"Die Nacht von Lissabon" - читать интересную книгу автора (Ремарк Эрих Мария)7Ich hatte Schwarz zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Er sprach zwar zu mir, aber ich wußte, daß ich für ihn nur eine Wand war, von der manchmal ein Echo kam. Ich betrachtete mich auch so; anders hätte ich ihm nicht ohne Verlegenheit zuhören können, und ich war überzeugt, daß auch er nicht ohne das hätte erzählen können, was er noch einmal aufstehen lassen wollte, bevor er es im lautlos rieselnden Sand der Erinnerung begraben mußte. Ich war ein fremder Mensch, der für eine Nacht seinen Weg kreuzte und vor dem er keine Hemmungen zu haben brauchte. Eingehüllt in den anonymen Mantel eines fernen, toten Namens – Schwarz – begegnet er mir, und wenn er den Mantel abwarf, warf er damit auch seine Persönlichkeit ab und verschwand wieder in der anonymen Menge, die dem schwarzen Tor an der letzten Grenze zuwandert, wo man keine Papiere braucht und von wo man niemals ausgewiesen und zurückgeschickt wird. Der Kellner teilte uns mit, daß außer englischen Diplomaten auch ein deutscher angekommen sei. Er zeigte ihn uns. Der Abgesandte Hitlers saß fünf Tische von uns entfernt mit drei anderen Leuten, darunter zwei Frauen, die kräftig und gesund aussahen und Kleider in zwei Farben von Blau und Seide trugen, die nicht zueinander paßten. Der Mann, der uns bezeichnet wurde, drehte uns den Rücken, und ich fand das passend und beruhigend. »Ich dachte, es würde die Herren interessieren«, sagte der Kellner,»da Sie doch auch deutsch sprechen.« Schwarz und ich wechselten unwillkürlich den Emigrantenblick – ein kurzes Heben der Lider und ein ausdruckloses Abwenden nachher. Nichts schien uns weniger zu interessieren. Der Emigrantenblick ist anders als der deutsche Blick unter Hitler – das vorsichtige Umsehen nach allen Seiten, um dann flüsternd etwas mitzuteilen -, aber beide gehören zur Kultur unseres Jahrhunderts, ebenso wie die erzwungene Völkerwanderung, von den unzähligen einzelnen Herren Schwarz in Deutschland bis zur Verschiebung ganzer Provinzen in Rußland. In hundert Jahren, wenn die Elendsschreie verhallt sind, wird ein findiger Historiker das alles als kulturfördernde, kulturdüngende und kulturverbreitende Tatsache feiern. Schwarz sah den Kellner teilnahmslos an.»Wir wissen, wer er ist«, sagte er.»Bringen Sie uns noch etwas Wein. Helen ging«, fuhr er dann ebenso ruhig fort,»den Wagen ihrer Freundin zu holen. Ich blieb allein, um in der Wohnung auf sie zu warten. Es war Abend, und die Fenster standen offen. Ich hatte alle Lichter abgedreht, damit niemand sehen könne, daß ich in der Wohnung sei. Sollte jemand klingeln, so würde ich nicht antworten. Sollte Georg zurückkommen, so konnte ich zur Not über den Küchenausgang entfliehen. Ich saß die halbe Stunde in der Nähe des Fensters und horchte auf die Geräusche der Straße. Nach einer Weile begann sich lautlos ein ungeheures Gefühl des Verlustes in mir auszubreiten. Es war nicht schmerzhaft; es war eher wie eine Dämmerung, die weiter und weiter kriecht und alles überschattet und leert, bis sie selbst den Horizont verhüllt. Eine Schattenwaage balancierte eine leere Vergangenheit gegen eine leere Zukunft, und in der Mitte stand Helen, den Schattenbalken der Waage auf ihren Schultern, und auch sie schon verloren. Es war mir, als sei ich in der Mitte meines Lebens; der nächste Schritt würde die Waage verschieben, sie würde langsam sinken, der Zukunft zu, sich mehr und mehr mit Grau füllen und nie wieder im Gleichgewicht sein. Das Summen des heranfahrenden Wagens weckte mich. Ich sah Helen im Licht der Straßenlampe aussteigen und in der Haustür verschwinden. Ich ging durch die dunkle, tote Wohnung und hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Sie kam rasch herein. ›Wir können fahren‹, sagte sie. ›Mußt du zurück nach Münster?