"Die Nacht von Lissabon" - читать интересную книгу автора (Ремарк Эрих Мария)

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»Die Polizei in Zürich hielt mich nur einen Tag fest«, sagte Schwarz.»Aber es war ein schwerer Tag für mich. Ich hatte Furcht, daß man meinen Paß kontrollieren würde. Ein Telefongespräch mit Wien konnte schon genügen; ebenso eine Überprüfung der veränderten Daten durch einen Spezialisten.

Nachmittags wurde ich ruhig. Ich betrachtete das, was geschehen würde, als eine Art Gottesurteil. Die Entscheidung schien mir abgenommen worden zu sein. Steckte man mich ins Gefängnis, so würde ich nicht versuchen, nach Deutschland zu gehen. Aber abends ließ man mich frei und empfahl mir dringend, meine Reise aus der Schweiz hinaus so rasch wie möglich fortzusetzen.

Ich beschloß, es über Österreich zu tun. Die Grenze dort kannte ich etwas, und sie war sicher nicht so scharf bewacht wie die deutsche. Warum sollten beide überhaupt scharf bewacht sein? Wer wollte schon hinein? Aber viele wollten wahrscheinlich hinaus.

Ich fuhr nach Oberriet, um irgendwo von dort aus den Übergang zu versuchen. Am liebsten hätte ich auf einen regnerischen Tag gewartet; aber das Wetter blieb zwei Tage lang klar. In der dritten Nacht ging ich, um nicht durch zu langes Bleiben aufzufallen.

Es war eine Nacht mit allen Sternen. Sie war so still, daß ich glaubte, die leisen Geräusche des Wachsens hören zu können. Sie wissen, daß bei Gefahr eine andere Form des Sehens sich einstellt – nicht so sehr scharf, im Fokus, durch die Augen, sondern mehr ausgebreitet über den Körper, als ob man mit der Haut sähe, besonders nachts.

Es ist dann fast so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören auf die Haut verlagert. Man öffnet den Mund und lauscht, und auch der Mund scheint zu sehen und zu hören.

Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich war meiner selbst voll bewußt, alle meine Sinne waren weit offen, ich war auf alles gefaßt, aber ganz ohne Angst. Mir war, als ginge ich über eine hohe Brücke, von einer Seite meines Lebens auf die andere, und ich wußte, daß diese Brücke sich hinter mir auflösen würde wie silberner Rauch und daß ich nie zurückkehren könne. Ich ging von der Vernunft in das Gefühl, von der Sicherheit in das Abenteuer, vom Rationalen in den Traum. Ich war vollkommen einsam, aber dieses Mal war die Einsamkeit ohne jede Qual; sie hatte fast etwas Mystisches.

Ich kam an den Rhein, der an dieser Stelle noch jung und nicht sehr breit ist. Ich zog mich aus und machte ein Bündel aus meinen Kleidern, um sie über den Kopf halten zu können. Es war ein sonderbares Gefühl, als ich nackt in das Wasser tauchte. Es war schwarz und sehr kühl und fremd, als tauchte ich in den Fluß Lethe, um Vergessenheit zu trinken. Auch daß ich nackt hindurch mußte, schien mir ein Symbol zu sein, als ließe ich alles hinter mir.

Ich trocknete mich ab und suchte weiter meinen Weg. Als ich an einem Dorf vorbeikam, hörte ich einen Hund anschlagen. Ich wußte nicht genau, wie die Grenze lief, und hielt mich deshalb am Rande einer Straße, die an einem Gehölz entlangführte. Kein Mensch begegnete mir für lange Zeit. Ich ging, bis es Morgen wurde. Der Tau fiel plötzlich stark, und ein Reh stand am Rande einer Lichtung. Ich ging weiter, bis ich die ersten Bauern mit ihren Fuhrwerken kommen hörte. Dann suchte ich mir ein Versteck, nicht weit von der Straße. Ich wollte nicht verdächtig erscheinen, weil ich so früh aufwar und aus der Richtung der Grenze kam. Später sah ich zwei Zollbeamte auf Fahrrädern die Landstraße entlangfahren. Ich erkannte ihre Uniformen. Ich war in Österreich. Österreich gehörte damals seit einem Jahr zu Deutschland.«

Die Frau im Abendkleid verließ mit ihrem Begleiter die Terrasse. Sie hatte sehr braune Schultern und war größer als der Mann, der bei ihr war. Auch ein paar andere Touristen schlenderten langsam die Treppen hinunter. Sie alle gingen wie Leute, die nie gejagt worden waren. Sie drehten sich nicht um.

