"Harry Potter und der Stein der Weisen" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne. K.)

»AAAAAUUUUUH!«

Harry machte einen Sprung in die Luft – er war auf etwas Großes und Matschiges getreten, das auf der Türmatte lag – etwas Lebendiges!

Im ersten Stock gingen Lichter an, und mit einem furchtbaren Schreck wurde Harry klar, daß das große matschige Etwas das Gesicht seines Onkels war. Onkel Vernon hatte in einem Schlafsack vor der Tür gelegen, und zwar genau deshalb, um Harry daran zu hindern, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Er schrie Harry etwa eine halbe Stunde lang an und befahl ihm dann, Tee zu kochen. Niedergeschlagen schlurfte Harry in die Küche, und als er zurückkam, war die Post schon eingeworfen worden, mitten auf den Schoß von Onkel Vernon. Harry konnte drei mit grüner Tinte beschriftete Briefe erkennen.

»Ich will -«, begann er, doch Onkel Vernon zerriß die Briefe vor seinen Augen in kleine Fetzen.

An diesem Tag ging Onkel Vernon nicht zur Arbeit. Er blieb zu Hause und nagelte den Briefschlitz zu.

»Weißt du«, erklärte er Tante Petunia mit dem Mund voller Nägel,»wenn sie die Briefe nicht zustellen können, werden sie es einfach bleiben lassen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das klappt, Vernon.«

»Oh, diese Leute haben eine ganz merkwürdige Art zu denken, Petunia, sie sind nicht wie du und ich«, sagte Onkel Vernon und versuchte einen Nagel mit dem Stück Obstkuchen einzuschlagen, den ihm Tante Petunia soeben gebracht hatte.

Am Freitag kamen nicht weniger als zwölf Briefe für Harry. Da sie nicht in den Briefschlitz gingen, waren sie unter der Tür durchgeschoben, zwischen Tür und Rahmen geklemmt oder durch das kleine Fenster der Toilette im Erdgeschoß gezwängt worden.

Wieder blieb Onkel Vernon zu Hause. Nachdem er alle Briefe verbrannt hatte, holte er sich Hammer, Nägel und Leisten und nagelte die Spalten an Vorder- und Hintertür zu, so daß niemand hinausgehen konnte. Beim Arbeiten summte er »Bi-Ba-Butzemann« und zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen.

Am Sonnabend gerieten die Dinge außer Kontrolle. Vierundzwanzig Briefe für Harry fanden den Weg ins Haus, zusammengerollt im Innern der zwei Dutzend Eier versteckt, die der völlig verdatterte Milchmann Tante Petunia durch das Wohnzimmerfenster hineingereicht hatte. Während Onkel Vernon wütend beim Postamt und bei der Molkerei anrief und versuchte jemanden aufzutreiben, bei dem er sich beschweren konnte, zerschnitzelte Tante Petunia die Briefe in ihrem Küchenmixer.

»Wer zum Teufel will so dringend mit dir sprechen?«, fragte Dudley Harry ganz verdutzt.

Als sich Onkel Vernon am Sonntagmorgen an den Frühstückstisch setzte, sah er müde und ziemlich erschöpft, aber glücklich aus.

»Keine Post an Sonntagen«, gemahnte er sie fröhlich, während er seine Zeitung mit Marmelade bestrich, #keine verfluchten Briefe heute -e

Während er sprach, kam etwas pfeifend den Küchenkamin heruntergesaust und knallte gegen seinen Hinterkopf Einen Augenblick später kamen dreißig oder vierzig Briefe wie Kugeln aus dem Kamin geschossen. Die Dursleys gingen in Deckung, doch Harry hüpfte in der Küche umher und versuchte einen Brief zu fangen.

»Raus! RAUS!«

Onkel Vernon packte Harry um die Hüfte und warf ihn hinaus in den Flur. Als Tante Petunia und Dudley mit den Armen über dem Gesicht hinausgerannt waren, knallte Onkel Vernon die Tür zu. Sie konnten die Briefe immer noch in die Küche rauschen und gegen die Wände und den Fußboden klatschen hören.

