"Die beste Frau der Space Force" - читать интересную книгу автора (Хольбайн Вольфганг)

Wolfgang Hohlbein Charity – Die beste Frau der Space Force I Die Stadt unten im Tal brannte immer noch. Der Himmel im Norden – und nicht nur irgendwo im Norden, sondern ьberall! – glьhte in einem tiefen, drohenden Rot, als wдre die ganze Welt dort wie ein Stьck trockener Holzkohle aufge­flammt. Vor ein paar Minuten hatte sie eine Stelle passiert, an der die StraЯe aufgerissen war. Drei tote Soldaten hatten den gewaltigen Krater flankiert, der in der As­phaltdecke gдhnte und sich bereits mit Wasser fьllte, und ein kleines Stьck daneben hatte ein Panzer gestanden. Oder das, was davon ьbrig war: fьnfund­vierzig Tonnen Stahl, die ein Geschoss in ein ausgeglьhtes Wrack verwandelt hatte. Mit aller Kraft versuchte sie, den Wagen auf dem Weg zu halten. Der Trans-Am schoss mit fast achtzig Meilen die StraЯe hinauf, und trotzdem hatte sie das Ge­fьhl, nicht von der Stelle zu kommen. Als sie das letzte Mal hier gewesen war (groЯer Gott, war das wirklich erst drei Monate her?) hatte der Tachometer eine Entfernung von kaum sechs Meilen angezeigt, von der Stadt zum Berg. Aber heute schien die StraЯe einfach kein Ende zu nehmen. Und als wдre alles ьbrige noch nicht schlimm genug, hatte es wie aus Kьbeln zu regnen begonnen. Wo der Asphalt nicht aufgerissen oder geschmolzen war, glдnzte er wie eine Eisbahn und war auch fast genauso glatt. Der Motor des Trans-Am heulte auf. Der Wagen machte einen Satz, begann zu schlingern und schlitterte durch die nдchste Kurve. Es hatte nichts mit Kцnnen zu tun, dass sie ihn abfing. Es war nur Glьck. Dahinter lag der Berg. Charity atmete auf, schaltete zurьck und beschleunigte wieder. Die Tachometernadel nдherte sich der Hundert-Meilen-Marke, berьhrte sie fьr einen flьchtigen Moment und sackte wieder zurьck, als Charity Gas weg­nahm. Sie kannte die Gegend hier wie ihre Westentasche, aber es war Nacht, die StraЯe war glatt und nass, und sie hatte keine Garantie, dass es hier wirklich noch so aussah, wie sie in Erinnerung hatte. Ihre Vorsicht rettete ihr das Leben. Das Wachhдuschen neben der Einfahrt war verwaist, und das riesige Maschendrahttor stand offen, aber quer ьber der StraЯe dahinter lag ein ausgeglьhter HeliCopter. Charity fluchte, trat Bremse und Kupplung gleichzeitig und versuchte, den Wagen an dem Hindernis vorbei­zusteuern. Fast hдtte sie es sogar geschafft. Die flache Schnauze des Trans-Am schrammte am Wrack des Hubschraubers entlang. Etwas traf die Windschutzscheibe und verwandelte sie in ein Netz aus blinden Sprьngen, dann platzte ein Reifen. Charity schrie auf und klammerte sich mit aller Kraft am Lenkrad fest, wдhrend sich der Wagen in einen Kreisel verwandelte, mit furchtbarer Wucht gegen ein weiteres, unsichtbares Hindernis krachte und schlieЯlich zum Stehen kam; in der gleichen Sekunde, in der sie ernsthaft damit rechnete, dass er einfach umkippen wьrde. Der Motor erstarb mit einem Gerдusch, das ihr sagte, dass er nie wieder ansprin­gen wьrde, und plцtzlich fiel die Windschutzscheibe einfach in sich zusammen und ьberschьttete sie mit einem Regen kleiner stumpfer Scherben. Der Wind peitschte eisiges Wasser in den Wagen. Irgendwo in der Nдhe zьngelten Flammen in den Regen hinaus. Mit zitternden Hдnden tastete Charity nach dem Verschluss des Sicherheitsgur­tes, lцste ihn und beugte sich ganz automatisch vor, um den Zьndschlьssel abzu­ziehen, ehe ihr die Sinnlosigkeit dieser Bewegung bewusst wurde und sie den Arm zurьckzog. Statt des Zьndschlьssels klaubte sie die Smith amp; Wesson aus dem Handschuhfach, lieЯ den Sicherungshebel herumschnappen und stieЯ mit der Schulter die Tьr auf. Sie hatte Glьck gehabt, trotz allem. Der Bunker war nur noch ein paar Schritte entfernt, und sie schien – wider Erwarten – sogar noch im Zeitplan zu liegen: Das riesige Doppeltor war noch nicht ganz geschlossen. Der bleiche Lichtfinger ei­ner Taschenlampe fiel aus dem schmalen Spalt zwischen den beiden hundert Tonnen schweren Stahlflьgeln. Doch seltsam – er bewegte sich nicht. Dabei war ihre Ankunft nun wirklich spektakulдr genug gewesen, um bemerkt zu werden. Einen Moment lang zцgerte sie noch, denn der Wagen, obschon zerbeult und fahruntьchtig, war ihr einziger Schutz; alles, was zwischen ihr und dem war, in das sich die Welt im Laufe der letzten sechs Tage verwandelt hatte. Dann prallte irgend etwas gegen das Heck des Wagens; es hцrte sich an wie ein Ball aus Le­der und kleinen spitzen Stahlstacheln. Sie trieb sich zur Eile an und lieЯ sich aus dem Wagen fallen – mit einer perfekten Rolle, deren Schwung sie wieder auf die Beine kommen lieЯ, so rasch, dass sie einen hastigen Schritt machen musste, um nicht sofort wieder im Morast zu landen. Sie fuhr herum, drehte sich einmal im Kreis und begann auf den Spalt im Berg zuzulaufen. Die Bewegung war so schnell und flieЯend, dass sie sie kaum spьrte. Ihr Tae-Kwon-Do-Lehrer wдre stolz auf sie gewesen. Aber ihr Tae-Kwon-Do-Lehrer, dachte Charity, war so tot wie die meisten Men­schen, und wenn sie nicht verdammt aufpasste, dann wьrde sie das auch bald sein. Sie rannte los. Sie wurde nicht angegriffen, aber die wenigen Schritte waren die lдngsten ihres Lebens. Irgendwo ьber ihr pflьgte ein schwarzes Wesen durch den Himmel, und trotz des heftigen Regens war es stickig heiЯ; ihre Haut brannte, und in der Luft lag ein bitterer, so fremdartiger Geschmack, dass ihr fast ьbel davon wurde. Vцllig erschцpft erreichte sie das Tor, lieЯ sich gegen den feuchten Stahl sinken und sah sich aufmerksam um. Noch immer machte niemand Anstalten, sie an­zugreifen, aber die Nacht war voller Bewegung und Unruhe. Es war, als wдre die Dunkelheit selbst zu entsetzlichem Leben erwacht, ьberall huschte, krabbelte und kroch es; in das Peitschen des Regens mischten sich sonderbar rasselnde Laute. Feuchtigkeit glдnzte auf schwarzem Chitin und regenbogenfarbigen In­sektenaugen. Und die Taschenlampe, deren Strahl direkt neben ihr auf den mo­rastigen Boden fiel, bewegte sich noch immer nicht. Charity nahm all ihren Mut zusammen, drehte sich blitzschnell herum und sprang mit einem Satz durch den schmalen Torspalt. Die Bewegung rettete ihr das Leben. Ein Ungeheuer mit vielen Beinen und riesigen Zдhnen stьrzte gegen das Tor, stieЯ einen дrgerlichen Pfiff aus und begann sonderbar langsam an dem spiegel­glatten Panzerstahl herabzugleiten. Ein zweiter, noch schrillerer Pfiff erscholl, als das Wesen den Boden berьhrte und sich – plцtzlich ganz und gar nicht mehr langsam – auf wirbelnden Beinen herumdrehte. Aber so schnell es auch war – Charity war schneller. Sie rollte herum, hob die Smith amp; Wesson und riss den Abzug durch. Die Waffe stieЯ einen kurzen, peit­schenden Laut und eine unterarmlange Feuerlanze aus, und anderthalb Meter vor Charitys Gesicht spritzte etwas auseinander, das eine unangenehme Дhnlichkeit mit einer vielbeinigen Spinne hatte. Charity unterdrьckte den Ekel, den der Anblick in ihr wachrief, sprang auf die Beine und vollfьhrte eine halbe Drehung, die Waffe im Anschlag. Aber es gab nichts, worauf sie schieЯen konnte – oder wenn, dann sah sie es we­nigstens nicht. Die Halle war so dunkel, dass selbst der Lauf ihrer Smith amp; Wes­son in einer Hand aus schwarzer Watte zu verschwinden schien. Fьr Sekunden erstarrte sie zu vollkommener Bewegungslosigkeit, schloss die Augen und lauschte. Sie vernahm Gerдusche, sehr viele und sehr beunruhigende Gerдusche, aber kei­ne, die sie identifizieren konnte: ein Rascheln und Schleifen, ein Schaben und Zerren, ein leises Wispern, wie von fremden, bцsen Stimmen… Charity versuchte, diejenigen Laute auszusortieren, die nur Produkt ihrer ьber­reizten Nerven waren, aber es gelang ihr nicht. Unendlich vorsichtig, um nur kein verrдterisches Gerдusch zu verursachen, be­wegte sie sich rьckwдrts, ging in die Hocke und tastete mit der linken Hand hin­ter sich. Ihre Finger glitten ьber den harten Beton des Hallenbodens, fьhlten et­was Weiches – der Anblick des Spinnenungeheuers erschien fьr einen Moment vor ihren Augen, und wieder fьhlte sie Ekel wie eine warme sьЯliche Woge in ihrer Kehle hochsteigen –, dann Widerstand. Einen Kцrper. Sie widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen, sondern beugte sich nur ein wenig zur Seite und tastete nach der Lampe, wдhrend die Waffe in ihrer Hand bestдndig weitere unruhige Halbkreise durch die Dunkelheit beschrieb und auf alles zielte, was sich darin verbergen mochte. Endlich ertastete sie das kьhle Metall der Stablampe. Einen Moment lang ver­harrte sie noch reglos. Obwohl ihr die Dunkelheit fast den Verstand raubte, hatte sie beinahe noch grцЯere Angst davor, den Lichtstrahl herumzuschwenken und zu sehen, was sich hinter der Wand aus Schwдrze verbarg. Andererseits – kein Schrecken konnte so schlimm sein wie der, den ihr ihr eigenes Unterbewusstsein ausmalte. ReiЯ dich zusammen, du hysterische Ziege! dachte sie wьtend. Du wдrst lдngst tot, wenn hier irgend etwas wдre! Das stimmte natьrlich nicht – ihre Gegner ka­men aus einer Welt, die mit herkцmmlicher Logik nicht mehr zu erklдren war. Ihr hдmmernder Pulsschlag beruhigte sich ein wenig, und auch das Zittern ihrer Hдnde nahm ab, wenn es auch nicht ganz aufhцrte. Hinter ihrer Stirn kreisten die Gedanken, aber immerhin hatte sie sich so weit in der Gewalt, sich ganz lang­sam in eine geduckte Stellung zu erheben und die Lampe auszuschalten, ehe sie sie herumdrehte und in die Richtung hielt, in der sie in dieser totalen Dunkelheit das innere Schott vermutete. Mit einer entschlossenen Bewegung schaltete sie die Lampe ein. Eine Sekunde spдter wьnschte sie sich, es nicht getan zu haben. Sie hatte sich getдuscht. Es gab durchaus Dinge, die schlimmer als alles Vor­stellbare waren. Es war ein Alptraum. Der dьnne, zitternde Lichtkegel ihrer Lampe riss nur Fet­zen aus der Dunkelheit, aber allein das wenige, was sie sah, lieЯ sie zusammen­zucken. Wo vor drei Monaten die fast klinisch saubere Schleusenhalle der Bun­keranlage gewesen war, erstreckte sich jetzt etwas, das als Kulisse eines Horror-Filmes hдtten herhalten kцnnen. Nur dass es Realitдt war; eine entsetzliche Rea­litдt. Charity unterdrьckte ihren Widerwillen, machte einen vorsichtigen Schritt – aber nicht, ohne sich vorher davon zu ьberzeugen, wohin sie ihren FuЯ setzte – und zwang sich, das fьrchterliche Bild in allen Einzelheiten aufzunehmen. Grauer Schleim bedeckte den Boden und die Wдnde. Klumpige Verdickungen klebten ьberall. Formlose Dinge, die pulsierten und zitterten, als lebten sie. Hier und da krochen kleine, gepanzerte Wesen durch die glitzernde Masse, emsig beschдftigt mit Dingen, die sie nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte, und quer durch die gesamte Halle spannte sich etwas, das wie ein ins Absurde vergrцЯer­tes Spinnennetz aussah. Das Spinnentier fiel ihr wieder ein, das sie angegriffen hatte, und ein eisiger Schauer von Furcht lief prickelnd ihren Rьcken herab. Dieses Netz war entschieden zu groЯ, um nur das Werk eines einzigen dieser Tiere zu sein. Sie machte einen weiteren Schritt, blieb wieder stehen und drehte sich mit klop­fendem Herzen einmal um ihre Achse. Wenigstens sah sie keine Leichen. Die Mдnner, die hier am Tor auf sie gewartet hatten, mussten noch Zeit gefunden haben, sich in Sicherheit zu bringen, ehe dieses Insektenungeheuer die Schleu­senhalle in ein Gruselkabinett verwandelt hatte. Oder waren aufgefressen worden, flьsterte eine Stimme hinter ihrer Stirn. Fast gegen ihren Willen begriff sie, dass manche der zitternden Klumpen, die in das Netz eingesponnen waren, durchaus groЯ genug waren, einen menschlichen Kцrper aufzunehmen. Sie zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu verfol­gen, und ging zitternd weiter. Der Lichtstrahl ihrer Lampe tastete wie ein blei­cher Geisterfinger durch die Halle. Die Spinne hockte drei Meter ьber ihrem Kopf in einem Knotenpunkt dieses sonderbaren Netzes, und sie war sehr viel grцЯer als das Tier, das sie angegriffen hatte. Es war auch nicht wirklich eine Spinne – ihr Kцrper war rund wie eine Kugel, ohne sichtbaren Kopf oder sonstige Extremitдten, sah man von den vie­len haarigen Beinen ab, mit denen sie sich an ihrem Netz festklammerte. Ihr Maul war ein dreieckiger Schlitz, in dem spitze Zдhne blitzten, und ihre Augen glichen eher denen von Katzen als von Insekten und wirkten sehr wach, erfьllt von einer Intelligenz, die Charity schaudern lieЯ. Charity hob die Waffe und richtete ihren Lauf auf das braungraue Ungeheuer, aber das Tier machte nicht einmal den Versuch, sie anzugreifen. Es hockte einfach da, blinzelte aus seinen groЯen, beunruhigend klugen Augen auf sie herab und bewegte dann und wann trдge ein Bein. Beinahe lautlos ging Charity weiter, duckte sich unter einem Faden des riesigen Netzes hindurch und nдherte sich rьckwдrts gehend der gegenьberliegenden Wand und dem Tor. Sie hatte nicht vor, den Цffnungsmechanismus des Schotts ьberhaupt zu betдtigen – wenn dort unten noch jemand am Leben war, dann hat­ten sie die atombombensichere Tьr garantiert mit allem verrammelt, was ihnen zur Verfьgung stand –, aber es gab eine kleine Tьr, nur wenige Schritte entfernt, und neben anderen nьtzlichen Gegenstдnden befand sich auch der elektronische Schlьssel zu diesem Notausgang an ihrem Gьrtel. Die Spinne beobachtete sie, bewegte sich aber immer noch nicht. Charitys Ab­stand zu ihr wuchs auf fьnf, dann auf zehn Meter, und schlieЯlich hatte sie das Tor erreicht. Hinter ihr lag jetzt nur noch der eisige Stahl der zweihundert Ton­nen schweren Tьr, die diese Bunkeranlage zur sichersten der Welt machte. Langsam, ohne das grдssliche Tier (Tier?) auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, schob sie sich am Tor entlang, bis der Stahl glattem, mit Kunststoff beschichtetem Feld und dann wieder eisigem Metall wich. Die Tьr. Charity zцgerte. Wenn dieses… Wesen dort oben auch nur einen Teil der Intelli­genz besaЯ, den es ihr zubilligte, dann musste es wissen, was die Waffe in ihrer Hand bedeutete. Aber es musste auch ebenso wissen, dass sie entweder die Smith amp; Wesson oder die Stablampe loslassen musste, um den Impulsgeber vom Gьrtel zu lцsen und die Tьr zu цffnen. Ihre Gedanken ьberschlugen sich. Langsam hob sie die Waffe, zielte auf die Stelle genau zwischen den Augen des Insektenungeheuers – und zцgerte wieder. Etwas in ihr strдubte sich dagegen, das Tier einfach zu erschieЯen. Nicht Mitleid oder Skrupel; beides war ihr in den letzten beiden Wochen grьndlich und fьr alle Zeiten ausgetrieben worden. Aber es war ein Gefьhl, das sie warnte, das Mon­ster einfach zu erledigen. Und sie hatte gelernt, auf Gefьhle zu hцren. Langsam senkte sie die Waffe wieder, drehte sich herum, bis sie so stand, dass sie die Spinne und die Tьr gleichermaЯen im Auge behalten konnte, und ver­suchte mit der linken Hand den Impulsgeber vom Gьrtel zu lцsen, ohne dabei die Lampe fallen zu lassen. Es war ein Kunststьck, aber es gelang ihr. Zitternd vor Anspannung bewegte sie den kaum zigarettenschachtelgroЯen Kasten auf das Panzerschott zu, lauschte auf das kaum hцrbare Klicken, mit dem die Magnethalterung einrastete, und drьckte mit aller Kraft den einzigen, roten Knopf, der die schwarze Plastikober­flдche des Impulsgebers unterbrach. Im gleichen Moment bewegte sich die Spinne. Es ging so schnell, dass sie sich vor Charitys Augen in einen wirbelnden Schat­ten zu verwandeln schien; ein Huschen, dem ihr Blick kaum zu folgen vermoch­te. Sie drьckte ab, aber sie wusste schon im gleichen Moment, dass die Kugel nicht treffen wьrde. Das Tier war einfach zu schnell. Verzweifelt versuchte sie, der rasenden Bewegung des pelzigen Balles mit der Lampe zu folgen, schoss noch einmal und noch einmal – ohne etwas auszurich­ten. Dann war das Tier heran, schlug vor ihr einen blitzschnellen Haken nach rechts – und aus dem Netz ьber Charity lцste sich ein gewaltiges Segment und fiel bei­nahe lautlos auf sie herab. Charity schrie auf, machte einen Schritt zur Seite und stьrzte auf den harten Be­tonboden, als sie sich in das dьnne klebrige Gespinst verstrickte. Verzweifelt zerrte sie an dem weiЯen Gespinst, erreichte damit aber nicht mehr, als sich nur noch mehr in dem weitmaschigen Netz zu verheddern. Die einzelnen Fдden wa­ren kaum dicker als ein Haar, aber sie schienen unzerreiЯbar zu sein, und sie brannten wie Sдure, dort, wo sie ihre bloЯe Haut berьhrten. Irgendwo hinter und ьber ihr erscholl ein dьnner Pfeifton, gefolgt von einem metallenen Klicken, als die Panzertьr aufsprang. Zu spдt, dachte sie bitter. Zehn Sekunden zu spдt. Ver­dammt, sie hatte einen Moment lang durchgehalten, hatte sich quer durch die Hцlle bis hierher durchgekдmpft – und das alles, um zehn verdammte Sekunden zu spдt zu kommen! Der Zorn, mit dem sie dieser Gedanke erfьllte, gab ihr noch einmal die Kraft, sich herumzuwдlzen und die Hand nach der Waffe auszustrecken. Verzweifelt versuchte sie, das Brennen und Schneiden der дtzenden Fдden auf der Haut zu ignorieren, zog die Knie an den Kцrper und bewegte sich rhythmisch, um auf die Seite zu rollen und sich so der Smith amp; Wesson zu nдhern. Die Waffe war ihr entglitten, aber sie konnte nicht weit sein, nur ein Stьck, vielleicht einen halben Meter, nahe genug, um sie trotz des wьrgenden Netzes zu – Charity erstarrte, als sie ihre Drehung so weit vollendet hatte, dass sie die Waffe erkennen konnte. Sie lag da, wo sie sie vermutet hatte, sogar noch ein bisschen nдher, und die Spinne hockte mit weit ausgebreiteten Beinen darьber!! Charity starrte das Ungeheuer an, und die Bestie starrte sie an. Sie war jetzt si­cher, sich das spцttische Glitzern in den Augen des gewaltigen Spinnentieres nicht nur einzubilden. Das Monster spielte mit ihr, so wie es die ganze Zeit ьber nur mit ihr gespielt hatte, ein gnadenloses Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Verlierer von Anfang an festgestanden hatte. Und es war auch jetzt noch nicht zu Ende, dachte Charity dьster. Sie war hilflos, bewegungs– und fluchtunfдhig eingewickelt in dieses verdammte Netz, und es wдre dem Tier ein leichtes gewesen, jetzt ьber sie herzufallen und sie zu tцten. Aber es tat nichts. Es kam nicht nдher, bewegte sich nicht einmal, sondern starr­te nur weiter auf sie herab. Ein Stьck hinter der Spinne erkannte sie einen groЯen bedrohlichen Schatten, und dann kroch ein zweites dieser Insektenungeheuer auf Charity zu, ein drittes, viertes… Sie begriff plцtzlich, wie sehr sie sich getдuscht hatte, als sie annahm, es nur mit dieser einen Spinne zu tun zu haben. Die Schleuse war voll von diesen haarigen Ungeheuern. Wahrscheinlich hatten sie zu Dutzenden in der Dunkelheit gelau­ert. Charity seufzte leise. Seltsam – sie hatte gar keine Angst. Alles, was sie emp­fand, war ein heftiges Ekelgefьhl, ein wenig Enttдuschung, dass nun alles zu Ende sein sollte, und eine absurde Heiterkeit – eindeutig Hysterie, diagnostizier­te sie. Frьher (Frьher? Vor ein paar Wochen!!) hatte sie sich oft ьber Filme und Bьcher geдrgert, in denen der Held im allerletzten Moment aus den haarstrдu­bendsten Situationen gerettet wurde. Sie hatte sich gewьnscht, einmal eine Ge­schichte zu sehen, in der die Retter ein wenig zu spдt kamen; vielleicht gerade noch zurecht, um die Reste des tapferen Helden von der Filmleinwand zu krat­zen. Und wie es aussah, ging ihr Wunsch jetzt in Erfьllung. Selbst ьber eine Entfernung von fast dreitausend Meilen hinweg bot das Schiff einen beeindruckenden Anblick. Falls es ein Schiff war. Und falls die Daten, die der Computer in die untere rechte Ecke des Bildschirmes eingeblendet hatte, tat­sдchlich stimmten. Charity bezweifelte beides, obwohl beides sehr eindeutig schien – es gab weder einen Grund, an den Zahlen zu zweifeln, die die Computer errechnet hatten, noch daran, dass eine fast neunhundert Meter durchmessende, mattsilberne Scheibe, die mit irrsinniger Geschwindigkeit aus dem intergalaktischen Raum herausgestьrzt kam und Kurs auf den dritten Planeten der Sonne hielt, irgend etwas anderes als ein Raumschiff sein sollte. Und doch… Alles in ihr strдubte sich einfach dagegen, auch nur einen dieser beiden Gedan­ken zu akzeptieren. Es gab keine neunhundert Meter durchmessenden Raum­schiffe, und die Wahrscheinlichkeit fьr den Besuch einer anderen, denkenden Spezies aus den Tiefen des Kosmos war eins zu … eins zu irgend etwas, jeden­falls. So gering, dass man neue Zahlen erfinden musste, um sie auszudrьcken. Und trotzdem war dieses Ungetьm da. Es grinste sie groЯ von sдmtlichen Moni­toren des Kontrollpunktes aus an, bewegte sich seit annдhernd fьnf Wochen als grьnleuchtender Blip ьber die Radarschirme der Raumьberwachung auf der Er­de, und wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie es sogar mit bloЯem Auge er­kennen, als einen von zahllosen, stecknadelkopfgroЯen Lichtpunkten, die ьber die Bugscheibe der CONQUEROR verstreut waren. Das einzige, was ihn von den Millionen Sternen der MilchstraЯe unterschied, war der Umstand, dass er sich irrsinnig schnell bewegte. »Wie lange noch?« Mikes Stimme riss sie in die Wirklichkeit zurьck. Charity sah auf ihre Instrumente und antwortete automatisch. »Siebzehn Minuten. Elf bis zum Aufstieg.« Sie seufzte, richtete sich im Pilotensitz auf und hob die Hдn­de, wie um sich erschцpft durch das Gesicht zu fahren. Erst dann fiel ihr ein, dass eine solche Geste in einem hermetisch geschlossenen Raumanzug kaum mцglich war. Mit einer fast дrgerlichen Bewegung schnippte sie eine Anzahl Schalter auf dem Kontrollpunkt vor sich um und stand auf. »Kommandant ьbergibt an Kopiloten«, sagte sie ins Mikrofon des Bordbuches; eine ebenso sinnlose wie alte Vorschrift, denn seit ihrem Start vor dreieinhalb Wochen hatte niemand an Bord auch nur einen Atemzug getan, der nicht auf mindestens drei verschiedenen Videotapes festgehalten und sofort zur Erde ge­funkt worden war. Etwas leiser fьgte sie hinzu: »Machen Sie es sich bequem, Niles. Fьr die nдchsten neunzig Minuten gehцrt die Kiste Ihnen.« Sie konnte Niles Gesicht nicht erkennen, wдhrend er sich in seinem schweren Raumanzug an ihr vorbeischob und im Pilotensitz Platz nahm, aber sie konnte sich den Ausdruck darauf gut vorstellen. Sie alle waren nervцs – das waren sie seit ihrem Start vor fьnfundzwanzig Tagen, und wдhrend der letzten anderthalb Stunden, in denen die CONQUEROR auf Kollisionskurs mit dem fremden Schiff gegangen war, war die Anspannung fast unertrдglich geworden. Und warum auch nicht? Gegen Armstrongs kleinen Schritt fьr einen Mann, aber ein gewaltiger Schritt fьr die Menschheit war das, was ihnen bevorstand, ein Marathonlauf mit Siebenmeilenstiefeln – nдmlich nichts weniger als der erste Kontakt zwischen Menschen und einer auЯerirdischen Lebensform. Einer den­kenden Lebensform, keinen Einzelligen Mikroorganismen, wie sie sie auf dem Mars gefunden hatten, oder die schleimigen Schimmelpilzgewдchse vom Titan, die die irdischen Wissenschaftler in einen Freudentaumel versetzt hatten – son­dern intelligenten, denkenden Geschцpfen, die in der Lage waren, ein neunhun­dert Meter durchmessendes Raumschiff zu bauen und mit einer Geschwindigkeit von mehr als viertausend Meilen in der Sekunde auf die Erde abzuschieЯen. Sie hatten gute Grьnde, aufgeregt zu sein. Aber sie durften es nicht. Wenn der Computer recht hatte, dann blieben ihnen weniger als zwцlf Minuten, aus der CONQUEROR auszusteigen, zu dem frem­den Schiff hinьberzufliegen und es sich anzusehen. Das Ding war einfach zu schnell, um neben ihm herzufliegen oder gar daran anzudocken. Alles, was ih­nen blieb, war, auf Parallelkurs zu gehen, ein Stьck vor ihm herzufliegen und sich ьberholen zu lassen. Zwцlf Minuten, ehe die Distanz zu groЯ wurde, um ihre sichere Rьckkehr zum Shuttle zu garantieren; vierzehn, wenn man bereit war, den Selbstmцrder zu spielen und die Sicherheitsreserven der Rucksдcke bis auf den letzten Treibstofftropfen zu vergeuden. Charity hatte keine Lust, den Helden zu spielen. Aber sie machte sich Sorgen um Mike, und viel mehr noch um Soerensen. Sie war ziemlich sicher, dass er Дrger machen wьrde – er gehцrte zu jener Art von Wissenschaftlern, die ohne mit der Wimper zu zucken ihr Leben opferten, nur um ihren Namen in irgendei­ner FuЯnote eines wissenschaftlichen Berichtes verewigt zu wissen. Ihrer Mei­nung nach war es ein Fehler gewesen, ihn mitzunehmen. Dabei ging es gar nicht um ihn persцnlich. Auf einer solchen Expedition hatten Wissenschaftler nichts zu suchen. Sie wьrden –falls es ihnen ьberhaupt gelang, einen Weg in dieses Ding zu finden! – nicht einmal zehn Minuten im inneren des fremden Raum­schiffes verbringen. Was zum Teufel bildete er sich ein, in zehn Minuten erfor­schen zu kцnnen? »Sieben Minuten«, sagte Niles. »Wir sind auf Kurs. Geht nach oben.« Seine Stimme klang verzerrt, und das lag nicht allein an der schlechten Ьbertragung der kleinen Helmlautsprecher. Er war verbittert, und sie alle – mit Ausnahme Soerensens – kannten sich zu gut, als dass er versucht hдtte, diese Verbitterung zu verbergen. Charity konnte ihn sogar verstehen. Aber das Los war nun einmal auf ihn gefallen, und einer von ihnen musste zurьckbleiben; auch wenn er die ganze Zeit ьber wahrscheinlich so gut wie nichts zu tun hatte. Die CONQUEROR wurde seit drei Stunden ausschlieЯlich von den Computern ge­flogen, und daran wьrde sich in den nдchsten Stunden auch nichts дndern. Doch selbst der beste Computer konnte versagen. Weder Charity noch einer der ande­ren hatten besondere Lust, die CONQUEROR auf Nimmerwiedersehen im Weltraum verschwinden zu sehen, nur weil irgendein verdammter Chip durch­gebrannt war oder die ETs dort drьben ihr Hallo Nachbarn! vielleicht auf einer Frequenz funkten, die ihre Bordrechner ausflippen lieЯ. Nacheinander kletterten sie in den Laderaum hinauf. Die beiden riesigen Klap­pen des Frachtraumes standen weit offen, und fьr einen Moment kam sich Charity winzig und verloren vor. Um sie herum war jetzt buchstдblich nichts mehr, nur die eisige Kдlte des Weltraumes und die Leere zwischen den Planeten. Der Gedanke, dass sie von dieser entsetzlichen Leere jetzt nichts weiter als das bisschen Plastik ihres Schutzanzuges trennten, lieЯ sie schaudern. »Dort ist es!« Eine der weiЯen Gestalten neben ihr hob den Arm und deutete auf einen von zahllosen flimmernden Silberpunkten ьber ihnen, und Charity erkann­te Soerensens Stimme. Sie runzelte spцttisch die Stirn, hьtete sich aber, irgend etwas zu sagen. Ihre Worte wurden nicht nur von den fьnf anderen, sondern auch von ungefдhr fьnftausend SPACE-FORCE-Leuten auf der Erde mitgehцrt. »Drei Minuten«, verkьndete Niles' Stimme ьber die Helmlautsprecher. »Schiff liegt genau auf Kurs. Macht euch fertig.« Es gab nichts fertig zumachen, aber sie war trotzdem beinahe dankbar fьr Niles' Worte, vielleicht auch nur fьr den Klang seiner Stimme, der ihr wenigstens die Illusion vorgaukelte, in dieser unendlichen Leere nicht allein zu sein. Schwerfдl­lig drehte sie sich in ihrem plumpen Raumpanzer zur Seite und betrachtete die Gestalten der anderen; eineiige Vierlinge aus Silber und WeiЯ, die sich nur durch die kleinen Namensschildchen auf den Helmen unterschieden. Es tat ihr sehr leid, Mikes Gesicht nicht erkennen zu kцnnen, aber seine Helmscheibe hat­te sich automatisch verdunkelt. Trotzdem glaubte sie zu spьren, dass er sie anlд­chelte, und erwiderte sein Lдcheln. Eines der flachen Silbergesichter – das Namensschildchen darьber behauptete, dass es Soerensen gehцrte – wandte sich ihr zu. In den Helmlautsprechern knack­te es ganz leise, als sich der Wissenschaftler auf ihre Frequenz schaltete. »Cap­tain Laird?« »Ja?« Soerensens ausgestreckte Hand wies auf den schlanken Gammastrahllaser, der an seiner Magnethalterung an der rechten Seite ihres Anzuges hing. »Ьberlegen Sie es sich noch einmal«, sagte er. »Ich beschwцre Sie, das Ding da nicht mitzu­nehmen.« Charity unterdrьckte ein Seufzen. Wie oft hatten sie dieses Gesprдch in den letz­ten dreieinhalb Wochen gefьhrt? Hundertmal? Mindestens. »Ich habe meine Befehle«, antwortete sie unwillig. »AuЯerdem ist es zu spдt. Ich kann nicht mehr zurьck ins Schiff.« »Sie machen einen entsetzlichen Fehler, Captain!« sagte Soerensen fast flehend. »Ich bitte Sie! Wollen Sie einer auЯerirdischen Lebensform wirklich mit einer Waffe in der Hand gegenьbertreten? Wozu?« »Zum Beispiel, um unverbesserlichen Romantikern wie Ihnen den Arsch zu ret­ten, Soerensen«, sagte sie scharf. »Und jetzt halten Sie gefдlligst die Klappe – sonst lasse ich Sie hier, Soerensen. Dazu ist es nдmlich keineswegs zu spдt.« Aber hinter der verdunkelten Sichtscheibe ihres Helmes lдchelte sie. Sie war si­cher, dass dieser Teil ihres Gesprдches aus den Bдndern ausgeschnitten werden wьrde, bevor man sie der Цffentlichkeit zugдnglich machte. Soerensen wollte erneut widersprechen. »Schluss jetzt!« »Zwei Minuten«, sagte Niles, dann: »Eine Minute. Es geht los. Viel Glьck. Und bringt mir eine hьbsche AuЯerirdische mit.« »Keine Privatgesprдche mehr, Lieutenant«, sagte Charity, allerdings in einem Ton, der nur fьr die Zuhцrer auf der Erde streng klang. Niles wьrde wissen, wie sie es wirklich meinte. »DreiЯig Sekunden«, sagte Niles. »Fьnfzehn, zehn… und los.« Es war beinahe enttдuschend undramatisch, wie alle wirklichen Weltraumspa­ziergдnge – Charity hatte nicht das Gefьhl, zu fliegen, denn es gab weder Schwerkraft noch eine spьrbare Beschleunigung. Die CONQUEROR sackte ein­fach unter ihnen weg und wurde zu einem handgroЯen weiЯen Dreieck, dann zu einem winzigen Punkt und verschwand schlieЯlich ganz. Es ging unglaublich schnell. Die Sicherheitsleine, mit der sie alle fьnf verbunden waren, spannte sich mit ei­nem Ruck, und fьr einen ganz kurzen Moment fьhrten sie eine Art grotesken Tanz auf, als ihre ganze Fьnfergruppe ins Trudeln kam. Dann stachen kleine Lichtlanzen aus Mikes und Soerensens Rucksдcken, schlieЯlich eine dritte, et­was lдngere aus dem Bellingers. Ihre grotesken Purzelbдume hцrten auf, als der Leitcomputer in Charitys Anzug zu dem Schluss kam, dass sie wieder auf dem richtigen Kurs lagen. Lautlos schwebten sie durch das All. Niemand sprach, und selbst die Atemzьge der vier anderen klangen flacher als gewohnt. Charity glaubte die Sekunden ver­rinnen zu hцren. Einhundertneunundvierzig, dachte sie. Genau einhundertneun­undvierzig Sekunden bis zum Kontakt, jedenfalls hatte das der Bordrechner der CONQUEROR behauptet. Einhundertneunundvierzig Ewigkeiten. Wie viele davon waren bereits vergangen? Und wie viele Sekunden vorher wьrden sie das Schiff sehen? Sie widerstand der Versuchung, auf die Uhr zu blicken, und starrte gebannt in die Richtung, aus der die riesige Silberscheibe auftauchen musste; wie alle ande­ren. Als es dann passierte, war sie fast enttдuscht. Es geschah vollkommen undrama­tisch: Einer der winzigen flimmernden Punkte vor ihnen wurde grцЯer und ver­lor gleichzeitig etwas von seinem Glanz, und dann stand das Schiff vor ihnen, gigantisch und groЯ, unglaublich groЯ. Das Schiff jagte heran, mit einer Geschwindigkeit, die jeder Beschreibung spot­tete, wurde grцЯer und grцЯter, fьllte eine Hдlfte des Kosmos vor ihnen voll­kommen aus und wuchs noch immer, bis es wie ein aus der Bahn geratener Pla­net aus mattsilbernem Metall auf sie herabstьrzen schien. Charity erkannte bi­zarre, unglaublich fremdartige Beschriftungen auf seiner Unterseite, hatte einen flьchtigen Eindruck seiner Form – ganz genau der, die die Kameras und Compu­tergrafiken ihnen gezeigt hatten – und dann war es heran; ein Gigant von der Form einer flachen, an den Rдndern abgerundeten Scheibe, mit einer kaum sichtbaren, kuppelartigen Erhebung auf der Oberseite. Ein perfektes UFO, rie­sengroЯ und irgendwie schцn in seiner fremdartigen Eleganz. »GroЯer Gott!« wisperte Soerensens Stimme in ihrem Helm. »Es ist gigan­tisch!