‹ ›Ich habe einen Koffer dagelassen. Und ich bin unter dem Namen Schwarz registriert. Wohin sollte ich sonst gehen?‹ ›Bezahle das Hotel und geh in ein anderes.‹ ›Wo?‹ ›Ja, wo?‹ Helen dachte nach. ›In Münster‹, sagte sie schließlich. ›Du hast recht. Wo sonst? Es ist am nächsten.‹ Ich hatte ein paar Sachen, die ich brauchen konnte, in einen Koffer gepackt. Wir beschlossen, daß ich nicht vor dem Hause in den Wagen steigen sollte, sondern ein Stück weiter, auf dem Hitlerplatz. Helen würde den Koffer mitbringen. Ich gelangte ungesehen auf die Straße. Ein warmer Wind wehte mir entgegen. Das Laub der Bäume rauschte in der Dunkelheit. Helen holte mich auf dem Platz ein. ›Steig ein‹, flüsterte sie. ›Rasch!‹ Der Wagen war ein geschlossenes Kabriolett. Helens Gesicht war vom Widerschein des Instrumentenbrettes angestrahlt. Ihre Augen glänzten. ›Ich muß vorsichtig fahren‹, sagte sie. ›Ein Unfall und Polizei – das wäre alles, was noch fehlte!‹ Ich antwortete nicht. Man redete draußen nicht von solchen Dingen; es zog sie herbei. Helen lachte und fuhr die Wälle entlang. Sie war von einer fast fiebrigen Energie, als wäre das ganze ein Abenteuer; sie sprach mit sich selbst und dem Wagen, wenn sie anderen Gefährten auswich oder sie überholte. Wenn sie in der Nähe eines Verkehrspolizisten anhalten mußte, murmelte sie Beschwörungen; und wenn ein rotes Licht sie stoppte, trieb sie es zur Eile an: ›Los! Dreh dich! Werde grün!‹ Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Für mich war es unsere letzte Stunde. Ich ahnte nicht, wozu sie sich bereits entschlossen hatte. Als wir die Stadt hinter uns hatten, wurde sie ruhiger. ›Wann willst du von Münster weiterfahren?‹ fragte sie. Ich wußte es nicht, weil es kein Ziel gab. Ich wußte nur, daß ich nicht lange mehr bleiben konnte. Das Schicksal gibt einem nur eine gewisse Narrenfreiheit; dann warnt es und schlägt zu. Man spürt manchmal, wenn die Zeit da ist. Ich spürte, daß sie da war. ›Morgen‹, sagte ich. Sie erwiderte eine Weile nichts. ›Und wie willst du es machen?‹ fragte sie dann. Ich hatte darüber nachgedacht, während ich allein im dunklen Wohnzimmer saß. Zu versuchen, den Zug zu nehmen und einfach an der Grenze meinen Paß vorzuweisen, schien mir ein viel zu großes Risiko zu sein. Man konnte mich nach anderen Papieren fragen, nach einer Auswanderungserlaubnis, einer Reichsfluchtsteuerbestätigung, nach einem Vermerk im Paß – alles das besaß ich nicht. ›Denselben Weg, den ich gekommen bin‹, sagte ich. ›Durch Österreich. Über den Rhein in die Schweiz. Nachts.‹ Ich wandte mich Helen zu. ›Laß uns nicht darüber reden‹, sagte ich. ›Oder so wenig wie möglich.‹ Sie nickte. ›Ich habe Geld mitgebracht. Du wirst es brauchen. Wenn du heimlich über die Grenze gehst, kannst du es mitnehmen. Kann man es in der Schweiz wechseln?‹ ›Ja. Aber brauchst du es nicht selbst?