»Ich hatte Butterbrote bei mir«, sagte Schwarz,»und ich fand einen Bach mit Wasser. Mittags wanderte ich weiter. Mein Ziel war der Ort Feldkirch, von dem ich wußte, daß er im Sommer von Ferienreisenden besucht wurde. Ich erwartete, da nicht so aufzufallen. Auch Züge hielten dort. Ich erreichte ihn. Mit dem nächsten Zug fuhr ich von der Grenze weg, um aus der gefährlichsten Zone herauszukommen. Als ich in das Abteil trat, saßen dort zwei SA-Männer in Uniform.

Ich glaube, daß mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen. So stieg ich ein und setzte mich in eine Ecke neben einen Mann in Lodentracht, der ein Gewehr bei sich hatte.

Es war mein erster Zusammenstoß nach fünf Jahren mit allem, was für mich die Verkörperung des Abscheus war. Ich hatte es mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, aber die Wirklichkeit war anders. Es war der Körper, nicht der Kopf, der reagierte; es war der Magen, der zu Stein, der Mund, der eine Raspel wurde.

Der Jäger und die SA-Leute führten ein Gespräch über eine Witwe Pfundner. Sie schien sehr munter zu sein, denn die drei zählten einige ihrer Liebschaften auf. Dann begannen sie zu essen. Sie hatten Schinkenbrote bei sich. ›Wo wollen denn Sie hin, Herr Nachbar?‹ fragte mich der Jäger.

›Zurück nach Bregenz‹, sagte ich. – ›Sie sind fremd hier, wie?‹ – ›Ja. Ich bin auf Ferien.‹ – ›Und woher kommen Sie?‹ Ich zauderte eine Sekunde. Hätte ich Wien gesagt, wie es im Paß stand, wäre den drei vielleicht aufgefallen, daß ich nicht den weichen Wiener Dialekt sprach. ›Aus Hannover‹ sagte ich. ›Ich wohne da schon über dreißig Jahre.‹

›Hannover! Das ist aber weit weg.‹

›Das ist es. Aber in den Ferien will man ja nicht zu Hause bleiben.‹ Der Jäger lachte. ›Stimmt. Schönes Wetter haben Sie erwischt!‹

Ich fühlte, daß mein Hemd klebte. ›Schön, ja‹, sagte ich, ›aber heiß, als wäre es bereits Hochsommer‹. Die drei begannen wieder, die Witwe Pfundner durchzuhecheln. Ein paar Stationen später stiegen sie aus, und ich blieb allein im Abteil. Der Zug fuhr jetzt durch eine der schönsten Landschaften Europas, aber ich sah sehr wenig davon. Ich hatte plötzlich einen fast unerträglichen Anfall von Reue, Furcht und Verzweiflung. Ich verstand einfach nicht mehr, weshalb ich die Grenze überschritten hatte. Ohne mich zu rühren, saß ich in meiner Ecke und starrte aus dem Fenster. Ich war gefangen, und ich hatte selbst die Tür hinter mir ins Schloß geworfen. Ein dutzendmal wollte ich aussteigen, um zu versuchen, nachts in die Schweiz zurückzukehren.

Ich tat es nicht. Meine linke Hand hielt in meiner Tasche den Paß des toten Schwarz umklammert, als könne mir Kraft daraus zufließen. Ich sagte mir vor, daß es jetzt gleich sei, ob ich mich langer in der Nähe der Grenze aufhielte oder nicht, und daß ich sicherer sei, je weiter ich ins Land hineinführe. Ich beschloß auch, die Nacht durchzufahren. Im Zuge fragte man weniger nach Papieren als in einem Hotel.