« Charity antwortete nicht darauf, aber der Computer in ihrem Anzug schien Soe­rensens Ausruf als Stichwort zu benutzen – diesmal schцssen Flammen aus allen fьnf Rucksдcken. Die kleine Gruppe wurde mit jдher Wucht auf die vorbeira­sende Scheibe herabgeschleudert. Soerensen schrie vor Schrecken, und selbst Charity musste mit aller Gewalt den Impuls unterdrьcken, in die Kontrollen zu greifen und den rasenden Sturz abzufangen, ehe sie ins Herz dieses kьnstlichen Mondes aus Stahl hinabgerammt wurden. Der vernichtende Aufprall, den ihr ihre ьberreizten Sinne suggerierten, kam nicht. Statt dessen setzte die kleine Gruppe fast sanft auf der Oberflдche des Sternenschiffes auf, und wieder begannen Charitys Sinne fьr einen Moment zu revoltieren, als die rasende Bewegung des Schiffes von einer Sekunde auf die andere aufzuhцren schien. Ihr Magen stьlpte sich um, und ihr wurde ьbel. Aber sie achtete nicht darauf. Drei der siebzehn Minuten, die ihnen blieben, waren vergangen. Sie mussten an die Arbeit gehen. Und doch taten sie fьr die nдchsten fьnf, zehn Sekunden nichts anderes, als ein­fach dazustehen und fasziniert auf die ungeheuerliche Ebene aus Metall herab­zublicken, auf der sie standen. Was fьhlte sie in diesem Moment? Sie wusste es nicht, weder jetzt noch zu ir­gendeinem spдteren Zeitpunkt. Es war… erhebend, niederschmetternd, groЯartig, faszinierend… von allem etwas und doch nichts davon wirklich; ein Gefьhl, das sie niemals beschreiben konnte, weil es keine passenden Worte dafьr gab. Das, was Armstrong empfunden haben mochte, als er den Mond betrat, Kolumbus, als er Amerika entdeckte, Jewgenjew, als seine WOSCHOD auf dem Mars auf­setzte… Es war ein unbeschreibliches Empfinden, das sie alle durchstrцmte und das sie sich alle zugleich klein und winzig wie unglaublich mдchtig vorkommen lieЯ. SchlieЯlich war es wiederum Soerensen, der das andдchtige Schweigen brach. »Dort vorne«, sagte er. »Rechts, Captain Laird. Dort scheint eine Art Einstieg zu sein.« Charity blickte in die angegebene Richtung und sah, was Soerensen meinte: Nicht einmal weit von ihnen entfernt gдhnte ein kreisrundes Loch im Boden. »Okay. Beeilen wir uns. Und seid vorsichtig.« Sie gingen los. Die Magnetsohlen ihrer Stiefel weigerten sich, sie am Rumpf des Sternenschiffes festzuhalten, so dass sie sich nur sehr vorsichtig bewegen konnten, um nicht von der Kraft ihrer eigenen Schritte ins All hinauskatapultiert zu werden, aber sie schafften es. Nach einer knappen Minute standen sie in einem Dreiviertelkreis, dessen GrцЯe von der Lдnge ihrer Sicherheitsleinen bestimmt wurde, um den Einstieg herum und blickten in die Tiefe. Es schien tatsдchlich ein Zugang ins Innere des Schiffes zu sein, aber er fьhrte irgendwie ins Nichts, denn die gebьndelten Lichtstrahlen ihrer Scheinwerfer tra­fen nirgendwo auf Widerstand. Das Licht verlor sich irgendwo in fьnfzig, viel­leicht auch hundert Meter Entfernung in der Schwдrze. »Worauf warten wir?« fragte Soerensen. Er machte einen Schritt und blieb wie­der stehen. Charity blickte gebannt in die Tiefe. Was sie sah – genauer gesagt, was sie nicht sah –, gefiel ihr nicht. Es gab keine Wдnde. Kein Boden. Nichts. Wenn es ein Schacht war, dann musste er fast durch das gesamte Schiff fьhren. »Worauf warten wir, Captain?« fragte Soerensen noch einmal. »Wir haben nur noch achteinhalb Minuten.« »Das gefдllt mir nicht«, antwortete Charity. Etwas warnte sie, aber sie wusste nicht einmal, – wovor. Verdammt, wenn sie nur ein bisschen mehr Zeit hдtte, zu ьberlegen! »Soerensen, Bellinger, Landers – ihr bleibt hier«, befahl sie. »Mike und ich ge­hen allein.« Charity schaltete sein Funkgerдt kurzerhand ab, lцste ihre Sicherheitsleine aus dem Verband und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Auf der ande­ren Seite des Einstieges tat Mike es ihr gleich. •? Schnell, aber trotzdem mit scheinbar quдlender Langsamkeit glitten sie in die Tiefe. Fьr einen Moment streiften die Strahlen ihrer Scheinwerfer das Metall ihrer Schiffshьlle, und ihr fiel auf, wie dick und unsauber verarbeitet es war: ei­ne gut meterdicke Platte aus grobem Stahl. Nicht einmal die Rдnder des Einstie­ges waren ganz glatt. Das Loch schien mehr aus dem Rumpf herausgebrochen als sorgfдltig hineingeschnitten worden zu sein. Vielleicht durch den Aufprall eines Meteoriten, ьberlegte sie. Dann waren sie hindurch, und die Strahlen ihrer Scheinwerfer verloren sich wieder in alles umfassender Schwдrze. Es gab keine Mцglichkeit, die Ge­schwindigkeit ihres Hinabsinkens zu schдtzen, denn um sich herum war nichts als Dunkelheit, aber sie glaubte zu spьren, dass sie sich erhцhte. Behutsam griff sie an ihren Gьrtel, lieЯ ihre Rucksackrakete eine kurze Feuerzunge ausstoЯen und spьrte, wie sich ihr Sturz in die Tiefe verlangsamte. »Was ist los?« fragte Soerensens Stimme in ihrem Helm. »Was sehen Sie dort unten, Captain?« Charity ignorierte ihn. Sie sah nichts. Der armdicke Strahl ihres Scheinwerfers kreiste bestдndig, aber er fцrderte nichts als Leere zutage. Dieses gewaltige Raumschiff enthielt nichts. Vielleicht war es eine Art Beiboothangar, in dem sie sich befanden, vielleicht… Sie zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen, und konzentrierte sich statt dessen darauf, ihren Scheinwerferstrahl bestдndig weiterkreisen zu las­sen. Sie waren nur hier, um zu sehen. Herumraten konnten sie spдter. SchlieЯlich zeigte der Lichtstrahl doch etwas – ьber ihr. Der bleiche Kreis aus weiЯem Halogenlicht tastete zitternd ьber roh zusammengefьgte Stahlplatten und glitt weiter, ohne mehr als diesen kьnstlichen metallenen Himmel zu treffen. »Verdammt, Laird, was sehen Sie?« rief Soerensen. »So reden Sie doch! Wir haben nur noch sieben Minuten. Was haben Sie gefunden?!« Charity seufzte. »Kommen Sie herunter und sehen Sie es sich selbst an, Profes­sor«, sagte sie. »Aber passen Sie auf, dass sie sich nicht den Kopf stoЯen. Es ist verdammt eng hier drinnen.« Nicht einmal eine Sekunde spдter tauchte der Lichtstrahl von Soerensens Scheinwerfer ьber ihnen auf, dicht gefolgt von dem Bellingers und Landers. Mi­ke hob seine eigene Lampe und leuchtete die drei winzigen silberhellen Gestal­ten an, die fьnfzig Meter ьber ihnen durch die Decke kamen. Soerensen fluchte, als ihn der Lichtstrahl blendete. Dann verstummte er jдh, als er begriff. Fьr einen Moment tat er Charity fast leid. Sie selbst war eher ьberrascht gewesen, als sie begriffen hatte, dass dieses riesi­ge Schiff nichts anderes als Leere transportierte. Fьr Soerensen musste eine Welt zusammenbrechen. »Noch sechs Minuten«, sagte Mike. »Was tun wir? Weiter nach unten?« Charity schьttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass die Bewegung im Inneren ihres Helmes wohl kaum zu sehen war. »Nein«, sagte sie. »Macht euch fertig – ich zьnde eine Leuchtgranate.« Sie glitten zu Soerensen und den anderen hinauf. Charity befestigte ihre Sicher­heitsleine wieder an den Anzьgen Soerensens und Bellingers, ьberzeugte sich mit einem Blick davon, dass Mike auf der anderen Seite dasselbe tat, dann nahm sie ihre vorgeschriebene Position ein. Sie bildeten jetzt ein gleichmдЯiges Fьnf­eck, mit nach auЯen gewandten Gesichtern und – weitaus wichtiger – Kameralin­sen. Mit etwas Glьck wьrden sie das Innere des gesamten Schiffes aufnehmen kцnnen. »Jetzt«, meinte Charity. Zwanzig Meter unter ihnen flammte eine grellweiЯe Miniatursonne auf. Fьr ei­nen Moment war Charity blind, trotz des Filters, der sich blitzartig vor die Sicht­scheibe ihres Helmes senkte. Dann gewцhnten sich ihre Augen an das schatten­lose grelle Licht, und was sie sah… Sie befanden sich im Inneren eines ungeheuerlichen, stдhlernen Domes. Decke und Wдnde bestanden aus mattem, beinahe weiЯem Metall, in dem eine groЯe Anzahl runder Lцcher waren, gleich dem, durch das sie das Schiff betreten hat­ten. Ьber und neben ihnen waren keine Schatten, denn es gab nichts, was Schat­ten hдtte werfen kцnnen – neunundneunzig Prozent dieser riesigen fliegenden Scheibe waren schlicht und einfach leer. Nur unter ihnen war etwas zu sehen. Der grelle Teppich aus Licht, durch den sie hindurchblicken mussten, lцste die Konturen auf wie leuchtende Sдure und ver­wandelte den Boden der Flugscheibe in eine surrealistische Landschaft aus Schatten und ineinanderlaufenden Linien und Umrissen. Die Leuchtgranate erlosch, und die Dunkelheit schlug wie eine Woge ьber ihnen zusammen. Fьr eine Sekunde hatte Charity das Gefьhl, in der plцtzlichen Schwдrze nicht einmal mehr atmen zu kцnnen. »Nach unten!« sagte Soerensen. »Wir mьssen hinunter, Captain. Da ist etwas! Schnell!« Der Unterton in seiner Stimme verrдt eindeutig Panik, dachte Charity besorgt. Aber das дnderte nichts daran, dass er recht hatte. Trotzdem hielt sie ihn mit ei­nem дrgerlichen Ruck zurьck, als er sich an ihr vorbeisinken lassen wollte. »Mike?« fragte sie. »Fьnf Minuten«, antwortete Mike. »Knapp.« Charity sah unentschlossen nach oben, weitere fьnf unwiederbringlich ver­schenkte Sekunden, fьr die Soerensen ihr fьnf Jahre Fegefeuer an den Hals wьn­schen wьrde. Ihre anfдngliche Besorgnis, den Einstieg nicht wiederzufinden, war unbegrьndet – dieses Schiff war ein fliegender Schweizer Kдse, in dessen Rumpf sich Hunderte von Ausstiegen befanden. Und doch behagte ihr der Ge­danke nicht, in dieses Labyrinth aus Schatten und unbekannten Dingen hinabzu­steigen. »Okay«, sagte sie. »Aber seid vorsichtig. Sie rьhren nichts an, Soerensen, ver­standen?« Statt einer Antwort lieЯ sich der Wissenschaftler erneut in die Tiefe sinken, und diesmal hinderte ihn Charity nicht daran. Alle ihre Sinne arbeiteten mit minde­stens zweihundert Prozent ihrer Leistung, und sie sah und hцrte und fьhlte und roch Dinge, von denen sie bis jetzt nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Ihre Lichtstrahlen stieЯen auf Widerstand. Etwas GroЯes, Schwarzes tauchte aus der Dunkelheit unter ihnen auf und verschwand wieder, und plцtzlich waren sie von Schatten und mattblinkenden, sonderbaren Dingen umgeben, schrдg gegen­einandergeneigten Ebenen aus stumpfem Metall, pyramidenfцrmigen, runden, kubischen und absolut unbeschreibbaren Formen, dazwischen Grдben und jдh aufklaffende, unregelmдЯig geformte Lцcher, die in weite, unbekannte Tiefen hinabfьhrten, und endlich etwas, das wenigstens annдhernd technisch aussah, ohne dass Charity sagen konnte, was es nun war. Soerensen sicherlich auch nicht – was ihn allerdings nicht daran hinderte, un­entwegt kleine, verzьckte Laute auszustoЯen und seine Lampe immer hektischer hin und her zu schwenken. Charitys Unwohlsein verstдrkte sich. Welches Prдdi­kat man immer auf die Technologie der Fremden anwenden wollte – einen ange­nehmen Anblick bot sie nicht. Sie setzten auf einer fast fuЯballfeldgroЯen Ebene aus grauem Metall auf, in der zahllose kleine Risse und Spalten prangten. Einige von ihnen schienen mit gro­ber Gewalt in das Material hineingebrochen worden zu sein. »Vier Minuten«, sagte Mike unaufgefordert. »Drei, bis wir zurьck mьssen.« »Okay«, antwortete Charity. »Dann fangt an.« Bellinger und Sanders lцsten ihre Sicherheitsleinen aus dem Verband und be­gannen in fliegender Eile, aber ohne Hast, ihre mitgebrachten Instrumente auf­zubauen und wenigstens einen Teil der Tests und Messungen durchzufьhren, die auf der Wunschliste von Soerensens irdischen Kollegen gestanden hatten, wдh­rend Mike behutsam niederkniete und ein Vibro-Messer aus dem Gьrtel zog. Charity beobachtete ihn aufmerksam, ohne ihre Umgebung dabei auch nur fьr eine Sekunde aus dem Auge zu lassen. Sie hatte den Laser schon auf halbem Wege nach unten von ihrem Anzug gelцst; jetzt schaltete sie die Sicherung aus und den Gammaverstдrker ein. Die Waffe begann lautlos in ihren Hдnden zu vibrieren, und in ihrem glдsernen Lauf glomm ein bцsartiges, blutfarbenes Licht auf. Soerensen sah auf, aber er sagte nichts. Entweder, dachte sie, hatte er end­gьltig begriffen, dass sie fьr die Sicherheit der Expedition verantwortlich war, oder die verbleibenden Sekunden waren ihm einfach zu kostbar, um sie mit einer weiteren ьberflьssigen Bemerkung zu verschwenden. Mike schabte mit seinem Messer einen handlangen Span aus der Metallplatte, auf der sie standen, verstaute ihn sorgfдltig in einer Tasche seines Anzuges und sah sich nach etwas anderem um, an dem er herumkratzen konnte, wдhrend Soe­rensen aufgeregt am Ende der Sicherheitsleine herumlief. »Da drьben!« sagte er. »Dieser schwarze Zylinder, Captain!« Charity sah Mike an. »Zwei Minuten.« Mike nickte, lцste seine Sicherheitsleine und beugte sich neu­gierig ьber irgend etwas am Boden, ohne sie oder Soerensen eines weiteren Blickes zu wьrdigen, und Charity wandle sich mit einer auffordernden Geste an den Wissenschaftler. »Halten Sie sich fest, Professor.« Sie gab Soerensen nicht einmal Zeit, zu ant­worten, sondern flog los, direkt auf den gewaltigen schwarzglдnzenden Zylinder zu, der ihn so faszinierte. Sie verbrauchten ein Viertel ihrer verbliebenen Zeit, um ihn zu erreichen, aber das Ergebnis schien den Einsatz zu lohnen: Soerensen stieЯ einen kleinen faszinierten Schrei aus und riss sie fast von den FьЯen, als er versuchte, auf das Ding loszustьrmen, kaum dass sie wieder auf dem Boden aufgesetzt hatten. »Der Antrieb!« sagte er ehrfьrchtig. »Das muss eine der Antriebsmaschinen sein. Filmen Sie es, Captain! Nehmen Sie alles auf!« Charity antwortete gar nicht. Ihre Helmkameras liefen, seit sie die CONQUEROR verlassen hatten. Sie hдtten sie nicht einmal abschalten kцnnen, selbst wenn sie es gewollt hдtten. Und auЯerdem hatte sie etwas entdeckt, das sie wesentlich mehr faszinierte als der monstrцse Raketenmotor vor ihnen. Das hieЯ – faszinierte war nicht das richtige Wort. Es war… Es war ein gewaltiger Block aus schwarzem Metall, fьnfzig, sechzig Meter breit und so hoch wie ein zweistцckiges Haus. Er war vollkommen glatt, und auf sei­ner Oberflдche ruhte etwas, das sich ihren Blicken bestдndig zu entziehen schien, so absurd es klang. »GroЯer Gott!« flьsterte Soerensen. »Was ist das?!« Charity musste sich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, was er meinte. Auch er hatte den schwarzen Block entdeckt. Und das Ding auf seiner Oberseite. Was sie sahen, war faszinierend und erschreckend zugleich: Es war ein Ring, ein gewaltiger, dreiЯig, vierzig Meter durchmessender Kreis aus silbern schimmern­dem Metall – vielleicht auch Kristall –, der wie eine auf die Kante gestellte Mьn­ze aufrecht auf dem gewaltigen Eisenblock ruhte. Er bewegte sich nicht, sondern schien so tot zu sein wie alles in diesem Schiff, und trotzdem… umgab ihn et­was. Etwas wie ein Mantel aus… ein unsichtbares ungreifbares und trotzdem un­ьbersehbares Etwas, das sich ihren Blicken bestдndig entzog, immer, wenn sie glaubten, es endlich genau erkennen zu kцnnen; zwei Bilder, die sich ьberlager­ten, ohne dass man eines davon klar identifizieren konnte. Soerensen machte einen Schritt auf den gewaltigen Block zu, aber Charity hielt ihn zurьck. »Nein«, sagte sie. »Warum nicht?« Soerensens Stimme klang nicht mehr ganz so aufsдssig wie bisher. Er spьrt es auch, dachte Charity. Sie war nicht allein mit dem unange­nehmen Gefьhl, das ihr der Anblick bereitete. »Das Ding gefдllt mir nicht«, antwortete sie. »Ich… weiЯ nicht, warum, Profes­sor, aber ich bin ziemlich sicher, dass es besser wдre, wir gehen nicht zu nahe heran.« Seltsamerweise widersprach Soerensen diesmal nicht. Dafьr meldete sich Mikes Stimme wieder zu Wort: »Noch dreiЯig Sekunden, Freunde. Letzter Aufruf fьr die Passagiere Flug Null­eins Transgalaxis-Spacelines nach Hause.« Charity fuhr sich nervцs mit der Zunge ьber die Unterlippe. Es war seltsam – so sehr sie der Anblick dieses riesigen aufrecht stehenden Ringes beunruhigte, fiel es ihr doch gleichzeitig schwer, den Blick davon zu lцsen. Irgend etwas ging da­von aus, eine Aura, die einen Teil ihrer Seele berьhrte und ihn zu Eis erstarren lieЯ. Es war wie ein Hauch des Bцsen, der sie gestreift hatte. Mьhsam riss sie sich von dem schauerlich-faszinierenden Anblick los und dreh­te sich herum. »Kommen Sie, Professor«, sagte sie. »Der Bus wartet.« Sie hatte ein wenig geschlafen; nicht besonders lange, denn obwohl sie nach dem Siebzehn-Minuten-Ausflug in eine fremde Welt so mьde wie nach einem anstrengenden Dauerlauf gewesen war, war sie viel zu aufgewьhlt, als dass sie sich einfach hinlegen und schlafen konnte, als wдre nichts geschehen. Jetzt saЯ sie wieder im Pilotensessel der CONQUEROR und blickte in das sam­tene Schwarz des Weltraums hinaus. Das fremde Schiff war lдngst ihren Blicken entschwunden, nicht einmal mehr ein Lichtpunkt unter vielen auf seinem Weg zur Erde. Wenn es zur Erde flog. Sie war sich dessen nicht mehr so sicher, nach allem, was sie gesehen hatten. Es war sehr still an Bord des Schiffes. Nichts war von der Aufregung zu spьren, die sie erwartet hatte; im Gegenteil. Sie alle waren sehr ruhig, kaum jemand hat­te ein Wort gesprochen; selbst Soerensen redete nur jede halbe Stunde ein paar Worte, immer dann, wenn sich die Erdstation meldete und er Antwort auf eine Frage gab, die dreiЯig Minuten mit Lichtgeschwindigkeit zu ihnen unterwegs gewesen war. Zum ersten Mal, seit sie damit begonnen hatte, die interessanten Stunden ihres Lebens im Weltraum zu verbringen, empfand sie die Zeitverzцge­rung als Erleichterung. Charity fьhlte sich… betдubt. Alles war so anders gewesen, als sie es sich vorge­stellt hatte. Keine fremden Lebewesen, keine intergalaktische Hypertechnologie, nur Leere und kantige Klцtze aus Eisen und… und dieses Ding, dieser riesige, flimmernde Ring, von dem sie immer noch nicht wusste, was er war, und der ihr selbst jetzt, in der bloЯen Erinnerung, noch panische Angst einflцЯte. Was war das? dachte sie. BloЯe Xenophobie? Nichts als die angeborene natьrli­che Angst vor allem Fremden, Unbekannten? Oder mehr? Sie seufzte, warf einen routinemдЯigen Blick auf ihre Kontrollen und stellte ebenso routinemдЯig fest, dass alles in Ordnung war und die Computer die CONQUEROR wie gewohnt prдzise und zuverlдssig auf Kurs hielten. »Kom­mandant verlдsst den Pilotensitz«, sagte sie und stand auf. »Bellinger – ьberneh­men Sie einen Moment?« »Selbstverstдndlich.« Sie brach mit einer der eisernen Vorschriften, indem sie nicht einmal wartete, bis der hьnenhafte Deutsche den Platz des Piloten eingenommen hatte, sondern wandte sich sofort um und verlieЯ das Cockpit. Leise, um Landers und Niles nicht zu wecken, die ihren wohlverdienten Schlaf schliefen, durchquerte sie den schlauchfцrmigen Mannschaftsraum und lieЯ sich den Schacht zum Labor hin­abgleiten; ein Fьnf-Meter-Sprung, der bei der annдhernden Schwerelosigkeit an Bord der CONQUEROR zu einem kaum spьrbaren Hьpfer wurde. Soerensen saЯ ьber ein Mikroskop gebeugt am Tisch und sah nicht einmal auf, als sie das Labor betrat. Charity lдchelte lautlos in sich hinein. Jetzt, als die An­spannung von ihr abgefallen war, gestand sie sich ein, dass sie ihm unrecht getan hatte – er war weder so naiv, wie sie ihm unterstellte, noch der Idiot, als den sie ihn ziemlich offen behandelt hatte. Sie war Soldat, und er Forscher, und das war eben ein grundlegender Unterschied. Im Grunde war er ein ganz netter Kerl. Aber das wьrde sie ihm gegenьber natьrlich nicht zugeben. Er sah auf, als sie sich dem Tisch bis auf zwei Schritte genдhert hatte, und fьr einen Moment musste sie ein Lдcheln unterdrьcken, als sich ihr die absurde Vorstellung aufdrдngte, Soerensens rechtes Auge kreisrund und plattgedrьckt zu sehen, von den fьnf oder sechs Stunden, die er jetzt schon ьber das Mikroskop gebeugt dasaЯ. Sie fragte sich, warum er nicht den Monitor benutzte, um sich seine Funde genauer anzusehen. »Captain Laird.« Soerensens Stimme klang ьberaus versцhnlich. »Alles in Ord­nung?« Charity nickte. »Unser Baby liegt auf Kurs«, antwortete sie. »Keine Angst. In neunzehn Tagen sind Sie wieder zu Hause.« Sie deutete mit einem Lachen auf das Mikroskop. »Haben Sie den Nobelpreis schon gesichtet?« Soerensen reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte – weder schien er amьsiert noch verдrgert zu sein. Als sie ihn eingehend musterte, glaubte sie fast, eine ganz leise Spur von Enttдuschung auf seinen Zьgen zu erkennen. Oder war es Sorge? »Was haben Sie, Professor?« fragte sie. »Irgend etwas, das ich wissen mьsste?« Soerensen schьttelte hastig den Kopf. »Nein«, sagte er rasch. »Nur…« Er zцger­te, sah das Mikroskop vor sich an, als erwarte er Hilfe von ihm, und seufzte tief. »Ich weiЯ es nicht«, sagte er schlieЯlich. »Es ist alles… ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.« »Das geht mir genauso«, gestand Charity. Sie setzte sich neben Soerensen auf die Schreibtischkante und schlug die Beine ьbereinander. Sie sah ihn nicht an, als sie weitersprach. »Ich frage mich, ob es sich gelohnt hat.« »Gelohnt?« Soerensens Tonfall machte deutlich, dass er ernsthaft an ihrem Verstand zweifelte. »Wie meinen Sie das?« Charity machte eine weit ausholende Handbewegung. »Nun, wir haben dieses Schiff riskiert, unser aller Leben und einige hundert Millionen Dollar, nicht wahr? Und das alles, um zehnminuten lang in einem leeren Schiff herumzuflie­gen und ein paar Fotos zu machen.« »Sie sind ein Barbar, Captain«, behauptete Soerensen. Charity grinste. »Stimmt. Deshalb hat man mich ausgesucht, diese Expedition zu leiten. Aber im Ernst, Professor – hat es sich gelohnt?« »Zweifellos«, sagte Soerensen. »Es hдtte sich fьr eine Minute gelohnt. Selbst fьr eine Sekunde.« »Fьr Sie«, rдumte Charity ein. »Aber fьr die Menschheit?« Soerensen seufzte. Dann lдchelte er. »Sicher – der Hintergedanke war vielleicht, auf AuЯerirdische zu treffen. Niemand hat es gesagt, aber selbstverstдndlich ha­ben wir gehofft, sie zu sehen. Vielleicht sogar… Kontakt mit ihnen aufzuneh­men. Wir sind nicht wegen dieser zehn Minuten hierher geflogen, Captain, son­dern wegen der Chance.« »Aber wir hatten sie nicht. Keine ETs«, sagte Charity nickend. Und fьgte mit einem versцhnlichen Lдcheln hinzu: »Aber wenigstens auch keine menschen­fressenden Aliens, nicht wahr?« Soerensen blieb weiterhin ernst. »Es ist … wahrscheinlich zu frьh, um irgend etwas Definitives zu sagen«, sagte er. »Aber ich…« Er brach wieder ab, lehnte sich plцtzlich zur Seite und zog ein Hochglanzfoto aus einem fast zwanzig Zen­timeter hohen Bilderstapel auf dem Tisch. Wдhrend Charity geschlafen hatte, hatte er Hunderte von Abzьgen von den Bildern machen lassen, die sie geschos­sen hatten. Er hielt Charity das Bild hin. »Sehen Sie sich das an.« Charity gehorchte. Im ersten Moment war sie ьberrascht – das Bild zeigte den gewaltigen Raketenmotor, den sie entdeckt hatten, aber zehnmal schдrfer und detaillierter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nun, schlieЯlich hatten sie nicht um­sonst die besten Kameras und empfindlichsten Filme an Bord, die es ьberhaupt gab. Eine Weile betrachtete sie das Bild neugierig, dann sah sie Soerensen an und zuckte mit den Schultern. »Und? Ein ganz normaler Raketenmotor.« »Eben«, sagte Soerensen. Irgendwie klang er niedergeschlagen, fand Charity. »Das ist es ja gerade.« Charity legte den Kopf schrдg und sah ihn fragend an. Soerensen nahm ihr das Bild fort, klaubte ein weiteres aus dem Stapel, machte aber keine Anstalten mehr, es ihr zu zeigen. Er seufzte. »Wie gesagt, es ist nur mein erster Eindruck, aber…« Er sprach auch jetzt nicht weiter, und Charity glaubte plцtzlich auch zu wissen, warum: Weil er Angst vor dem hatte, was er eigentlich sagen wollte. »Aber?« sagte sie. Soerensen seufzte wieder. Er wirkte verstцrt. »Dieses Triebwerk, Captain Laird«, sagte er. »So etwas haben wir vor zehn Jahren schon besser gebaut.« Es dauerte einen Moment, bis Charity begriff. Aber sie war nicht sehr ьber­rascht. Eigentlich hatte sie es die ganze Zeit ьber gewusst. »Ich habe die Proben untersucht, die Lieutenant Wollthorpe vom Schiff genom­men hat«, fuhr Soerensen fort, als sie nicht reagierte. »Wissen Sie, was es ist?« »Woher?« »Titanium«, sagte Soerensen. »Ganz normales Titanium. Nicht einmal beson­ders reines. Dieses Schiff hier besteht aus einem besseren und widerstandsfдhi­gerem Material.« »Sie wollen sagen, dass unsere groЯen Brьder aus dem Kosmos gar nicht so groЯartig sind«, sagte Charity leise. »Ich will ьberhaupt nichts sagen«, fauchte Soerensen, plцtzlich gereizt. Viel­leicht war ihm eingefallen, dass jedes seiner Worte aufgenommen und sofort und live zur Erde gefunkt wurde. »Wir waren nicht einmal zehn Minuten im In­neren dieses Schiffes. Wir haben nur einen Bruchteil dessen gesehen, was es enthдlt.« »Zum grцЯten Teil gar nichts«, erinnerte Charity. »Wissen Sie, Professor – das ist es, was mir das grцЯte Kopfzerbrechen bereitet. Wer baut ein so gewaltiges Schiff, um es dann vollkommen leer auf die Reise zu schicken?« »Vielleicht war es nicht mehr leer«, sagte Soerensen. Charity lachte gequдlt. »Ja, sicher. Es wird irgendwo unterwegs ausgeplьndert worden sein, wie? Von Raumpiraten.« »Es war sehr lange unterwegs«, erwiderte Soerensen ernst. Er deutete wieder auf die Materialproben. »An diesem Metall klebt kosmischer Staub. Ich kann mit diesen primitiven Gerдten hier keine genauen Bestimmungen vornehmen, aber dieses Schiff bewegt sich seit mindestens fьnfzehntausend Jahren durch das All. Vielleicht auch schon viel lдnger. Haben Sie eine Ahnung, was in dieser Zeit alles passieren kann?« Natьrlich hatte Charity das nicht – niemand hatte das –, aber sie nickte trotzdem. Sie wusste, was Soerensen meinte. »Vielleicht gab es eine Katastrophe«, sagte sie. »Vielleicht ist es nicht fertig geworden. Vielleicht war es eine Art Transporter, der auЯer Kontrolle geriet, ehe er beladen wurde. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, ein so riesiges Schiff zu bauen, als den, irgend etwas zu transportieren.« »Sie nicht«, bestдtigte Soerensen. »Und ich auch nicht. Aber das heiЯt nicht, dass es so war. Wissen Sie, wie auЯerirdische Lebensformen denken?« »Nein«, gestand Charity. »Aber wenn dieses Schiff wirklich so rьckstдndig ist, wie Sie sagen…« »Das habe ich nicht gesagt«, unterbrach sie Soerensen. »Es ist in Teilen primiti­ver, als ich erwartet habe, das stimmt. Andererseits wдren wir nicht in der Lage, ein solches Riesenschiff zu bauen und zu anderen Sonnensystemen zu schik­ken.« »O doch«, widersprach Charity. »Es ergдbe nur keinen Sinn.« Soerensen nickte, starrte an ihr vorbei und biss sich auf die Unterlippe. »Da ist noch etwas«, sagte er, ohne sie anzusehen. Charity wurde hellhцrig. »Ja?« Der Wissenschaftler beugte sich ьber den Tisch und nahm ein in durchsichtiges Plastik verschweiЯten Gegenstand zur Hand. »Das hier hat Lieutenant Bellinger gefunden«, sagte er. »Ganz in der Nдhe dieses sonderbaren Ringes. Was glauben Sie, was es ist?« Charity hatte keine besondere Lust, Ratespielchen zu spielen, aber sie tat ihm den Gefallen, sich das Fundstьck einige Sekunden lang genauer anzusehen. Es war ein lдngliches, geschwдrztes Stьck Metall oder Kunststoff, brьchig und po­rцs geworden von Soerensens mindestens fьnfzehntausend Jahren, die es in ab­solutem Vakuum und Weltraumkдlte dagelegen hatte. »Und?« fragte sie. Soerensen nahm ihr den Gegenstand vorsichtig wieder aus der Hand – immerhin war er etliche Millionen Dollar wert – und legte ihn an seinen Platz zurьck. »Ich habe es fьr irgendein Bruchstьck gehalten«, sagte er. »Etwas, das von etwas an­derem abgebrochen ist, vielleicht auch einfach nur Abfall, den man wegzurдu­men vergessen hat.« Charity sah ihn verwirrt an. »Dann habe ich es durchleuchtet.« Er drehte sich herum und schaltete einen der zahllosen Monitoren an der Wand vor sich ein. Charity erkannte den Umriss des lдnglichen Gegenstandes, den sie gerade in der Hand gehalten hatte. »Diese schwarze Masse ist nichts als kosmischer Staub«, fuhr er fort. »Eine Art Kruste, die sich darauf gebildet hat. Und das da«, fьgte er nach einer genau berechneten Pause hinzu, »war darunter, Captain Laird.« Er drьckte einen Knopf, und das Bild wechselte. Charity erkannte es sofort, aber alles in ihr weigerte sich, es zu akzeptieren. Es war eine Art Finger; allerdings nicht der Finger eines Menschen, sondern ei­ne Klaue, fьnfzehn Zentimeter lang und mit zwei ьbergroЯen, verkrьppelt wir­kenden Gelenken. Sie bestand aus schwarzem, brьchig gewordenem Chitin. Es war die Klaue eines gigantischen Insektes. Warum erschreckte sie diese Klaue so? Sie war nicht einmal sicher, dass es sich wirklich um eine solche handelte – selbstverstдndlich hatte Soerensen es nicht gewagt, sie schon an Bord der CONQUEROR von ihrem Panzer aus kosmi­schem Staub zu befreien, und er hatte es ebenso wenig gewagt, irgendwelche anderen Untersuchungen anzustellen, so dass sie auf das nicht besonders scharfe Ultraschallbild angewiesen waren – keine Rцntgenaufnahmen, keine weiteren Durchleuchtungen, nichts, was ihren Fund in irgendeiner Weise beeintrдchtigen konnte. Und trotzdem war die Beunruhigung geblieben. Charity sah das Bild der ins Riesenhafte vergrцЯerten Insektenkralle im Traum. Sie fragte sich, warum dieses Bild sie so verfolgte, und mit solchem Schrecken. Dieses Krallenwesen war seit gut fьnf-zehntausend Jahren tot, und selbst wenn sie Insekten waren, was war schlimm daran? Was hatte sie erwartet? Kleine grьne Mдnnchen oder galakti­sche Telefonfetischisten mit groЯen Kцpfen und Leuchtfingern? Lдcherlich. Das war die eine Seite, die logische. Leider gab es noch eine andere, und sie sorgte dafьr, dass Charity wдhrend des achtzehntдgigen Fluges nach Hause nicht besonders gut schlief. Es war nicht allein diese Kralle, die sie gefunden hatten: Bei aller verstдndlicher Paranoia musste sie sich eingestehen, dass es ein Dutzend ьberzeugender und wahr­scheinlich einige tausend mцgliche Erklдrungen fьr dieses Fundstьck gab. Aber etwas… hatte sie im Inneren dieses riesigen Sternenschiffes berьhrt. Und verдn­dert. Der Blick. In ihren Trдumen sah sie ihn immer wieder, und manchmal war der zyklopische Ring auf seiner Oberflдche nicht leer, sondern erfьllt von na­menlosen schrecklichen Dingen, und ein paarmal krochen Insektenwesen aus ihm heraus und auf sie zu, und… Und an dieser Stelle wachte sie regelmдЯig auf, als wдre der Regisseur dieses ganz privaten Horror-Filmes in ihr zu dem Schluss gekommen, dass es genug war. Sie sprach zu niemandem von ihren Trдumen, nicht einmal zu Mike. Einmal spielte sie mit dem Gedanken, mit Bellinger zu reden – wozu hatten sie einen Psychologen an Bord? –, aber der Gedanke an die – zigtausend anderen Ohren, die ihr Gesprдch mithцren wьrden, brachte sie von der Idee ab. Es gab keinen Ort auf der CONQUEROR, an dem sie ungestцrt reden konnten. Angeblich wa­ren die Mikrofone und Sender abgeschaltet worden, nachdem sie ihre Mission erfьllt hatten, aber Charity hatte da gewisse Zweifel. Was die technische Seite ihres Rьckfluges anbelangte, verlief alles so perfekt, wie es ьberhaupt nur mцglich war. Nach achtzehneinhalb Tagen – die gute alte Erde war so freundlich gewesen, ihnen entgegenzukommen – tauchte die CONQUEROR in die Atmosphдre ein und landete fast auf die Minute genau auf einem groЯrдumig abgesperrten Teil der Jefferson-Air-Base. Sie hatte mit einigen Unannehmlichkeiten gerechnet, aber was nach ihrer Rьck­kehr geschah, ьbertraf ihre schlimmsten Befьrchtungen. Sie wurde von den an­deren getrennt und untersucht, und danach begannen die Verhцre, unter denen sie mehr litt, als sie zugeben wollte. Keine Sekunde ihres Aufenthaltes auf dem Schiff, zu der sie nicht befragt wurde, keine Videoaufnahme, die sie nicht erklд­ren musste, keine ihrer eigenen Worte – oder auch nur hingeworfenen Bemer­kungen –, die ihr vom Band vorgespielt wurden und die sie kommentieren muss­te, immer und immer und immer wieder, bis sie bald selbst nicht mehr wusste, was sie nun gesagt hatte und warum. Am Ende kam sie sich beinahe wie eine Verbrecherin vor. Und als sie fertig waren und sie – endlich – entlieЯen, begann der zweite Teil der Tortur: Das Sternenschiff war in einigen hunderttausend Kilometern Entfernung an der Erde vorьbergerast und nдherte sich nun der Sonne, und sie und die fьnf anderen waren die einzigen Informationsquellen fьr die Цffentlichkeit. Es war die Hцlle. Nach drei Tagen sehnte sie sich in das Verhцrzimmer im NASA-Hauptquartier in Houston zurьck, und nach weiteren drei Tagen spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, auf jeden Reporter zu schieЯen, der ihr nдher als fьnf Meter kam. Es war beinahe unmцglich, den Fernseher einzuschalten oder eine Zeitung aufzu­schlagen, ohne ihr Portrдt zu erblicken.Es dauerte drei Wochen, dann geschah etwas, was das Interesse der Цffentlich­keit schlagartig von Captain Charity Laird und den anderen Mitgliedern der CONQUEROR-Expedition ablenkte: Das Sternenschiff kam zurьck. Und diesmal landete es. Es waren keine heldenhaften Retter, sondern ein Strahl aus blutfarbenem Licht, der von irgendwo ьber Charity herabstach und das Spinnenmonster aufspieЯte. Das Tier verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in einen rauchenden Schlackehaufen, aber der Laserblitz erlosch nicht, sondern wanderte im Zick­zack weiter, brannte eine rotleuchtende Spur in den Beton des Bodens und traf ein zweites Ungeheuer, und fast im gleichen Moment flammten ein zweiter und dritter Laserstrahl auf, wдhrend der erste flackernd erlosch. Fьnf Sekunden Dau­erfeuer, dachte Charity kalt. Das Magazin der Waffe musste fast leergeschossen sein. Erst dann begriff sie ganz allmдhlich, dass sie gerettet war; wenigstens fьr den Augenblick. Jemand beugte sich ьber sie. Ein Gesicht, das nur schattenhaft hinter der getцn­ten Scheibe eines Helmes sichtbar war, blickte auf sie herab, Lippen formten eine lautlose Frage, wдhrend die beiden anderen Mдnner ununterbrochen weiter­schossen. GroЯer Gott, dachte Charity, wie viele dieser Spinnenungeheuer wa­ren hier?! Der Mann ьber ihr legte sein Gewehr zu Boden, packte sie kurzerhand unter den Armen und zerrte sie mit sich, wдhrend er sich rьckwдrts gehend auf die Tьr zubewegte, durch die er und die beiden anderen gekommen waren. Charity er­haschte einen kurzen Blick auf die Schleusenhalle, und was sie sah, lieЯ ihr Herz abermals einen schmerzhaften Sprung machen: Die Schwдrze war dem flak­kernden roten Licht zahlloser Brдnde gewichen, und dieses Hцllenlicht offenbar­te ihr ein geradezu apokalyptisches Bild. Der Boden der Halle schien zu leben, ein brauner, brodelnder Teppich aus Hunderten von Spinnentieren, zwischen denen sich andere, gepanzerte Kreaturen bewegten, die nur aus Zдhnen und Sta­cheln zu bestehen schienen. Die Laser der beiden Soldaten brannten die angrei­fenden Tiere zu Dutzenden nieder, aber es war sinnlos. Ihre Ьbermacht war ein­fach zu groЯ, um sie selbst mit der zehnfachen Anzahl von Waffen aufhalten zu kцnnen. Die beiden Soldaten zogen sich in den kleinen Schleusenraum zurьck, in dem sich Charity und ihr Retter befanden. Die Faust des einen hдmmerte auf eine Schalttafel, und die Tьr begann sich zu schlieЯen. Aber sie tat es mit quдlender Langsamkeit, und als begriffen die Tiere, dass ihnen ihre schon sicher geglaubte Beute im letzten Moment doch noch zu entkommen drohte, verdoppelten sie ih­re Anstrengungen. Trotz des mцrderischen Laserfeuers gelang es einem der ge­waltigen Spinnentiere, noch durch die Tьr zu schlьpfen, ehe sie sich endgьltig schloss. Charity schrie vor Schrecken auf, als sie sah, wie einer der Soldaten seine Waffe senkte und auf die Bestie anlegte. Wenn dieser Idiot seinen Gammastrahllaser in dieser winzigen Kammer abfeuerte, dann wurden nicht nur die Spinne, sondern sie alle vier gleich mitgebraten! Aber der Mann begriff im letzten Moment, was er beinahe getan hдtte; vielleicht warnte ihn auch Charitys Schrei. Statt zu feuern, drehte er die Waffe in den Hдnden herum und erschlug das Tier mit dem Kolben. Schweratmend richtete er sich auf und wandte sich Charity zu. Ein verzerrtes Grinsen malte sich hinter der Sichtscheibe seines Helmes ab. »Danke. Ich … hдtte fast die Nerven verloren.