schwankend wie ein Betrunkener. Er rutschte aus und fiel lästerlich fluchend über den toten spanischen Kapitän, der noch immer am Fuß der Leiter lag. «Wir müssen noch ein Reff einstecken, Sir. «Er hielt inne, anscheinend verblüfft, daß er noch lebte.»Am besten schicken wir die Dons gleich nach oben. Später kriegen wir sie bestimmt nicht mehr rauf, ganz gleich, was wir ihnen androhen!» Bolitho grinste mit schmerzenden, aufgesprungenen Lippen. Unsicherheit und Angst waren weg, als ginge es in eine Schlacht. Eine ganz eigene Art von Irrsinn, kaum weniger verzehrend als echter Wahnsinn. Später, wenn sie vorbei war, hinterließ sie eine Leere, man war so völlig verbraucht wie ein Fuchs am Ende der Hetzjagd. «Na dann los!«brüllte er.»Alles festmachen und belegen!«Starr stand noch immer das Grinsen auf seinem Gesicht.»Und betet, daß der Kasten hält!» Auch den Leutnant schien die gleiche Wildheit erfaßt zu haben. Sein Nordengland-Akzent war stärker als sonst.»Beten tu' ich schon, seit ich auf diesem Wrack bin, Sir!«Laut lachte er durch die Gischt.»Und 'n klein bißchen hat's ja auch geholfen!» Schwankend ging Bolitho zum Ruder.»Wir reffen, Mr. Grindle. Aber sobald Sie das Gefühl haben, daß sie anluvt, sagen Sie Bescheid. Eine Wende kann ich nicht riskieren.» Der Unteroffizier tauchte neben ihm auf.»Kein Arzt, Sir. Und achtern sind an Steuerbord ein paar böse Risse.» «Sagen Sie Mr. Meheux, er soll seine Dons unter Deck schicken, sobald sie in den Rahen fertig sind. Ich brauche jede Pütz, alles, was Wasser hält. Wir müssen Ketten bilden, um die Pumpen zu entlasten. Und damit die Pütz für die nächste Zeit was zu tun haben.» Der Mann zögerte.»Ein paar von den Frauen wollen nach vorn gehen und sich um die Verwundeten kümmern, Sir.» «Gut. Geben Sie ihnen Bedeckung mit, McEwen. Und«, schloß er laut und bestimmt,»sorgen Sie dafür, daß ihnen sonst nichts passiert — verstanden?» «Aye, Sir«, grinste McEwen. «Da muß einer schon mächtig was zu bieten haben, wenn er mit diesen Weibern fertig werden will, bei Gott«, murmelte Grindle. Jetzt erschien Ashton wieder.»Können Sie mitkommen, Sir? Ich glaube, unten muß was abgestützt werden. Ich hab's versucht, aber ich — ich schaffe es nicht…«Die Stimme versagte ihm. Und so ging es die ganze Nacht weiter. Schließlich konnte Bolitho die Stunden nicht mehr voneinander unterscheiden, denn eine Krise folgte der anderen. Gesichter und Stimmen verschwammen, und selbst Allday war außerstande, den dauernden Strom von Hilferufen und Anweisungen zu stoppen. Verzweifelt pflügte die Aber irgendwie ging es, wenn auch die Männer an den Pumpen so erschöpft waren, daß ihre Ablösung sie wegzerren mußte. Immer weiter ging der Kampf gegen das gierig einströmende Wasser. Ohne Stocken lief die Eimerkette, bis die völlig erschöpften Männer wie tot umfielen, unempfindlich gegen das über ihre zerschundenen Leiber strömende Wasser oder die Flüche und Fußtritte der britischen Matrosen. Die Ruderzüge dehnten sich, das Steuern wurde schwieriger. Aber die Segel rissen trotz des furchtbaren Winddrucks nicht von den Rahen. Beim ersten Anzeichen der Morgendämmerung flaute der Wind ab, fast schuldbewußt wie ein Räuber, dessen Überfall abgeschlagen worden war. Der Seegang beruhigte sich, das angeschlagene Schiff gehorchte seinen neuen Herren besser und machte ruhigere Fahrt. Bolitho blieb die ganze Zeit auf dem Achterdeck, und beim ersten Licht des neuen Tages suchte er sorgfältig die Kimm ab — doch er sah nur, daß sie das Meer für sich allein hatten. Er rieb sich die wunden Augen und blickte zu seinen wie tot unter der Reling liegenden Männern hinüber. Meheux schlief im Stehen; mit dem Rücken lehnte er am Vormast wie festgebunden. Noch eine Sekunde, und er selbst konnte nicht mehr weiter. Würde einschlafen, völlig erschöpft. Er vermochte nicht einmal Befriedigung zu empfinden oder Stolz über das, was er erreicht hatte. Nur den alles verzehrenden Wunsch nach Schlaf. Er schüttelte sich und rief:»Mr. McEwen zu mir!«Die Stimme versagte ihm, sie klang wie das Krächzen eines ärgerlichen Seevogels. «Holen Sie alle Leute zusammen, Mr. Grindle, wir wollen sehen, was wir zur Verfügung haben.» Am Vorschiff tauchten zwei Frauen auf und starrten um sich. Die eine hatte Blut an der Schürze; als er zu ihr hinsah, hob sie die Hand zum Gruß. Bolitho versuchte zu lächeln, doch es wurde nichts daraus. Aber er winkte zurück, obwohl sein Arm schwer wie Blei war. Es gab so viel zu tun. In ein paar Sekunden gingen die Fragen und Forderungen wieder los. Er holte tief Atem und stützte die Hände auf die Reling. Eine Kugel hatte ein Stück herausgerissen. Er starrte immer noch auf die Lücke, als Allday zu ihm trat und sagte:»Ich habe unter der Kampanje eine Hängematte für Sie angeschlagen, Captain. «Er hielt inne und wartete auf Widerspruch, aber er merkte, daß Bolitho kaum noch die Kraft dazu hatte, und so fuhr er fort:»Ich rufe Mr. Meheux, damit er die Wache übernimmt.» Dann wußte Bolitho nur noch, daß er in einer schmalen Hängematte lag und ihm jemand die vollgesogenen Schuhe und den zerrissenen Rock auszog. Und damit kam auch schon der Schlaf: wie ein schwarzer Vorhang, in Sekundenschnelle und abgrundtief. |
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