»Das reicht«, sagte Onkel Vernon. Er versuchte ruhig zu sprechen, zog jedoch gleichzeitig große Haarbüschel aus seinem Schnurrbart. »Ich möchte, daß ihr euch alle in fünf Minuten hier einfindet, bereit zur Abreise. Wir gehen. Packt ein paar Sachen ein. Und keine Widerrede!«

Mit nur einem halben Schnurrbart sah er so gefährlich aus, daß niemand ein Wort zu sagen wagte. Zehn Minuten später hatten sie sich durch die brettervernagelten Türen gezwängt, saßen im Wagen und sausten in Richtung Autobahn davon. Auf dem Rücksitz wimmerte Dudley vor sich hin; sein Vater hatte ihm links und rechts eine geknallt, weil er sie aufgehalten hatte mit dem Versuch, seinen Fernseher, den Videorecorder und den Computer in seine Sporttasche zu packen.

Sie fuhren. Und sie fuhren. Selbst Tante Petunia wagte nicht zu fragen, wo sie denn hinfuhren. Hin und wieder machte Onkel Vernon scharf kehrt und fuhr dann eine Weile in die entgegengesetzte Richtung.

»Schüttel sie ab… schüttel sie ab«, murmelte er immer dann, wenn er umkehrte.

Den ganzen Tag über hielten sie nicht einmal an, um etwas zu essen oder zu trinken. Als die Nacht hereinbrach, war Dudley am Brüllen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen so schlechten Tag gehabt. Er war hungrig, er hatte fünf seiner Lieblingssendungen im Fernsehen verpaßt, und er hatte noch nie so lange Zeit verbracht, ohne am Computer einen Außerirdischen in die Luft zu jagen.

Endlich machte Onkel Vernon vor einem düster aussehenden Hotel am Rande einer großen Stadt Halt. Dudley und Harry teilten sich ein Zimmer mit Doppelbett und feuchten, niedrigen Decken. Dudley schnarchte, aber Harry blieb wach. Er saß an der Fensterbank, blickte hinunter auf die Lichter der vorbeifahrenden Autos und dachte lange nach…

Am nächsten Morgen frühstückten sie muffige Cornflakes und kalte Dosentomaten auf Toast. Kaum waren sie fertig, trat die Besitzerin des Hotels an ihren Tisch.

»Verzeihn Sie, aber ist einer von Ihnen Mr. H. Potter? Es ist nur – ich hab ungefähr hundert von diesen Dingern am Empfangsschalter.«

Sie hielt einen Brief hoch, so daß sie die mit grüner Tinte geschriebene Adresse lesen konnten:

Mr. H. Potter

Zimmer 17

Hotel zum Bahnblick

Cokeworth

Harry schnappte nach dem Brief doch Onkel Vernon schlug seine Hand weg. Die Frau starrte sie an.

»Ich nehme sie«, sagte Onkel Vernon, stand rasch auf und folgte ihr aus dem Speisezimmer.

»Wäre es nicht besser, wenn wir einfach nach Hause fahren würden, Schatz?«, schlug Tante Petunia einige Stunden später mit schüchterner Stimme vor. Doch Onkel Vernon schien sie nicht zu hören. Keiner von ihnen wußte, wonach genau er suchte. Er fuhr sie in einen Wald hinein, stieg aus, sah sich um, schüttelte den Kopf, setzte sich wieder ins Auto, und weiter ging's. Dasselbe geschah inmitten eines umgepflügten Ackers, auf halbem Weg über eine Hängebrücke und auf der obersten Ebene eines mehrstöckigen Parkhauses.

»Daddy ist verrückt geworden, nicht wahr?«, fragte Dudley spät am Nachmittag mit dumpfer Stimme Tante Petunia. Onkel Vernon hatte an der Küste geparkt, sie alle im Wagen eingeschlossen und war verschwunden.

Es begann zu regnen. Große Tropfen klatschten auf das Wagendach. Dudley schniefte.

»Es ist Montag«, erklärte er seiner Mutter »Heute kommt der Große Humberto. Ich will dahin, wo sie einen Fernseher haben.«

Montag. Das erinnerte Harry an etwas. Wenn es Montag war – und meist konnte man sich auf Dudley verlassen, wenn es um die Wochentage ging, und zwar wegen des Fernsehens -, dann war morgen Dienstag, Harrys elfter Geburtstag. Natürlich waren seine Geburtstage nie besonders lustig gewesen – letztes Jahr hatten ihm die Dursleys einen Kleiderbügel und ein Paar alte Socken von Onkel Vernon geschenkt. Trotzdem, man wird nicht jeden Tag elf.