Es ist typisch, daß man glaubt, wenn man sich der Panik überläßt, überall seien Scheinwerfer auf einen gerichtet und die Welt habe nichts anderes zu tun, als einen zu suchen. Man hat das Gefühl, alle Zellen des Körpers wollten sich selbständig machen, die Beine wollten ein zuckendes Bein-Reich errichten, die Arme nichts als Abwehr und Schlagen sein, und sogar Lippen und Mund könnten nur noch zitternd den ungeformten Schrei zurückhalten.

Ich schloß die Augen. Die Versuchung, der Panik nachzugeben, war größer, weil ich allein im Abteil war. Aber ich wußte, daß jeder Zentimeter, den ich jetzt hergab, ein Meter werden würde, wenn ich einmal wirklich in Gefahr wäre. Ich erklärte mir, daß niemand nach mir suche; daß ich dem Regime so uninteressant sei wie eine Schaufel Sand in der Wüste und daß niemand mir etwas ansehen könne. Das war natürlich auch der Fall. Ich unterschied mich wenig von den Leuten um mich herum. Der blonde Arier ist eine deutsche Legende, keine Tatsache. Sehen Sie sich Hitler, Goebbels, Heß und den Rest der Regierung an – sie müßten sich alle eigentlich immerfort als ihre eigene Illusion ausweisen.

Ich verließ den Schutz der Bahnhöfe zum erstenmal in München und zwang mich, eine Stunde spazierenzugehen. Da ich die Stadt nicht kannte, war ich sicher, daß auch mich niemand kennen würde. Ich aß im Franziskanerbräu. Das Lokal war voll. Ich saß an einem Tisch allein und horchte. Nach ein paar Minuten setzte sich ein schwitzender, dicker Mann zu mir. Er bestellte ein Bier und ein Rindfleisch und las eine Zeitung. Ich war bisher noch nicht darauf gekommen, deutsche Zeitungen zu lesen, und kaufte mir zwei. Es war Jahre her, daß ich Deutsch gelesen hatte, und ich mußte mich immer noch daran gewöhnen, daß jeder um mich herum es sprach.

Die Leitartikel der Zeitungen waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden. Die beiden Zeitungen war keine Lokalblätter, sie hatten früher einmal einen guten Namen gehabt. Nicht nur ihr Inhalt, auch ihr Stil war unglaublich.

Ich betrachtete den Zeitungsleser neben mir. Er aß, trank und las mit Genuß. Ich blickte mich um. Nirgendwo sah ich unter den Lesern Zeichen des Abscheus; sie waren an ihre tägliche geistige Kost gewöhnt wie an das Bier.

Ich las weiter, bis ich unter den kleinen Nachrichten eine über Osnabrück fand. Ein Haus an der Lotterstraße war abgebrannt. Ich sah die Straße vor mir. Man kam über die Wälle zum Hegertor und von da zur Lotterstraße, die hinaus aus der Stadt führte. Ich legte die Zeitung zusammen. Ich fühlte mich plötzlich einsamer als je zuvor außerhalb Deutschlands.

Langsam gewöhnte ich mich daran, daß Schock und fatalistische Apathie abwechselten. Ich gewöhnte mich auch daran, mich sicherer zu wähnen als bisher. Die Gefahr würde größer werden, wenn ich mich Osnabrück näherte, das wußte ich. Dort gab es Leute, die mich von früher kannten.

Ich kaufte mir einen billigen Koffer und etwas Wäsche und die Dinge, die für eine kurze Reise notwendig sind, um in Hotels nicht aufzufallen. Dann fuhr ich weiter. Ich wußte noch nicht, wie ich mich meiner Frau nähern sollte, und änderte meine Pläne jede Stunde. Ich mußte es auf den Zufall ankommen lassen; ich wußte ja nicht einmal, ob sie nicht ihrer Familie nachgegeben hatte – die stramm für das Regime war – und jemand anderen geheiratet hatte. Nachdem ich die Zeitungen gelesen hatte, war ich nicht mehr sicher, daß jemand lange brauchen würde, um das zu glauben, was er las, besonders dann, wenn er keine Möglichkeit zum Vergleich hatte. Ausländische Blätter waren in Deutschland unter strenger Zensur.