‹ ›Ich kann es nicht mitnehmen. Ich werde an der Grenze kontrolliert. Man darf nur ein paar Mark bei sich haben.‹ Ich starrte sie an. Was redete sie da? Sie mußte sich versprochen haben. ›Wieviel ist es?‹ fragte ich. Helen blickte mich rasch an. ›Nicht so wenig, wie du denkst. Ich habe es schon seit langer Zeit beiseite gelegt. Es ist in der Tasche dort.‹ Sie zeigte auf eine kleine Ledertasche. ›Es sind meistens Hundertmarkscheine. Ein Päckchen Zwanziger ist auch dabei, für Deutschland, damit du keinen großen Schein wechseln mußt. Zähle es nicht. Nimm es. Es ist ohnehin dein Geld.‹ ›Hat die Partei mein Konto nicht beschlagnahmt.‹ ›Ja, aber nicht früh genug. Ich konnte dieses hier vorher abheben. Jemand bei der Bank hat mir geholfen. Ich wollte es für dich haben und es dir einmal schicken; aber ich wußte nie, wo du warst.‹ ›Ich habe dir nicht geschrieben, weil ich dachte, du würdest beobachtet. Ich wollte nicht, daß man dich auch in ein Lager sperrt.‹ ›Nicht allein deshalb‹, sagte Helen ruhig. ›Nein, vielleicht nicht allein deshalb.‹ Wir fuhren durch ein Dorf mit weißen westfälischen Häusern und Strohdächern und schwarzem Gebälk. Junge Leute in Uniform stolzierten umher. Aus einer Kneipe dröhnte das Horst-Wessel-Lied. ›Es gibt Krieg‹, sagte Helen plötzlich. ›Bist du deshalb zurückgekommen?‹ ›Woher weißt du, daß es Krieg gibt?‹ ›Von Georg. Bist du deshalb gekommen?‹ Ich wußte nicht, weshalb sie das noch wissen wollte. War ich nicht schon wieder auf der Flucht? ›Ja‹, erwiderte ich. ›Ich bin auch deshalb gekommen, Helen.‹ ›Du wolltest mich holen?‹ Ich starrte sie an. ›Mein Gott, Helen‹, sagte ich schließlich. ›Sprich nicht so darüber. Du hast keine Ahnung, wie es drüben ist. Es ist kein Abenteuer, und es wird undenkbar, wenn es Krieg gibt. Man wird alle Deutschen einsperren.‹ Wir mußten an einer Bahnüberführung halten. Vor dem Bahnwärterhäuschen blühte ein kleiner Garten mit Dahlien und Rosen. Der Wind klirrte an dem Gestänge der Schranken, als wären sie Harfen. Neben uns kamen andere Wagen heran – zuerst ein kleiner Opel mit vier dicken, ernsten Männern; ihm folgte ein offener grüner Zweisitzer mit einer alten Frau; dann schob sich, lautlos, eine schwarze Mercedes-Limousine wie ein Leichenwagen dicht neben uns. Ein Chauffeur in schwarzer SS-Uniform war am Steuer, und im Fond saßen zwei SS-Offiziere mit sehr bleichen Gesichtern. Der Wagen stand so dicht neben uns, daß ich hätte hinüberreichen können. Es dauerte ziemlich lange, bis der Zug kam. Helen saß schweigend neben mir. Der Mercedes mit dem vielen Chrom schob sich noch etwas weiter vor, so daß der Kühler fast die Schranken berührte. Er wirkte tatsächlich wie ein Trauerwagen, in dem zwei Tote transportiert wurden. Wir hatten soeben vom Krieg gesprochen, und hier, neben uns, schien sein Symbol sich herangeschoben zu haben: die schwarzen Uniformen, die Leichengesichter, die silbernen Totenköpfe, der schwarze Wagen und die Stille, die nicht mehr nach Rosen zu riechen schien, sondern schon nach bitterem Immergrün und Verwesung. Der Zug lärmte heran wie das Leben selbst. Es war ein Schnellzug mit Schlafabteilen und einem hellerleuchteten Speisewagen mit weißgedeckten Tischen. Als die Schranken hochgingen, schoß der Mercedes den anderen Wagen voran in die Dunkelheit, wie ein dunkles Torpedo, das gespenstisch die Landschaft entfärbte, als wären die Bäume bereits schwarze Skelette. ›Ich gehe mit dir‹, flüsterte Helen. ›Was? Was sagst du da?