« Er warf sein Gewehr zu Boden, griff an den Hals seines silberfarbenen Schutz­anzuges und lцste mit einer heftigen Bewegung den Helm. Darunter kam ein sehr junges – und im Augenblick sehr erschцpftes – Gesicht zum Vorschein; dunkle Augen, in denen eine unbestimmte Furcht nistete, ein schmaler, fast blut­leer zusammengepresster Mund und Wangen, die eingefallen und grau und krank aussahen. Er war nicht дlter als fьnfundzwanzig, aber sein Gesicht war das eines Menschen, der hundert Jahre Terror erlebt hatte. Seit dieser ganze Alp­traum begonnen hatte, hatte Charity fast nur in solche Gesichter geblickt. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er. Ohne auch nur eine Antwort abzuwar­ten, ging er neben ihr in die Hocke, zog ein Messer aus dem Gьrtel und begann die Fдden zu zerschneiden, die Charity einhьllten. Obwohl er sehr vorsichtig zu Werke ging, presste Charity vor Schmerz die Lippen aufeinander. Die Fдden brannten nicht nur wie Sдure auf der Haut, sie klebten auch verdammt fest, und hier und da blieben Blut und kleine Hautfetzchen an ihnen haften, wenn er sie abschnitt. Als er endlich fertig war, standen ihr die Trдnen in den Augen. Sie fьhlte sich, als hдtte jemand versucht, sie bei lebendigem Leibe zu hдuten. »So«, sagte der junge Soldat. »Das reicht fьrs erste. Den Rest schneidet Ihnen der Doc herunter. Unten im Bunker. Alles in Ordnung?« fragte er noch einmal. Charity nickte, setzte sich behutsam auf und tastete mit zusammengebissenen Zдhnen nach ihrem Gesicht. An ihren Fingerspitzen klebte Blut, als sie die Hand zurьckzog. »Fabelhaft«, antwortete sie. »Wer sind Sie? Der Foltermeister der Station?« Ihr Retter lachte leise. »Das Empfangskomitee«, sagte er. »Wenigstens das inof­fizielle. Das andere …» Er deutete mit dem Daumen ьber die Schulter zurьck, »…haben Sie ja schon kennengelernt.« Er seufzte, richtete sich mit einer kraft­vollen Bewegung auf und wurde ьbergangslos wieder ernst. »Ich bin Lieutenant Stone. Captain Laird, wie ich vermute?« »Erwarten Sie noch andere Gдste?« erkundigte sich Charity gepreЯt. Sie igno­rierte Stones hilfreich ausgestreckte Hand, stemmte sich aus eigener Kraft auf die FьЯe und blieb schwankend stehen. Stone nickte sehr ernst. »Ein paar«, sagte er. »Aber ich fьrchte, sie werden nicht mehr kommen. Es ist ein Wunder, dass Sie es geschafft haben.« Er hob rasch die Hand, als sie etwas sagen wollte. »Wir sollten lieber von hier verschwinden«, sagte er. »Hier oben ist es nicht mehr sicher. Und Sie mьssen zum Arzt, Cap­tain.« Charity fragte sich vergeblich, was er mit diesen Worten meinte – die Tьr, durch die sie gekommen waren, war einen halben Meter dick und wьrde wahrschein­lich selbst einem taktischen Atomsprengkopf standhalten. Aber sie wagte nicht zu widersprechen, und zumindest mit seiner letzten Bemerkung hatte er recht – wenn sie sich jemals gewьnscht hatte, einen Arzt zu sehen, dann jetzt. Und sei es nur, um ihr dieses widerwдrtige klebrige Zeug vom Kцrper zu schneiden. Erschцpft nickte sie. Stone steckte sein Messer weg, half ihr, sich vollends hoch zurappeln, und fьhrte sie zum Lift. Der Weg nach unten kam ihr lдnger vor als sonst; die Kabine bewegte sich ruckhaft und langsam. Aus dem kontrollierten Sturz, der die Kabine normaler­weise in weniger als dreiЯig Sekunden fast eine halbe Meile tief in die Erde hin­abgleiten lieЯ, war ein ruckelndes Bocken und Schlingern geworden. Einmal flackerte die Beleuchtung, und mehr als nur einmal hatte sie das Gefьhl, sich ьberhaupt nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Und die besorgten Blicke, die Stone und seine beiden Kameraden miteinander tauschten, bewiesen ihr, dass es mehr als nur ein Gefьhl war. Aber sie verbot sich jede Frage. Sie wьrde frьh ge­nug erfahren, wie es um die Station bestellt war. Und im Grunde wollte sie es gar nicht so genau wissen. Ihr Bedarf an schlechten Neuigkeiten war in den letz­ten Wochen gedeckt worden. Trotzdem war die Fahrt in die Tiefe wie eine Reise in eine andere, lдngst verges­sene Zeit, ein Trip in eine Epoche, die unwiderruflich vorьber war und wahr­scheinlich nie wieder kommen wьrde. Erschцpft lehnte sie sich gegen die Wand, sah die mattgelbe Neonrцhre unter der Kabinendecke an und lдchelte. Stone blickte sie verwirrt an. »Keine Angst, Lieutenant«, sagte Charity. »Ich bin nicht verrьckt geworden. Ich musste nur gerade daran denken, wie genьgsam einen so ein kleiner Weltunter­gang doch macht.« Der Blick des jungen Lieutenants wurde noch fragender, und Charity fьgte mit einer Kopfbewegung auf die Leuchtstoffrцhre hinzu: »Es tut schon gut, eine elektrische Lampe zu sehen, die noch halbwegs funktioniert.« Stone blickte sie noch einen Moment lang mit der gleichen Verwirrung an, aber dann lдchelte er ebenfalls. »Auf den unteren Ebenen funktioniert noch fast al­les«, sagte er. »Wenigstens, was die technische Seite angeht.« Charity entschied, auch diese Bemerkung zu ignorieren, und machte eine fra­gende Handbewegung auf die Laserwaffen der drei Soldaten. »Und diese Din­ger?« »Alles gehдrtet«, antwortete Stone. »Wir waren unter einer Meile Granit einge­graben, als der groЯe Knall kam.« Eine Art morbider Neugier, die Charity nicht besonders gefiel, trat in seinen Blick. »War es schlimm, oben?« »Es ging«, antwortete Charity einsilbig. »Ich bin schon angenehmer gereist, wenn Sie das meinen.« Wenn Stone ihr plцtzlicher Stimmungsumschwung auffiel, so ignorierte er ihn. »Woher kommen Sie?« fragte er. »Jetzt, meine ich?« Einen Moment lang ьberlegte Charity ernsthaft, ihn mit ein paar eindeutigen Worten darauf hinzuweisen, dass sie nicht nur ungefдhr zehn Jahre дlter als er, sondern auch Captain der US-Space Force war, und er nur ein einfacher Lieute­nant. Aber dann kam ihr der Gedanke selbst lдcherlich vor. Die Sternenschiffe von Moron hatten nicht nur ihre Militдrbasen zusammengebombt, auch solche Dinge wie Rangunterschiede und Offiziersstreifen waren unbedeutend gewor­den. »New York«, antwortete sie. »Ich war eine Woche unterwegs. Und jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wie ich es geschafft habe. Ich weiЯ es nдmlich selbst nicht.« Stone setzte zu einer Antwort an, aber in diesem Moment hatte sie das Ziel ihrer Fahrt in die Unterwelt erreicht; der Aufzug kam mit einem ungewohnt harten Ruck zum Stehen, und die Tьren glitten auf. Stone klaubte seinen Laser vom Boden auf, hдngte sich die schwere Waffe lдssig ьber die Schulter und machte eine einladende Handbewegung. Charity sah sich ьberrascht um, als sie die Kabine verlieЯ. Die aufgemalte 27 auf der gegenьberliegenden Wand verriet deutlich, dass sie sich nicht auf der Kom­mandoebene befanden, sondern ein gutes Stьck darunter, genauer gesagt auf der tiefsten Sohle der Bunkeranlage. »Befehl des Kommandanten«, sagte Stone, der ihren fragenden Blick richtig deutete. »Wir haben die Mannschaftsquartiere schon vor einer Woche hier her­unter verlegt. Ist alles ein bisschen beengt, im Moment.« Charity sah ihn zweifelnd an. Die Mannschaftsquartiere hier? Sie war niemals hier unten gewesen, aber sie kannte die Plдne dieser Anlage auswendig – hier unten sollte es eigentlich nichts anderes geben als Magazine und Lager und die verschiedenen Entsorgungs– und Ьberlebensanlagen; schon wegen der unge­mьtlichen Nдhe zum Reaktor, dessen atomares Herz nur ein paar Meter unter dem Beton des Korridores schlug. »Warum?« fragte sie. Stone zuckte die Achseln. »Die oberen zehn Ebenen wurden evakuiert«, antwor­tete er. »Ich weiЯ nicht, warum. Aber es gibt ein Gerьcht, nach dem…« Er zцger­te, dann sah er wohl ein, dass er schon ein wenig zu viel geredet hatte. »Man er­zдhlt sich, dass Becker vorhat, den ganzen Bunker zu versiegeln«, sagte er. »Ein paar von den Jungs haben Sprengladungen angebracht. Aber wie gesagt – Ge­rьchte.« Versiegeln? Sprengladungen? Es fiel Charity schwer, Stone zu glauben. Vor al­lem, weil sie ziemlich wenig Sinn ergaben. Sie dachte einen Moment darьber nach, dann verdrдngte sie diese Frage und ging weiter. Die Illusion, allein in dieser Welt aus dunklen Gдngen zu sein, zerplatzte wie eine Seifenblase, als sie das Ende des Stollens erreicht hatten und Stone die Tьr цffnete. Charity machte einen Schritt an Stone vorbei in den angrenzenden Raum und blieb verblьfft stehen. Vor ihr breitete sich eine hohe, gut fьnfzig mal fьnfzig Schritte messende Halle aus, die vor Menschen schier aus den Nдhten zu platzen schien. Nicht nur Soldaten wie Stone oder sie, sondern auch Zivilisten: Mдnner, Frauen und Kinder, von denen einige in schlichtweg erbдrmlichem Zu­stand zu sein schienen. Viele saЯen einfach auf dem Boden oder hatten sich pri­mitive Lagerstдtten aus Kleidern und Decken gemacht, und vor der gegenьber­liegenden Wand entdeckte sie gar zwei kleine, weiЯe Plastikzelte. Ein paar ge­schwдrzte Stellen auf dem Betonboden bewiesen, dass sie sogar Feuer gemacht hatte. »Was zum Teufel ist hier los?« fragte Charity verblьfft. »Was tun diese Leute hier?« Stone lдchelte gequдlt. »Das fragt sich Commander Becker seit einer Woche auch, Captain Laird«, antwortete er. »Die Leute«, fьgte er sehr viel ernsthafter hinzu, als Charity ihn scharf ansah, »sind aus Brainsville, dem Dorf unten am Berg.« »Die Stadt ist angegriffen worden?« Es war keine wirkliche Frage. SchlieЯlich war sie vor nicht einmal einer Stunde selbst durch die verkohlte Ruinenland­schaft gefahren, in die sich Brainsville verwandelt hatte. Trotzdem nickte Stone. »Vor acht Tagen«, bestдtigte er. »Sie haben alles niedergemacht, was sich be­wegte. Das da sind die einzigen Ьberlebenden.« Charity schwieg schockiert. In der ehemaligen Lagerhalle befanden sich viel­leicht hundertfьnfzig Menschen – aber Brainsville hatte fast dreitausend Ein­wohner gehabt! »Sie kamen in zwei Schulbussen hier herauf«, fuhr Stone fort. »Wir konnten sie schlecht drauЯen stehenlassen und zusehen, wie diese Ungeheuer sie auffressen, nicht wahr?« Nein, dachte Charity dьster. Das konnten sie nicht. Obwohl sie es eigentlich gemusst hдtten. Aber sie war sehr froh, dass Becker seine Befehle in dieser Be­ziehung missachtet hatte. Ein neuer, sehr tiefgehender Schmerz flammte in ihr auf, als sie das Hдufchen Ьberlebender sah… Warum? dachte sie. Warum nur? Aber diese Frage hatte sie sich in den vergangenen vier Wochen vielleicht eine Million Mal gestellt, ohne auch nur ein einziges Mal eine Antwort zu finden. Vielleicht gab es keinen Grund. »Kommen Sie, Captain«, sagte Stone beinahe sanft. »Commander Becker erwar­tet Sie bereits.« Schweigend ging Charity weiter. Sie sprach kein einziges Wort mehr, bis sie die Krankenstation erreicht hatten. II »Na? Endlich wach?« Mikes Finger krochen auf ihr Gesicht zu, machten sich einen Moment lang an ihrem Hals zu schaffen und versuchten sich einen Weg unter die Decke zu graben, zogen sich dann aber blitzschnell zurьck, als sie spie­lerisch danach schlug. Charity war viel zu mьde, um zu treffen; auЯerdem wollte sie das auch gar nicht. »Lass mich in Ruhe«, murmelte sie, das Gesicht halb unter der Decke vergraben. »Wenn du ьberschьssige Energien hast, dann steh auf und mach Kaffee.« Mike runzelte in ьbertrieben geschauspielerter Enttдuschung die Stirn. »Du bist prьde«, behauptete er. »Nein«, gab Charity gдhnend zurьck. »Mьde. Ich habe seit zehn Jahren nicht geschlafen.« Sie lauschte einen Moment auf das Schweigen, das ihr antwortete. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie nicht durch Stimmen oder ein Klop­fen an der Tьr oder das Schrillen des Telefons geweckt wurde; das erste Mal, dass sie einfach aufstehen und sich anziehen konnte, ohne Angst haben zu mьssen, vom Dach des gegenьberliegenden Hauses herab ge­filmt zu werden. Im stillen dankte sie Gott, dass er das fremde Raumschiff ge­schickt hatte. Ruhm konnte zu einer Last werden. Vor allem, wenn man ihn gar nicht wollte. Sie bemerkte, dass Mike tatsдchlich aufgestanden war und sich in der Kьche zu schaffen machte. Verschlafen hob sie den Kopf, blinzelte auf die Armbanduhr und registrierte ohne besondere Ьberraschung, dass sie lдnger als zwцlf Stunden geschlafen hatte. Trotzdem fьhlte sie sich alles andere als ausgeruht. Einen Moment lang genoss sie es noch, einfach so dazuliegen und sich in die Wдrme der zerknautschten Bettwдsche zu kuscheln, dann stand sie widerwillig auf, schlurfte ins Bad und verbrachte die nдchsten zehn Minuten damit, unter den eiskalten Strahlen der Dusche vollends wach zuwerden. Der Duft von frisch aufgebrьhtem Kaffee zog durch die kleine Wohnung, als sie in die Kьche ging. Mike hatte nicht nur Kaffee gemacht, sondern ein ьppiges Frьhstьck vorbereitet. Charity verspьrte wenig Appetit, aber sie lдchelte trotz­dem dankbar. Sie setzte sich und runzelte die Stirn, als sie bemerkte, wie Mike sie mit Blicken fцrmlich auszog. »Jetzt wird gefrьhstьckt«, sagte sie bestimmt. »Ich hдtte eine bessere Idee.« »Lustmolch«, erwiderte Charity betont sachlich. »Was willst du?« sagte er. »Ich habe ein gewisses Nachholbedьrfnis. Immerhin habe ich dich die letzten zehn Wochen nur im Raumanzug oder auf Bildern ge­sehen.« »Und das war anscheinend schon zu viel«, seufzte Charity. »Ich hдtte dir doch irgendein schleimiges Sternenmonster von Bord des Schiffes mitbringen sollen. AuЯerdem – was willst du? Wir waren fast sechs Wochen ununterbrochen zu­sammen.« »Aber nicht allein.« Mike zog eine Grimasse. »Und schon gar nicht unbeobach­tet, oder?« Charity lдchelte. »Ach, die paar Kameras. Wir hдtten uns eine goldene Nase verdienen kцnnen, wenn wir Tantiemen fьr die Filme bekommen hдtten.« Sie nippte an ihrem Kaffee und wollte eine weitere spцttische Bemerkung hinzufь­gen, aber in diesem Moment schrillte die Tьrglocke. Mike fuhr erschrocken zusammen. Einen Moment lang blickte er sie fragend an, dann verschwand die gute Laune geradezu schlagartig von seinem Gesicht. »Wenn das wieder so ein beschissener Reporter ist…« Es klingelte erneut, und diesmal hielt der unbekannte Besucher den Finger auf dem Klingelknopf. Mike wollte aufspringen, aber Charity hielt ihn mit einem raschen Kopfschьtteln zurьck, schloss ihren Morgenrock und stand auf. Das Schrillen der Klingel brach nicht ab, wдhrend sie zur Tьr ging, sondern schien noch aufdringlicher und drдngender zu werden. Charity machte sich nicht einmal die Mьhe, durch den Spion zu blicken, sondern riss die Tьr mit einem Ruck auf und setzte zu einer alles anderen als freundli­chen BegrьЯung an. Aber vor der Tьr stand kein Reporter, sondern ein schlanker junger Mann in der blauen Uniform der Space-Force. »Captain Laird?« fragte der Lieutenant. Charity nickte. Ihr Gegenьber zog einen Dienstausweis aus der Brusttasche, hielt ihn eine halbe Sekunde lang in die Hцhe und machte dann eine vage Kopf­bewegung. »Man hat mir gesagt, dass ich Lieutenant Wollthorpe bei Ihnen fin­de. Ist das richtig?« »Geht Sie das etwas an?« fragte Charity freundlich. »Im Prinzip nicht«, gestand ihr Gegenьber. »Aber ich muss Sie bitten, mich zu begleiten. Beide.« »Was ist passiert?« Charity sah flьchtig auf. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass Mike ihr nachge­kommen war. Der Space-Force-Lieutenant schьttelte andeutungsweise den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete er. »Ich habe nur den Befehl, Sie abzuholen. Beide. Und schnell – bitte.« Mike setzte zu einer Antwort an, belieЯ es aber dann bei einem Achselzucken und drehte sich ohne ein weiteres Wort um, und nach einer Weile folgte ihm auch Charity. Sie beide kannten den Ton in der Stimme des jungen Lieutenants zu gut, um nicht zu wissen, dass es wirklich dringend war. Und sie hatten ein zehnwцchiges Martyrium hinter sich – Becker wьrde sie kaum wegen einer Lap­palie nach drei Tagen aus ihrem wohlverdienten Urlaub rufen. Sie machte sich nicht Mьhe, den Lieutenant hereinzubitten, aber kaum drei Mi­nuten spдter traten Mike und sie – komplett und vorschriftsmдЯig in ihre Uni­formen gekleidet – wieder zu ihm heraus. Schweigend folgten sie ihm in den Aufzug. Sie fuhren nicht nach unten, wie sie erwartet hatte, sondern nach oben, auf das Dach des Apartmenthauses hinauf, auf dem ein Helijet mit laufendem Motor auf sie wartete – ein Jetcopter, der gut zweifache Schallgeschwindigkeit machte und alles andere als unauffдllig war. Commander Becker wьrde sie kaum mit einer solchen Maschine abholen lassen, nur um sich nach ihrem Wohlbefinden zu er­kundigen, dachte sie. Trotzdem sagte sie kein Wort, sondern folgte dem Lieute­nant geduckt bis zum Einstieg. Eine Hand streckte sich ihr entgegen und zog sie reichlich unsanft ins Innere der Maschine. Der Helijet hob ab, kaum dass Mike und der junge Lieutenant ihr gefolgt waren. Verwirrt blickte sie aus dem Fenster und sah, wie die Dдcher New Yorks unter ihr in die Tiefe stьrzten. Was der Pilot der Maschine hier vollfьhrte, war erstens vorschriftswidrig und zweitens nichts anderes als ein Alarmstart. Mike setzte sich neben sie, und sie bemerkte erst jetzt, dass sie nicht mehr allein waren – der junge Lieutenant, der sie abgeholt hatte, hatte auf der gepolsterten Bank ihr gegenьber Platz genommen; sein Gesicht wirkte nicht mehr ganz so verkrampft wie zuvor. »Das Schiff?« fragte sie. Der Lieutenant zuckte zusammen und nickte dann. »Woher wissen Sie das?« Charity lдchelte. »Vielleicht weibliche Intuition. Vielleicht«, fьgte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »auch nur ein Schuss ins Blaue. Sie sollten nicht sofort alles gestehen, nur weil jemand rein zufдllig die Wahrheit erraten hat, Lieute­nant.« »Was soll das?« raunte Mike. »Musst du den armen Kerl so in Verlegenheit bringen?« »Ja«, antwortete Charity, so laut, dass ihr Gegenьber die Worte garantiert mit­bekam – er sollte es auch. »SchlieЯlich hat er mir den Urlaub verdorben.« »Der Befehl kam von ganz oben«, erwiderte der Lieutenant verlegen. »Und wohin geht die Reise jetzt?« fragte Charity. »Ins Pentagon«, antwortete der Lieutenant. »Und mehr«, fьgte er hinzu, »darf ich Ihnen im Moment nicht sagen, Captain. Ich kцnnte es nicht einmal, wenn ich wollte.« Charity unterdrьckte ein Lдcheln. Sie begriff, dass Mike recht hatte: Sie brachte den armen Burschen in Verlegenheit, und er konnte wahrscheinlich am allerwe­nigsten dafьr. Man hatte ihm nur die undankbare Aufgabe zugeteilt, sie und Mi­ke zu holen. Was war mit den anderen Mitgliedern ihrer Crew? Auf ihre Frage erntete sie ein abermaliges Achselzucken. »Ich habe nur den Be­fehl, Sie und Lieutenant Wollthorpe abzuholen. Aber ich glaube ja – die ganze Crew.« Charity war nicht sehr ьberrascht. Es hдtte wenig Sinn ergeben, nur sie und Mi­ke zurьckzupfeifen – es gab nichts, was sie oder er allein und ohne die anderen erlebt hatten. Sie lehnte sich im Sitz zurьck, schloss die Augen und verschlief den Rest des Fluges. Sie erwachte erst wieder, als der Helijet auf dem Dach des Pentagons landete, wo sie von einer ganzen Abteilung bewaffneter, aber sehr schweigsamer Soldaten in Empfang genommen wurden. Ihrer und Mikes Ausweis wurden pe­dantisch ьberprьft. Erst dann gestattete man ihnen, sich zusammen mit den Wachsoldaten in einen winzigen Aufzug zu quetschen und das Allerheiligste zu betreten. Die Fahrt nach unten dauerte sehr lange – entweder, der Aufzug war ein gutes Stьck langsamer, als sie angenommen hatte, oder die Reise ging ein gutes Stьck unter die Erde. Nach einer Ewigkeit hielt die kleine Kabine an, und Charity at­mete erleichtert auf. Sie sah sich mit unverhohlener Neugierde um, wдhrend Mike und sie den Solda­ten durch die nur trьb beleuchteten Gдnge folgten. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hдtte – die Wдnde waren fensterlos und kahl, in blassen Pastellfarben gestrichener Beton ohne irgendwelche Beschriftungen, an den Tьren lediglich Zahlen, und in der Luft lag nur das Summen der Klimaanlage. Hastig rekapitulierte sie noch einmal alles, was sie ьber das Sternenschiff wuss­te. Viel war es nicht; aber das lag wohl eher daran, dass niemand viel ьber diese riesige Scheibe aus der Galaxis wusste, nicht einmal das Wissenschaftlerteam, das seit zwei Wochen damit beschдftigt war, sie Millimeter fьr Millimeter zu untersuchen. Und es kam hinzu, dass sie in den letzten Wochen eine heftige Ab­neigung gegen dieses Thema entwickelt hatte. Andererseits war es schlichtweg unmцglich, nichts ьber das Sternenschiff zu hцren. Es gab seit Wochen nur noch ein Thema in den Medien. Nach einer schier endlosen Odyssee durch meilenlange menschenleere Korrido­re erreichten sie ihr Ziel: eine weitere, unscheinbare Tьr, vor denen ihre Fьhrer stehen blieben und ihnen wortlos bedeuteten, einzutreten. Sie war nicht sonderlich ьberrascht, mit Ausnahme Bellingers die gesamte Crew der CONQUEROR vorzufinden – einschlieЯlich Soerensens –, und sie war auch nicht besonders erstaunt, das markante Gesicht Commander Beckers zu erblik­ken; was im ьbrigen nichts Gutes verhieЯ; wo Becker auftauchte, gab es Дrger. Womit sie aber nicht gerechnet hatte, war der Anblick des schlanken, nicht sehr hochgewachsenen Mannes am Kopfende des Tisches. Sie war ihm niemals zu­vor begegnet. Natьrlich. Jeder kannte das Gesicht des Prдsidenten der Vereinig­ten Staaten von Amerika. »Wenn Sie sich wieder gefasst haben, Captain Laird«, sagte Becker halblaut, »dann schlieЯen Sie bitte die Tьr und setzen sich.« Charity fuhr zusammen, merkte erst jetzt, dass sie tatsдchlich mitten im Schritt erstarrt war und den Prдsidenten unverwandt anstarrte, und schloss hastig die Tьr hinter sich. Sie wollte salutieren, aber Becker winkte unwillig ab und deute­te auf einen der wenigen freigebliebenen Stьhle. Charity setzte sich. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. »Was ist passiert?« fragte sie knapp. Der Prдsident lдchelte flьchtig, wдhrend Becker sie eindeutig missbilligend an­sah, aber nicht antwortete, sondern demonstrativ auf seine Armbanduhr blickte. Charity fiel auf, dass es nur noch einen einzigen freien Stuhl am Tisch gab. Of­fensichtlich war ihre Runde noch nicht komplett. Sie sah sich um, begrьЯte Niles, Landers und Soerensen mit einem raschen Kopfnicken und stellte mit wachsender Beunruhigung fest, wie hochkarдtig die Besatzung dieses unterirdischen Konferenzraumes war – mit Ausnahme der ehe­maligen CONQUEROR-Crew schien es niemanden hier drinnen zu geben, der nicht mindestens zwei Sterne auf den Schultern trug. Allermindestens. Was zum Teufel war passiert? Sie warf Soerensen einen fragenden Blick zu, erntete aber nur ein Achselzucken. Der Wissenschaftler wusste so wenig wie sie. Sein Gesicht wirkte sehr ernst. Er rauchte, und seine Finger hatten die Zigarette fast zerdrьckt, ohne dass er es ьberhaupt zu bemerken schien. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Hinterher begriff sie ьberrascht, dass sie weniger als fьnf Minuten auf den Mann gewartet hatten, fьr den der letzte Stuhl reserviert war, aber sie wurden zu einer Ewigkeit. Und als er dann kam, war Charity nicht die einzige, die ьberrascht zusammenfuhr und ihn an­starrte. Der Mann war grauhaarig; sein Alter konnte sie kaum schдtzen. Er hatte ein ver­schlossenes Gesicht und Hдnde, die feingliedrig wie die eines Chirurgen waren und nicht zu seiner ьbrigen Erscheinung passen wollten. Wie Becker und die meisten anderen im Raum trug er Uniform, und auf seinen Schultern protzten gleich vier Sterne – aber es gab noch etwas, was ihn von Commander Becker und den anderen unterschied: Seine Uniform war hellbraun, und sowohl auf seiner Mьtze als auch auf dem Kragen der dazu passenden Jacke leuchteten kleine, blutrote Sowjetsterne. Becker stand auf, als der Russe hereinkam. Er lдchelte, aber der Blick, den er den anderen dabei zuwarf, enthielt eindeutig eine Warnung. Wortlos eilte er ih­rem Besucher entgegen, geleitete ihn zu seinem Stuhl und hastete dann zu sei­nem eigenen Platz zurьck. »Meine Herren«, begann er. »Madame…« Das galt nur Charity, denn sie war die einzige Frau im Zimmer. »…ich muss Sie nicht extra darauf hinweisen, dass die­ses Gesprдch und alles, was Sie vielleicht anschlieЯend erfahren sollten, absolu­ter Geheimhaltung unterliegt.« Er hдlt sich nicht einmal mit einer BegrьЯung auf, dachte Charity verwundert. Was um Gottes willen ist passiert?! »Und um allen Spekulationen vorzubeugen«, fuhr Becker fort, »General Demi­sow ist auf ausdrьcklichen Wunsch des Prдsidenten der Vereinigten Staaten hier, sowohl als Beobachter als auch als Reprдsentant seiner Regierung. Bitte sparen Sie sich also irgendwelche ьberflьssige Fragen.« Er legte eine kleine Kunstpau­se ein, nickte noch einmal in Demisows Richtung und fuhr fort: »Die meisten von Ihnen werden ahnen, worum es geht – vor allem, da ja wohl jeder hier Captain Laird und ihre Crew kennen dьrfte.« »Das Sternenschiff«, sagte Mike ьberflьssigerweise. »Was ist passiert?« Becker bedachte ihn mit einem strafenden Blick. Aber er antwortete trotzdem. »Das wissen wir nicht. Noch nicht. Wir sind hier, um es herauszufinden.« Er starrte einen Moment lang an Mike vorbei ins Leere und seufzte hцrbar. Plцtz­lich sah er sehr alt aus, fand Charity. Und sehr mьde. Becker sprach nicht weiter, wie sie alle erwartet hatten, sondern setzte sich wie­der und hob die linke Hand. »Den Film, bitte.« Eine unsichtbare Hand am Ende einer ebenfalls unsichtbaren Mikrofonverbin­dung legte ein paar Schalter um, und fьr eine Sekunde senkte sich tiefe Dunkel­heit ьber den Raum. Charity streckte unwillkьrlich die Hand nach Mikes Fin­gern aus und war plцtzlich sehr froh, ihn in der Nдhe zu wissen. Sie hatte Angst. Als die riesige Videowand hinter Becker eine halbe Sekunde spдter aufleuchtete, zeigte sie nichts, was diese Angst irgendwie begrьndet hдtte, sondern nur ein Bild, das vielleicht ungewцhnlich war, seit ein paar Wochen aber ьber jeden Bildschirm der Welt flimmerte: das Schiff, eine grausilberne, zerschrammte Stahlkappe, die wie ьber den Nordpol gestьlpt zu sein schien. Der Schnee, den seine feuerumtoste Landung geschmolzen hatte, war lдngst wiedererstarrt und zu einem flachen See aus Eis geworden, auf dem die Zelte und Fertigbau-Iglus der verschiedenen Forscherteams standen. Ein ganzer Schwдrm riesiger Lastenhub­schrauber umkreiste den stдhlernen KoloЯ, aber sie sahen aus wie kleine Libel­len aus Metall; Zwerge gegen den leblosen Giganten, der aus den Tiefen des Kosmos auf den Nordpol herabgestьrzt war. Gegen ihren Willen spьrte Charity wieder eine fast unangenehme Erregung, als sie das Sternenschiff sah. Der Anblick an sich war absurd: In den letzten drei Wochen hatten eine Unzahl amerikanischer, russischer, englischer, franzцsi­scher, deutscher und einiger anderer Forscherteams die stдhlerne Scheibe unter­sucht, und sie alle waren zu einem Schluss gekommen, der die Euphorie ein we­nig gedдmpft hatte, in die das Erscheinen des Schiffes die Welt stьrzen wollte: Das Schiff war kein technisches Wunderwerk. Es war primitiv, seine Technik in groЯen Teilen sehr viel einfacher konstruiert und gebaut als vergleichbare irdi­sche Maschinen. Und es war auf eine Weise gelandet, die geradezu haarstrдu­bend erschien: Wie ein flach geworfener Stein war es auf die Erdatmosphдre geprallt, nachdem es bei seinem Rundflug um die Sonne offensichtlich einen GroЯteil seiner Geschwindigkeit aufgezehrt hatte, als weiЯglьhender Meteor sieben-, acht-, neunmal von der Lufthьlle der Erde zurьckgefedert und schlieЯ­lich tiefer gesunken. Die riesigen Raketenmotoren in seinem Rumpf hatten nicht ein einziges Mal gezьndet. Das Ding war einfach wie eine unglaublich groЯe Frisbee-Scheibe durch die Atmosphдre gerauscht, wobei sich seine Unterseite in weiЯglьhenden Schrott verwandelt hatte. Charity verstand eine Menge von Navigation, aber sie weigerte sich einfach, die bloЯe Mцglichkeit zu akzeptieren, dass man eine Landung wie diese vorausbe­rechnen konnte." Beckers Stimme riss sie in die Wirklichkeit des Konferenzsaales zurьck. Er hat­te lange genug gewartet, sie alle noch einmal das Bild des Sternenschiffes be­trachten und in sich aufnehmen zu lassen. Als er weitersprach, klang seine Stimme anders als zuvor… »Sie alle kennen diese Aufnahmen«, sagte er. »Sie sind einen Tag alt – dreiund­zwanzig Stunden, um genau zu sein. Was Sie jetzt sehen werden, ist eine Satelli­tenaufnahme, nicht ganz dreiЯig Minuten alt.« Wieder hob er die Hand, und das Bild wechselte. Im ersten Moment erkannte Charity kaum einen Unterschied. Das Bild war nicht mehr dreidimensional, sondern flach, und die Farbqualitдt hielt nicht mit der vorhergehenden Aufnahme mit, aber das war auch alles – Perspektive und Bild­ausschnitt waren gleich. Dann erkannte sie es. Und diesmal konnte sie ein erschrockenes Aufatmen nicht mehr ganz unterdrьcken. Das Bild war still. Es war keine Fotografie – man erkannte deutlich die bizarren Muster, zu denen der Wind den Schnee rings um das Schiff formte, und etwas weniger deutlich den Schatten einer Wolke, die gemдchlich ьber die riesige Eis­flдche trieb – aber die HeliCopter waren verschwunden. Zwischen den buntfar­benen Zelten und Iglus regte sich nichts. Kein Fahrzeug. Kein Mensch. »Was ist passiert?« fragte Soerensen. Charity hцrte nur wissenschaftliche Neugier in seiner Stimme, nicht das allermindeste Gefьhl. »Das wissen wir nicht«, antwortete Becker. »Der Funkkontakt brach vor sieben Stunden ab, schlagartig und zu allen Gruppen gleichzeitig. Seither haben wir kein Lebenszeichen mehr empfangen. Von niemandem.« »Aber dort sind Tausende von Leuten!« protestierte Soerensen. »Irgend jemand muss doch…« »Fast anderthalbtausend Wissenschaftler, aus allen Teilen der Welt«, unterbrach ihn Becker ruhig. »Dazu eine fьnftausendkцpfige Einheit der UNO und…« Cha­rity sah, wie er im Dunkeln den Kopf wandte und seinen sowjetischen Kollegen kurz ansah, ehe er weitersprach. »…eine etwas kleinere Eliteeinheit der US Air Force. Ich nehme an, unsere russischen Kollegen sind dort ebenfalls vertreten.« Demisows Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber sein Schwei­gen war Antwort genug. »Sie haben natьrlich jemanden hingeschickt, um nachzuschauen«, vermutete Charity. »Wir haben es versucht«, sagte Becker. Er starrte unverwandt weiter auf das Bild der riesigen, entsetzlich toten Scheibe. »Versucht?« Mike beugte sich gespannt vor. »Was soll das heiЯen, Comman­der?« Becker seufzte, in einer Art, die klarmachte, dass er ein Eingestдndnis zu ma­chen hatte. Er sah Mike nicht an, als er antwortete. »Wir kommen nicht heran«, sagte er. »Wir haben vier Jets und ein halbes Dutzend Hubschrauber verloren, bevor wir es begriffen. Etwas… umgibt dieses Schiff. Eine Art Schutzschild.« »Ein Schutzschild?« Charity konnte Soerensens zweifelndes Stirnrunzeln fast hцren. »Was soll das heiЯen?« »Keine unsichtbare Mauer oder irgendein Science-Fiction-Kram, Professor.« Charity war ьberrascht, als sie merkte, dass Demisow antwortete. Der Russe sprach ein fast perfektes Englisch. »Irgend etwas bringt unsere Maschinen zum Versagen. Eine Art… Feld, wenn Sie mir diesen laienhaften Ausdruck gestatten, das jeden elektrischen Fluss zum Erliegen bringt. Man kann das Gebiet passie­ren, aber nur zu FuЯ.« »Dann schicken Sie Mдnner mit Hundeschlitten hin«, sagte Soerensen. »Das…« »…haben wir getan, Professor«, unterbrach ihn Becker ungeduldig. »Wofьr hal­ten Sie uns?« »Und?« »Nichts«, sagte Becker. »Der Durchmesser dieses Feldes betrдgt exakt einhun­dertfьnfzehn Meilen. Es wird Tage dauern, bis sie dort sind.« »Und die… die Teams?« Charity kannte die Stimme nicht, die diese Frage stell­te. Aber sie hцrte die Angst, die darin mitschwang. »Die Wissenschaftler und Soldaten. Sind Sie… alle tot?« »Wahrscheinlich«, sagte Becker kalt. »Tot oder zumindest bewegungsunfдhig. Sie sehen es selbst. Nicht das geringste Lebenszeichen.« Aber das war nicht alles, das spьrte Charity. Es konnte ein Dutzend logischer Erklдrungen dafьr geben, dass auf der Satellitenaufnahme niemand zu sehen war

