"Stefan Zweig. Buchmendel (Букинист. На немецком языке)" - читать интересную книгу автора

geistigen und erzдhlerischen Gehalt: nur ihr Name, ihr Preis, ihre
Erscheinungsform, ihr erstes Titelblatt zog seine Leidenschaft an.
Unproduktiv und unschцpferisch im letzten, bloЯ ein hunderttausendstelliges
Verzeichnis von Titeln und Namen, in die weiche Gehirnrinde eines
Sдugetieres eingestempelt statt wie sonst in einen Buchkatalog geschrieben,
war dies spezifisch antiquarische Gedдchtnis Jakob Mendels jedoch in seiner
einmaligen Vollendung als Phдnomen nicht geringer als jenes Napoleons fьr
Physiognomien, Mezzofantis fьr Sprachen, eines Lasker fьr Schachanfдnge,
eines Busoni fьr Musik. Eingesetzt in ein Seminar, an eine цffentliche
Stelle, hдtte das Gehirn Tausende, Hunderttausende von Studenten und
Gelehrte belehrt und erstaunt, fruchtbar fьr die Wissenschaften, ein
unvergleichlicher Gewinn fьr jene цffentlichen Schatzkammern, die wir
Bibliotheken nennen. Aber diese obere Welt war ihm, dem kleinen,
ungebildeten galizischen Buchtrцdler, der nicht viel mehr als seine
Talmudschule bewдltigt, fьr ewig verschlossen; so vermochten diese
phantastischen Fдhigkeiten sich nur als Geheimwissenschaft auszuwirken an
jenem Marmortische des Cafй Gluck. Doch wenn einmal der groЯe Psychologe
kommt (dies Werk fehlt noch immer unserer geistigen Welt), der so beharrlich
und geduldig, wie Buffon die Abarten der Tiere ordnete und klassierte,
seinerseits alle Spielarten, Spezies und Urformen der magischen Macht, die
wir Gedдchtnis nennen, vereinzelt schildert und in ihren Varianten darlegt,
dann mьЯte er Jakob Mendels gedenken, dieses Genies der Preise und Titel,
dieses namenlosen Meisters der antiquarischen Wissenschaft.
Dem Berufe nach und fьr die Unwissenden galt Jakob Mendel freilich nur
als kleiner Buchschacherer. Allsonntags erschienen in der "Neuen Freien
Presse" und im "Neuen Wiener Tagblatt" dieselben stereotypen Anzeigen:
"Kaufe alte Bьcher, zahle beste Preise, komme sofort, Mendel, obere
AlserstraЯe", und dann eine Telefonnummer, die in Wirklichkeit jene des Cafй
Gluck war. Er stцberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbдrtigen
Dienstmann allwцchentlich neue Beute in sein Hauptquartier und von dort
wieder weg, denn fьr einen ordnungsmдЯigen Buchhandel fehlte ihm die
Konzession. So blieb es beim kleinen Schacher, bei einer wenig eintrдglichen
Tдtigkeit. Studenten verkauften ihm ihre Lehrbьcher, durch seine Hдnde
wanderten sie vom дlteren Jahrgang zum jeweils jьngeren, auЯerdem vermittele
und besorgte er jedes gesuchte Werk mit geringem Zuschlag. Bei ihm war guter
Rat billig. Aber das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; denn nie
hatte man ihn anders gesehen als im gleichen abgeschabten Rock, frьh,
nachmittags und abends seine Milch verzehrend und zwei Brote, mittags eine
Kleinigkeit essend, die man ihm vorn Gasthaus herьberholte. Er rauchte
nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er lebte nicht, nur die beiden
Augen lebten hinter der Brille und fьtterten jenes rдtselhafte Wesen Gehirn
unablдssig mit Worten, Titeln und Namen. Und die weiche, fruchtbare Masse
sog diese Fьlle gierig in sich ein wie eine Wiese die tausend und aber
tausend Tropfen eines Regens. Die Menschen interessierten ihn nicht, und von
allen menschlichen Leidenschaften kannte er vielleicht nur die eine,
freilich allermenschlichste, der Eitelkeit. Wenn jemand zu ihm um eine
Auskunft kam, an hundert andern Stellen schon mьde gesucht, und er konnte
auf den ersten Hieb ihm Bescheid geben, dies allein wirkte auf ihn als
Genugtuung, als Lust, und vielleicht noch dies, daЯ in Wien und auswдrts ein
paar Dutzend Menschen lebten, die seine Kenntnisse ehrten und brauchten. In