‹ ›Warum nicht?‹ Sie hielt den Wagen an. Die Stille überfiel uns wie ein lautloser Schlag, und dann hörten wir die Geräusche der Nacht. ›Warum nicht?‹ fragte Helen plötzlich sehr erregt. ›Willst du mich wieder zurücklassen?‹ Ihr Gesicht war so blaß im blauen Schein des Instrumentenbrettes wie das der Offiziere – als wäre auch sie bereits vom Tode, der in der Juninacht umherschlich, gezeichnet worden. Ich begriff in diesem Augenblick, daß das meine tiefste Angst gewesen war: daß der Krieg zwischen uns kommen würde, und daß wir uns nie wiederfinden würden, nachdem er ausgetobt hätte, weil man nicht, selbst mit größter Vermessenheit, auf soviel persönliches Glück hoffen konnte, nach einem Erdbeben, das alles zerstören würde. ›Wenn du nicht gekommen bist, um mich zu holen, dann ist es ein Verbrechen, daß du überhaupt gekommen bist! Verstehst du das nicht?‹ sagte Helen, geschüttelt vor Zorn. ›Ja‹, erwiderte ich. ›Weshalb weichst du dann aus?‹ ›Ich weiche nicht aus. Aber du weißt nicht, was es bedeutet.‹ ›Weißt du es so genau? Weshalb bist du dann gekommen? Lüge nicht! Um noch einmal Abschied zu nehmen?‹ ›Nein.‹ ›Weshalb dann? Um hierzubleiben und Selbstmord zu begehen?‹ Ich schüttelte den Kopf. Ich erkannte, daß es nur eine Antwort gab, die sie verstehen würde, und nur eine, die ich jetzt geben durfte, selbst wenn es nie geschähe. Ich mußte sie geben. ›Um dich zu holen‹, sagte ich. ›Weißt du das denn immer noch nicht?‹ Ihr Gesicht veränderte sich. Der Zorn verschwand. Es wurde sehr schön. ›Ja‹, murmelte sie. ›Aber du mußt es mir doch sagen. Weißt du das denn noch immer nicht?‹ Ich nahm meinen Mut zusammen. ›Ich will es dir hundertmal sagen, Helen, und ich möchte es dir jede Minute sagen – am meisten aber sage ich es dir, wenn ich dir erklären muß, daß es unmöglich ist.‹ ›Es ist nicht unmöglich. Ich habe einen Paß.‹ Ich schwieg einen Augenblick. Das Wort schlug ein, als wäre es ein Blitz in den konfusen Wolken meiner Überlegungen. ›Du hast einen Paß?‹ wiederholte ich. ›Einen Auslandspaß?‹ Helen öffnete ihre Handtasche und nahm ihren Paß heraus. Sie hatte ihn nicht nur, sie hatte ihn auch bei sich. Ich betrachtete ihn, wie man den heiligen Gral ansehen würde. Ein gültiger Paß war nichts anderes; er war Erklärung und Recht zugleich. ›Seit wann?‹ fragte ich. ›Seit zwei Jahren‹, sagte sie. ›Er ist noch drei Jahre gültig. Ich habe ihn dreimal gebraucht, einmal um nach Österreich zu fahren, als es noch unabhängig war, und zweimal für die Schweiz.‹ Ich blätterte ihn durch. Ich mußte mich fassen. Die Wirklichkeit stand plötzlich vor mir. Ein Paß knisterte in meiner Hand. Es war nicht mehr ausgeschlossen, daß Helen Deutschland verlassen konnte. Ich hatte geglaubt, es wäre nur möglich, wenn sie fliehen und heimlich die Grenze überschreiten würde, wie ich. ›Einfach, nicht wahr?‹ sagte Helen, die mich beobachtet hatte. Ich nickte, als wäre ich ein Idiot. ›Du kannst also einen Zug nehmen und einfach abfahren‹, erwiderte ich und sah noch einmal den Paß an. Daran hatte ich nie gedacht. ›Aber du hast kein Visum nach Frankreich?‹ ›Ich kann nach Zürich fahren und mir dort eins geben lassen. Für die Schweiz brauche ich keins.‹ ›Das ist wahr.‹ Ich starrte sie an. ›Und deine Familie?‹ fragte ich. ›Lassen sie dich gehen?