Onkel Vernon kam zurück mit einem Lächeln auf dem Gesicht. In den Händen trog er ein langes, schmales Paket, doch auf Tante Petunias Frage, was er gekauft habe, antwortete er nicht.

»Ich habe den idealen Platz gefunden!«, sagte er. »Kommt! Alle aussteigen!«

Draußen war es sehr kalt. Onkel Vernon wies hinaus aufs Meer, wo in der Ferne ein großer Felsen zu erkennen war. Auf diesem Felsen thronte die schäbigste kleine Hütte, die man sich vorstellen kann. Eins war sicher, einen Fernseher gab es dort nicht.

»Sturmwarnung für heute Nacht!«, sagte Onkel Vernon schadenfroh und klatschte in die Hände. »Und dieser Gentleman hier hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns sein Boot zu leihen!«

Ein zahnloser alter Mann kam auf sie zugehumpelt und deutete mit einem recht verschmitzten Grinsen auf ein altes Ruderboot im stahlgrauen Wasser unter ihnen.

»Ich hab uns schon einige Futterrationen besorgt«, sagte Onkel Vernon,»also alles an Bord!«

Im Boot war es bitterkalt. Eisige Gischt und Regentropfen krochen ihnen die Rücken hinunter und ein frostiger Wind peitschte über ihre Gesichter Nach Stunden, so kam es ihnen vor, erreichten sie den Fels, wo sie Onkel Vernon rutschend und schlitternd zu dem heruntergekommenen Haus führte.

Innen sah es fürchterlich aus; es stank durchdringend nach Seetang, der Wind pfiff durch die Ritzen der Holzwände und die Feuerstelle war naß und leer. Es gab nur zwei Räume.

Onkel Vernons Rationen stellten sich als eine Packung Kräcker für jeden und vier Bananen heraus. Er versuchte ein Feuer zu machen, doch die leeren Kräcker-Schachteln gaben nur Rauch von sich und schrumpelten zusammen.

»Jetzt könnte ich ausnahmsweise mal einen dieser Briefe gebrauchen, Leute«, sagte er fröhlich.

Er war bester Laune. Offenbar glaubte er, niemand hätte eine Chance, sie hier im Sturm zu erreichen und die Post zuzustellen. Harry dachte im Stillen das Gleiche, doch der Gedanke munterte ihn überhaupt nicht auf

Als die Nacht hereinbrach, kam der versprochene Sturm um sie herum mächtig in Fahrt. Gischt von den hohen Wellen spritzte gegen die Wände der Hütte und ein zorniger Wind rüttelte an den schmutzigen Fenstern. Tante Petunia fand ein paar nach Aal riechende Leintücher und machte Dudley auf dem mottenzerfressenen Sofa ein Bett zurecht. Sie und Onkel Vernon gingen ins zerlumpte Bett nebenan, und Harry mußte sich das weichste Stück Fußboden suchen und sich unter der dünnsten, zerrissensten Decke zusammenkauern.

Die Nacht rückte vor und immer wütender blies der Sturm. Harry konnte nicht schlafen. Er bibberte und wälzte sich hin und her, um es sich bequemer zu machen, und sein Magen röhrte vor Hunger. Dudleys Schnarchen ging im rollenden Donnern unter, das um Mitternacht anhob. Der Leuchtzeiger von Dudleys Uhr, die an seinem dicken Handgelenk vom Sofarand herunterbaumelte, sagte Harry, daß er in zehn Minuten elf Jahre alt sein würde. Er lag da und sah zu, wie sein Geburtstag tickend näher rückte. Ob die Dursleys überhaupt an ihn denken würden?, fragte er sich. Wo der Briefeschreiber jetzt wohl war?

Noch fünf Minuten. Harry hörte draußen etwas knacken. Hoffentlich kam das Dach nicht herunter, auch wenn ihm dann vielleicht wärmer sein würde. Noch vier Minuten. Vielleicht war das Haus am Ligusterweg, wenn sie zurückkamen, so voll gestopft mit Briefen, daß er auf die eine oder andere Weise einen davon stibitzen konnte.

Noch drei Minuten. War es das Meer, das so hart gegen die Felsen schlug? und (noch zwei Minuten) was war das für ein komisches, mahnendes Geräusch? Zerbrach der Fels und stürzte ins Meer?

Noch eine Minute und er war elf Dreißig Sekunden… zwanzig… zehn… neun – vielleicht sollte er Dudley aufwecken, einfach um ihn zu ärgern – drei… zwei… eine -