– allen voran die, dass mit sдmtlichem elektrischem Gerдt natьrlich auch im ge­samten Lager die Heizungen ausgefallen waren. Und es war bitterkalt am Nord­pol. Niemand hatte bei Temperaturen von fьnfzig Grad unter Null groЯe Lust zu einem Spaziergang. »Warum setzen Sie keine Fallschirmjдger ein?« fragte dieselbe Stimme, die sich gerade um die Teams gesorgt hatte. Becker lachte leise. Es klang abfдllig. »Dieses Feld hat die Form einer Halbku­gel, General Watkins«, sagte er. »Wir haben leider keine Flugzeuge, die fьnfzig Meilen hoch fliegen.« »Irgendwelche Lebenszeichen aus dem Schiff?« fragte Soerensen. »Irgendwel­che Radiosignale, Strahlungen?« Becker schьttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber etwas anderes. Wir haben diese Sitzung nicht allein wegen dieses … Phдnomens… einberufen.« »Sondern?« fragte Soerensen. Diesmal antwortete Becker nicht sofort. Es fiel Charity schwer, die Schatten der anderen vor der hellerleuchteten Videowand zu unterscheiden, aber ihr war, als tauschte Becker einen raschen, fragenden Blick mit dem Prдsidenten, ehe er wei­tersprach. »In ein paar Stunden erfahren Sie es sowieso, Professor, falls kein Wunder mehr geschieht. Der Prдsident der Vereinigten Staaten wird den Notstand ausrufen. Ich fьrchte, dass da…« Er deutete auf den Bildschirm. »…ist erst der Anfang.« »Der Anfang wovon?« fragte Soerensen. Seine Stimme zitterte. Er wusste die Antwort so gut wie jeder andere hier, dachte Charity. Beckers rhetorische Mдtz­chen waren absolut ьberflьssig. Aber vielleicht hatte er auch einfach nur Angst, es auszusprechen. Und es war auch nicht Becker, der auf Soerensens Frage antwortete, sondern der Mann neben ihm, der Prдsident der USA. »Der Anfang eines Krieges, Professor. So leid es mir tut – aber es hat keinen Zweck, die Augen vor der Wahrheit zu verschlieЯen. Wir mьssen mit einem Angriff rechnen. Ich fьrchte, er hat lдngst begonnen.« Soerensens Stimme bebte. »Aber das ist doch Unsinn! Es kann tausend harmlose Erklдrungen fьr dieses Phдnomen geben, und…« »Wir haben noch mehr, Professor«, sagte Becker, und obwohl er sehr leise ge­sprochen, ja, fast geflьstert hatte, verstummte Soerensen abrupt. »Das da«, fuhr Becker fort, »kam vor sieben Stunden ьber Satellit herein, ein paar Sekunden, bevor die Verbindung abbrach. Sehen Sie genau hin.« Das Bild auf der Videowand wechselte. Sie zeigte jetzt das Innere des Schiffes. Die Kamera war auf den gigantischen Eisenblock gerichtet, den Soerensen und Charity im Inneren der Scheibe entdeckt hatten. Das grelle Licht der Scheinwer­fer lieЯ ihn weniger unheimlich und dьster erscheinen; es zeigte, dass er nicht schwarz, sondern vom gleichen stumpfen Grau war wie der grцЯte Teil des Schiffes. Die winzigen Gestalten der Mдnner, die an seinem FuЯ und auf seiner Basis herumkrochen, lieЯen ihn noch viel grцЯer erscheinen. In ihren pelzgefьt­terten Mдnteln und Kapuzen sahen die Mдnner aus wie vermummte Ameisen, die auf einem zyklopischen Opferstein herumkrochen. Das Bild wechselte. Die Umrisse der Mдnner zerflossen und bildeten sich neu, ganz leicht verдndert nur. Becker lieЯ das Videoband in maximaler Zeitlupe ab­laufen. Sekundenlang erstarrte die kubische Alptraumlandschaft vor ihnen wie­der zur Reglosigkeit, zerfloss dann erneut – »Sehen Sie genau hin«, sagte Be­cker. »Es ist nur ein einziges Bild. Die Ьbertragung ist sofort zusammengebro­chen.« Wieder zerflossen die Konturen der Mдnner, aber diesmal waren es nicht nur sie, die sich verдnderten. Charitys Blick war wie gebannt auf den titanischen Silberring gerichtet, der auf der Oberseite des Blockes thronte – und sie sah deut­lich, wie auch er sich verдnderte, ein Stьck in die Breite und Hцhe zu gleiten schien, als wдre er … gewachsen? Aber wie war das mцglich? Es war ein Ring aus kompaktem Titanium; das hatten Soerensens Kollegen eindeutig festgestellt! Doch als das nдchste und letzte Bild erschien – WAR ES NICHT MEHR LEER!!! Plцtzlich waberte und wogte dort etwas… Eine unfцrmige Schwдrze bewegte und formte sich. Charity schrie auf, aber ihr Schrei ging im entsetzten Keuchen der anderen un­ter. Es war ein Ungeheuer. Eine zehnbeinige Bestie aus schwarzbraunem Chitin, die entfernt an einen riesenhaft vergrцЯerten Kдfer erinnerte, gleichzeitig aber ganz anders war, so unbeschreiblich fremd, dass sein bloЯer Anblick Charity Schmer­zen bereitete. Trotzdem zwang sie sich, ihn genau zu betrachten, denn der Rest vor ihr, der nicht vor Entsetzen und Unglauben zu Eis erstarrt war, war von dem Anblick auf morbide Weise fasziniert. Das Ungeheuer war gigantisch. Wenn sie den Ring, aus dem es hervorkroch (Ring? Es war ein TOR! dachte sie hysterisch, groЯer Gott, dieses Ding war nichts anderes als ein gottverdammter Materietransmit­ter), wenn sie diesen Ring als MaЯstab nahm, musste er an die fьnfzehn Meter lang sein. Sein riesiger, zangenbewehrter Schдdel hing gute vier Meter ьber den eingefrorenen Gestalten der Mдnner auf dem Bild, die ihn noch gar nicht be­merkt hatten, und jedes einzelne seiner Beine war so dick wie der Kцrper eines Menschen. Seine Kraft – diese entsetzliche Insektenkraft, die in seinem gepan­zerten Leib schlummern mochte – musste ausreichen, einen Sherman-Tank in die Hцhe zu heben und zu zerquetschen. Aber es kam noch schlimmer. Dieses Ungeheuer war nicht allein durch das Tor gekrochen – etwas hockte in seinem Nacken. Die Gestalt дhnelte entfernt einem Menschen, aber sie hatte vier Arme und war entschieden zu groЯ, um wirklich humanoid zu sein. Ihr Kцrper wirkte wie eine primitive Rьstung, die aus dem gleichen Material wie der Panzer ihres Reittieres zu bestehen schien, und von ihrem Gesicht waren nur die Augen zu erkennen, die die Betrachter selbst von der Videowand herab voller Hass anzustarren schienen. Eine ihrer vier vielfingrigen Hдnde hielt eine Art Zьgel, der mit dem Schдdel des Riesenkдfers verbunden war. In den drei anderen lagen schlanke, mattsilbern blinkende Stдbe. Und Charity war mehr als nur sicher, dass es sich dabei um nichts anderes als um Waffen handelte. Drei Stunden, zehn Tassen Kaffee und ungefдhr zweihundert Zigaretten spдter saЯen sie zusammen in Beckers Bьro, fьnf Etagen ьber dem geheimen Konfe­renzraum. Ihr Kreis war kleiner geworden – sie hatten noch lange geredet, aber Charity hatte Mьhe, sich an alles zu erinnern, was gesagt worden war. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen, und es war fast unmцglich, wirklich zu be­greifen, was vor zehn Stunden am Nordpol passiert war und vielleicht jetzt noch dort geschah. »Sie haben es gewusst, nicht wahr?« Charity sah auf und blickte durch einen Schleier aus grauem Zigarettenrauch in Soerensens Gesicht. Sie waren wieder unter sich, die gesamte alte Crew der CON-QUEROR, zu­sammen mit einem sehr schweigsamen jungen Mann, der sich als Lieutenant Terhoven vorgestellt hatte und offensichtlich Bellingers Platz einnehmen sollte. Becker hatte noch lange geredet, und dann war das Gesprдch ganz genau so ver­laufen, wie Charity es sich vorgestellt hatte. Irgendwann zu seinem Ende hin war das Wort Megatonnen gefallen. Der Wahnsinn begann also, und er hieЯ Krieg. Als die Runde sich aufzulцsen begann, hatte Becker sie und die anderen angewiesen, in sein Bьro zu gehen und dort auf sie zu warten. Charity hatte das ungute Gefьhl, zu ahnen, was dieser Befehl bedeutete. »Wie… was meinen Sie, Professor«, sagte sie unwillig. »Dort oben, im Schiff«, sagte Soerensen. Er starrte sie an. »Als wir das erste Mal im Schiff waren, drauЯen. Sie … Sie haben es gespьrt. Ich habe Ihr Gesicht beobachtet, als Sie diesen Block angesehen haben.« »Warum sprechen Sie das Wort nicht aus?« sagte Charity bцse. Plцtzlich hatte sie Lust, jemandem weh zu tun – warum nicht Soerensen? »Es ist ein Materie­transmitter.« »Unsinn«, widersprach Soerensen ein bisschen zu hastig. »So etwas ist natur­wissenschaftlich unmцglich.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen«, fauchte Charity. »Sie haben es genauso deut­lich gesehen wie wir.« »Ich habe ein Bild gesehen«, antwortete Soerensen. Er begriff sichtlich nicht, woher ihre plцtzliche Feindschaft kam, aber er wehrte sich immerhin, was ihn Charity wieder ein bisschen sympathischer machte. »Es kann tдuschen. Eine Projektion vielleicht, eine bewusste Irrefьhrung…« »Der Russen, Professor?« Niles Stimme troff vor Hohn. »Vielleicht steckt ja auch die IRA dahinter, wer weiЯ. Und so ganz nebenbei haben Sie ein Kraftfeld erfunden, das unsere gesamte Technik zu Schrott macht.« »Sie sind ein Ignorant«, fauchte Soerensen. »Wir kцnnen ьber…« »Das reicht.« Mike schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und fьr einen Moment kehrte tatsдchlich Ruhe ein. Soerensen senkte betroffen den Blick, und Niles sah demonstrativ weg. Mike blickte Charity an. »Was hat er damit gemeint, Cherry?«Charitys Дrger fand ein neues Ziel. Sie hasste es, wenn er sie so nannte, vor al­lem in der Цffentlichkeit, und das wusste er ganz genau. »Woher soll ich das wissen«, sagte sie. »Frag ihn doch selbst.« Mike hдtte es wahrscheinlich sogar getan, aber in diesem Moment wurde die Tьr aufgerissen, und Commander Becker stьrmte herein. Wenn es ьberhaupt mцglich war, dachte Charity, dann hatte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht noch weiter verdь­stert. Einen Moment lang blieb er unter der Tьr stehen und wedelte demonstrativ mit der Hand in der Luft vor seinem Gesicht herum, um die blaugrauen Rauch­schwaden zu vertreiben, dann eilte er zum Fenster und schaltete die Klimaanlage hцher. Es wurde spьrbar kдlter im Zimmer, aber der Zigarettenrauch blieb. »Das ist Wahnsinn«, fuhr Soerensen fort, in einem Ton und mit einem Blick, als hдtte er Becker gar nicht bemerkt. »Wir sitzen hier und… und reden ьber einen Krieg mit auЯerirdischen Wesen, die…« »Noch«, fiel ihm Becker scharf ins Wort, »reden wir ьber gar nichts, Professor. Sie haben vцllig recht – wir haben nur ein paar Bilder gesehen, die alles mцgli­che bedeuten kцnnen.« Charity sah ьberrascht auf. Becker hatte ihr Gesprдch mitgehцrt. Sie fragte sich, warum. »Aber es ist wahrscheinlich, dass es zu … Konflikten kommt«, sagte Mike vor­sichtig. Becker sah ihn fast ausdruckslos an. »Wir sind auf DEFCON 2, wenn Sie das meinen«, sagte er nach einer Weile. »Aber das heiЯt nicht zwangslдufig, dass es zu Kampfhandlungen kommen muss. Das Ganze kann sich als Irrtum heraus­stellen. Als Ьberreaktion der einen oder anderen Seite. Als Missverstдndnis…« Er hob in einer hilflos aussehenden Bewegung die Hдnde. »Das ist Wahnsinn!« beharrte Soerensen. »Das muss ein Alptraum sein. Ein…

ein Krieg zwischen zwei Planeten ist vцllig unmцglich. Selbst wenn sie hierher kommen kцnnten, es wьrde sich gar nicht lohnen.« »Sie sind doch schon da, Professor«, sagte Becker, fast sanft. »Aber es ist Irrsinn«, murmelte Soerensen. Charity spьrte, dass er dem Zusam­menbruch nahe war. »Ein… ein Volk, das weit genug fortgeschritten ist, andere Welten zu besuchen, kann nicht…« »Auf Eroberungen aus sein?« Niles schnaubte. »O nein, natьrlich nicht. Es muss ethisch viel hцherstehend als wir sein, nicht wahr? Ich glaube, so etwas Дhnli­ches haben die Indianer vor zweihundert Jahren hier auch gedacht. Und wissen Sie was, Professor? Sie hatten unrecht.« Soerensen fuhr hoch, aber der erwartete Protest blieb aus. Er blickte Niles nur an, sah dann wieder weg und zьndete sich eine weitere Zigarette an, obwohl die alte erst halb aufgeraucht im Aschenbecher lag. »Das alles ergibt ьberhaupt keinen Sinn«, sagte Landers plцtzlich. Mit Ausnah­me Terhovens war er bisher der Schweigsamste von ihnen gewesen; tatsдchlich hatte Charity fast vergessen, dass er ьberhaupt da war. Jetzt sah er abwechselnd Becker und Soerensen an. »Verdammt, wir alle wissen doch, wie es im Inneren dieses sogenannten Ster­nenschiffes aussieht. Das Ding ist primitiver, als hдtten wir es gebaut.« »Und?« fragte Becker. »Woher kommt dieser… dieser Materiesender, oder was immer es ist? Er paЯt einfach nicht ins Bild.« »Da passt eine ganze Menge nicht ins Bild«,"bestдtigte Becker. »Aber damit sollen sich die Wissenschaftler auseinandersetzen, nicht wahr? Frьher oder spд­ter werden wir eine Erklдrung finden.« »Wenn sie uns Zeit dazu lassen.« Becker sah Charity scharf an. »Sie sind nicht hier, um Pessimismus zu verbrei­ten, Captain«, sagte er. »Die Lage ist ernst, aber wir werden mit ihr fertig, keine Sorge. Es ist nur ein Schiff, ganz egal, wie groЯ es auch ist. Und ganz egal, wie viele Riesenkдfer und sonstige Ungeheuer herauskommen, wenn es sein muss, sprengen wir sie in die Luft.« Ja, dachte Charity, das war ganz genau die Antwort, die sie von Becker erwartet hatte. Und ein wenig hoffte sie sogar, dass er recht hatte, dass sie es konnte, wenn sie mussten. Sie war nicht sicher. »Das klingt, als warteten Sie nur darauf, Becker!« sagte Soerensen aufgebracht. Becker blieb ruhig. »Nein«, sagte er gelassen. »Wenn Sie es genau wissen wol­len, habe ich eine ScheiЯangst davor. Aber ich bin vorbereitet, wenn es sein muss.« »Warum sind wir hier, Commander?« fragte Charity, ehe Soerensen erneut los­legen konnte. »Doch sicher nicht, um ьber einen Angriff auf die Aliens zu bera­ten, oder?« Becker lдchelte schwach und wurde sofort wieder ernst. »Nein«, sagte er. »Ich wollte Ihnen Ihre Marschbefehle persцnlich mitteilen, das ist alles. Die CONQUEROR und ihre beiden Schwesterschiffe werden verlegt. Vorsorglich«, fьgte er hinzu. »Verlegt? Wohin?« »SS Nulleins«, antwortete Becker. Charity hatte das halbwegs erwartet, aber sie fragte sich, warum. Und sie stellte diese Frage laut. »Weil wir nur drei Kampfschiffe haben, Captain«, antwortete Becker unwillig. »Und weil wir gerne auf alle Eventualitдten vorbereitet sind. Sie kennen Plan Omega, oder?« Der Tadel in seiner Stimme war unьberhцrbar. Bis auf Soeren­sen wurden alle plцtzlich sehr ruhig. Der Wissenschaftler blinzelte irritiert. »Plan Omega?« Charity sah Becker fragend an, und der Commander nickte. »Ein Planspiel fьr den Ernstfall«, erklдrte Charity. »Natьrlich nicht fьr den, der jetzt eingetreten ist, sondern fьr die…« – sie betonte die Worte absichtlich spцt­tisch, was ihr einen weiteren дrgerlichen Blick Beckers eintrug – »…unwahrscheinliche Vorstellung, dass es eines Tages zum groЯen Knall zwi­schen uns und Demisows Brьdern auf der anderen Seite kommen sollte, Profes­sor. Survival Station Nulleins ist der sicherste und tiefste Bunker dieses Landes. Angeblich hдlt er sogar einen Volltreffer aus, obwohl das noch niemand probiert hat. Plan Omega sieht vor, die Regierung der Vereinigten Staaten in diese Anla­ge zu evakuieren.« »Mit einem Raumschiff?« Charity lдchelte. »Natьrlich nicht. Aber es gibt bombensichere Hangaranlagen dort. Und vielleicht brauchen wir die drei Schiffe hinterher.« »Und wozu?« »Na, zum Beispiel, um uns einen neuen Planeten zu suchen, falls unsere gute alte Erde ein bisschen zu mitgenommen sein sollte.« »Das reicht, Captain«, sagte Becker дrgerlich. Und sein Blick fьgte hinzu: Er muss nicht unbedingt den ganzen Plan erfahren. Plan Omega sah noch mehr vor: nдmlich im allerschlimmsten Fall der Fдlle die Erdregierung mit Hilfe der drei Schiffe auszufliegen, auf eine der Mondbasen oder die Orbitstadt, sollte noch eine existieren. Immerhin, dachte Charity spцttisch, war es mцglich, dass die Jungs von dort oben aus ein Fleckchen Erde entdeckten, das noch nicht bombardiert worden war… »Und… was soll ich dabei?« fragte Soerensen verwirrt. Becker lдchelte kalt. »Ьberleben, Professor. Haben Sie keine Lust dazu?« Er machte eine rasche Handbewegung, als Soerensen widersprechen wollte. »Der Befehl kommt vom Prдsidenten persцnlich, Soerensen. Und ich habe ihm dazu geraten. Verdammt, Sie gehцren zu den fьnf besten Kцpfen auf der Welt, was unser Problem angeht. Glauben Sie im Ernst, wir werfen Sie den AuЯerirdischen zum FraЯ vor?« Beckers Wortschatz gefiel Charity nicht besonders, aber sie schwieg dazu und fragte nur einfach: »Wann?« »So schnell wie mцglich. Sie fliegen noch heute zurьck und ьberfьhren die DESTROYER, anschlieЯend die CONQUEROR. Die ENTERPRISE befindet sich noch im Dock. Aber ich mache ein bisschen Dampf. In ein paar Tagen ist sie flugfдhig.« Wenn es dann noch irgend etwas gab, wohin sie fliegen konnte, dachte Charity. Aber das sprach sie vorsichtshalber nicht laut aus. Doktor Tauber brauchte fast eine halbe Stunde, auch den letzten Rest der klebri­gen Substanz aus ihrem Haar und von ihrer Haut zu pflьcken, und er ging dabei alles andere als sanft zu Werk. Charity kannte ihn seit Jahren, und sie war bisher immer ganz froh gewesen, dass sich ihre Bekanntschaft auf rein private Dinge beschrдnkt hatte. Tauber war ein grauhaariger Mann Mitte Vierzig, mit krдftigen Hдnden, die eher zu einem Hufschmied gepaЯt hдtten als zu einem Arzt. Er war sicher sehr fдhig, aber er gehцrte nicht zu den Дrzten, die ihre vornehmste Pflicht darin sahen, ihren Patienten ein MindestmaЯ an Unannehmlichkeiten zu­zufьgen. Und er machte bei Charity keine Ausnahme, nur weil sie eine Frau war; das Zeug, mit dem er die Fдden von ihr herunterwusch, brannte kaum weniger wie die Spinnenseide. Mehr als einmal konnte sie sich einen Schmerzlaut nicht mehr ganz verkneifen, und als er endlich fertig war und ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, dass sie jetzt aufstehen und sich wieder anziehen konnte, atmete sie so erleichtert auf, dass sich seine buschigen Augenbrauen missbilligend zu­sammenzogen. »Tut weh, nicht?« sagte er, in einer Art, von der Charity nicht wusste, ob sie spцttisch oder ernst gemeint war. Sie rang sich zu einem gequдlten Lдcheln durch, stand vorsichtig von der leder­bezogenen Liege auf und bьckte sich nach ihren Kleidern, fьhrte die Bewegung aber nicht zu Ende. Die schwarzen Jeans und ihr T-Shirt waren schon vor einer Woche reif fьr die Mьlltonne gewesen. Tauber wies mit einer Kopfbewegung auf den weiЯen Wandschirm, der auf der anderen Seite der Liege stand. »Dahinter liegt eine frische Uniform fьr Sie«, sagte er. »Ich weiЯ nicht, ob sie passt, und die Rangabzeichnen sind wohl auch falsch. Aber das«, er lдchelte, »spielt ja wohl im Moment keine besondere Rolle mehr.« Er beobachtete sie scharf, wдhrend sie um die Liege herumging, und ging ihr nach. »Sobald Sie mit Becker gesprochen haben, will ich Sie noch einmal sehen, Cap­tain«, sagte er. »Die Wunde da an Ihrem Bein gefдllt mir nicht.« Charity schьrzte die Lippen. »Mir auch nicht«, sagte sie. »Aber sie heilt schon ganz gut.« Tatsдchlich hatte sie die Verletzung wдhrend der vergangenen drei Tage praktisch gar nicht mehr gespьrt. Erst jetzt, als Tauber sie darauf ansprach, fьhlte sie wieder ein leichtes Klopfen im rechten Oberschenkel. Aber es war eher lдstig als wirklich schmerzhaft. Rasch, ehe Tauber Gelegenheit hatte, sie grьndlicher in Augenschein zu nehmen und vielleicht noch mehr zu finden, schlьpfte sie in den einteiligen Kampfanzug und zog den ReiЯverschluss hoch. Tauber hatte recht gehabt – er war um mindestens drei Nummern zu groЯ, und die Rangabzeichen waren die eines Fregattenkapitдns der Navy. Mochte der Teufel wissen, wie das Ding hier herunter kam. Sie schloss den Gьrtel, schaltete den Bordcomputer ein und drьckte die Prьftaste. Das halbe Dutzend kleiner Leuchtdioden begann in beruhigendem Grьn zu flackern. »Das Ding ist in Ordnung«, sagte Tauber, der ihr neugierig zusah. »Und falls es Sie beruhigt, Captain – sein Trдger ist nicht darin gestorben, sondern…« »Schon gut«, unterbrach ihn Charity hastig. »Das will ich gar nicht so genau wissen.« Tauber grinste, zog eine angebrochene Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines Kittels und hielt sie ihr hin. Charity schьttelte den Kopf. »Angst vor Lungenkrebs?« fragte Tauber, wдhrend er sich selbst eine Zigarette aus der Packung schnippte und mit einem billigen Einwegfeuerzeug anzьndete. »Das brauchen Sie nicht zu haben, meine Liebe. Ich glaube nicht, dass noch ir­gend jemand von uns lange genug lebt, um eine solche Krankheit zu bekom­men.« »Sollten Sie nicht Optimismus verbreiten, Doc?« fragte Charity. Tauber zuckte die Achseln und blies eine Rauchwolke in ihre Richtung. Charity zцgerte einen Moment, dann streckte sie die Hand aus, nahm die Ziga­rettenschachtel aus Taubers Brusttasche und zьndete sich doch eine an. Nach dem ersten Zug hustete sie. Eigentlich hatte sie das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben. Aber vielleicht war es ein guter Moment, wieder damit anzufangen. »Ist es so schlimm?« »Schlimmer«, sagte Tauber ruhig. »Ich weiЯ nicht, was Becker Ihnen gleich er­zдhlen wird, aber was immer es ist – glauben Sie ihm nicht. Wir haben noch ein paar Wochen. Wenn sie nicht vorher hier herunterkommen und uns umbringen.« Charity dachte an zweihundert Tonnen schwere Panzertьren, an elektronisch gesteuerte Laserbatterien und Giftgasbarrieren, aber nichts von alledem ver­mochte Taubers Worten auch nur einen Deut von ihrer beunruhigenden Ein­dringlichkeit zu nehmen. »Die Leute sterben«, fuhr Tauber fort, als sie nicht antwortete. »Man sieht es noch nicht, aber sie sterben. Viele sind krank, noch mehr verletzt.« Er schnippte seine Asche auf den Boden und sah einem winzigen Glutpьnktchen nach, das sich von der Spitze seiner Zigarette lцste und auf halbem Wege erlosch wie ein fallender Miniatur-Meteorit. »Und noch schlimmer ist, Sie wollen nicht mehr. Wir hatten neunzehn Selbstmorde in den letzten beiden Wochen.« Nichts von alledem ьberraschte Charity. Nach einem Volltreffer war Bunkerkol­ler die Gefahr Nummer zwei auf der Liste gewesen, die ihre Ausbilder ihr und den anderen eingehдmmert hatten. »Sie waren drauЯen«, sagte Tauber plцtzlich. »Wie sieht es aus?« Charity nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und genoss das kurze Schwin­delgefьhl, das das ungewohnte Nikotin hinter ihrer Stirn auslцste, ehe sie ant­wortete: »Wollen Sie das wirklich wissen, Doc?« »Nein«, sagte Tauber. »Aber erzдhlen Sie trotzdem. Was ist mit New York?« Sie begriff erst in diesem Moment, worauf Tauber die ganze Zeit ьber hinaus­gewollt hatte – er selbst stammte aus New York. Seine Frau, seine Kinder und ьberhaupt seine ganze Familie lebten dort. Falls sie noch lebten. Sie antwortete nicht. Tauber lдchelte bitter. »Ich verstehe«, sagte er. »Aber Sie kцnnen mir ruhig die Wahrheit sagen, Charity. Ich habe den Idiotentest ebenso bestanden wie Sie. Sonst wдre ich nicht hier, wissen Sie?« »Natьrlich«, antwortete Charity. »Aber ich . . ich weiЯ es nicht. Die Stadt wurde angegriffen, aber das… das heiЯt nicht, dass Ihre Familie tot sein muss. Es gab eine Menge Ьberlebende. Viele sind herausgekommen, ehe es richtig losging.« »Vielleicht ist es gerade das, wovor ich Angst habe«, murmelte Tauber, so leise, dass sie nicht wusste, ob die Worte nicht fьr sie bestimmt gewesen waren. Sie reagierte auch nicht darauf, sondern tat das, was sie schon vor fьnf Minuten hдt­te tun sollen – sie drьckte ihre Zigarette in den Aschenbecher, richtete sich auf und wandte sich zur Tьr. »Ich muss gehen, Doc. Becker wartet auf mich.« Tauber starrte an ihr vorbei ins Leere. Er schien ihre Worte gar nicht gehцrt zu haben. Mit einem Ruck wandte sich Charity vollends um und verlieЯ die kleine Kammer, so schnell sie nur konnte. Lieutenant Stone und die beiden anderen Soldaten erwarteten sie vor der Tьr. Sie hatten die Zeit genutzt, ihre silberglдnzenden Schutzanzьge auszuziehen, und wirkten nun wie ganz normale, junge Soldaten: vielleicht sogar ein bisschen zu jung fьr die Aufgaben, die ihnen zugedacht waren. Einer von ihnen rauchte, der andere sprach mit Stone. Charity konnte die Worte nicht verstehen, ihr Ton­fall war sehr ernst. Der Soldat mit der Zigarette erschrak sichtbar, als er Charity erblickte. Fьr einen Moment wusste er offensichtlich nicht, wohin mit seinen Hдnden. »Bringen Sie mich zu Becker, Lieutenant«, sagte sie, an Stone gewandt. Sie durchquerten ein zweites Mal die groЯe Halle, in der die Leute aus Brainsville untergebracht waren. Eine fast greifbare Anspannung lag in der Luft. Dann begriff sie. Vorhin, als sie das erste Mal hier gewesen waren, hatte kaum jemand Notiz von ihnen genommen. Jetzt starrten sie Dutzende von Augenpaa­ren an, und die allerwenigsten dieser Blicke waren freundlich. Aber auch nicht feindselig, sondern … ja, was eigentlich? ьberlegte sie verwirrt. Wenn sie den Ausdruck, den sie in den Gesichtern dieser Menschen las, hдtte beschreiben mьssen, dann wдre ihr als aller erstes das Wort vorwurfsvoll eingefallen. Und vielleicht enttдuscht. Aber warum? Wдhrend sie zwischen Stone und den beiden anderen Soldaten zum Lift ging, ьberlegte sie angestrengt, was sich verдndert hatte, in den weni­gen Minuten, die sie bei Tauber gewesen war. War es ihre Kleidung? Vorhin hatten sie nur Stone und seine beiden Begleiter gesehen, die eine fremde und offensichtlich verletzte Frau zum Arzt brachten, eine Frau in Zivilkleidern. Jetzt trug sie Uniform. Sie erreichten den Lift, ehe sie den Gedanken zu Ende verfolgen konnte, und Stone drьckte den Knopf zur 19. Etage, der Kommandoebene. Die Tьren glitten lautlos zu, und auch die Fahrt verlief diesmal wie gewohnt – sehr schnell und fast unmerklich, ohne die allerkleinste Erschьtterung. Sie ьberlegte, ob sie Stone fragen sollte, was mit den Leuten unten in der Halle los war, tat es aber dann nicht. Wahrscheinlich war gar nichts mit ihnen los. Sie hatten Angst, das war alles. Und verdammt noch mal, sie hatten allen Grund dazu. 29. November 1998 Der Abend, an dem die Invasion wirklich begann, unterschied sich kaum von denen davor: Die Welt befand sich seit drei Monaten in einer Art Schockzu­stand, und daran hatte sich nichts geдndert, seit die Nachricht vom Verschwin­den der Wissenschaftler und Soldaten aus der Nдhe des Sternenschiffes an die Цffentlichkeit gedrungen war. Becker und seine Leute hatten alles versucht, aber natьrlich lieЯ es sich nicht geheim halten. Und natьrlich geschah genau das, was Tausende von berufsmдЯigen Schwarzsehern prophezeit hatten: Die Welt stьrzte ins Chaos. Aber dies war Charitys ganz persцnliche Geschichte, und sie gehцrte zu den wenigen – vielleicht Glьcklichen –, die sehr wenig von all den entsetzli­chen Begleiterscheinungen dieser noch gar nicht stattgefundenen Invasion mit­bekamen, ganz einfach, weil sie viel zu tief in der Geschichte drinsteckte, viel zu sehr beschдftigt war, um Zeit zu einem groЯen Ьberblick zu finden. Natьrlich war sie informiert: An tausend Orten auf der Welt brach Panik aus, es entstan­den Sekten, Kriege flammten auf oder erloschen jдh, die Selbstmordrate stieg um etliche tausend Prozent; und selbst wenn das Schiff in diesem Moment ab­hob und wieder im Weltraum verschwдnde, wдre der angerichtete Schaden mit einem direkten Angriff durchaus zu vergleichen. Aber die Fremden wьrden nicht gehen. Irgendwie wusste Charity es. Sie hatte es gespьrt, schon im aller ersten Moment, als sie dort oben im Inneren dieses riesi­gen leeren Schiffes stand und den titanischen Block sah, und Soerensen hatte es gespьrt, und alle anderen hatten es in ihren Blicken gelesen. Was immer sie vor­hatten, es hatte noch nicht einmal richtig begonnen. Sie stand auf, schaltete den Fernseher ab, der wieder einmal eine Satellitenauf­nahme des Schiffes zeigte – das Bild hatte sich in den letzten zwцlf Wochen nicht verдndert –, und trat auf den Balkon hinaus. Die Stadt lag still und fast dunkel unter ihr, und es war bereits empfindlich kalt, vor allem hier oben, fьnf­zehn Stockwerke ьber der StraЯe. New York schien ausgestorben zu sein. Nur wenige Autos krochen unter ihr ьber den Asphalt, die Leuchtreklamen und die Nachtbeleuchtungen der Bьrohochhдuser waren abgeschaltet… Die Notstands­gesetze galten noch immer, und erstaunlicherweise wurden sie auch eingehalten. Charity fragte sich, wie lange das Leben in dieser Zehn-Millionen-Stadt noch so weiterlaufen konnte, ehe alles zusammenbrach. Wenn dieser Belagerungszu­stand, in den sie sich freiwillig begeben hatte, noch lange anhielt, brauchten die AuЯerirdischen gar nicht mehr zu kommen. Sie seufzte, leerte ihren Martini – es war der dritte an diesem Abend, und somit der letzte, den sie sich selbst gestattete – und sah auf die Uhr. Es war nach zehn. Mike war vor einer halben Stunde hinuntergegangen, um irgendwo ein paar Hamburger aufzutreiben, aber er war lдngst ьberfдllig. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die Stadt war nicht mehr sicher. Jeder dritte Wagen, der noch auf der StraЯe war, trug das fleckige Grьn der Nationalgarde. Sie spielte einen Moment lang ganz ernsthaft mit dem Gedanken, ihr Martiniglas am ausgestreckten Arm ьber die Balkonbrьstung zu halten und dann in die Tiefe fallen zu lassen, und tat es dann doch nicht. Ihr Blick wanderte nach oben, such­te den Sternenhimmel ab. Es war kalt, aber wie viele kalte Novembernдchte war auch diese ganz besonders klar. Ьber ihr flimmerten Tausende von Sternen. Al­les sah so friedlich aus. So verdammt friedlich, als herrsche dort oben nichts als die groЯe Leere, als gдbe es dort nichts, was eines Tages hierher kommen und … Ja, und was? dachte sie. Bereiteten sie wirklich einen Angriff vor? Und wenn ja, warum? So viele Fragen, auf die sie vermutlich niemals eine Antwort finden wьrden. Frцstelnd drehte sie sich um und ging in die Wohnung zurьck. Sie schloss die Balkontьr nicht, obwohl die Novemberkдlte dadurch weiter ins Zimmer strцmte. Immer цfter in letzter Zeit hatte sie das Gefьhl, ersticken zu mьssen, wenn sie in einem geschlossenen Raum war. Sie ging zum Regal, nahm sich ein Buch und versuchte zu lesen, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen. Nach einer Weile merkte sie, dass sie seit fьnf Minuten die gleiche Seite anstarrte, und legte es wieder aus der Hand. Ver­dammt, auch sie war nur ein Mensch, und auch sie hatte ein Recht, Angst zu ha­ben. Vielleicht sogar ein bisschen mehr als der Rest der Menschheit, ganz ein­fach, weil sie ein bisschen mehr wusste als die allermeisten anderen. So zum Beispiel, dass keiner der Mдnner, die sie und die Russen in den vergangenen drei Monaten zum Nordpol geschickt hatten, zurьckgekommen war. Oder zum Beispiel, dass ein paar von Beckers ьberschlauen Mitarbeitern in gerade diesem Moment dabei waren, eine Wasserstoffbombe mit einem primitiven Aufschlag­zьnder zusammenbastelten, die sie im allerschlimmsten Fall aus dem Orbit her­aus auf die Sternenscheibe werfen wollten. Charity bezweifelte, dass dieser Plan auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte. Was immer diese AuЯerirdi­schen waren, die da am Nordpol hockten und einen ganzen Planeten nur durch ihre bloЯe Anwesenheit in Lдhmung versetzten – dumm waren sie gewiss nicht. Sie warf das Buch achtlos in eine Ecke, stand wieder auf und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Untдtigkeit, zu der sie seit zwei Tagen ver­dammt war, machte sie rasend. Nach drei Monaten Dauerstress hatte sie sich nach ein paar Tagen Ruhe gesehnt, aber es zeigte sich, dass diese Ruhe keine Erholung, sondern der pure Nervenkrieg war. Sie kam sich vor wie jemand, der auf dem elektrischen Stuhl saЯ und darauf wartete, dass der Knopf gedrьckt wurde. Seit zwцlf Wochen. AuЯerdem hatte sie Hunger. Wo blieb Mike mit die­sen verdammten Hamburgern? Sie musste sich noch geschlagene zehn Minuten gedulden, bis sie die Aufzugtьr hцrte und dann Mikes schnelle – beunruhigend schnelle, dachte sie – Schritte. Sie war bei der Tьr, eine Sekunde, bevor er den Klingelknopf berьhrte. Und sie sah sofort, dass etwas passiert war. Er war blass. Sein Atem ging schnell, als wдre er die fьnfzehn Stockwerke hinaufgerannt, statt mit dem Aufzug zu fahren. »Was ist passiert?« fragte sie. Mike antwortete nicht auf ihre Frage, sondern drдngte sich an ihr vorbei und lief ins Wohnzimmer. Hastig schaltete er den Fernseher ein und gestikulierte ihr, zu ihm zu kommen. »Verdammt, was ist los?« fragte Charity noch einmal. »Etwas tut sich beim Sternenschiff«, fiel ihr Mike ins Wort. »Zum Teufel, wieso hast du das Ding nicht angelassen, wie ich es gesagt habe?« Charity verzichtete auf eine Antwort, zumal in diesem Moment der Fernseh­schirm aufleuchtete und das vertraute Bild des Sternenschiffes zeigte, ьbertragen von einem Satelliten, der in dreihundertfьnfzig Meilen Hцhe ьber dem Nordpol geparkt war. Das hieЯ – es war nicht ganz das vertraute Bild. Es hatte sich verдndert, aber es dauerte einen Moment, bis Charity auffiel, was es war. Dann erschrak sie. Etwas kam aus dem Schiff heraus; genauer gesagt, fьnf-hundertundzwцlf unbe­kannte Objekte, denn genau soviel Lцcher waren in die Oberseite der riesigen Stahlscheibe gestanzt. Und in jedem dieser Lцcher war jetzt eine silberne, kreis­runde Scheibe erschienen. Wenn die Lцcher – wie Charity wusste – einen Durchmesser von fьnf Metern hatten, mussten diese Flugobjekte etwa drei Me­ter messen. Ganz langsam stiegen sie hцher, Millimeter fьr Millimeter, wie es durch die verkleinerte Abbildung aussah, in Wirklichkeit aber mit ganz erstaun­licher Geschwindigkeit. Charity konnte weder Dьsenflammen noch irgendeine andere Art von Antrieb erkennen. Die Scheiben glitten einfach in die Hцhe, als existiere so etwas wie Schwerkraft fьr sie nicht. So viel zum Thema primitive Technik, dachte sie dьster. »GroЯer Gott, ich glaube, es geht los«, murmelte Mike. »Was ist das?« Aus dem Fernseher drang jetzt die Stimme eines Kommentators, der ьberflьssi­gerweise erklдrte, was einige Milliarden Menschen live auf der Mattscheibe mit­erlebten. Charity hцrte gar nicht hin. Wie Mike trat sie nдher an den Apparat heran und beugte sich vor, als kцnnte sie so mehr Einzelheiten erkennen. Die kleine Flotte silberfarbener Flugscheiben stieg allmдhlich hцher, wobei sie sich sowohl vom Schiff als auch voneinander entfernten, so dass sie eine riesige, allmдhlich expandierende Halbkugel ьber der Sternenscheibe bildeten. »Es geht los«, sagte Mike noch einmal. Er hatte recht. Es ging unheimlich schnell – und ohne jegliche Warnung: Von einer Sekunde auf die andere wurde aus dem gemдchlichen Dahingleiten der kleinen Silbermьnzen ein rasender Flug in die Hцhe. Die geordnete Formation zerplatzte wie unter einer lautlosen Explosion, als die Scheiben in alle Himmels­richtungen davonrasten, und dann –

– erlosch das Bild. Der Fernseher flimmerte nur noch. Mike stцhnte. »Das war's«, flьsterte er. »Sie haben den Satelliten herunterge­holt.« Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, wandten sie sich um und zogen ihre Uniformen an. Nicht einmal zwei Minuten spдter verlieЯen sie das Apartment.

Bei den Jungs im Pentagon musste eine gehцrige Schraube locker sein, dachte Charity, diese Bilder live ьber die Mattscheiben zu schicken. DrauЯen auf den Fluren war schon der Teufel los. Der Korridor war voller Men­schen und Lдrm. Jemand schrie hysterisch, aber noch war die Panik nicht wirk­lich losgebrochen. Die Leute hatten noch nicht ganz begriffen, was sie gerade gesehen hatten. Und Charity hatte keine besondere Lust, noch in diesem Haus zu sein, wenn sie es begriffen. Sie berьhrte Mike am Arm und deutete auf den Treppenschacht. »Komm. Ehe er auch verstopft ist.« Sie liefen los, aber sie waren nicht die ersten, die auf diesen Gedanken kamen. Ein dicker Mann, der einen gewaltigen Koffer mit sich schleppte und eine kaum weniger dicke Frau hinter sich herzerrte, blockierte die Treppe, und aus der Tie­fe des Schachtes drangen jetzt die ersten Schreie herauf. »Sie kommen!« keuchte der Dicke. »Gott im Himmel, steh uns bei, sie kommen. Sie werden uns alle umbringen.« Da kannst du sogar recht haben, dachte Charity dьster. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lдcheln, trat einen halben Schritt zurьck und wartete, dass der Dicke mit seinem Koffer sich an ihr vorbeischob und die Treppe freigab. Aber er dachte nicht daran. Statt dessen blieb er stehen und starrte sie und Mike an. »Sie… Sie sind Soldaten«, sagte er und wies auf ihre Uniformen. »Sie wer­den sie abschieЯen, nicht? Sie werden sie doch vertreiben, oder?« Er lieЯ seinen Koffer fallen und streckte die Hдnde nach Charity aus. Mike packte Charity kurzerhand am Arm, drдngte den Dicken mit Gewalt zur Seite und zerrte sie hinter sich her. Die Schreie aus dem Treppenschacht wurden lauter. Irgendwo krachte ein Schuss. Er lieЯ sie erst los, als sie das Dach erreicht und die Feuertьr hinter sich zuge­worfen hatten. Charity trat wьtend einen Schritt zurьck und funkelte ihn an. »War das nцtig?« fragte sie scharf. »Verdammt, der arme Kerl hatte nur –« »Nur ein bisschen Angst«, unterbrach sie Mike grob. »Nicht wahr? So wie zehn Millionen anderer in dieser Stadt.« Er deutete mit einer wьtenden Geste in den Himmel hinauf. »Was hattest du vor? Ihn mitzunehmen? Der Hubschrauber ist leider nicht groЯ genug, um zehn Millionen Anhalter aufzunehmen.« Charity starrte ihn an, aber sie bezweifelte, dass Mike ahnte, was in diesem Moment hinter ihrer Stirn vorging. Es ging schon los, dachte sie betдubt. Die Fernsehьbertragung war noch nicht einmal fьnf Minuten her, aber es ging schon los. Selbst Mдnner wie Mike begannen sich zu verдndern. Schaudernd wandte sie sich um, trat an die Dachbrьstung und blickte in die Tie­fe. Auf den StraЯen waren mehr Autos aufgetaucht, aber noch immer wirkte die Szenerie relativ friedlich. Es wьrde nicht mehr lange so bleiben. In ein paar Mi­nuten war dort unten die Hцlle los. Keiner von diesen Narren, die sich in ihre Autos geschwungen hatten und versuchten, die Stadt zu verlassen, wьrde auch nur bis zur Brьcke kommen. Sie sah nach oben – wo blieb der Hubschrauber? –, und plцtzlich musste sie sich eingestehen, dass auch sie keinen Deut anders empfand. Auch sie wollte nicht als weg hier. Sicher, es war ihre Pflicht – der Plan war auf die Sekunde genau ausgearbeitet, fьr den Fall, der jetzt eingetreten war, aber das дnderte nichts dar­an, dass sie eine unendliche Erleichterung bei dem Gedanken empfand, in weni­gen Augenblicken in einen Helijet steigen und aus dem Hexenkessel entkommen zu kцnnen, in den sich die Stadt verwandeln wьrde. Mikes Hand deutete schrдg nach oben, und sie folgte der Bewegung. Der kleine Lichtpunkt, auf den Mike gedeutet hatte, wuchs heran und nдherte sich rasend schnell. Ein hohes, an– und abschwellendes Heulen mischte sich ins Gerдusch des Windes und die Schreie, die aus dem Haus herauf drangen. Der Helijet. Er kam pьnktlich. Beckers militдrischer Apparat schien mit der Prдzision einer rie­sigen, sorgfдltig gewarteten Maschine anzulaufen. Der Gedanke beruhigte Cha­rity allerdings nicht besonders. Sie hatte das sehr sichere Gefьhl, dass bald je­mand eine groЯe Menge Sand ins Getriebe von Beckers kleiner Ver­nichtungsmaschinerie werfen wьrde. Sie traten vom Landeplatz zurьck, als der Helijet heulend herunterkam. Seine Bewegungen waren nicht ganz prдzise – er verzichtete darauf, das Haus einmal zu umkreisen, um sich davon zu ьberzeugen, dass der Landeplatz auch frei und ein Aufsetzen ungefдhrlich war, sondern stьrzte beinahe vom Himmel. Eine Ge­stalt erschien in der offenstehenden Tьr, und eine Hand winkte ungeduldig. Ge­duckt rannten Mike und sie auf den Copter zu und sprangen hinein. Die Maschine hob ab, kaum dass sie eingestiegen waren. Es begann zu regnen, wдhrend der Jetcopter dem abgesperrten Teil des La­Guardia-Flughafens entgegenstьrzte; so schnell und so tief, dass Charity mehr als einmal Angst hatte, sie wьrden die Dдcher der Hochhдuser streifen, ьber die sie hinwegheulten. Der HeliCopter musste eine Spur aus zertrьmmerten Fen­sterscheiben und geplatzten Trommelfellen hinter sich herziehen. Der Flug selbst dauerte nur wenige Minuten, aber sie kreisten fast eine Viertel­stunde ьber dem Platz, ehe der Pilot endlich die Erlaubnis zur Landung bekam und aufsetzte, sehr hart und nur wenige Dutzend Schritte vom Abfertigungsge­bдude entfernt, das zu einer provisorischen Kommandozentrale umgewandelt worden war. Als sie den Copter verlieЯen, begriff sie den Grund fьr die Wartezeit – das Flug­feld war voller Maschinen – HeliCopter, Jets, kleine rotorgetriebene Sportma­schinen und gewaltige Transporter, deren buckelige Leiber sich wie die Rьcken riesiger stдhlerner Wale in die Nacht erhoben. Und es kamen stдndig mehr. Of­fensichtlich hatte jeder Pilot in Reichweite des Flugplatzes den Befehl bekom­men, seinen Kurs zu дndern und La Guardia anzufliegen. Ein paar Meilen ent­fernt zog sich eine schnurgerade doppelte Linie aus weiЯem Licht ьber das Flug­feld: der in aller Hast errichtete Stacheldrahtzaun, mit dem die Nationalgarde das Flugfeld in zwei ungleichmдЯige Hдlften geteilt hatte. Die kleinen Lichter von Autoscheinwerfern krochen durch die Nacht auf diese hellerleuchtete Linie zu, und gerade, als Charity und Mike hinter ihrem Fьhrer das Abfer­tigungsgebдude betraten, erhob sich ein halbes Dutzend kleiner Hubschrauber vom Flugfeld und glitt im Tiefflug auf den Zaun zu. Mдnner, klein wie Spiel­zeugsoldaten, nahmen lдngs des Zaunes Aufstellung. Voller Verbitterung begriff Charity, dass der Kommandant der Truppe ganz offensichtlich mit Angriffen rechnete – Angriffen der Zivilbevцlkerung, nicht der Fremden. GroЯer Gott, was geschah mit ihnen? Sie vernichteten sich gegenseitig, noch bevor die Fremden ьberhaupt angegriffen hatten! Das Abfertigungsgebдude war vцllig ьberfьllt. Die riesige Eingangshalle schien vor grьnen und blauen Uniformen ьberzuquellen. Hunderte von Stimmen schrien Hunderte von Befehlen, und ein ganzes Dutzend Lautsprecher versuchte sich gegenseitig zu ьbertцnen. Von der riesigen Multivisionswand unter der Decke herab verkьndete ein Nachrichtensprecher mit ernstem Gesicht schlechte Neuigkeiten, die im chaotischen Lдrm der Stimme untergingen. Irgendwie brachte ihr Fьhrer das Kunststьck fertig, sie und Mike einigermaЯen unbeschadet durch dieses Chaos zu schleusen. Sie erreichten einen Aufzug, vor dessen geschlossenen Tьren zwei Mдnner der Nationalgarde Wache hielten, mit grimmigen Gesichtern und mit drohend vor die Brust gehaltenen Maschinenpi­stolen. Die Mдnner traten beiseite, als ihr Fьhrer einen Ausweis zьckte und gebieterisch in die Hцhe hielt. Einen Augenblick spдter glitten die Lifttьren wie von Geister­hand bewegt auseinander, und sie betraten die Kabine, die sie rasch und ohne anzuhalten in die Hцhe transportierte. Ihr Ziel war die Glaskuppel des Towers. Auch hier oben herrschte mehr Ge­drдnge als gewohnt, aber es war zumindest nicht so ьberfьllt, dass man keinen Schritt tun konnte, ohne irgend jemandem auf die Zehen zu steigen oder den El­lenbogen in die Nieren zu rammen. An den grьnleuchtenden Radarschirmen und Computerpulten saЯen jetzt Soldaten, und der Mann, der mit hinter dem Rьcken verschrдnkten Hдnden vor der Panoramascheibe stand und auf die Rollbahn hin­unterblickte, trug die Uniform eines Brigadegenerals. Aber davon abgesehen, dachte Charity, war der Anblick geradezu absurd normal. Sie spьrte nicht einmal etwas von dem Schrecken, der unten in der Halle allgegenwдrtig gewesen war. Alle Gesprдche, die sie hцrte, wurden sehr leise gefьhrt. Der Mann vor dem Fenster drehte sich herum, als sie ihm bis auf drei Schritte nahe gekommen waren. Charity kannte sein Gesicht nicht, aber sein Blick sagte ihr, dass er sie kannte – natьrlich. Sie wollte salutieren, der General jedoch winkte ab. »Lassen Sie diesen Unsinn, Captain Laird«, sagte er. »Ich bin General Hardwell. Willkommen bei uns.« Seine Stimme klang kalt, und nicht besonders sympathisch, aber er lдchelte. Ir­gendwo drauЯen ьber dem Flughafen begann eine Sirene zu schrillen, dann ge­sellte sich eine zweite dazu, eine dritte. Charity sah ganz automatisch nach We­sten, zur Stadt. Die Lichter New Yorks erhellten noch immer die Nacht. Der Anblick unterschied sich nicht im mindesten von dem, den die Skyline dieser Stadt seit einem halben Jahrhundert bot. Mit ein bisschen Phantasie, dachte sie, konnte man sich einbilden, dass gar nichts passiert wдre. »Irgendwelche Neuigkeiten?« fragte Mike neben ihr. Der General schьttelte andeutungsweise den Kopf. »Nein. Wir wissen hier nicht mehr als Sie. Sie haben die Ьbertragung gesehen?« »Ja«, sagte Charity finster. »Welcher Idiot ist auf die Idee gekommen, die Bilder live auszustrahlen. Verdammt, eine Zeitverzцgerung von zehn Sekunden hдtte gereicht, um diese Panik zu –« Sie sprach nicht weiter, als sie begriff, dass der Mann, dem sie diese Vorhaltun­gen machte, ungefдhr so viel dafьr konnte wie sie selbst. Sie lдchelte verzei­hungsheischend. »Tut mir leid.« Hardwell winkte ab. »Schon gut. Wir sind alle ein bisschen nervцs, nicht wahr?« Er lдchelte ebenfalls, starrte einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere und wurde ьbergangslos sehr ernst. »Sie waren doch auf diesem Schiff«, sagte er. »Glauben Sie, dass es … Bomben sind?« Bomben? Charity starrte ihn an. Es dauerte fast zehn Sekunden, bis sie ьber­haupt begriff, was er meinte. Es war wie ein zweiter, nachtrдglicher Schock. Bei allem, was sie in den ver­gangenen zwanzig Minuten gedacht und gefьhlt haben mochte – der Gedanke, dass es sich bei den Objekten, die das Sternenschiff ausgespien hatte, um Bom­ben handeln konnte, war ihr nicht einmal gekommen. Dabei war es so nahe­liegend! Hastig schьttelte sie den Kopf. »Kaum«, sagte sie. »Es ergдbe ziemlich wenig Sinn, finden Sie nicht?« Aber was, dachte sie, was um alles in der Welt, was dieses verdammte Schiff und sei­ne Absender in den letzten Monaten getan hatten, ergab ьberhaupt einen Sinn? Trotzdem fьgte sie hinzu: »Ich kann es mir nicht vorstellen. Wenn sie uns bom­bardieren wollten, hдtten sie es verdammt viel einfacher anstellen kцnnen, nicht wahr?« Die Erklдrung klang selbst in ihren eigenen Ohren ziemlich dьnn, aber Hardwell gab sich offensichtlich damit zufrieden – zum einen, dachte sie, weil es ganz ge­nau das war, was er hцren wollte, und zum anderen, weil sie es war, die es ge­sagt hatte. Ihre Worte hatten Gewicht, weil sie zu den wenigen Menschen gehцr­te, die jemals an Bord dieses Schiffes gewesen waren. »Haben Sie den Flughafen deshalb in eine Festung verwandelt?« fragte Mike. Hardwell wich seinem Blick aus. »Wir bereiten alles fьr eine Evakuierung vor«, sagte er nach einer Weile, ohne direkt auf Mikes Frage zu antworten. »Obwohl ich nicht weiЯ, wie lange wir sie aufhalten kцnnen.« »Sie?« Hardwell deutete mit einer zornigen Kopfbewegung auf die Lichtglocke New Yorks. »Die zehn Millionen Mдnner und Frauen dort drьben, die aus der Stadt heraus wollen«, antwortete er. »Verdammt, sind Sie so naiv, oder tun Sie nur so, Lieutenant?« Mike tat das einzig Vernьnftige – er ignorierte Hardwells gereizten Ton und kam ohne weitere Umschweife auf den eigentlichen Grund ihres Kommens zu spre­chen. »Die Maschine ist startklar?« Hardwell nickte und schьttelte gleich darauf den Kopf. »Die Maschine schon«, sagte er. »Aber die Mannschaft noch nicht. Ich habe Befehl, Sie hier zubehalten, bis Ihre Crew komplett ist. Sie werden in drei Eagles zur Jefferson-Air-Base ge­flogen.« »Wer fehlt noch?« fragte Mike. »Alle«, antwortete Hardwell gereizt. »Sie und Captain Laird waren die ersten. Lieutenant Niles wird in ein paar Augenblicken mit einem Copter eintreffen. Er ist schon auf dem Weg hierher. Die anderen … Es kann eine Stunde dauern.« Jemand berьhrte ihn an der Schulter und hielt ihm einen kleinen Zettel hin. Hardwell warf einen flьchtigen Blick darauf, runzelte die Stirn und steckte ihn in die Rocktasche. Er gab sich Mьhe, sich nichts von seinen wahren Gefьhlen anmerken zu lassen, aber er sah eindeutig betroffen aus. »Schlechte Neuigkeiten?« fragte Charity. Hardwell zцgerte. Dann nickte er. »Ja. Aber keine, die Sie betreffen. Ich…« Er wurde wieder unterbrochen, von einem anderen Adjutanten, der sich aber dies­mal nicht an ihn, sondern an Charity wandte. »Captain Laird?« Charity nickte. »Ein dringender Anruf fьr Sie. Drьben, im Bьro des Operators.« Der Mann deu­tete auf eine schmale, offenstehende Tьr am gegenьberliegenden Ende des Raumes. Das Zimmer dahinter lag im blauen Halbdunkel eines eingeschalteten Videoschirmes. Mike und sie folgten dem jungen Soldaten, wдhrend Hardwell diskret zurьck­blieb und sie so wenigstens der Peinlichkeit enthob, ihm die Tьr vor der Nase zuwerfen zu mьssen. Der Raum war sehr klein; sein Inneres bestand praktisch nur aus einer gewaltigen, rundum laufenden Computerkonsole, auf der gleich Dutzende von Monitoren prangten. Im Moment war allerdings nur ein einziger davon eingeschaltet. Ein junger Mann saЯ davor, der sich hastig erhob und den Raum verlieЯ, als er Charity erkannte. Sie wartete, bis Mike die Tьr hinter ihm geschlossen hatte, lieЯ sich in den noch warmen Sitz fallen und tippte ihren Er­kennungscode in das winzige Zahlenfeld unter dem Bildschirm. Der Schriftzug: TOP SECRET – AUTHORIZED PERSONS ONLY verschwand und machte dem Gesicht Commander Beckers Platz, dreidimensional und in Farbe und so besorgt, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte… »Commander?« »Captain Laird – Gott sei Dank, Sie sind schon da. Dieser Idiot, mit dem ich ge­rade gesprochen habe, konnte mir nicht einmal sagen, ob…« Er brach abrupt ab, machte eine дrgerliche Geste und atmete tief ein. »Wo sind die anderen?« »Mike… Lieutenant Wollthorpe«, verbesserte sie sich hastig, »ist bei mir. Lieu­tenant Niles wird in wenigen Minuten eintreffen. Die anderen… Hardwell sagt, es kann eine Stunde dauern.« »Verdammt.« Becker zog eine Grimasse. »Kriegen Sie die Kiste zu dritt hoch?« »Die ENTERPRISE?« Charity schьttelte entschieden den Kopf. »Unmцglich«, sagte sie, in einem Ton, von dem Becker hoffentlich begriff, dass er endgьltig war. »Wir kцnnen sie vielleicht zu dritt starten, aber ganz bestimmt nicht landen. Nicht in ihrem Rattenloch.« »Eine Stunde.« Becker ignorierte das Wort, mit dem Charity die Bunkeranlage bezeichnet hatte. »Und noch mindestens zwei, bis sie in Jefferson sind. Ver­dammt, so viel Zeit haben wir nicht mehr!« »Wir brauchen sie aber«, antwortete Charity ruhig. »Die ENTERPRISE ist ein Space-Shuttle, Commander, keine Cessna. Es war riskant genug, die beiden an­deren Schiffe zu ihnen zu bringen. Wenn ich mit einer halben Mannschaft ver­suche, das Schiff in ihren Hangar zu steuern, werde ich ihnen ein hьbsches Loch in ihren Berg sprengen – mцchten Sie das?« Becker musterte sie finster und schwieg. »Was ist passiert?« fragte Mike, der sich neugierig ьber ihre Schulter gebeugt hatte. »Diese Flugscheiben…« »Bomben«, sagte Becker. »Es sind verdammte Wasserstoffbomben, Lieute­nant.« Charitys Herz setzte fьr eine Sekunde aus. »Was… haben Sie… gesagt?« stammelte sie. Becker starrte auf einen Punkt irgendwo neben der Kamera. Sein Gesicht war wie Stein, aber in seinen Augen loderte etwas, das Charitys Furcht noch vertief­te. »Zwei unserer Eagles haben versucht, eines dieser Dinger abzuschieЯen«, sagte er. »Sie haben es geschafft, Captain. Das Ergebnis war eine Atom­explosion, Gott sei Dank weit drauЯen ьber dem Meer. Wir wissen noch nichts Genaues, aber unsere Jungs hier schдtzen sie auf mindestens fьnfzig Megaton­nen.« Sein Blick kehrte wieder zur Kamera zurьck. Das Funkeln darin war nicht erloschen. »Verstehen Sie jetzt, warum wir keine Zeit mehr haben?« »Bomben?« murmelte Charity. »Aber es sind… ьber fьnfhundert!« »Fьnfhundertzwцlf«, sagte Becker. »Oder fьnfhundertelf, um genau zu sein.« »Aber das ergibt doch keinen Sinn!« flьsterte Mike. Sein Gesicht war grau. Sei­ne Stimme schwankte und hцrte sich an wie die eines alten, uralten Mannes. »Warum sollten sie…« »Das weiЯ ich nicht«, unterbrach ihn Becker. »Verdammt noch mal, niemand weiЯ, warum sie irgend etwas tun. Tatsache ist, dass diese Dinger im Augen­blick dabei sind, sich ьber die gesamte Erde zu verteilen, und zwar in einer Hц­he, in der unsere Jets nicht mehr an sie herankommen.« »Und die Abwehrraketen?« Mike kreischte jetzt wirklich. »Die SDI-Satelliten und Laserka…« »Was schlagen Sie vor, Lieutenant?« unterbrach ihn Becker. »Dass wir sie ein­zeln abschieЯen?« Mike antwortete nicht mehr, und auch Charity schwieg fьr endlose, lange Se­kunden, in denen sie Beckers Videobild anstarrte, ohne ihn wirklich zu sehen. Ein Gefьhl entsetzlicher Hilflosigkeit machte sich in ihr breit. Plцtzlich begriff sie, dass sie machtlos waren, dass ihnen ihr ganzer, ungeheuerlicher Militдrappa­rat rein gar nichts mehr nutzte, nicht gegen diese Bedrohung. Selbst wenn sie es geschafft hдtten – selbst wenn Becker und seine Mдnner ein Wunder vollbrach­ten und sie es irgendwie schafften, diese bцsartigen Sternentaler zu eliminieren, bevor sie sich auf die fьnfhundert grцЯten Stдdte der Erde stьrzten – Charitys Phantasie weigerte sich einfach, sich vorzustellen, was geschah, wenn fьnfhun­dert Wasserstoffbomben gleichzeitig in der Atmosphдre dieses Planeten explo­dierten. »Was… tun sie im Moment?« fragte sie. Sie war fast erstaunt, ihre eigene Stim­me zu hцren. Becker blickte auf irgend etwas auЯerhalb des Aufnahmewinkels der Kamera, ehe er antwortete. »Sie steigen«, sagte er. »Anscheinend bilden sie eine Art Schild ьber der ganzen Erde. Wie es aussieht, in fьnfzig bis siebzig Meilen Hц­he. Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehalten, haben wir noch anderthalb Stunden. Und danach bekommen wir vermutlich die groЯe Rechnung prдsen­tiert.« Es war vцllig verrьckt – aber fьr Sekunden wьnschte sich Charity nichts mehr, als dass Becker recht hatte, dass in anderthalb Stunden irgendeine schreckliche Insektenfratze auf allen Bildschirmen der Welt erscheinen und die Erde fьr be­setzt erklдren wьrde oder irgendwelche Forderungen stellte, ganz egal, wie ab­surd sie waren, denn die Alternative war einfach zu schrecklich, um den Gedan­ken auch nur zu denken. »Hцren Sie, Laird«, sagte Becker plцtzlich. »Wir haben noch fьnfundneunzig Minuten, vielleicht mehr. Sie warten, bis Ihre Mannschaft komplett ist, und dann kommen Sie hierher.« »Und das Schiff?« »Vergessen Sie die ENTERPRISE«, sagte Becker. »Wir haben zwei Schiffe hier in der Basis, aber sie nutzen uns verdammt wenig, wenn niemand da ist, der sie fliegen kann.« Er schaltete ab, ehe Charity eine weitere Frage stellen konnte. Aber es dauerte noch sehr lange, bis sie sich aus dem Sessel erhob und wieder in den Tower hi­nausging. Sie war – unabhдngig von allen Verschlьsselungen und Codes – sehr sicher, dass Hardwell nicht mitgehцrt hatte, aber vermutlich waren Mike und sie nicht halb so gute Schauspieler, wie sie bis zu diesem Moment geglaubt hatten, denn der General sah sie nur stumm an, und als er sich umwandte und wieder auf seinen einsamen Beobachtungsposten vor der Panoramascheibe zurьckkehrte, da hatte sie das Gefьhl, einen gebrochenen Mann vor Augen zu haben. Sie selbst fьhlte nichts. In ihr war nur Leere. Sie hatte sich oft gefragt, was sie wohl empfinden wьrde, wenn das Ende der Welt irgendwann einmal gekommen war; entweder das wirkliche Ende der Welt, so wie jetzt, oder das Ende ihres privaten kleinen Kosmos, der Tod, der im Endeffekt fьr sie das gleiche bedeute­te. Ein absurder Gedanke nistete sich hinter ihrer Stirn ein, und er lieЯ sich auch nicht vertreiben, so sehr sie es versuchte: Wenigstens wьrde es schnell gehen. Wenn die Aliens ihre Bomben wirklich warfen, war New York zweifellos eines der Ziele – und sie waren der City nahe genug, um bei einer Explosion dieser Stдrke kaum mehr mitzubekommen als einen raschen, sehr hellen Blitz, und vielleicht nicht einmal das. Plцtzlich kam ihr ihrer aller Situation geradezu aberwitzig vor. Rings um sie herum lief das Leben – fast – normal weiter. Der Tower war erfьllt vom Piepen und Summen der Computer und den gedдmpften Stimmen der Mдnner, die sie bedienten, drauЯen auf dem Flugfeld starteten und landeten ununterbrochen Ma­schinen, sie sah einen jungen Mann an sich vorbeihasten und im Vorьbergehen lдcheln und erwiderte es ganz automatisch. Sie stand dicht neben Mike, aber sie hatte nicht einmal das Bedьrfnis, seine Hand zu ergreifen oder ihn zu kьssen – keine groЯen Gesten. Nichts. Sie warteten, das war alles. Hardwell deutete auf einen kleinen Lichtpunkt, der sich dem Flughafen von Osten her nдherte. »Die Maschine mit Ihrem Kollegen«, sagte er. Charity nickte, aber sie konnte nicht antworten. Fьr Momente war sie von einer bleiernen Schwere befallen. Das Gefьhl fiel erst von ihr ab, als sich zehn Minu­ten spдter die Aufzugtьr hinter ihnen цffnete und Niles in den Kommandoraum stьrmte. Anders als Mike und sie trug er keine Uniform, sondern ein groЯkarier­tes blaues Holzfдllerhemd und dazu vollkommen unpassende Bermuda-Shorts. Er sah reichlich albern aus, aber niemand lachte. Niles begrьЯte sie knapp und wandte sich mit einem fragenden Blick an Mike. »Was ist passiert?« »Erklдr es ihm«, sagte Charity leise. »Aber nicht hier.« Sie deutete auf den Ope­rator-Raum und sah zu, wie Mike mit Niles in dem winzigen Verschlag ver­schwand und die Tьr hinter sich zuzog. Sehr schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht die einzige war, die den beiden nachblickte, und dass wahrlich nicht viel Phantasie dazu gehцrte, zu erraten, was die beiden Space-Force-Mдnner so Geheimnisvolles zu besprechen hatten. Wie lange wьrden sie es noch geheim halten kцnnen, und vor allem – wie lange wьrde sie es wollen? Verdammt, all diese Mдnner hier hatten ein Recht, zu er­fahren, dass sie nur noch neunzig Minuten zu leben hatten. Die Zeit verstrich trдge. Mike und Niles blieben fast zehn Minuten fort, und Charity konnte regelrecht spьren, wie die Nervositдt im Tower stieg. Eine unan­genehme Anspannung begann sich in dem groЯen, rundum verglasten Raum breit zumachen, die sie wie die Berьhrung eines elektrischen Feldes auf der Haut fьhlte. Niles Gesicht war starr, als er zurьckkam, aber er schien dasselbe zu empfinden wie sie – auch in seinem Blick war keine wirkliche Angst, sondern nur eine son­derbare Mischung aus Betroffenheit und Leere. Sie erinnerte sich, dass er als einziger von ihnen verheiratet war und ein Kind hatte. Seine Familie lebte in New York. Sie sah auf die Uhr. Zwanzig der neunzig Minuten, von denen Becker gespro­chen hatte, waren vorbei. Und sie sehnte sich fast danach, dass auch der Rest verstrich. Schlimmer als alles, was passieren konnte, war das Warten. »Wie viel Zeit haben wir noch?« fragte eine Stimme hinter ihr. Charity sah auf und erkannte Hardwells Gesicht als verzerrte Spiegelung in der Scheibe vor sich. Sie lдchelte mьde. »Ich bin kein besonders guter Schauspieler, wie?« sagte sie. Erst danach drehte sie sich um und sah Hardwell direkt an, statt mit seinem Spiegelbild zu spre­chen. »Wer ist das schon, in einer Situation wie dieser?« erwiderte Hardwell. »Wie lange?« Charity zцgerte. »Siebzig Minuten«, sagte sie dann. Verdammt, warum nicht? Er wusste es ohnehin. Jeder hier wusste es. »Mindestens«, fьgte sie hinzu. »Siebzig Minuten«, wiederholte Hardwell. Er versuchte zu lдcheln, aber es ge­lang ihm nicht. SchlieЯlich deutete er mit der Hand nach unten, auf das Flugfeld. »Zeit genug. Wenn… wenn Sie wollen, lasse ich Sie rausfliegen, Captain«, sagte er stockend. Charity schwieg sehr lange. Hardwells Reaktion verwirrte sie. Er tat ihr sehr leid. »Das werden wir sowieso, General«, sagte sie schlieЯlich. »Unsere Befehle lauten, von hier zu verschwinden, sobald die Crew komplett ist. Ich weiЯ aller­dings nicht«, fьgte sie hinzu, »ob es noch irgend etwas gibt, wohin es sich zu fliegen lohnt.« Ein paar bleiche Gesichter in ihrer Nдhe blickten auf, und Chari­ty begriff plцtzlich, dass sie laut genug gesprochen hatte, um die Mдnner jedes Wort verstehen zu lassen. Aber die Reaktion, auf die sie wartete, kam nicht. Die Mдnner starrten sie nur an. Plцtzlich hatte sie einen geradezu irrwitzigen Einfall. »Wir haben noch Platz, General. Auf einen Passagier mehr oder weniger kommt es nicht an.