‹ ›Ich werde sie nicht fragen. Und ihnen nichts sagen. Ich werde ihnen erklären, ich müsse nach Zürich, um zu einem Arzt zu gehen. Ich habe das schon vorher getan.‹ ›Bist du denn krank?‹ ›Natürlich nicht‹, sagte Helen. ›Ich habe es getan, um einen Paß zu bekommen. Um hier herauszukommen. Ich war am Ersticken.‹ Ich erinnerte mich, daß Georg sie gefragt hatte, ob sie beim Arzt gewesen sei. ›Du bist nicht krank?‹ fragte ich noch einmal. ›Unsinn. Meine Familie glaubt es aber. Ich habe es ihr eingeredet, damit ich Ruhe habe. Und damit ich heraus konnte. Martens hat mir dabei geholfen. Es braucht Zeit, einen echten Deutschen davon zu überzeugen, daß es vielleicht in der Schweiz Spezialisten geben könne, die noch mehr wissen, als die Autoritäten in Berlin.‹ Helen lachte plötzlich. ›Sei nicht so dramatisch! Es geht nicht um Leben und Tod, und es ist keine Flucht bei Nacht und Nebel. Ich fahre einfach morgen für einige Tage nach Zürich, um mich untersuchen zu lassen, so wie ich es schon vorher getan habe. Vielleicht sehe ich dich dann dort, wenn du auch da bist. Klingt das besser?‹ ›Ja‹, sagte ich. ›Aber laß uns weiterfahren. Ich bin noch wie jemand, dessen Kopf abwechselnd rasch in kochendes und eiskaltes Wasser getaucht wird und der den Unterschied nicht fühlt. Warum habe ich nie daran gedacht? Es ist alles plötzlich so einfach, daß ich furchte, eine Brigade SS müsse gleich aus dem Wald brechen.‹ ›Alles ist scheinbar einfach, wenn man verzweifelt ist, Liebster‹, sagte Helen sehr sanft. ›Eine sonderbare Kompensation! Ist das immer so?‹ ›Ich hoffe, wir brauchen nie darüber nachzudenken.‹ Der Wagen glitt aus dem Staub des Sommerweges auf die Fahrbahn. ›Ich bin sogar vorbereitet, immer so zu leben‹, sagte Helen, ohne irgendein Anzeichen der Verzweiflung. Sie ging mit mir ins Hotel. Es war überraschend, wie schnell sie sich in meiner Situation zurechtfand. ›Ich gehe mit dir in die Halle‹, erklärte sie. ›Männer allein sind verdächtiger als ein Mann mit einer Frau.‹ ›Du lernst rasch.‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Das habe ich gelernt, bevor du kamst. In den Jahren der Denunziation. Nationale Erhebungen sind wie Steine, die man vom Boden hebt – das Ungeziefer kriecht darunter hervor. Es hat für seine Vulgarität endlich große Worte, die es decken.‹ Der Hotelassistent gab mir meinen Schlüssel, und ich ging auf mein Zimmer. Helen blieb unten, um auf mich zu warten. Mein Koffer stand neben der Tür auf einem Koffer-Stand. Ich blickte mich in dem belanglosen Zimmer um. Es war wie viele, in denen ich gehaust hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich angekommen war, aber die Erinnerung daran verschwamm bereits. Ich erkannte, daß ich nicht mehr am Ufer stand oder mich versteckte und auf den Strom blickte – ich schwamm schon auf einer Planke mit. Ich stellte den Koffer, den ich mitgebracht hatte, neben den, den ich früher gekauft hatte. Dann ging ich wieder hinunter zu Helen. ›Wie lange hast du Zeit?‹ fragte ich. ›Ich muß den Wagen heute nacht zurückbringen.‹ Ich sah sie an. Ich begehrte sie so, daß ich einen Augenblick nicht sprechen konnte. Ich starrte auf die braunen und grünen Sessel der Halle und auf die Portiersloge und den scharfbeleuchteten Tisch mit den vielen Brieffächern im Hintergrund und wußte, daß es hier unmöglich war, Helen auf mein Zimmer zu bringen. ›Wir können noch zusammen essen‹, sagte ich. ›Laß uns so tun, als ob wir uns morgen wiedersähen.