In Münster ging ich in ein mittleres Hotel. Ich konnte nicht immer nachts aufbleiben und tagsüber irgendwo schlafen; ich mußte riskieren, von einem Hotel in Deutschland bei der Polizei angemeldet zu werden. Kennen Sie Münster?«

»Flüchtig«, erwiderte ich.»Ist es nicht eine alte Stadt mit vielen Kirchen, in der der Westfälische Friede geschlossen wurde?«

Schwarz nickte.»In Münster und Osnabrück, 1648. Nach dreißig Jahren Krieg. Wer weiß, wie lange dieser dauern wird!«

»Wenn er so weitergeht, nicht lange. Die Deutschen haben vier Wochen gebraucht, Frankreich zu erobern.«

Der Kellner kam und erklärte, das Lokal würde geschlossen. Wir wären die letzten Gäste.»Gibt es kein anderes, das noch offen ist?«fragte Schwarz.

Der Kellner erklärte, Lissabon sei keine Stadt für viel Nachtleben. Als Schwarz ihm ein Trinkgeld gab, wußte er ein Lokal, ein geheimes, sagte er, einen russischen Nachtklub.»Sehr elegant«, erklärte er.

»Wird man uns hineinlassen?«fragte ich.

»Natürlich, mein Herr. Ich wollte nur sagen, daß es elegante Frauen dort gibt. Alle Nationen. Deutsche auch.«

»Wie lange ist der Klub offen?«

»Solange Gäste da sind. Jetzt sind immer Gäste da. Viele Deutsche jetzt, mein Herr.«

»Was für Deutsche?«

»Deutsche.«

»Mit Geld?«

»Natürlich, mit Geld.«Der Kellner lachte.»Das Lokal ist nicht billig. Aber sehr unterhaltend. Könnten Sie sagen, daß Manuel von hier Sie geschickt hat? Sie brauchen dann weiter nichts anzugeben.«

»Muß man denn irgend etwas angeben?«

»Nichts. Der Portier schreibt einen Phantasienamen für Sie als Mitglied ein. Nur eine Formsache.«

»Gut.«

Schwarz zahlte die Rechnung. Wir gingen langsam die Straße mit den Treppen hinunter. Die blassen Häuser schliefen aneinandergelehnt. Aus den Fenstern hörte man das Seufzen, Schnarchen und Atmen von Leuten, die keine Paßsorgen hatten. Unsere Schritte klangen lauter als am Tage.»Das Licht«, sagte Schwarz.»Überrascht es Sie auch so?«

»Ja. Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. Hier glaubt man, jemand habe vergessen, es abzuschalten, und im nächsten Augenblick müsse ein Fliegerangriff kommen.«

Schwarz blieb stehen.»Wir haben es geschenkt bekommen, weil in uns etwas von Gott ist«, sagte er plötzlich pathetisch.»Und jetzt verbergen wir’s, weil wir das bißchen Gott in uns morden.«

»Soviel ich in der Sage Bescheid weiß, bekamen wir das Feuer nicht geschenkt, sondern Prometheus hat es gestohlen«, erwiderte ich.»Dafür vermachten die Götter ihm dann eine chronische Leberzirrhose. Das scheint mir auch besser zu unserm Charakter zu passen.«

Schwarz sah mich an.»Ich habe das Spotten längst aufgegeben. Die Angst vor großen Worten auch. Solange man spottet und Angst hat, versucht man, die Dinge auf ein kleineres Maß zu bringen als das, was sie haben.«

»Vielleicht«, sagte ich.»Aber soll man immerfort auf das Unmögliche starren und sagen: es ist unmöglich? Ist es nicht besser, es zu verkleinern und damit einen Streifen von Hoffnung hereinzulassen?«

»Sie haben recht! Verzeihen Sie mir. Ich vergaß, daß Sie auf der Flucht sind. Wer hat da Zeit, an Proportionen zu denken?«

»Sind Sie nicht auch auf der Flucht?«

Schwarz schüttelte den Kopf.»Nicht mehr. Ich gehe zum zweiten Male zurück.«

»Wohin?«fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht glauben, daß er noch einmal nach Deutschland wollte.

»Zurück«, erwiderte er.»Ich werde es Ihnen erklären.«