« Mike fuhr sichtlich erschrocken zusammen, und auch Niles blickte sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. Hardwell lдchelte nur. Er schьttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier. Sie haben recht, Cap­tain – wenn es … wirklich passiert, dann gibt es nichts mehr, wohin es sich zu fliehen lohnt. AuЯerdem glaube ich nicht…« Charity erfuhr nie, was General Hardwell nicht glaubte. Ebenso wenig, wie ir­gend jemand je erfuhr, wieso sich Beckers Computer so drastisch verrechnet hatten. Aber sie hatten es. Die siebzig Minuten, die sie angeblich noch hatten, schrumpften jдh zu einer halben Sekunde zusammen, der Zeit, die die fьnfhun­dertelf galaktischen Bomben reglos verharrten, nachdem sie ihre Position fьnf­undsiebzig Meilen ьber der Erdoberflдche eingenommen hatten. Sie bildeten jetzt ein regelmдЯiges Muster, mit einer einzigen Ausnahme mathematisch per­fekt ьber den gesamten Globus verteilt. Aber dieses geometrische Netz aus fьnfhundertundelf drei Meter durchmessen­den, fliegenden Bomben existierte in dieser Form nur eine halbe Sekunde lang. Dann explodierte es. 12. Dezember 1998 Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war es wie ein Schritt in eine andere Welt, als sich die Lifttьren vor ihr und Stone цffneten. Nur dass es diesmal eine Welt war, die ihr nicht behagte und ihr niemals behagt hatte; die summende, lei­se hektische Welt einer militдrischen Kampfstation, die sich in hцchster Alarm­bereitschaft befand. Und das, obwohl es ja eigentlich ihre Welt war. Aber es gab einen Unterschied – sie hatte niemals zu den Knopfdrьckern und Computer-Strategen gehцrt, und sie hatte auch niemals einen besonderen Hehl daraus ge­macht, dass sie sie im Grunde verachtete, obgleich sie natьrlich wusste, dass sie nцtig waren. Charity war zu einer Zeit in die Space Force eingetreten, in der die Mцglichkeit eines Krieges lдngst in die GrцЯenordnung hypothetischer Hochrechnungen ge­raten war; mit einer Wahrscheinlichkeit sehr weit rechts hinter dem Komma. Und sie hatte es auch nicht getan, weil sie SpaЯ an Kriegsspielen hatte, sondern weil eine militдrische Laufbahn ihr so etwas wie einen Hauch von Abenteuer versprochen hatte, auch wenn dieses Abenteuer zu neunundneunzig Prozent aus Drill und Disziplin und nicht zuletzt Langeweile bestand. Trotzdem entschдdigte sie der kleine verbliebene Rest fьr vieles andere. Charity war – ihrer eigenen Meinung nach – um mehrere hundert Jahre zu spдt geboren worden. Sie ertrug es nicht, in einer Welt zu leben, in der das aufregenste Erlebnis eine Fahrt mit acht­zig Meilen in der Stunde ьber den Highway war, und sie hatte sich niemals fьr Senso-Spiele oder andere elektronische Ersatzbefriedigungen begeistern kцnnen. Deshalb trug sie seit elf Jahren die schwarzgrьne Uniform der US-Space Force, und wahrscheinlich lebte sie auch deshalb noch. Ohne ihre Spezialausbildung hдtte sie den Weg hierher niemals geschafft. Wahrscheinlich wдre sie nicht ein­mal aus New York herausgekommen. Charity wartete, bis Stone in den Lift getreten war und die Tьren sich geschlos­sen hatten, dann trat sie mit einem Schritt ьber die erste der beiden feuerroten Linien, die einen weitgeschwungenen, doppelten Halbkreis vor dem Aufzug bil­deten, schloss fьr einen Moment die Augen und betete, dass die Class-A-Codierung in ihrer Hundemarke den Weg von New York hierher ebenso unbe­schadet ьberstanden hatte wie sie. Aber allein die Tatsache, dass sie diesen Ge­danken ьberhaupt denken konnte, bewies schon, dass es so war – wдre sie mit einer beschдdigten oder falsch klassifizierten ID-Marke ьber die erste dieser beiden harmlosen Linien getreten, hдtte sie jetzt schon herausgefunden, wie sich ein Hдhnchen in einem Mikrowellenherd fьhlte. Trotzdem wartete sie die vorgeschriebenen zehn Sekunden, bis das rote Licht vor ihr auf Grьn wechselte, ehe sie es wieder wagte, zu atmen und schlieЯlich weiterzugehen. Die beiden Wachsoldaten, die mit lдssig geschulterten Maschi­nenpistolen jenseits der zweiten roten Linie standen, nickten ihr freundlich zu. Einer stieЯ einen leisen Pfiff aus, als Charity an ihm vorьberging, und grinste. Charity erwiderte sein Lдcheln, цffnete die durchsichtige Kunststofftьr am ande­ren Ende des Raumes und trat ins Allerheiligste der Station. Es war das sechste Mal, dass sie hier war, und das sechste Mal, dass der Anblick sie tief genug beeindruckte, um sie einen Moment verharren zu lassen. Die Tьr fьhrte auf eine schmale, um den ganzen gewaltigen Raum herumlaufen­de Empore hinaus. Unter ihr lag ein riesiger Saal, kreisrund und in der Mitte leicht ansteigend, so dass der Sessel des Kommandanten samt seiner halbrunden Computerkonsole den Raum um Mannshцhe ьberragte. Zahllose Compu­tertische, auf denen Hunderte von kleinen und groЯen Monitoraugen flimmerten, bildeten ein scheinbares Durcheinander, in dem nur das Auge eines Kundigen eine komplizierte, sehr klug durchdachte Ordnung ausmachen konnte. Fast die gesamte gegenьberliegende Wand wurde von einem gigantischen Bildschirm eingenommen, der im Moment die farbige Holografie einer ьberdimensionalen Weltkarte zeigte. Zwischen all diesen Computern und Schalttafeln und Monito­ren wirkte das halbe Hundert blauuniformierter Stabssoldaten beinahe verloren. Die ganze Anlage war im Grunde nichts anderes als ein ьbergroЯer Computer, und die Menschen dort unten – vielleicht mit Ausnahme Beckers und einer Handvoll Offiziere – bloЯe Handlanger, die taten, was die Computer von ihnen verlangten. Sie hдtte ebenso gut in Houston oder auf der Wall Street stehen kцn­nen. Der einzige – allerdings entscheidende – Unterschied, der zu gleichartigen Computern auf der Welt bestand, war vielleicht der, dass dieser hier noch funk­tionierte. Diese Halle, eine halbe Meile unter dem Granit der Rocky Mountains und so geheim, dass selbst die meisten von denen, die hier arbeiteten, nicht genau wuss­ten, wo sie wirklich lag, war so etwas wie das Herz der Welt. Eines von zwei Herzen wahrscheinlich. Eine дhnliche Anlage musste es auch in der UdSSR ge­ben. Aber das дnderte nichts daran, dass die Fдden der Macht hier zusammenlie­fen. Von diesen harmlosen Computerpulten fьnf Meter unter ihr aus konnten sдmtliche Waffensysteme der Army befehligt, gestartet und gelenkt werden. Das Gehirn des dritten Weltkrieges, gebaut, um niemals benutzt zu werden. Sie entdeckte Becker an einem der Pulte unter sich; eine schmale, grauhaarige Gestalt, die sich nach vorne gebeugt hatte und erregt mit einem jungen Offizier diskutierte. Charity lцste sich von ihrem Platz, stieg in den Saal hinab und steu­erte im Slalom auf den General zu. Das Raunen zahlloser Stimmen und das elek­tronische Wispern einer ganzen Computerarmee hьllten sie ein, und der riesige Videoschirm ьberschьttete die Szene mit dьsterem, rotem Licht. Fast gegen ih­ren Willen sah Charity auf. Die Karte, die der Schirm zeigte, war ein genaues Gegenstьck der, die sie vor einer Woche in New York gesehen hatte, und wie auf dieser zeigten auch hier die rotleuchtenden Flecken die Gebiete an, die be­setzt und aufgegeben waren. Sie erschrak, als sie sah, wie sehr sie sich ausge­breitet hatten. Sie schьttelte den Gedanken ab, ging weiter und erreichte Becker genau in dem Moment, in dem er sich von dem jungen Offizier abwandte. Sie blieb stehen, salutierte lдssig und registrierte amьsiert, wie sich Beckers Brauen irritiert zu­sammenzogen, als er ihre Aufmachung bemerkte. Aber zu ihrer Ьberraschung verbiЯ er sich jede Bemerkung ьber die unvorschriftsmдЯige Uniform, sondern machte eine Bewegung, die man mit viel gutem Willen als Erwiderung ihres GruЯes auffassen konnte, und gebot ihr dann mit einer Geste, mit ihm zu kom­men. Er schwieg auch weiter, wдhrend sie den Saal durchquerten und auf der anderen Seite wieder auf die Empore hinaufstiegen. Durch eine schmale Plexiglastьr fьhrte er sie in ein winziges Bьro, in dem es nichts weiter als einen vollkommen leeren Schreibtisch und zwei unbequeme Stьhle gab. Wie die Tьr war die ge­samte Wand, in die sie eingelassen war, von dieser Seite aus durchsichtig, so dass man einen ungehinderten Blick auf den Kommandoraum hatte. Becker deutete mit einer knappen Geste auf einen der Stьhle, nahm selbst Platz und sah sie fragend an. »Ich habe nicht mehr mit Ihnen gerechnet, Captain Laird«, sagte er. Charity sah demonstrativ auf die Armbanduhr. »Ich dachte, ich wдre pьnktlich«, sagte sie. »Ein paar Minuten…« Becker machte eine дrgerliche Handbewegung. »Ich habe nicht gesagt, dass Sie zu spдt sind, Captain«, sagte er. »Ich bin ьberrascht, dass Sie es ьberhaupt ge­schafft haben. Sie sind der …» Er lдchelte gezwungen und verbesserte sich: »…die erste, die seit vier Tagen zu uns durchkommt. Die Burschen schieЯen sich allmдhlich auf uns ein.« »Das habe ich gemerkt«, antwortete Charity. »Ohne Lieutenant Stone und seine beiden Kameraden…« Becker unterbrach sie abermals mit einer befehlenden Geste, aber Charitys Дr­ger darьber hielt sich in Grenzen. Man musste kein besonders guter Menschen­kenner sein, um zu erkennen, dass Becker physisch und psychisch am Ende war. »Ich habe Ihre Ankunft ьber Monitor verfolgt«, sagte er. »Aber ich habe Sie nicht hergebeten, um mit Ihnen ьber Ihre wundersame Rettung zu sprechen, Captain. Sie kommen aus New York?« Es war keine Frage, aber Charity nickte trotzdem. »Auf direktem Weg?« »So direkt, wie es ging«, antwortete Charity. »Die PAN-AM-Flьge waren alle ausgebucht, wissen Sie, und –« »Verdammt, hцren Sie mit dem Blцdsinn auf, Captain!« fauchte Becker. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht war, hierher zu kommen. Aber genau deshalb reden wir ja miteinander. Sie waren drauЯen. Mit Ausnahme der Flьcht­linge aus Brainsville sind Sie der erste Mensch, der seit fast zwei Wochen hier­her kommt. Und Sie haben fast das halbe Land durchquert. Wie sieht es aus?« »Dort drauЯen?« Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die ьberdimen­sionale Weltkarte, die in blutigem Rot von der gegenьberliegenden Wand herun­tergrinste. »Es ist die Hцlle«, sagte sie nach einer Weile. »Sie sind ьberall, General. Und sie vernichten einfach alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Und alles, was vor ihnen flieht, ebenso.« Becker blickte sie betroffen an und schwieg. »Ich … ich weiЯ selbst nicht mehr genau, wie ich es geschafft habe«, fuhr Chari­ty fort. »Ein paarmal war es reines Glьck, ein paarmal…« Sie dachte an Mike, und plцtzlich steckte in ihrem Hals ein bitterer, harter KloЯ, der sie fьr Sekunden am Weitersprechen hinderte. »Es war wohl nur Glьck«, sagte sie schlieЯlich. Becker war taktvoll genug, fьr die nдchsten zehn Sekunden zu schweigen. Er musste spьren, dass es sie eine Menge mehr gekostet hatte als nur Glьck, sich bis hierher durchzuschlagen. »Wie sieht es drauЯen aus, Captain Laird?« wiederholte er beinahe sanft. »Ich verstehe, dass es Ihnen schwer fallen muss, darьber zu reden, aber ich brauche Informationen. Wir sind hier zwar sicher, aber auch von allen Informationen ab­geschnitten; jedenfalls fast allen.« Er lachte bitter, als er Charitys erstaunten Blick bemerkte. »Lassen Sie sich nicht von alledem da tдuschen«, sagte er mit einer Geste auf den Kommandoraum. »Unsere Computer funktionieren zwar noch, aber das ist auch schon alles. Das Gehirn arbeitet noch, aber sie haben uns Augen und Ohren ausgestochen und beide Hдnde abgeschlagen, wenn Sie so wollen.« »So schlimm?« fragte Charity betroffen. »Schlimmer«, antwortete Becker ernst. »Wir sind machtlos.« Er lachte wieder, und diesmal klang es fast wie ein Schrei. Charity begriff plцtzlich, dass das, was wie ein ganz normaler Rapport begonnen hatte, sich zu einem sehr privaten Ge­sprдch entwickelte. »Erinnern Sie sich noch, dass Sie mich einmal einen Knopfdruck-Soldaten ge­nannt haben, Captain?« fragte Becker. »Jetzt bin ich es. Ich habe jede Menge Knцpfe, auf die ich drьcken kann, aber das ist auch alles. Deshalb muss ich wis­sen, wie es oben aussieht. Gibt es noch Widerstand?« »Widerstand?« Charity wiederholte das Wort, als mьsse sie sich erst mьhsam in Erinnerung rufen, was es ьberhaupt bedeutete. Dann schьttelte sie den Kopf. »Nein, General. Oder doch, sicher, aber –« »Aber sie schlagen unsere Jungs«, fьhrte Becker den Satz dьster zu Ende. »Schlagen?« Charity machte ein Gerдusch, von dem sie selbst nicht so recht wusste, was es bedeutete. Eine innere Stimme warnte sie, weiterzusprechen, aber etwas – vielleicht Beckers verzweifelter Blick, vielleicht auch nur einfach ihre eigene Verbitterung – brachte sie dazu, den Dolch nicht nur noch tiefer in die Wunde zu rammen, sondern auch noch herumzudrehen. »Nein, General«, sagte sie. »Sie schlagen sie nicht. Sie vernichten sie, wo immer sie sie finden. Sie machen Treibjagd auf jeden, der eine Uniform trдgt.« »Aber es muss doch Widerstandsnester geben!« sagte Becker. »Irgend jemand muss sich doch wehren. Sie sind doch auch durchgekommen, und…« »Natьrlich gibt es den«, sagte Charity. Ihre eigenen Worte taten ihr leid, aber ihr fiel kein Weg ein, sie zurьckzunehmen. Sie war erschцpft und so gereizt wie Becker. Menschen in ihrer beider Zustand sollten nicht miteinander reden, dach­te sie. Laut sagte sie: »Es wird ьberall gekдmpft. Im Norden sind ein paar Bom­ben gefallen. Ich…« Sie blickte einen Moment auf die Karte, dann sah sie wieder Becker an. »Ich war bis jetzt der Meinung, Sie hдtten sie geworfen.« »Ich wollte, ich kцnnte es«, antwortete Becker grimmig. »Verdammt, ich wollte, nur ein Teil dieser beschissenen Knцpfe dort unten wьrde noch funktionieren. Ich wьrde diese verdammten Ungeheuer in die Galaxis zurьckbomben, aus der sie gekommen sind.« Charity verbiss sich eine Antwort. Becker machte es ihr sehr leicht, ihr schlech­tes Gewissen zu beruhigen. Auch wenn er ihr im Moment leid tat – er war im Grunde nichts als das Arschloch, fьr das sie ihn immer gehalten hatte. Und Mдnner wie er waren einmal der Garant fьr die Sicherheit dieses Landes gewe­sen! »Es gibt ьberall noch Widerstand«, knьpfte sie an ihre eigenen Worte an. »Aber ich glaube nicht, dass es noch lange dauern wird.« Becker starrte sie an, aber in Wahrheit schien sein Blick durch sie hindurchzu­gehen. Sie war nicht einmal sicher, ob er ihre letzten Worte ьberhaupt gehцrt hatte. »Wenn ich es nur verstehen kцnnte«, sagte er. Seine Stimme klang flach, fast tonlos. »Es ist so … so sinnlos. Kein Ultimatum. Keine Drohungen. Keine For­derungen – nichts. Warum tun sie das?« Vielleicht gab es keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht war der einzigeGrund dieses Ьberfalles auf eine ganze Welt der, sie zu vernichten, so entsetz­lich und absurd es klang. Vielleicht war es Gott, der gekommen war, um ihnen die groЯe Schlussrechnung zu prдsentieren, vielleicht die galaktischen Vettern der Wale, die sich fьr den Vцlkermord an ihren Brьdern revanchierten. Eine Er­klдrung war so gut und schlecht wie die andere. »Es tut mir leid, dass ich keine besseren Neuigkeiten mitbringe«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Aber das ist das, was ich erlebt habe. Mцglicherweise sieht es nicht ьberall so aus.« Ihre Worte waren nicht mehr als ein schwacher Versuch, Becker aufzumuntern. Er lдchelte dankbar, wenn auch nur sehr flьchtig. »Mцglicherweise«, sagte er. »Trotzdem mьssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Ich habe Vorkehrungen getroffen, die Station zu isolieren.« »Isolieren?« Charity hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, den Schrecken ganz zu verhehlen, den ihr Beckers Worte einjagten. »Isolieren«, bestдtigte Becker. »Glauben Sie nicht, dass wir hier unten absolut sicher sind, Captain Laird. Sie haben gesehen, was oben in der Schleusenkam­mer passiert ist.« »Trotzdem…« begann Charity, wurde aber sofort wieder von Becker unterbro­chen: »…habe ich gesagt, dass ich Vorkehrungen getroffen habe, Captain. Das heiЯt nicht, dass ich es auch tun werde. Im Moment sind wir hier unten noch sicher. Solange sich daran nichts дndert…« Er lieЯ das Ende des Satzes offen und breite­te statt dessen die Hдnde aus. Dann erhob er sich mit einem Ruck. »Lassen Sie sich ein Bett zuweisen, Charity, und schlafen Sie sich aus«, sagte er, mit vцllig verдnderter Stimme und sehr viel lauter, plцtzlich wieder der befehls­gewohnte, ьberlegene Kommandant, kein alter Mann mehr, der vor Angst halb wahnsinnig war. »Wir sind im Moment hier unten zwar etwas beengt, aber Sto­ne wird schon ein Quartier fьr Sie auftreiben. Wenn Sie sich ausgeruht haben, erwarte ich Ihren ausfьhrlichen Bericht.« Charity erhob sich und salutierte, aber Becker sah schon gar nicht mehr hin. Er lief so schnell aus dem Zimmer, dass es fast wie eine Flucht aussah. 30. November 1998 Stille. Das war das erste, was sie bewusst registrierte, als sie wieder erwachte: eine betдubende, tцdliche Stille, die sich ьber allem ausgebreitet hatte, so als hielte die ganze Welt den Atem an, und ein rцtliches, flackerndes Licht, das von sehr weit herkam und durch ihre geschlossenen Lider drang. Ein leichter Schmerz an der linken Hьfte – wie ein blitzschnelles Schlaglicht erinnerte sie sich, sich einfach zu Boden geworfen zu haben, beide Arme ьber dem Kopf ver­schrдnkt, eine rein instinktive und vцllig sinnlose Reaktion. Ein zweites Schlag­licht, fast schon rьhrend in seiner naiven Hilflosigkeit: ein alter Film aus den fьnfziger Jahren, Bilder von Menschen, die sich in den StraЯengraben warfen und Aktentaschen ьber den Kopf hielten, zum Schutz vor der Bombe. Lдcher­lich. Wieso lebte sie noch? Erst jetzt, als wдre diese Frage der Auslцser gewesen, erwachte sie wirklich. Der Schmerz in ihrer Hьfte verblaЯte zu einem leisen Pochen, sie spьrte, dass sie auf Glassplittern lag und aus einer kleinen Wunde im Gesicht blutete, die aber nicht weh tat. Irgendwo in ihrer Nдhe stцhnte jemand. Vorsichtig цffnete Charity die Augen. Sie war auf alles gefaЯt – einen verwьste­ten Tower, Flammen, verkohlte Leichen, den brodelnden Feuerpilz einer Bombe am Horizont – aber nichts von alledem war da. Es war sehr dunkel. Alle Lichter waren erloschen. Die einzige Helligkeit kam von den Flammen, die irgendwo drauЯen auf dem Flugfeld tobten und in deren Prasseln sich jetzt immer mehr Schreie und andere Gerдusche mischten. Aber keine Zerstцrung. Nicht die absolute Verheerung der Bombe. Unsicher stand sie auf. Sie erinnerte sich nicht, das Bewusstsein verloren zu ha­ben. Der Sturz konnte es kaum gewesen sein, denn sie war nicht besonders hart aufgeschlagen; vielmehr schien irgend etwas in ihr einfach abgeschaltet zu ha­ben, wie eine vцllig ьberlastete Sicherung. Das Stцhnen wurde lauter. Sie drehte sich herum, sah ein blasses, blutьberstrцm­tes Gesicht neben sich und erkannte, dass der Mann nicht schwer verletzt war, wohl aber heftig blutete. Ohne einen besonderen AnlaЯ sah sie auf die Uhr. Die Quarzanzeige war erloschen, aber die Zahl im Datumsfenster war noch weiter­gesprungen – es musste kurz nach Mitternacht sein. Sie hatten einen weiteren Tag geschenkt bekommen. Wieso funktionierte die Uhr nicht mehr? Irgendwie erschien ihr diese Frage plцtzlich ungemein wichtig, das letzte Stьck in einem gewaltigen Puzzlespiel, das alles erklдren mochte. Sie richtete sich vollends auf, sah sich nach Mike um und entdeckte ihn fast am anderen Ende des Kontrollraumes, wo er ьber einem stцhnenden Mann kniete und sich an ihm zu schaffen machte. Gleich neben ihm lag eine zweite, voll­kommen reglose Gestalt. Die Bombe hatte sie verfehlt, aber sie hatte trotzdem Opfer gefordert; nicht nur drauЯen auf dem Flugfeld. Der Gedanke brachte einen zweiten, sehr viel schlimmeren mit sich. Sie war schon auf dem halben Wege zu Mike, blieb aber dann wieder stehen und sah nach Osten. Die Stadt war verschwunden. Wo das von Menschenhand geschaffene Sternendiadem New Yorks auf dem Horizont glдnzen sollte, gдhnte ein gewaltiger Abgrund aus Schwдrze, als hдtte sich die Nacht aufgetan und die Millionenstadt einfach verschlungen. Zum er­sten Mal seit mehr als zweihundert Jahren herrschte an diesem Teil der nord­amerikanischen Kьste wieder die Nacht. Wie betдubt drehte sie sich herum und blickte auf das Flugfeld herab. Ein paar Feuer brannten, aber sonst war nichts zu hцren und zu sehen. Erst jetzt fiel ihr die Stille wirklich auf, vielleicht, weil sie allmдhlich ihren Grund begriff: Es war nicht das allumfassende Schweigen des Todes, sondern eine Stille, als wдre die Welt einfach abgeschaltet worden. Der gesamte Flugha­fen lag so still und gelдhmt da wie die Riesenstadt im Osten, wie vielleicht die­ses ganze Land, vielleicht die ganze Welt. Die Dimension dieses Gedankengan­ges war zu groЯ, als dass sie ihn sofort in voller Tragweite akzeptieren konnte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Sie fuhr aus ihren Betrachtungen hoch, drehte sich um und lдchelte, als sie Hardwell erkannte; dankbar, dass er sie in die Wirklichkeit zurьckgeholt hatte. Sie nickte. »Sie bluten.« »Ein Kratzer«, antwortete Charity abwertend. »Nichts gegen das, was uns hдtte passieren kцnnen, oder?« Ihre Worte schienen Hardwell zu irritieren. Er hatte es noch nicht begriffen. Er war ein intelligenter Mann, aber wie sie alle stand auch er noch unter dem Schock der Geschehnisse. Plцtzlich verdьsterte sich sein Gesicht. Er fuhr herum und begann zu brьllen: »Verdammt, wo bleibt das Licht? Wieso schaltet niemand diese beschissene Notbeleuchtung ein?!« »Weil sie nicht funktioniert, General«, antwortete eine Stimme aus der Dunkel­heit heraus. Es war Niles. Der hochgewachsene Schwarze kam langsam auf Hardwell und sie zu. In der Dunkelheit waren sein Gesicht und seine Hдnde kaum zu sehen. Irgendwo zwei Handbreit ьber dem Kragen seines Hemdes blitzte das WeiЯ seiner Zдhne. »Der Generator ist im Eimer«, fьgte er hinzu. »Verdammt, dann soll ihn jemand reparieren«, fauchte Hardwell. »Wir…« Er stockte, sah Niles verwirrt an und fragte: »Woher wollen Sie das wissen?« »Warum schauen Sie sich nicht um, General?« gab Niles zurьck. »Sehen Sie vielleicht irgendwo so etwas wie Licht?« Er lachte leise. »Wir haben die Trom­peten von Jericho ein bisschen zu frьh geblasen. Sie wollten uns nicht vernich­ten. Noch nicht.« »Aber…« Plцtzlich begann Niles zu schreien: »Verdammt, sind Sie so dдmlich, oder tun Sie nur so, General? Diese Bomben waren nicht dazu gedacht, uns zu vernich­ten! Sie haben uns entwaffnet.« »Niles!« sagte Charity scharf. Nicht, dass sie Niles nicht verstand. Seine Ruhe war so falsch und gespielt gewesen wie ihre eigene, und irgendwie musste wohl jeder auf seine Weise mit dem Unvorstellbaren zurechtkommen. Aber Schreien nutzte ihnen jetzt ьberhaupt nichts. Zu Hardwell gewandt, fuhr sie fort: »Lieutenant Niles hat recht, General. Ihr Notstromaggregat wird nicht funktio­nieren. Unsere Freunde vom Mars haben ihn gerade abgeschaltet.« Hardwell wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Was soll das hei­Яen?« Das wusste er ganz genau, dachte Charity. Aber er wollte es einfach nicht wis­sen. Sie deutete in die Richtung, in der New York im Schwarz der Nacht versunken war. »Das da, General. Sie sehen es doch.« Hardwells Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er endlich begriff. »Sie mei­nen…« »Ich meine«, unterbrach ihn Charity gereizt, »dass ganz genau das passiert ist, was Sie und Ihre Kollegen seit einem halben Jahrhundert befьrchtet haben. Die elektromagnetische Schockwelle der Bomben hat ihre ganze schцne Kriegselek­tronik zerstцrt.« Ja, dachte sie mьde, Niles hatte nur zu recht gehabt, und ver­dammt noch mal, sie hдtten es wissen mьssen. Die Fremden hatten sie entwaff­net, mit einem einzigen, gewaltigen Hieb, der hцchstwahrscheinlich die ganze Welt getroffen hatte. Jetzt, im nachhinein, gehцrte nicht einmal besonders viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, was passiert war: Die Bomben waren hoch genug gewesen, die Erdoberflдche durch ihre Explosi­on nicht in Mitleidenschaft zu ziehen, aber wahrscheinlich hatten sie alles vom Himmel gefegt, was sie in den vergangenen fьnfzig Jahren jemals dort hinaufge­schossen hatten, Beckers heiЯgeliebte SDI-Stationen und ihre russischen Gegen­stьcke ebenso wie jeden verdammten Wetter– und Nachrichtensatelliten, und hцchstwahrscheinlich auch die Orbitstadt, falls die Druckwelle ihr nicht einen Tritt verpasst und sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in Richtung Alpha Cen­tauri geschickt hatte. Die wirkliche, verheerende Wirkung dieser ungeheuerlichen Explosion von ьber fьnfhundert Wasserstoffbomben aber hatten die allermeisten Menschen wahr­scheinlich noch gar nicht begriffen, so wenig wie Hardwell, der sie noch immer aus groЯen Augen anstarrte und vergeblich darauf wartete, dass sie weitersprach. Wahrscheinlich saЯen sie jetzt ьberall auf der Welt im Dunkeln – so wie die zehn Millionen Ahnungslosen drьben in New York – und warteten darauf, dass die Lichter wieder angingen. Sie wьrden nicht wieder angehen. Der NEMP, das Schreckgespenst aller Nu­klearstrategen, die ungeheuerliche elektromagnetische Schockwelle einer Atom­explosion, hatte ihn ein fьr allemal abgeschaltet. Charity hatte keine Ahnung, wie stark er gewesen war, aber sie war sehr sicher, dass er – begonnen mit dem Mikrochip in ihrer Armbanduhr bis hin zum Norad-Computer unter den Rockys

– alles zerstцrt hatte, was auch nur entfernt nach Elektronik aussah. Und keiner von ihnen hatte bisher wirklich begriffen, was das bedeutete; sie selbst einge­schlossen. »Dann… dann mьssen wir die Generatoren reparieren«, stammelte Hardwell. »Wir haben Techniker hier, und…« »Sparen Sie sich die Mьhe«, unterbrach ihn Charity leise. »Da ist nichts mehr zu reparieren, General.« Begriff er denn immer noch nicht, dass hier nicht einfach nur ein paar Sicherungen durchgebrannt waren? »Schicken Sie Ihre Leute lie­ber in die Keller oder besser gleich in die Museen. Sie sollen nachsehen, ob ir­gendwo noch ein paar Rцhrengerдte herumstehen. Vielleicht funktionieren sie noch.« Hardwell schьrzte kampflustig die Lippen, aber Charity drehte sich einfach um und lieЯ ihn stehen, um endgьltig zu Mike hinьberzugehen. Niles schloss sich ihr an. Mike war mit seiner Erste-Hilfe-Aktion fertig, als sie neben ihm anlangten. Der Mann, den er versorgt hatte, sah ьbel aus. Seine Stirn und seine rechte Schlдfe waren eine einzige Wunde, und auf dem Radarpult, vor dem er lag, klebte ьber­all Blut. Aber er versuchte aus eigener Kraft auf die FьЯe zu kommen, und ir­gendwie schaffte er es sogar, sich in den Sessel hochzustemmen. »Er hat es immer noch nicht begriffen, wie?« Mike deutete mit einer Kopfbewe­gung auf Hardwell, der mit ьberschnappender Stimme nach irgend jemandem schrie, der sich gefдlligst um dieses verdammte Licht kьmmern sollte. »Doch«, antwortete Charity. Fьr einen ganz kurzen Moment fьhlte sie sich schwach und unsagbar allein, trotz der Nдhe all dieser Menschen. »Was tun wir?« fragte Niles. Mike sah ihn ratlos an. »Ich meine – bleiben wir hier?« »Nein«, antwortete Charity spцttisch. »Wir warten auf den nдchsten Bus und fahren zurьck in die Stadt, was denn sonst?« Niles' Blick war wie Eis, aber er erwiderte nichts, und Charity hatte das sichere Empfinden, dass es sehr klug von ihm war, so zu handeln. Sie war niemals un­beherrscht oder gar jдhzornig gewesen, aber im Augenblick hatte sie das Gefьhl, ihm schlicht weg an die Kehle springen zu mьssen, wenn er nur noch ein ein­ziges Wort sagte. GroЯer Gott –was sie tun sollten?! Was konnten sie tun? Nichts, verdammt noch mal. Und die Frage war auch gar nicht, was sie tun wьr­den, sondern vielmehr, was die anderen tun wьrden. »Du willst zurьck zu deiner Familie«, sagte Mike nach einer Weile. Er nickte, als Niles nicht antwortete. »Vielleicht wдre es das Klьgste.« »Zurьck nach New York?« Der Gedanke, in diese groЯe, finstere Stadt zurьck­zukehren, lieЯ Charity schaudern. Aber schlieЯlich hatte sie ja auch nicht Frau und Kind dort zurьckgelassen. »Und wie?« »Zu FuЯ, wenn es sein muss«, sagte Mike lakonisch. »Es ist weit, aber es hat ziemlich wenig Sinn, hier zu warten, nicht?« AuЯerdem kцnnte es hier bald verdammt ungemьtlich werden, dachte Charity. Der NEMP hatte den Menschenstrom, der aus der City hierher unterwegs war, sicher ein wenig aufgehalten, aber sie wьrden kommen, jetzt, wo sie glauben mussten, noch einmal eine kurze Gnadenfrist bekommen zu haben, und nur die allerwenigsten von ihnen wьrden begreifen, dass all diese Flugzeuge und Hub­schrauber auf dem Landefeld nie wieder aufsteigen wьrden. »Wir sollten Hardwell warnen«, sagte Mike leise. »Glaubst du, er weiЯ nicht, was passieren wird?« Charity schnaubte. »Der Mann ist kein Idiot.« Sie drehte sich um, sah aber nicht Hardwell an, sondern blickte an ihm vorbei auf den Flughafen hinaus, fast, als kцnne sie die gewaltige Men­schenmenge bereits sehen, die irgendwann in einer oder zwei Stunden dort auf­tauchen wьrde, ein tobender Mob, der wahnsinnig vor Angst war und einfach nur fliehen wollte. Sie musste an Landers und Terhoven denken, der Bellingers Stelle in ihrer Crew eingenommen hatte. Sie war sehr sicher, dass die beiden tot waren. Ihre Maschine musste im gleichen Augenblick vom Himmel gestьrzt sein wie alle anderen Fluggerдte. Und wenn sie noch lebten – nun, dann waren sie Hunderte von Meilen entfernt. Keine Chance, hierher zu gelangen, selbst wenn sie es wollten. Die Welt war wieder grцЯer geworden, in einer einzigen Sekun­de. Sehr viel grцЯer. Nein – es machte keinen besonderen Sinn mehr, auf sie zu warten. »Gehen wir«, sagte sie. Hardwell machte nicht einmal den Versuch, sie aufzuhalten. Charity hatte sogar das Gefьhl, dass er aus irgendeinem Grunde froh war, als sie zu ihm ging und ihm erklдrte, sie, Mike und Niles wollten versuchen, in die Stadt zurьckzugelan­gen. Aber er lehnte es auch ab, sie zu begleiten, oder auch nur einem seiner Mдnner die Erlaubnis dazu zu geben. Immerhin bestand er darauf, sie von einem halben Dutzend seiner Mдnner bis zum Highway eskortieren zu lassen. AuЯer­dem befahl er ihnen ihre Waffen mitzunehmen. Eine Viertelstunde spдter verlieЯen sie den Flughafen und wandten sich nach Osten. Sie sahen Hardwell niemals wieder. Die Welt war im wortwцrtlichen Sinne grцЯer geworden – aus dem kaum fьnf Minuten dauernden Flug nach La Guardia war ein fast achtstьndiger FuЯmarsch geworden, und Charity war lдngst mit ihren Krдften am Ende, lange bevor sie die Brьcke erreicht hatten und die Wolkenkratzer Manhattans vor ihnen lagen. Sie waren dem Highway gefolgt, was vielleicht nicht der kьrzeste, auf jeden Fall aber der sicherste Weg war. Ьberall auf der StraЯe sahen sie liegengebliebene Autos und Menschen, die nicht wussten, wohin sie eigentlich fliehen sollten. Erstaunlicherweise war es nicht zu einer allgemeinen Panik gekommen. An ein paar Stellen waren Brдnde ausgebrochen, und zwei– oder dreimal hatten sie Schьsse gehцrt. Die Stadt New York schien noch von einer tiefen Lдhmung be­fallen zu sein. Sehr viele Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen – es muss­ten Tausende sein, die ihnen im Laufe der Nacht entgegengekommen waren –, aber diese Massenflucht war nur eine Art hoffnungsloses Aufbдumen gegen das Schicksal. Der Atomschlag der Fremden hatte die Welt nicht vernichtet, er hatte sie paralysiert. Vielleicht fьr immer. Es wurde hell, als sie sich der City nдherten. Sie hatten den Highway schlieЯlich doch verlassen, einfach um den Weg abzukьrzen. Zwei der Soldaten, die Hard­well ihnen mitgegeben hatten, waren noch bei ihnen; sie hatten sich schlichtweg geweigert, zum Flughafen zurьckzugehen, und weder Charity noch Mike oder Niles hatten irgendwelche Einwдnde gehabt, sie mitzunehmen. Und niemand konnte es ihnen verьbeln, dass sie es vorzogen, am Leben zu bleiben. Charity war mьde. Ihr Rьcken schmerzte vom langen ungewohnten Laufen, und das Gewehr ьber ihrer linken Schulter schien eine Tonne zu wiegen. Sie hatten die Waffen nicht gebraucht, aber ihr Gewicht hatte ihr zumindest ein trьge­risches Gefьhl von Sicherheit gegeben. Sie blieb stehen, rieb frцstelnd die Hдnde aneinander und blies hinein, ohne das betдubende Kribbeln aus ihren Fingern vertreiben zu kцnnen. Die Kдlte war grausam. Im Jahrhundert der Zentralheizungen und Klimaanlagen vergaЯ man manchmal, dass der November schon fast zum Winter gehцrte, aber die vergan­genen Stunden hatten ihnen diese Tatsache sehr nachhaltig ins Gedдchtnis zu­rьckgerufen. Auch die Dunkelheit hatte ihr Fortkommen erschwert. Sie hatte vorher nicht gewusst, wie dunkel eine Nacht in einer Stadt sein konnte, in der sдmtliche Lich­ter ausgefallen waren. Jetzt begann es zu dдmmern. Der Himmel im Osten fдrbte sich grau, und das Licht verschaffte ihr wenigstens die Illusion, dass die grausame Kдlte ein wenig nachlieЯ. Die Skyline Manhattans tauchte allmдhlich aus der Nacht auf, wie eine titanische Riesenhand mit zu vielen und zu eckigen Fingern, die irgendwie an­klagend gegen den Himmel ausgestreckt zu sein schienen. Sie wirkten abgestor­ben, selbst jetzt noch, als sich das erste Licht auf den glдsernen Fassaden der Hausgiganten brach und diese entsetzliche Finsternis endgьltig zu vertreiben begann. So tot wie… Ja – wie diese ganze Gegend, dachte Charity. Erst jetzt fiel ihr die Totenstille auf. Keine Menschen mehr, keine Gerдusche. »Was ist los?« Mike sah sie fragend an. Charity zuckte mit den Achseln und warf ihm einen zugleich hilflosen wie warnenden Blick zu. Niles und die beiden Soldaten waren ebenfalls stehen geblieben. Einer der Mдnner nahm seine M16 von der Schulter und entsicherte sie. Das metallische helle Klicken hallte un­heimlich verzerrt von den Wдnden der StraЯenschlucht wider. »Nichts«, antwortete Charity mit einiger Verspдtung auf Mikes Frage. »Aber es ist zu still.« »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte der Soldat, der sein Gewehr entsichert hatte. Charity nickte. Es ьberraschte sie nicht, nicht allein mit diesem mulmigen Ge­fьhl zu sein; und sie war jetzt sehr sicher, dass es keine Einbildung war. Sie hatte oben im Sternenschiff, zusammen mit Soerensen ein дhnliches Gefьhl gehabt. Auch der zweite Soldat nahm jetzt seine Waffe von der Schulter, und einen Au­genblick spдter folgten Niles, Mike und Charity seinem Beispiel. Sehr vorsichtig gingen sie weiter. Die StraЯe erweiterte sich vor ihnen zu einem ovalen, langge­streckten Platz. Alles, was weiter als zwanzig oder dreiЯig Schritte entfernt war, lag noch in Dunkelheit getaucht. Wieder, wenn auch diesmal nur fьr Sekunden, empfand Charity dieses sonderbare Gefьhl. Dann gewцhnten sich ihre Augen an die verдnderten Lichtverhдltnisse, und sie sah, was sie bisher nur gespьrt hatte. Sie waren da. Fьr drei, vier, fьnf endlose Sekunden war dieser Gedanke alles, was sie denken konnte; eine bloЯe Feststellung, von einem lдhmenden Schrecken begleitet: Sie waren da. Es waren drei – zwei der gigantischen, kдferartigen Kreaturen, die sie in der Vi­deoaufzeichnung gesehen hatte, und noch ein drittes, irgendwie unfцrmiges Un­geheuer, sehr viel grцЯer als die Kдfer, das sich aber nicht weit genug aus dem Schutz der Dunkelheit hervorwagte, als dass Charity es genau erkennen konnte. Sie war auch nicht sehr versessen darauf. Die angedeutete Bewegung und die schattenhaften, kantigen Umrisse, die sie sah, waren mehr als genug fьr ihren Geschmack. Die Tore der Hцlle hatten sich geцffnet und spien ihre Ungeheuer aus. »Jesus!« flьsterte Niles neben ihr. »Was in Gottes Namen ist das?« Charity warf ihm einen raschen, mahnenden Blick zu, gleichzeitig wich sie ein paar Schritte in die StraЯe zurьck und presste sich enger gegen die Wand. Sie betete, dass keines der Insektenmonster zufдllig in ihre Richtung geblickt hatten. Aus den Augenwinkeln sah sie eine weitere Bewegung in den Schatten auf der anderen Seite des Platzes: eine kleinere, schlanke Gestalt mit zu vielen Armen und einem Gesicht wie aus gehдmmertem schwarzem Stahl trat neben einen der elefantengroЯen Kдfer und begann sich an ihm zu schaffen zu machen. Plцtzlich hatte sie Angst. Ganz entsetzliche Angst. Trotzdem funktionierte ein Teil ihres Verstandes noch mit der gewohnten Prдzi­sion, jener Teil, den sie in langen Jahren erbarmungslosen Trainings ausgebildet hatte und der ihr jetzt wie ein gefьhlloser Computer erklдrte, dass sie sich nicht nur in akuter Lebensgefahr befanden, sondern vielleicht auch eine einmalige Chance hatten. Wenn es ihnen gelang, diese drei Monster dort drьben auszu­schalten; vielleicht sogar ihren Reiter lebend in die Hдnde zu bekommen… Sie lieЯ sich selbst keine Zeit, eines der zahllosen Argumente zu ьberdenken, die dagegen sprachen, sondern sah fragend zu Mike hinьber. »Schnappen wir sie uns?« Mike erblasste, aber er nickte trotzdem, und zu ihrer Erleichterung erkannte sie auch auf den Gesichtern der beiden Soldaten nur Angst, nicht dieses lдhmende Entsetzen, das sie befьrchtet hatte. Aber sie wussten ja auch nicht, was sie da vor sich hatten; anders als Mike und Niles sahen sie diese Ungeheuer zum ersten Mal. Wahrscheinlich waren sie einfach nur verwirrt. Niles deutete auf die Hдuser auf der anderen Seite des Platzes. »Ich versuche es dort«, sagte er. »Vielleicht kann ich mich in ihren Rьcken schleichen, ohne dass sie es bemerken.« Charity nickte, hielt ihn aber zurьck, als er loslaufen wollte. »Wie verstдndigen wir uns?« »Gar nicht«, knurrte Miles. »Ich warte, bis ihr anfangt zu schieЯen.«