‹ ›Nicht morgen‹, erwiderte Helen. ›Übermorgen.‹ Übermorgen mochte etwas für sie bedeuten; für mich war es noch so wie niemals oder eine unsichere Chance in einer Lotterie mit wenigen Gewinnen und zahllosen Nieten. Ich hatte zu viele Übermorgen erlebt, und sie waren alle anders gewesen, als ich gehofft hatte. ›Übermorgen‹, sagte ich. ›Übermorgen oder einen Tag später. Es richtet sich nach dem Wetter. Wir wollen heute nicht daran denken.‹ ›Ich denke an nichts anderes‹, erwiderte Helen. Wir gingen in den Domkeller, ein altdeutsch eingerichtetes Restaurant, und fanden einen Tisch, an dem wir nicht belauscht werden konnten. Ich bestellte eine Flasche Wein und wir besprachen, was zu besprechen war. Helen wollte morgen nach Zürich fahren. Dort würde sie auf mich warten. Ich wollte den Weg über Österreich und den Rhein nehmen, den ich kannte, und sie anrufen, wenn ich Zürich erreicht hätte. ›Und wenn du nicht kommst?‹ fragte sie. ›Man darf aus Schweizer Gefängnissen schreiben. Warte eine Woche. Wenn du dann nichts von mir gehört hast, fahre zurück.‹ Helen sah mich lange an. Sie wußte, was ich meinte. Aus deutschen Gefängnissen gab es keine Gelegenheit mehr, zu schreiben. ›Ist die Grenze scharf bewacht?‹ flüsterte sie. ›Nein‹, sagte ich. ›Und denk nicht darüber nach. Ich bin hereingekommen – warum sollte ich nicht hinauskommen?‹ Wir versuchten, den Abschied zu ignorieren; aber wir konnten es nicht ganz. Wie eine mächtige schwarze Säule stand er zwischen uns, und alles, was wir tun konnten, war, um ihn herum gelegentlich einen Blick auf unsere verstörten Gesichter zu erhaschen. ›Es ist wie vor fünf Jahren‹, sagte ich. ›Nur dieses Mal gehen wir beide.‹ Helen schüttelte den Kopf. ›Sei vorsichtig!‹ sagte sie. ›Sei um Gottes willen vorsichtig! Ich werde warten. Länger als eine Woche! So lange du willst. Riskiere nichts!‹ ›Ich werde vorsichtig sein. Laß uns nicht darüber sprechen. Man kann Vorsicht zerreden. Sie ist dann nicht mehr gut.‹ Sie legte ihre Hand auf meine Hand. ›Ich begreife erst jetzt, daß du gekommen bist! Jetzt, wo du wieder gehst! So spät!‹ ›Ich auch‹, erwiderte ich. ›Es ist gut, daß wir es jetzt wissen.‹ ›So spät‹, murmelte sie. ›Erst jetzt, wo du gehst.‹ ›Nicht erst jetzt. Wir haben es immer gewußt. Wäre ich sonst gekommen, und hättest du auf mich gewartet? Wir können es uns nur jetzt zum erstenmal sagen.‹ ›Ich habe nicht immer gewartet‹, sagte sie. Ich schwieg. Ich hatte auch nicht gewartet, aber ich wußte, daß ich es ihr nie sagen durfte. Am wenigsten jetzt. Wir waren beide ganz offen und ohne jede Verteidigung. Wenn wir je zusammenleben würden, dann war es dieser Augenblick in einem lärmenden Restaurant in Münster, zu dem wir immer wieder und jeder für sich zurückkehren konnten, um Kraft und Bestätigung zu holen. Er würde ein Spiegel sein, in den wir blicken konnten, und er würde uns zwei Bilder zeigen: das, wie das Schicksal uns gewollt, und das, wozu es uns gemacht hatte – und das war viel; die Irrtümer kommen immer daher, daß man das erste Bild verloren hat. ›Du mußt jetzt gehen‹, sagte ich. ›Sei vorsichtig. Fahre nicht zu schnell.‹ Ihre Lippen zuckten. Ich merkte die Ironie erst, nachdem ich es gesagt hatte. Wir standen in der windigen Straße zwischen den alten Häusern. ›Sei du vorsichtig‹, flüsterte sie. ›Du brauchst es mehr.‹ Ich blieb eine Zeitlang in meinem Zimmer, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zum Bahnhof, kaufte mir eine Fahrkarte nach München und schrieb mir die Züge auf Es gab einen, der noch am selben Abend fuhr. Ich beschloß, ihn zu nehmen. Die Stadt war still. Ich kam am Domplatz vorbei und blieb stehen. Im Dunkel konnte ich nur einen Teil der alten Gebäude erkennen. Ich dachte an Helen und an das, was geschehen würde, aber es wurde so mächtig und undeutlich, wie die hohen Fenster im Schatten der Kirche; ich wußte plötzlich nicht mehr, ob es richtig war, sie zu holen, oder ob es zum Untergang fuhren würde und ob ich ein frivoles Verbrechen begangen oder eine unerhörte Gnade empfangen hatte, und vielleicht war es beides. In der Nähe des Hotels hörte ich unterdrücktes Sprechen und Schritte. Zwei SS-Leute kamen aus einer Haustür und stießen einen Mann auf die Straße. Ich sah sein Gesicht im Schein einer Straßenlaterne. Es war schmal und wächsern, und von der rechten Seite des Mundes lief ein schwarzer Blutfaden über das Kinn. Der Kopf war kahl, aber über den Schläfen wuchs dunkles Haar. Die Augen waren weit aufgerissen und voll eines solchen Entsetzens, wie ich es lange nicht mehr gesehen hatte. Der Mann schwieg. Seine Begleiter stießen und zerrten ihn ungeduldig vorwärts. Sie waren nicht laut; die ganze Szene hatte etwas Unterdrücktes, Gespenstisches. Die SS-Leute blickten mich wütend und herausfordernd an, als sie an mir vorüberkamen, und der Gefangene starrte mit seinen paralysierten Augen auf mich und machte etwas wie eine Geste um Hilfe, und seine Lippen bewegten sich; aber kein Laut kam hervor. Es war die ewige Szene der Menschheit – die Knechte der Gewalt, das Opfer, und der ewige Dritte, der Zuschauer, der die Hände nicht hebt und das Opfer nicht verteidigt und nicht versucht, es zu befreien, weil er für seine eigene Sicherheit furchtet und dessen eigene Sicherheit eben deshalb immer in Gefahr ist. Ich wußte, daß ich nichts für den Verhafteten hätte tun können. Die bewaffneten SS-Leute hätten mich mühelos überwältigt – ich erinnerte mich auch, wie mir jemand von einer ähnlichen Szene erzählt hatte. Er hatte gesehen, wie ein SS-Mann einen Juden verhaftete und verprügelte, und war ihm zu Hilfe gekommen; er hatte den SS-Mann bewußtlos geschlagen und dem Opfer zugerufen, zu fliehen. Aber der Verhaftete hatte seinen Befreier verflucht; er sei jetzt erst verloren, weil er nun in eine Situation gebracht worden sei, wo ihm auch dies aufgerechnet werde, und er war schluchzend Wasser holen gegangen, um den SS-Mann wieder zu Bewußtsein zu bringen, damit er von ihm zum Tode geführt werden konnte. Ich erinnerte mich an diese Erzählung, aber ich blieb trotzdem so verstört und in solch einem Widerstreit von Hilflosigkeit, Selbstverachtung, Angst und einem Gefühl fast von Frivolität, nach eigenem Glück auszublicken, während andere ermordet wurden, daß ich zum Hotel ging, meine Sachen holte und zum Bahnhof fuhr, obschon es noch zu früh dafür war. Es schien mir angepaßter, im Wartesaal zu sitzen, als mich im Hotelzimmer zu verbergen. Das kleine Risiko, das ich dadurch nahm, gab in einer kindischen Weise meinem Selbstgefühl wenigstens einen geringen Halt.« |
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