»Okay. Nimm einen der Mдnner mit. Und passt auf – es kцnnen noch mehr Ka­kerlaken da sein.« Niles nickte, winkte einen der Soldaten zu sich heran und deutete mit dem Lauf seines Gewehres nach oben. Charity begriff. Offensichtlich hatte er vor, sich ьber die Dдcher an die Insektenmonster heranzuarbeiten. Sie zogen sich ein Stьck weiter in den Schutz der StraЯe zurьck, wдhrend Niles und sein Begleiter in einem Haus verschwanden. Charity schдtzte, dass sie min­destens fьnf Minuten brauchen wьrden, um ihre Positionen einzunehmen. Sie sah auf die Uhr, entschloss sich, ihnen die doppelte Frist zu gewдhren und ver­drьckte sich in einen Hauseingang. Mike folgte ihr, wдhrend der Soldat am Fu­Яende der Treppe zurьckblieb, das Gewehr im Anschlag. »Seltsam«, sagte Mike plцtzlich. Charity sah ihn an. »Was?« »Das da.« Mike deutete auf den Soldaten. »Das hier ist ein historischer Augen­blick, nicht?« Er lachte spцttisch. »Der erste Kontakt zwischen Menschen und einer auЯerirdischen Lebensform. Und was tun wir? Wir schieЯen auf sie.« »Es ist nicht der erste Kontakt«, widersprach Charity unwillig. GroЯer Gott, worauf wollte er hinaus? »Der erste Kontakt fand am Nordpol statt«, fьgte sie hinzu. »Leider kцnnen wir die Ьberlebenden nicht mehr fragen, wie er genau ausgesehen hat!« »Trotzdem ist es Wahnsinn«, beharrte Mike. »Wir sollten… wenigstens mitein­ander sprechen, statt aufeinander zu schieЯen.« Charity erwiderte nichts, sondern starrte zum hundertsten Male auf ihre kaputte Uhr und дrgerte sich, dass sie es schon wieder vergessen hatte. Sie versuchte einzuschдtzen, wie lange Niles und der Soldat schon weg waren, und gestand sich mit einem leisen Gefьhl von Erschrecken ein, dass sie es nicht konnte. Und vielleicht hat auch er recht, wisperte eine dьnne, aber sehr aufdringliche Stimme hinter ihrer Stirn. Wir waren es, die ihr Schiff dort oben im All quasi gekapert haben. Wir waren es, die Soldaten und Bomben zum Nordpol geschafft haben. Wir haben Raketen mit Atomsprengkцpfen auf ihr Schiff gerichtet. Plцtzlich wurde irgendwo ьber ihr ein Fenster geцffnet, sehr vorsichtig, aber doch nicht so leise, dass sie es nicht gehцrt hдtte. Sie sah auf und erblickte einen schlanken, schwarzen Arm, dann ein dunkles Gesicht, das auf die StraЯe hinun­terblickte. Charity erschrak, gleichzeitig packte sie Zorn. Niles schien es darauf angelegt zu haben, von den AuЯerirdischen entdeckt zu werden. Immerhin war Niles umsichtig genug, nicht nach ihnen zu rufen, sondern ihnen nur mit Gesten zu verstehen zu geben, dass sie zu ihm kommen sollten. Charity presste дrgerlich die Lippen aufeinander. Was zum Teufel tat er da? Sie hatte ihn auf dem halben Wege zum anderen Ende des Platzes gewдhnt. Die Vorstellung, einen Angriff – ganz egal, gegen wen – zu fьhren und sich auf eine Rьckendek­kung zu verlassen, die es nicht gab, gefiel ihr nicht. Trotzdem zцgerte sie nur noch einen Moment, sich aus ihrer Deckung zu lцsen und zusammen mit Mike und dem zweiten Soldaten zu der Tьr zu laufen, in der Niles und sein Begleiter verschwunden waren. Fьr zwei, drei endlose Sekunden waren sie ohne Deckung. Aber sie hatten Glьck: Alles blieb still. Mike deutete mit dem Lauf seiner Maschinenpistole in den Hausflur hinein. Hier drinnen herrschte noch Nacht, die das bisschen dunkelgrauer Dдmmerung, das durch die Tьrritzen und das Fenster hereinsickerte, schon nach wenigen Schrit­ten aufsog. Immerhin konnte sie weit genug sehen, um zu erkennen, dass sich der Flur vor ihnen teilte, einer fьhrte weiter ins Gebдude hinein, der andere zu einer Treppe. Dann hцrte sie plцtzlich Gerдusche: Schritte und ein gedдmpftes Flьstern. Hintereinander stьrmten sie die Treppe hinauf. Die Stimme, die sie gehцrt hat­ten, gehцrte Niles – er kam ihnen entgegen, kaum dass sie das erste Stockwerk erreicht hatten. »Verdammt, Niles – was fдllt dir ein?« empfing ihn Charity. »Du solltest lange schon –« »Sie sind alle tot«, unterbrach sie Miles. Charity erstarrte. Neben ihr atmete Mike scharf ein, wie unter einem kurzen, jд­hen Schmerz. Entsetzt starrte sie Niles an. "Wer ist tot?« fragte sie, obwohl sie die Antwort lдngst wusste. Niles' Stimme zitterte deutlich, als er antwortete. »Alle, Laird. Alle, die hier… hier gelebt haben. Sie…« Charity ging an ihm vorbei und stieЯ mit einem FuЯ­tritt die Tьr vor sich auf. Dahinter lag eine kleine schдbige Wohnung, die nur aus einem einzigen Zimmer bestand. Hier war es heller als drauЯen auf dem Flur, so dass Charity die grausige Szene in allen entsetzlichen Einzelheiten er­kennen konnte. Es waren vier – ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Die beiden Mдdchen la­gen unter dem leblosen Kцrper ihrer Mutter begraben, als hдtte sie noch sterbend versucht, sie mit ihrem eigenen Leib vor dem zu schьtzen, was sie umgebracht hatte. Der Mann lag ein Stьck abseits, mit dem Gesicht nach unten und in son­derbar verkrьmmter Haltung, die ausgestreckte rechte Hand um ein Stuhlbein gekrallt. Er war der einzige, der nicht aussah, als schliefe er bloЯ.»Es ist ьberall dasselbe«, sagte Niles hinter ihr. »Ьberall im … im Haus. Es mьssen Dutzende sein.« Charity ging zцgernd weiter, blickte einen Moment auf die tote Frau und die beiden Mдdchen hinab und kniete dann neben dem Leichnam des Mannes nie­der. Obwohl – oder vielleicht gerade weil? –man ihm als einzigen ansah, dass er auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen war, brachte sie es einfach nicht ьber sich, die Leichen der beiden Kinder oder der Frau zu berьhren. Sie gab Mike ein Zeichen, an der Tьr aufzupassen, legte die Maschinenpistole aus der Hand und versuchte, den Leichnam auf den Rьcken zu drehen. Er war erstaunlich schwer, und selbst, als sie es geschafft hatte, seine Hand von dem Stuhlbein zu lцsen, bereitete es ihr erhebliche Mьhe, ihn auf den Rьcken zu wдl­zen. Sein Gesicht war schlaff, ohne irgendeine Spur von Schrecken oder Schmerz, so, als wдre er einfach nur eingeschlafen, nein, nicht einmal das: so, dachte sie entsetzt, als hдtte man ihn einfach abgeschaltet, wie eine Maschine, die nur zufдllig aus Fleisch und Blut bestand. Sie unterdrьckte ihren Widerwillen, beugte sich tiefer ьber den Toten und unter­suchte ihn auf Verletzungen hin. Sie fand nichts. Keine Wunden, mit Ausnahme eines Kratzers an der Stirn, den er sich beim Sturz zugezogen haben mochte, nichts, was ihr irgendwie verriet, wie dieser Mann ums Leben gekommen war. Schaudernd richtete sie sich auf und beugte sich nun doch ьber die tote Frau. Sie versuchte fast krampfhaft, die beiden toten Mдdchen nicht anzusehen, konnte aber nicht vermeiden, dass ihr Blick das Gesicht des дlteren Kindes streifte. Es war so schlaff wie das seines toten Vaters, die Zьge hatten denselben, leeren Ausdruck. Als sie den Arm der toten Frau anhob, rollte der Leichnam von den beiden klei­neren Kцrpern herunter, mit einem sonderbaren, sehr unangenehmen Gerдusch. Fast, dachte sie, und allein bei dem bloЯen Gedanken zog sich ihr Magen zu ei­nem einzigen Schmerz zusammen, fast, als gдbe es in diesem ganzen toten Kцr­per keinen einzigen Knochen mehr, der nicht zehnmal gebrochen worden ist. Aber auch der Kцrper der Frau wies keine erkennbaren Verletzungen auf. Mit einer hastigen Bewegung stand Charity auf, bьckte sich nach ihrer Waffe und wandte sich zu Niles um. »Sieht es … ьberall so aus?« Niles nickte. Mike deutete auf die Tьr, die Charity aufgetreten hatte. »Sie war abgeschlos­sen«, sagte er. »Von innen. Du weiЯt, was das bedeutet?« Charity nickte. Was immer diese Leute umgebracht hatte, es war nicht durch die Tьr oder die Fenster hereingekommen, sondern hatte sie laut– und warnungslos und wahrscheinlich sehr schnell getцtet, irgendeine entsetzliche Art von… von Strahlenwaffe vielleicht, die dieses Haus und wahrscheinlich auch die angren­zenden Gebдude getroffen und alles Leben ausgelцscht hatte. Welcher Natur diese entsetzliche Waffe auch immer war, dachte sie bitter, ihre Wirkung hдtte die Erfinder der Neutronenbombe in schiere Verzьckung versetzt. Die Wohnung war nicht im mindesten in Mitleidenschaft gezogen worden; nicht einmal ein einziges Glas war zerbrochen. Aber sie war sehr sicher, dass es in diesem Haus kein Leben mehr gab. Plцtzlich hatte sie gar keine Angst mehr. Alles, was sie noch spьrte, war Zorn. Ein so kalter, entschlossener Zorn, dass sie sich fast ein wenig davor fьrchtete. »Gehen wir«, sagte sie. DrauЯen war es mittlerweile ein wenig heller geworden, ansonsten hatte sich nichts verдndert. Die beiden elefantengroЯen Kдfer hockten noch immer reglos da, erstarrt wie schrecklich groЯe, schrecklich hдssliche Statuen, und auch das dritte Riesenwesen hatte sich nicht bewegt. Charitys Aufmerksamkeit galt dem vierten, fast-humanoiden Lebewesen, das sich zwischen den drei chitingepanzerten Giganten bewegte. Es war eindeutig eine Kreatur der Art, wie sie sie auf dem Videoband gesehen hatten. Die Gestalt war ein gutes Stьck grцЯer als ein Mensch, aber so dьrr, dass sich Charity un­willkьrlich fragte, wieso es nicht beim ersten Windzug, der es traf, einfach in der Mitte durchbrach. Die vier Arme, die in bestдndiger Bewegung waren, ver­liehen diesem Wesen geradezu groteske Zьge. Die Bewegungen erinnerten an eine Spinne, sie waren flink und abrupt und sehr zielbewusst. Wahrscheinlich war das Wesen hцllisch schnell, wenn es sein musste. Charity hatte nicht vor, ihm die Chance zu geben, diese Vermutung unter Be­weis zu stellen. Ruhig visierte sie den Kopf der Kreatur an, senkte den Lauf der MP um eine Winzigkeit, drьckte ganz automatisch auf den Auslцser der Zielsuchautomatik und fluchte lautlos in sich hinein, als der kleine rubinrote Laserpunkt nicht kam. Die Entfernung war nicht besonders groЯ – zwanzig, allenfalls fьnfundzwanzig Meter, aber eine MP war keine Waffe, mit der man besonders prдzise schieЯen konnte, und wahrscheinlich wьrde sie keinen zweiten Schuss haben, wenn der erste nicht traf. Und sie hatte Mike und den anderen ausdrьcklich verboten, auf dieses Wesen zu schieЯen. Sie brauchten es lebend. Trotzdem – sie musste es riskieren. Langsam, Millimeter fьr Millimeter, senkte sie den Lauf der MP weiter. Das Zentrum des winzigen Fadenkreuzes vor ihrem rechten Auge glitt am schimmernden Chitinpanzer des Sternenwesens herab, verharrte einen Moment auf seiner Hьfte und pendelte sich dann auf das ein, was sie fьr sein rechtes Knie hielt. Ihre Finger berьhrte den Abzug, fand den Druckpunkt und verharrte noch einmal. Sie war nervцs. Ihre Hдnde zitterten. Aber sie wusste, dass es nicht besser werden wьrde, wenn sie wartete. Im Ge­genteil. Sie drьckte ab. Der peitschende Knall beendete die trьgerische Ruhe schlagartig, die sich ьber dem Platz ausgebreitet hatte, und plцtzlich geschah alles gleichzeitig und zehn­mal schneller, als Charity sich in ihren schlimmsten Befьrchtungen ausgemalt hatte. Von den Dдchern der gegenьberliegenden Hдuser herab begannen Mike und die beiden Soldaten zu schieЯen, und zwei Meter neben ihr stieЯ Niles' Waf­fe eine grelle Feuerzunge aus, aber sie zwang sich, alles andere zu ignorieren und das Zielfernrohr wieder auf den Vierarmigen zu richten. Ihr Schuss hatte getroffen. Das Wesen war zu Boden gestьrzt und umklammerte mit zwei seiner vier Hдnde sein zerschossenes Bein. Aber es war keineswegs ausgeschaltet. Unter seiner grotesken Maske drangen hohe, pfeifende Tцne her­vor, und in seinen beiden ьbrigen Hдnden lagen plцtzlich zwei der kleinen Me­tallstдbe, die Charity von der Videoaufnahme her kannte. Sie fluchte, zielte erneut und drьckte ab, aber diesmal traf sie nicht. Einen hal­ben Meter neben dem Insektenwesen schlugen Funken aus dem Asphalt der StraЯendecke, im gleichen Augenblick jagte etwas ьber Charitys Kopf und riss ein faustgroЯes Stьck aus der Wand hinter ihr. Verletzt oder nicht, das Wesen da unten schoss verdammt gut. Sehr viel besser als sie. Auf dem Platz tцnte ein schriller, durch und durch unmenschlicher Schrei, ein Kreischen wie von zerbrechendem Stahl, und als Charity vorsichtig den Kopf ьber den Rand ihrer Deckung hob, sah sie, dass einer der Riesenkдfer zusam­mengebrochen war. Mike und die beiden Soldaten konzentrierten ihr Feuer jetzt auf das andere Insektenungeheuer, wдhrend Niles mit verbissenem Gesicht Schuss auf Schuss auf das dritte Ungeheuer abgab, das ziellos im Kreis herum­rannte. Charity sah, dass er fast jedesmal traf, aber sie sah auch, dass die aller­meisten seiner Geschosse einfach von der Panzerung der auЯerirdischen Bestie abprallten. Trotzdem dauerte es nur noch Sekunden. Der zweite Riesenkдfer brach zusam­men, und schlieЯlich zersplitterte auch die Panzerung des letzten Monsters im konzentrierten Feuer der vier Maschinenpistolen. Charitys MP blieb die ganze Zeit hindurch auf den Vierarmigen gerichtet. Aber sie schoss nicht. Die beiden oberen Hдnde des AuЯerirdischen umklammerten noch immer seine beiden Waffen, er schien jedoch begriffen zu haben, dass sein nдchster Schuss sein letz­ter war. Niles hцrte erst auf zu feuern, als ihm die Munition ausging. Mit grimmigem Gesichtsausdruck schob er ein frisches Magazin in die Waffe, richtete sich vol­lends hinter dem Fenster auf und nahm den Vierarmigen ins Visier. Er feuerte, ehe Charity auch nur begriff, was er vorhatte. »Wenn er das nicht begriffen hat, ist ihm nicht zu helfen«, sagte er. »Geh. Ich halte ihn in Schach.« Sie nickte, schwang sich mit einer flieЯenden Bewegung ьber das Fensterbrett und sprang die drei Meter bis zur StraЯe hinunter. Fьr einen Moment war sie hilflos, als sie das Gleichgewicht verlor und sich abrollen musste, um nicht vom Schwung ihrer eigenen Bewegung von den FьЯen gerissen zu werden, aber Ni­les drohend aus dem Fenster zielende Waffe tat ihre Wirkung: der gepanzerte Kopf des AuЯerirdischen drehte sich zwar wie ein schrecklicher schwarzer Ro­boterschдdel und folgte ihrer Bewegung, aber er schoss nicht. Zu leicht, dachte Charity. Das war einfach zu leicht! Seit ihrem ersten Schuss auf den AuЯerirdischen war nicht einmal eine Minute vergangen. Charity konnte nicht glauben, dass es so einfach sein sollte, mit einem Angreifer fertig zu wer­den, der eine ganze Welt gelдhmt hatte. Vorsichtig nдherte sie sich der schwarzbraun gepanzerten Gestalt, wobei sie ei­nen respektvollen Bogen um einen der toten Riesenkдfer schlug, der wie ein umgestьrzter Lastwagen auf der StraЯe lag. Er ist tatsдchlich so groЯ wie ein LKW, dachte sie unglдubig. Plцtzlich war sie Hardwell sehr dankbar dafьr, dass er darauf bestanden hatte, ihnen die Waffen mitzugeben. Mit der kleinen Pistole, die zu ihrer normalen Uniform gehцrte, hдtte sie nicht viel gegen diese zwцlf­beinigen Monster ausrichten kцnnen. Der Vierarmige begann sich zu regen, als sie nдher kam, sehr langsam, fast ьbervorsichtig, als wisse er ganz genau, dass eine zu hastige Bewegung sein En­de bedeutete. Die beiden klobigen Silberstдbe glitten aus seinen Hдnden und polterten zu Boden. Charity umkreiste ihn, stieЯ die Waffen mit der FuЯspitze davon und setzte die Mьndung der MP direkt auf seinen Brustpanzer. Die Bewegungen des Wesens hцrten abrupt auf. Nur die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen seiner Mas­ke glitzerten Hasserfьllt. »Okay, Freund«, sagte Charity laut. »Ich weiЯ nicht, ob du mich verstehst, aber wenn, dann tust du besser nichts, was mich nervцs machen kцnnte. Ich will dich nicht umbringen, aber ich habe auch keine besondere Lust, von dir umgebracht zu werden.« Sie bezweifelte, dass das Wesen die Worte verstand, aber es begriff sehr wohl die Bedeutung der Waffe, die auf seine schmale Brust zielte. Charity wartete noch eine Sekunde, dann hob sie den linken Arm und winkte Niles, zu ihr herun­terzukommen. Sie widerstand der Versuchung, den Blick zum Dach zu heben und nach Mike und den beiden Soldaten zu sehen. Irgendwie hatte sie das sehr sichere Gefьhl, dass es besser war, diesen spinnengliedrigen Alien nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Zu leicht. Viel zu leicht. Niles sprang auf die StraЯe herunter und im gleichen Augenblick griff der Fremde an. Charity hatte sein Gesicht und seine Hдnde keinen Moment aus den Augen ge­lassen, aber es war kein Mensch, den sie niederhielt, und sie hatte – so absurd es klang – einfach vergessen, dass er mehr als zwei Hдnde besaЯ. Sein oberes Arm­paar rьhrte sich nicht, aber seine dritte Hand schlug mit der Gewalt eines Dreschflegels gegen den Lauf ihrer MP und schmetterte ihr die Waffe einfach aus der Hand, wдhrend seine vierte Klaue sich um ihr FuЯgelenk schloss. Ein entsetzlicher Ruck brachte sie aus dem Gleichgewicht und warf sie nach hinten, und fast im gleichen Augenblick war das Wesen ьber ihr, mit der Schnel­ligkeit einer ьbergroЯen Spinne – und ihrer Kraft. Charity keuchte vor Schrecken und Schmerz, als sie spьrte, wie ьbermenschlich stark diese so lдcherlich dьrren GliedmaЯen waren. Ihre Arme wurden zur Seite gedrьckt wie die eines Kindes, das mit einem Erwachsenen kдmpft, und fast gleichzeitig schloss sich das zweite Handpaar des AuЯerirdischen um ihre Kehle. Ein einzelner Schuss krachte, und ein unsichtbarer Hammerschlag schien den Brustpanzer des Fremden zu treffen. Splitter von schwarzem Chitin ьberschьtte­ten Charity, dann kippte das groteske Wesen in einer fast gemдchlichen Bewe­gung zur Seite und glitt von ihr herab. Charity richtete sich benommen auf, tastete nach ihrem Hals und verzog die Lippen, als sie die blutigen Kratzer fьhlte, die schon die erste, fast flьchtige Be­rьhrung der schrecklichen Krallen in ihre Haut gerissen hatten. Eine halbe Se­kunde spдter… »Alles in Ordnung?« fragte Niles. Sie nickte, warf ihm einen dankbaren Blick zu und beugte sich ьber den toten AuЯerirdischen. Trotz aller Erleichterung war sie enttдuscht – sie hдtte viel dar­um gegeben, dieses Wesen lebend in die Hдnde zu bekommen. Es wдre so wich­tig gewesen! »Tut mir wirklich leid, Laird«, sagte Niles. »Aber ich hatte keine andere Wahl.« Das entspricht sogar der Wahrheit, dachte Charity. Ein paar Sekunden spдter, und das Wesen hдtte ihr das Genick gebrochen. Sie hatte kein Recht, zornig auf Niles zu sein. Es spielte keine Rolle, ob er das, was er getan hatte, wollte oder nicht. Immerhin hatte er ihr das Leben gerettet. Mьhsam plagte sie sich, beugte sich ьber den AuЯerirdischen und betrachtete ihn genauer. Niles' Schuss hatte seinen Brustpanzer zerfetzt und ein fast teller­groЯes Loch in das Rьckenteil seiner sonderbaren Rьstung gerissen, aber sie entdeckte erstaunlich wenig Blut. Mit zitternden Hдnden versuchte sie, die glatte schwarze Maske zu lцsen, die das Gesicht des AuЯerirdischen verbarg. Es gelang ihr, denn sie war nur mit ei­ner primitiven Klammer am Rest des glдnzenden Helmes verbunden. Darunter kam ein schmales, trotz aller Fremdartigkeit beinahe menschliches Gesicht zum Vorschein. Die Natur schien auf dem Heimatplaneten dieses Wesens in groben Zьgen die gleiche Entwicklung eingeschlagen zu haben wie auf der Erde; die Kreatur hatte zwei Augen, eine Art flacher Nase und einen breiten, fast lippenlo­sen Mund, der im Tode offenstand und eine Doppelreihe sehr kleiner, stumpfer Zдhne zeigte. Mattglдnzendes braunes Fell bedeckte das Gesicht des Fremden. Auch seine Augen wirkten beinahe menschlich. Mit Ausnahme seiner sechs GliedmaЯen war dieses Wesen wirklich fast humanoid zu nennen. Dann nahm Charity die Waffe des Fremden zur Hand. Sie war sehr schwer, und es war eigentlich nur ein plumper Metallstab mit einem kompliziert aussehenden Verschluss an der einen und einem pennygroЯen runden Loch an der anderen Seite. Charity spьrte ein rasches Vibrieren, als sie das silberglдnzende Metall berьhrte, und sie glaubte einen Laut zu hцren, ein Summen, das sehr beunruhi­gend auf sie wirkte. Niles trat nervцs zur Seite, als sie die Mьndung der Waffe versehentlich in seine Richtung hielt. Charity lдchelte entschuldigend, legte den Silberstab behutsam wieder aus der Hand und richtete sich auf. »Wir nehmen den ganzen Kram mit«, sagte sie. »Die Waffen und den Leichnam.« Sie sah sich angespannt um. »Ich mцchte nur wissen, was sie hier gewollt haben.« Mike und die beiden Soldaten kamen zurьck. Mikes Gesicht verdьsterte sich, als er nдher kam und die allmдhlich grцЯer werdende Blutlache sah, in der der Fremde lag. »Ist er tot?« Charity nickte. »Verdammt«, sagte Mike. »Wir hдtten ihn lebend gebraucht.« »Niles hatte keine andere Wahl«, sagte Charity hastig. »Dieses Ding war dabei, mir den Kopf abzureiЯen.« Sie schnitt ihm jede Antwort, die er hдtte geben kцn­nen, mit einer befehlenden Handbewegung ab und deutete auf das Haus, aus dem er und die beiden anderen gekommen waren. »Irgend etwas Besonderes da drinnen?« fragte sie. Mike schьttelte den Kopf. »Nur Tote«, sagte er. »Und…« Und um ein Haar wдren dies die letzten Worte seines Lebens gewesen. Hinter ihm, auf der anderen Seite des Platzes цffnete sich eine Tьr, und ein riesiges Wesen mit vier Armen trat aus dem Haus heraus. Charity schrie auf, riss ihre Waffe in die Hцhe und versetzte Mike gleichzeitig einen StoЯ, der ihn haltlos zur Seite taumeln und auf die Knie herabfallen lieЯ. Charity und der Fremde schцssen gleichzeitig. Das Krachen ihrer Maschinenpi­stole verschluckte den dumpferen, leiseren Knall der Waffe des anderen, aber einen halben Schritt vor ihr, genau dort, wo Mike vor einer Sekunde noch ge­standen hatte, prallte ein sonderbares Geschoss mit entsetzlicher Wucht gegen den Boden und spritzte auseinander. Charity lieЯ sich zur Seite kippen und hielt den Abzug dabei durchgedrьckt. Ei­ne MP-Salve raste auf den Fremden zu, jagte funkensprьhend ьber die Wand neben ihm – und verwandelte seinen Panzer in eine Wolke schwarzer Splitter. Mit einem schrillen, schmerzhaft hohen Schrei stьrzte das Wesen nach hinten und verschwand wieder in dem Haus, aus dem es gekommen war. Und trotzdem hatte es getroffen. Der Soldat, der unmittelbar neben Mike gestanden hatte, wankte plцtzlich. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck unertrдglichen Schmerzes. Er lieЯ die Waffe fallen, machte einen halben taumelnden Schritt und hob die Hдnde an die Brust. Dann brach er lautlos zusammen. Sein Rьcken war eine einzige, riesige Wunde. Charity wartete nicht, bis Mike wieder auf die FьЯe gekommen war, sondern rannte los. Sie hatte recht gehabt, dachte sie verzweifelt! Es war zu leicht gewe­sen – und sie hatten sich wie blinde Anfдnger benommen. Sie erreichte das Haus, setzte mit einem gewaltigen Sprung ьber die Leiche des Vierarmigen hinweg, der die Tьr blockierte, und kam mit einer Rolle wieder auf die FьЯe. Etwas Dunkles, Glitzerndes floh vor ihr in die Dдmmerung, dann hцrte sie klackende, rasend schnelle Schritte. Sie rannte los, blieb noch einmal stehen, verschwendete fьnf, sechs kostbare Sekunden damit, das Magazin ihrer Waffe zu wechseln, und lief weiter, im gleichen Augenblick, in dem Mike und die bei­den anderen hinter ihr ins Haus stьrmten. Sie hцrte Schritte des Fremden noch immer, obwohl sie sich rasend schnell ent­fernten; ihre Sinne schienen mit ьbernatьrlicher Schдrfe zu arbeiten. Hastig be­fahl sie Mike zu sich heran und gab Niles und dem anderen Soldaten einen Wink. »Nach links – versucht ihn zu umgehen. Und passt auf. Es kцnnen noch mehr da sein!« Die Bemerkung war vermutlich ьberflьssig. Nach dem, was dem unglьckseligen Trooper passiert war, wьrde Niles wahrscheinlich ohnehin erst schieЯen und dann nachsehen, was er getroffen hatte. Charity hoffte nur, dass es keiner von ihnen war. Sie stьrmten weiter. Die Schritte des Spinnenarmigen waren jetzt nicht mehr zu hцren, aber sie hatte sich die Richtung gut eingeprдgt, aus der sie gekommen waren. Und das Haus war nicht besonders groЯ – entweder, das Wesen hatte es durch eine Hintertьr verlassen, oder… Es hatte nicht. Charity stьrmte durch eine offenstehende Tьr, warf sich automa­tisch zur Seite – und erstarrte. Hinter der Tьr musste eine der gleichen, дrmlichen Wohnungen gelegen haben, wie sie sie oben gefunden hatten, aber jetzt erstreckte sich vor ihr ein wahres Trьmmerfeld. Die Wдnde zu den Nachbarwohnungen waren verschwunden, so sauber herausgeschnitten wie mit einem groЯen Messer. Von der Decke rieselte der Putz. Ein fremdartiger, scharfer Geruch hing in der Luft. Von dem vierarmi­gen Fremden war nichts mehr zu sehen. Dafьr entdeckte sie etwas anderes. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger, dьnner Ring aus silberfarbigem Ma­terial. Und in seinem Inneren erkannte sie dasselbe Wogen und Wabern, das den Ring im Inneren des Sternenschiffes erfьllt hatte. »Verdammt, was ist das?« flьsterte Mike. Seine Stimme bebte. Charity zuckte stumm die Achseln, machte einen Schritt auf den scheinbar schwerelos in der Luft hдngenden Kreis aus Metall und lebendiger Schwдrze zu und blieb wieder stehen. Es war, als wдre sie in einen Strom unsichtbarer elek­trischer Energie getreten, der ihre Haut prickeln und jedes einzelne Hдrchen auf ihrem Kцrper sich aufstellen lieЯ. Sie versuchte vergeblich, den Schild aus Schwдrze mit Blicken zu durchdringen. »Jetzt wissen wir wenigstens, woher diese Biester so plцtzlich gekommen sind«, murmelte Mike. Nervцs sah er Charity an. »Wir sollten verschwinden. Ich habe das Gefьhl, unser Freund kommt gleich zurьck. Aber bestimmt nicht allein.« Charity nickte, wandte sich aber noch nicht um, sondern hob statt dessen ihre Waffe und jagte einen einzelnen Schuss durch das Innere des Materiesenders. Das Ergebnis enttдuschte sie. Die Kugel durchschlug die Wand aus wabernder Finsternis ohne sichtbaren Widerstand und bohrte sich in die rьckwдrtige Wand des Zimmers. Sie runzelte die Stirn, drehte sich herum und sah den Soldaten an. Ihr Blick blieb an der Granate haften, die er am Gьrtel trug. »Geben Sie mir das Ding«, befahl sie. Der Mann gehorchte, wдhrend Mike sie gleichermaЯen fragend wie missbilli­gend anblickte. »Was hast du vor?« fragte er. »Willst du das Ding in die Luft sprengen?« Er klang nicht sehr begeistert. Charity antwortete nicht, sondern scheuchte ihn und die beiden anderen mit ei­ner befehlenden Handbewegung zurьck, ehe sie sich wieder dem Ring zuwand­te. Sie war nicht sicher – aber fьr einen Moment glaubte sie, dass das Wogen und Wabern darin stдrker geworden sei. »Verschwindet«, sagte sie. »Wartet drauЯen auf mich.« Mike wollte widersprechen, doch ihr Blick brachte ihn zum Verstummen. Wort­los drehte er sich herum und beeilte sich, Niles und dem Soldaten zu folgen, die keine Sekunde gezцgert hatten, Charitys Befehl nachzukommen. Auch Charity zog sich aus dem Raum zurьck, blieb aber in der Tьr stehen und ging in die Hocke. Vorsichtig wechselte sie die MP von der rechten in die linke Hand, zog mit den Zдhnen den Sicherungsring der Granate heraus und konzen­trierte all ihre Aufmerksamkeit darauf, den Zьndhebel niederzuhalten. Dann wartete sie. Ihre Geduld wurde nicht lange strapaziert. Sie hatte sich nicht getдuscht – das Gleiten und Wogen im Inneren des Ringes hatte sich verдndert. Sie hatte jetzt eher den Eindruck, in einen unendlich langen, von nichts anderem als Schwдrze erfьllten Korridor zu blicken. Sie betete, dass ihre Vermutung richtig war, nдm­lich die, dass der Spinnengliedrige die Tьr zum Sternenschiff hinter sich zuge­worfen hatte, als er vor ihr floh, und nicht etwa, dass dieses Tor nur in einer Richtung funktionierte. Fьr einen Moment war sie noch einmal versucht, auf die wispernde Stimme hinter ihrer Stirn zu hцren, die ihr riet, wegzulaufen, solange sie es noch konnte. Aber dann dachte sie wieder an die beiden toten Kinder, die sie gesehen hatte, und blieb. Und es wдre wahrscheinlich ohnehin zu spдt gewesen. In der Schwдrze entstan­den jetzt Dinge, die dunkel, aber nicht schwarz waren und ganz und gar nicht kцrperlos. Ein gigantischer Insektenschдdel mit fьrchterlichen Mandibeln bilde­te sich, faustgroЯe, regenbogenfarbig schimmernde Facettenaugen starrten aus einem Gewirr hart glдnzender GliedmaЯen auf sie herab –

– und Charity warf die Granate. Sie beschrieb einen perfekten, beinahe langsamen Bogen, verfehlte den riesigen Insektenschдdel um eine Handbreit und verschwand in der lebendigen Schwдrze des Transmittertores. Sie rannte los, ehe die drei Sekunden vorbei waren, die der chemische Zьnder ihr noch gewдhrte. Als sie den Hausflur erreichte, erscholl hinter ihr ein dump­fes, sonderbar weiches Krachen. Das Haus begann zu zittern. Eine zweite, etwas heftigere Explosion erfolgte, als sie durch die Tьr stьrmte, und plцtzlich sah sie den Widerschein eines unertrдglich hellen, weiЯen Lichtes, das sich hinter ihr aus dem Nichts heraus in die Eingeweide des Hauses fraЯ. Das Gebдude brach in einer Wolke aus Rauch und Flammen und wirbelnden Trьmmerstьcken zusammen, noch ehe sie Mike und die anderen erreicht hatte.

12. Dezember 1998 Die Behдlter waren riesig und silberfarben und sahen wirklich wie sorgsam po­lierte Treibstofftanks aus, wie sie so auf ihren spindeldьrren Metallbeinen stan­den, eingewoben in ein ganzes Nest von Ver– und Entsorgungsleitungen, Kabeln und Drдhten und Computeranschlьssen. Die dьnne Schicht aus Goldstaub, die jede Korrision verhindern sollte, lieЯ sie sehr geheimnisvoll wirken, ein Ein­druck, der von den blinkenden Kontrolleuchten am Ende der sechs zylinderfцr­migen Stahlsдrge noch verstдrkt wurde. Charity war ziemlich mulmig zumute. Der Anblick machte ihr angst, und allein der Gedanke, sich in eines dieser Dinger zu legen und lebendig begraben zu las­sen, lieЯ sie schaudern. Man musste schon ziemlich verrьckt sein, um sich tцten zu lassen, nur um am Leben zu bleiben. »Das kommt ganz darauf an, wie sehr man am Leben hдngt, nicht wahr?« Charity fuhr erschrocken zusammen, drehte sich herum und blickte direkt in Stones Gesicht. Mit einem deutlichen Gefьhl der Verlegenheit begriff sie, dass sie ihren letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Wenn man das da…« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tanks. »…Leben nennen will«, antwortete sie. »Ich verstehe etwas anderes darunter.« Stone machte eine vage Handbewegung. »Wenn Sie recht hдtten, hдtte man sich das Geld fьr diesen Bunker sparen kцnnen, finden Sie nicht?« »Mцglich«, antwortete Charity verwirrt. Erst dann fiel ihr der erste Gedanke wieder ein, der ihr bei Stones Anblick gekommen war. »Was tun Sie hier unten, Lieutenant?« Stone lдchelte. »Was tun Sie hier, Captain?« sagte er. »Soweit ich weiЯ, ist das Betreten dieser Rдume streng verboten – selbst fьr Leute mit einem Class-A-Ausweis.« »Und wie kommen Sie dann hierher?« »Oh, ich bin so eine Art Mдdchen fьr alles, wissen Sie?« erwiderte Stone lд­chelnd. »Das bringt eine Menge Arbeit mit sich, aber auch das eine oder andere Privileg. Wie zum Beispiel vцllige Bewegungsfreiheit. Becker sucht Sie.« Den Nachsatz, der die eigentliche Antwort auf ihre Frage war, hдtte sie um ein Haar ьberhцrt. »Wieso?« Stone zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich soll Sie zu ihm bringen, das ist alles.« Er machte eine einladende Geste, aber er trat nicht zur Seite, als Charity auf ihn zuging. »Gestatten Sie mir eine persцnliche Frage, Captain?« Charity sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. Sie war nicht sicher, ob sie irgendeinen persцnlichen Kontakt mit Stone wьnschte. Nicht jetzt, und vielleicht ьberhaupt nie wieder. Freundschaften hatten so wenig Sinn, wenn der Weltun­tergang vor der Tьr stand. Trotzdem nickte sie. »Sie… Sie waren doch drauЯen«, begann Stone. Charity nickte abermals. Die Frage war reichlich ьberflьssig. »Ich wollte Sie schon vorhin fragen, aber wir… nun ja, der Augenblick erschien mir nicht besonders gьnstig.« Er wich ihrem Blick aus. Charity fьhlte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Wir erfahren hier unten nicht viel«, fuhr er fort. »Becker hat so etwas wie eine Nachrichtensperre verhдngt, aber ich glaube, in Wirklichkeit weiЯ er selbst nichts Genaues. Sie… Sie haben von Bomben ge­sprochen.« Charity schwieg. Sie war allein mit Becker in dem kleinen Bьro gewesen, aber auch die Wдnde von SS Nulleins schienen Ohren zu haben. Und schlechte Nach­richten sprachen sich schnell herum, daran hatte nicht einmal die Invasion der AuЯerirdischen etwas geдndert. »Ich stamme aus Missouri, wissen Sie«, sagte Stone. »Meine Familie lebt dort, und ich…« »Sie wollen wissen, ob auch dort Bomben gefallen sind«, sagte Charity, als Sto­ne endgьltig nicht weitersprach. Er nickte. »Ich weiЯ es nicht«, antwortete sie wahrheitsgemдЯ. »Niemand weiЯ das, Lieu­tenant. Ich weiЯ nicht einmal, wer diese verdammten Bomben geworfen hat. Ich habe ein paar Explosionen gesehen, aber sie waren sehr weit weg.« Und sie wьrde es ihm nicht einmal sagen, wenn sie es genau gewusst hдtte. Verdammt, sie alle hatten wahrscheinlich nur noch ein paar Tage zu leben – wer war sie, ihm auch noch die letzte Hoffnung zu nehmen? In Wahrheit hatte sie eine ganze Menge mehr gesehen als nur ein paar Bomben: Die Welt im Norden war in einer Orgie aus Feuer und unertrдglich grellem Licht untergegangen. Selbst sie hatte es kaum ьberlebt, obwohl sie mehr als hundert Meilen entfernt gewesen war. »Ich weiЯ es nicht«, sagte sie noch einmal. »Sie sagen das nicht nur, um mich zu trцsten?« fragte Stone. Charity lachte, und sie tat es ganz bewusst hart und abfдllig. »Wofьr halten Sie mich, Lieutenant?« fragte sie. »Fьr Ihren Beichtvater? Ich weiЯ nicht, was dort los ist, zum Teufel Ich habe das halbe Land durchquert, aber ich weiЯ so wenig wie sie. Es gibt keine Sechs-Uhr-Nachrichten mehr, wissen Sie? Nicht einmal ein verdammtes Telefon. Vielleicht haben sie den halben Planeten zusammen­gebombt.« Ihr bewusst verletzender Ton lieЯ Stone zusammenzucken. Sein Blick flackerte noch immer, aber er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Der Zusammenbruch, den sie halbwegs erwartet hatte, kam nicht. Nach einer Weile trat er von der Tьr zurьck. Aber kurz, bevor sie den Raum verlieЯ, sah sie Stone noch einmal an, und sie bemerkte, dass sein Blick starr auf das halbe Dutzend schimmernder Kдlte­schlaf-Tanks gerichtet war. Sie nahm sich vor, Becker bei Gelegenheit zu fra­gen, ob er sicher war, keinen Fehler zu begehen, indem er diesem halben Kind so groЯes Vertrauen schenkte. Dann betraten sie die Liftkabine und fuhren wieder nach oben. Als sie den halben Weg hinter sich hatten, begannen ьberall in der Station die Alarmsirenen zu heulen. Es hatte mehr als zweihundert Jahre gedauert, diese Stadt zu bauen. Der Zu­sammenbruch erfolgte in einer einzigen Nacht. Der Weg zurьck nach Manhattan war ein Alptraum gewesen, an den sie sich nur noch bruchstьckhaft erinnerte. Irgendwo auf halber Strecke hatte sie aufgehцrt, all die Schrecken und all das Unvorstellbare in sich aufnehmen zu wollen, das sie sahen. Sie hatte schon an jenem aller ersten Morgen begriffen, dass die Welt sich nun endgьltig verдndert hatte und dass New York nie wieder das werden wьrde, was es einmal gewesen war. Die StraЯen waren mit liegengebliebenen Fahrzeugen verstopft gewesen. An zahllosen Stellen waren Brдnde ausgebrochen, und ьberall wurde gekдmpft. Sie waren am Ende ihrer Krдfte gewesen, als sie gegen Mittag das Apartmenthaus im Herzen Manhattans erreicht hatten. Auf dem Weg dorthin hatten sie alles ge­sehen, was zum Szenario einer sterbenden Millionenstadt gehцrte: Panik, Tod und Angst, Plьnderer und Menschen, die gegeneinander kдmpften, nur keine AuЯerirdischen. Es waren die Bewohner New Yorks selbst, die ihre eigene Stadt zerstцrten. Sie verscheuchte den Gedanken, stand auf und goss sich mit zitternden Hдnden einen Martini ein. Ihre Hдnde zitterten jetzt oft, und sie ertappte sich immer hдu­figer dabei, mehr Alkohol zu trinken, als ihr gut tat. Sie musste aufpassen. Es war drei Tage her, dass ein halbes Kind in der Uniform der Nationalgarde vor der Tьr ihres Apartments aufgetaucht war und sie und Mike hierher gebracht hatte, an einen der vier oder fьnf Orte in New York, in denen das Leben wenig­stens noch einen Anschein von Normalitдt hatte: die Keller der BANK OF AMERICA, ein ganzes Labyrinth von Stahlkammern und Gдngen, winzigen Bь­ros und nur unwesentlich grцЯeren Schlaf– und Aufenthaltsrдumen. Die kaum zwei mal drei Schritte messende Kammer, die man ihr und Mike allein zugewie­sen hatte, stellte einen unbeschreiblichen Luxus dar. Sie blickte auf das Zifferblatt der mechanischen Uhr, die an der Wand gegen­ьber der Tьr hing, stellte fest, dass sie noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, bis zu Beckers routinemдЯigem Anruf, und machte sich trotzdem auf den Weg. DrauЯen wьrde es laut und hektisch zugehen, aber hier drinnen hatte sie das Ge­fьhl, zu ersticken; trotz der Klimaanlage, deren Summen so tat, als hдtte es den Weltuntergang dreiЯig Meter ьber ihren Kцpfen gar nicht gegeben. Sie zog ihre Uniformjacke an, verlieЯ die Kammer und machte sich auf den Weg zu dem zur Kommandozentrale umgewandelten Datensicherungsraum der Bank. Die Gдnge waren nicht ganz so ьberfьllt, wie sie angenommen hatte. In den letz­ten drei Tagen hatte sich die Lage hier unten ein wenig beruhigt, was allerdings nicht etwa hieЯ, dass es wirklich ruhig gewesen wдre. Immerhin war aus dem vцlligen Tohuwabohu der ersten vierundzwanzig Stunden eine Art geordnetes Chaos geworden, in das Colonel Stanley tatsдchlich so etwas wie ein System gebracht hatte; ein System zwar, das nur er allein und sonst niemand verstand, das aber funktionierte. Soweit in dieser Stadt ьberhaupt noch etwas funktionierte, dachte sie bitter. Wieder drohten sie die Erinnerungen an den entsetzlichen Marsch durch New York zu ьbermannen, und wieder gelang es ihr nur mit Mьhe, sie zu verscheu­chen. Es waren nicht nur die Angriffe der Fremden – jene erste Gruppe, der sie begegnet waren, war nicht die einzige geblieben –, sondern der totale Zusam­menbruch einer riesigen Stadt. New York hatte sich in ein Gebirge aus Stein verwandelt. Es gab keine Wasserversorgung mehr, keinen Strom. Kein Telefon und keine Дrzte, keine Taxis und keine Feuerwehr, kein… New York starb einen gnadenlosen Tod. Gestern – war es gestern, als Mike und sie drauЯen gewesen waren? Sie wusste es kaum noch. Man verlor rasend schnell jedes Zeitgefьhl, in dieser unterirdi­schen Welt aus Neonlicht und weiЯ gestrichenem Beton. Gestern oder wann auch immer hatten sie das Bankgebдude verlassen, um sich drauЯen umzusehen, und hatten ein Gerдusch gehцrt, das fast wie eine wunderbare Musik geklungen hatte: das Brummen eines Automotors. Augenblicke spдter war ein uralter Mili­tдrlaster vor dem Bankgebдude vorgefahren. Jemand hatte die zerstцrte Zьnd­spule herausgenommen und durch etwas Selbstgebasteltes ersetzt, dessen An­blick jeden Ingenieur in den Wahnsinn getrieben hдtte, aber jedenfalls funktio­nierte. Stanley und die anderen waren fast in einen Freudentaumel ausgebro­chen, aber Charity hatte der Anblick eher deprimiert. Das alles war von ihrer High-Tech-Welt ьbriggeblieben. Sie erreichte die Kommandozentrale, zeigte dem Posten vor den Eingang ihren Dienstausweis und trat geduckt an der tonnenschweren Panzertьr vorbei. Noch vor einer Woche hдtte ihr Dienstausweis ihr diesen Weg nicht geцffnet. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt, gleich hinter der angrenzenden Wand, lag der Tre­sorraum der Bank, ein chromblitzendes Gewцlbe, in dem genug Geld aufgesta­pelt war, um diese ganze Stadt zu kaufen. Nur, dass es jetzt nichts mehr wert war. Andersen und ein paar andere Bankleute, die manchmal noch hier herun­terkamen und nervцs die Soldaten beobachteten, die an ihren unersetzlichen Computern herumspielten, wollten das noch nicht wahrhaben, obwohl es auch der einfachste Soldat bereits wusste. Trotzdem war sie fьr die Paranoia dieser Bankmenschen und ihrer Vorgesetzten sehr dankbar, denn schlieЯlich war sie dafьr verantwortlich, dass es dieses Ge­wцlbe ьberhaupt gab, ein Kellergeschoss der Bank, das nicht nur bombensicher, sondern auch gegen jede nur denkbare Form elektromagnetischer Strahlung ge­hдrtet war – und das alles nur, dachte Charity spцttisch, um auch nach dem gro­Яen Knall noch die genauen Kontostдnde der Einleger dieser Bank zu kennen! Es war absurd. Manchmal fragte sie sich, ob sie einer Rasse von unheilbar Gei­steskranken angehцrte. Noch absurder allerdings war, dass es in dieser ganzen Stadt drei Banken und ein Krankenhaus gab, dessen Computeranlagen auf diese Weise geschьtzt waren

– keine einzige militдrische Anlage, geschweige denn die Telefonzentralen oder auch nur ein einziges verdammtes Funkgerдt! Die Militдrs kannten die Gefahr eines NEMP seit fьnfzig Jahren, aber niemand in dieser Stadt hatte etwas dage­gen unternommen, ganz einfach, weil es zu teuer gewesen wдre. Sie sah sich nach Mike um, entdeckte ihn nirgends und winkte statt dessen Stan­ley zu, der ьber einen Kartentisch gebeugt dastand und Zahlen auf den Rand ei­nes Blattes kritzelte. Eilig durchquerte sie den Raum, beugte sich neugierig ьber seine Schulter und sah, dass es eine StraЯenkarte New Yorks war. GroЯe Gebie­te waren schraffiert, andere mit roten oder grьnen Kreuzen versehen. Sie fragte nicht, was diese Markierungen bedeuteten. »Sie sind frьh«, sagte Stanley, ohne von seiner Karte aufzublicken. In seiner Stimme schwang eine leise Spur von Missbilligung mit. Es war nichts Persцnli­ches; ganz im Gegenteil. Charity spьrte, dass Stanley sie mochte, und auch sie empfand eine gewisse Sympathie fьr ihn. Aber Stanley hдtte den Platz, den Mi­ke und sie beanspruchten, bitter nцtig gehabt. In einer Stadt, deren funktionie­rende Teile auf knapp dreihundert Quadratmeter zusammengeschrumpft waren, .machte jeder uneingeladene Besucher Unannehmlichkeiten. »Wie sieht es aus?« fragte sie, eigentlich nicht aus wirklichem Interesse, sondern vielmehr, um ьberhaupt etwas zu sagen.Zu ihrer Ьberraschung sah er jetzt doch von seiner Karte auf. »Hier?« fragte er. »Oder im Rest der Welt.« »Ist das ein Unterschied?« »Und ob«, antwortete Stanley ernsthaft. Sorgsam faltete er seine StraЯenkarte zusammen und deutete Charity, nдher heranzutreten. Darunter kam eine Welt­karte im DIN-A-2-Format zutage. Jemand hatte mit roter Tusche groЯe Teile Nordamerikas, Europas und Asiens ьbermalt; auch auf dem Rest der Welt prangten rote Flecken. »Die roten Stellen sind Gebiete, die sie besetzt haben«, sagte er. »Jedenfalls die, von denen wir wissen, dass sie da sind. Aber wahrscheinlich sind es sehr viel mehr. Ist schwer geworden, an Neuigkeiten zu kommen, wissen Sie?« Charity erschrak ein wenig. Vor zwei Tagen, als er ihr diese Karte das erste Mal gezeigt hatte, waren die roten Flecke weniger zahlreich gewesen und sehr viel kleiner. Es war nicht die Tatsache ihres Vormarsches an sich, sondern die Schnelligkeit, mit der er sich entwickelte. Wenn es so weiterging, dachte Charity bedrьckt, hatten sie die ganze Erde in vier Wochen erobert. »Und hier?« fragte sie. »New York?« Stanley lдchelte. »Sehr viel besser, wie in den meisten groЯen Stдdten. Ich schдtze, dass sie an etwa fьnfzig Stellen aufgetaucht sind. Aber wir werden mit ihnen fertig.« Seine Worte lieЯen Charity schaudern. Ihr Gesichtsausdruck schien ihre Gefьhle sehr deutlich zu verraten, denn Stanley lдchelte plцtzlich und versuchte, seiner­seits ein beruhigendes Gesicht zu ziehen. »Nur keine Sorge«, sagte er. »Wir werden mit ihnen fertig. Wenn es sein muss, kцnnen wir uns monatelang halten. Vielleicht Jahre.« Charity blickte auf die Weltkarte. Die roten Flecken darauf behaupteten das Ge­genteil. »Das ist etwas anderes«, sagte Stanley, als hдtte er ihre Gedanken gelesen. »Verwechseln Sie eine Stadt wie New York nicht mit dem offenen Land. Dort sind sie unseren Jungs wahrscheinlich haushoch ьberlegen, vor allem jetzt, wo sie uns praktisch entwaffnet haben. Aber hier…« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »New York ist so etwas wie eine Bergfestung, wissen Sie? Wir haben zwar keine regulдre Armee hier, aber die Nationalgarde allein bringt leicht hunderttausend Mann auf die Beine. Und jeder gute Amerikaner«, fьgte er hinzu, nun allerdings eindeutig spцttisch, »hat schlieЯlich sein Gewehr im Schrank, nicht?« »Es waren bisher nur wenige«, sagte Charity vorsichtig. »Eine Art Vorhut.« Stanley nickte. »Sicher. Lassen Sie sie ruhig kommen, Captain Laird. Wir wer­den auch ohne Raumschiffe und Laserkanonen mit ihnen fertig, mein Wort dar­auf. Diese Ungeheuer werden sich einer Million guter altmodischer Gewehrlдufe gegenьbersehen, wenn sie wirklich so dumm sind, diese Stadt erobern zu wol­len.« Charity widersprach nicht. Sie wusste, wie wenig Sinn es hatte, mit Stanley ьber dieses Thema streiten zu wollen. Sie hatte es versucht, gleich am ersten Tag, aber es war zwecklos – und vermutlich hatte Stanley sogar recht. Es war vцllig unmцglich, eine Stadt wie New York erobern zu wollen. Aber vielleicht wollten sie das gar nicht. Die Angriffe der letzten Tage waren wahrscheinlich nur Nadel­stiche gewesen, die keinem anderen Zweck dienten, als ihre Stдrke zu testen. In Wahrheit hatten sie es gar nicht nцtig, New York zu erobern. Sie brauchten nur abzuwarten, bis alles von selbst zusammenbrach.

Stanley wollte weitersprechen, aber in diesem Moment erwachte das Funkgerдt pfeifend zum Leben. Stanley sah auf, runzelte ьberrascht die Stirn und trat nach einem Blick auf die Uhr hinter den Mann, der das Gerдt bediente. Charity folgte ihm. Es war zu frьh fьr Beckers Routineruf. Fast gebannt sah sie zu, wie der Soldat behutsam an den klobigen Armaturen des uralten Rцhrengerдtes arbeitete, um den Sender scharf einzustellen. Der Apparat stammte nicht nur scheinbar, sondern im wortwцrtlichen Sinne aus einem Mu­seum, ebenso wie das knappe Dutzend anderer Funkgerдte, das jetzt New Yorks einzige Verbindung zur AuЯenwelt darstellte. »Becker?« fragte Stanley nervцs. Der Mann an den Kontrollen nickte und reichte Stanley die Kopfhцrer. »Fьr Sie, Sir«, sagte er. »SS Nulleins. Commander Becker persцnlich.« Stanleys Gesichtsausdruck wurde noch um einige Nuancen dьsterer, wдhrend er sich die Kopfhцrer ьberstьlpte und auf dem Stuhl Platz nahm, den der Soldat fьr ihn rдumte. Er meldete sich, antwortete ein paarmal mit Ja oder Nein auf Fra­gen, die Becker am anderen Ende der Leitung stellte, und stand nach ein paar Augenblicken wieder auf. Sein Blick flackerte. »Er will Sie sprechen, Captain Laird«, sagte er. Charity blickte ihn einen Moment fast perplex an, dann stьlpte sie sich die schweren Kopfhцrer ьber – sie waren so altmodisch und unpraktisch wie das Ge­rдt, zu dem sie gehцrten. Der Techniker, der das Gerдt normalerweise bediente, tippte er ihr auf die Schulter. »Drьcken Sie die rote Taste, wenn Sie sprechen wollen, Captain«, sagte er. Charity nickte dankbar und meldete sich. Als sie die Taste wieder loslieЯ, fьllten sich die Kopfhцrer mit Rauschen und einer Unzahl piepsender und pfeifender Stцrgerдusche. Sie hatte Mьhe, Beckers Stimme zu verstehen.»Captain Laird«, begann Becker. Trotz der miserablen Ьbertragungsqualitдt glaubte Charity, einen gehetzten Ton in seiner Stimme zu vernehmen. »Hцren Sie zu, Captain. Stellen Sie keine Fragen, sondern hцren Sie einfach nur zu. Wenn Sie antworten mьssen, tun Sie es mit Ja oder Nein – verstanden?« Charity drьckte die rote Taste am Funkgerдt und sagte: »Aber selbstverstдnd­lich, Commander.« »Wo sind Wollthorpe und Niles?« fragte Becker. »Bei Ihnen?« »Nein«, antwortete Charity. »Mike… Lieutenant Wollthorpe befindet sich hier bei mir, wo Niles ist … weiЯ ich nicht.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie wusste ziemlich genau, wo Niles sich im Moment aufhielt – am anderen En­de der Stadt nдmlich, bei seiner Familie. Falls sie noch lebten. Becker fluchte. »Okay – versuchen Sie ihn aufzutreiben. Und dann kommen Sie hierher. Alle drei, oder nur Wollthorpe und Sie, wenn Sie ihn nicht finden.« »Was ist passiert?« fragte Charity. »Plan Omega lдuft an«, antwortete Becker. Er atmete hцrbar ein. »Termin ist der 13. Dezember. Schaffen Sie das?« Der 13.? dachte sie schockiert. Das waren nur noch acht Tage – normalerweise genug, um achtmal nach Timbuktu und zurьck zu fliegen, aber in einer Welt oh­ne Helijets verdammt wenig, um eine Entfernung von fast zweitausend Meilen zu bewдltigen. Trotzdem sagte sie: »Ja.« Becker wьrde frьh genug merken, wenn sie es nicht schafften. Er wusste so gut wie Sie, was er von ihnen verlang­te. »Was ist passiert?« fragte sie noch einmal. »Warum…« »Verdammt, Sie sollen den Mund halten!« schrie Becker. »Ich versuche Sie und die beiden anderen da rauszuholen, begreifen Sie das nicht? Sie sind dabei, sich um ihren Hals zu reden, Kindchen.« Und dich um deine Freiflugkarte zum Mars, fьgte Charity in Gedanken bцse hinzu. Einer der Plдtze auf der CONQUEROR war fьr Becker reserviert. Aber das sprach sie dann doch lieber nicht laut aus. »Wie meinen Sie das?« fragte sie vorsichtig, wobei sie sich bemьhte, ein mцg­lichst unbefangenes Gesicht zu machen. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass nicht nur Stanley sie anstarrte, sondern die gesamte Besatzung des Kommando­raumes. »Es wird ernst«, antwortete Becker. »Drьben in Europa scheinen ein paar Bom­ben gefallen zu sein. Niemand weiЯ etwas Genaues, aber wir haben einige sehr starke Erschьtterungen registriert.« Und ihr macht die Rettungsboote fertig, dachte Charity. Deshalb drдngte Becker so darauf, sie und die anderen in die Station zu bringen – schlieЯlich war sie der Steuermann. Sie fragte sich nur, wohin sie es lenken sollte. »Aber das ist nicht alles«, fuhr Becker fort. »Sie haben Tokio ausgelцscht, und… ein paar weitere. Wir verlieren ungefдhr alle zehn Minuten den Funkkontakt mit einer anderen Stadt. Ich weiЯ nicht, was da vorgeht, Laird, aber es sieht so aus, als wenn sie jetzt wirklich Ernst machen. Und ich bin sicher, dass New York ganz oben auf ihrer Liste steht. Deshalb will ich, dass Sie von dort verschwinden – klar?« »Verstanden, Sir«, antwortete Charity. Ein schlechter Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. So viel zum Thema Widerstand, dachte sie. »Geben Sie mir noch einmal Stanley«, verlangte Becker. Charity stand auf, nahm die Kopfhцrer ab und reichte sie Stanley. Sie schwieg, wдhrend Stanley gebannt auf Beckers Stimme lauschte und nur ein paarmal mit einem halblauten Ja antwortete, und sie versuchte zumindest, die Blicke zu ignorieren, die sie aus zwei Dutzend angstvoll geweiteter Augenpaare trafen. Diese Mдnner und Frauen wьrden ihr ihre Gefьhle einfach ansehen, so deutlich, als stьnden sie mit flammenden Lettern auf ihrer Stirn geschrieben. Was sollte sie ihnen sagen, wenn sie sie fragten, was passiert war? Dass sie wahrscheinlich nur noch ein paar Stunden zu leben hatten? Stanley beendete das Gesprдch und stand auf. Sein Gesicht war leichenblass, als er sie ansah. »Ich habe den Befehl bekommen, Sie so schnell wie mцglich aus der Stadt herauszubringen, Captain«, sagte er. »Was ist passiert?« Becker hatte es ihm nicht gesagt, dachte Charity. Sie kam sich wie eine Verrдte­rin vor. »Ich weiЯ es nicht«, antwortete sie ausweichend. »Er weiЯ selbst nichts Genau­es. Es sieht so aus, als wдren in Europa ein paar Bomben gefallen.« Sie versuchte zu lдcheln, spьrte aber selbst, dass sie nur eine Grimasse zog. »Bomben?« »Ihre Leute sind nicht die einzigen Bastler, wie es aussieht«, antwortete sie lahm. »Vielleicht habe ich mich getдuscht, und unsere Freunde vom Mars wohl auch. Wir sind nicht ganz so hilflos, wie sie meinten.« Es war ein ziemlich plumper Versuch, die Spannung zu lцsen, und er schlug auch fehl. Sowohl Stan­ley als auch alle anderen hier mussten einfach merken, dass jedes einzelne Wort gelogen war. Aber Stanley widersprach nicht mehr, sondern starrte nur einen Moment lang an ihr vorbei. Dann hob er die Hand und deutete zur Decke. »Okay, ich habe meine Befehle«, sagte er mьhsam. »Holen Sie Ihre Sachen, Captain. Ich bringe Sie hier heraus.« »Und wie?« Stanley lдchelte matt. »Kцnnen Sie reiten?« Sie konnte, aber eine Stunde spдter wьnschte sie sich beinahe, Stanleys Frage mit Nein beantwortet zu haben. Ihr Rьcken schmerzte unertrдglich, und sie spьr­te jeden einzelnen Hufschlag des Pferdes auf dem Asphalt wie einen Tritt ins Kreuz. Sie hatten Manhattan fast von einem Ende zum anderen durchquert, und es war wie ein SpieЯrutenlauf durch die Hцlle gewesen. Zweimal waren sie an­gegriffen worden, und beide Male nicht etwa von auЯerirdischen Ungeheuern, sondern von verzweifelten Menschen, die es auf ihre Pferde abgesehen hatten. Sie hatten nicht den Weg zur Brьcke eingeschlagen, wie Charity erwartet hatte, sondern waren fast in entgegengesetzter Richtung geritten, und vor fьnf Minuten hatten sie eine Stacheldrahtsperre passiert, die einen ganzen Hдuserzug umgab. Seit sie die Barriere hinter sich hatten, hatte Charity nur noch Soldaten gesehen. Ein fьr alle Zeiten abgeschalteter Panzer blockierte die StraЯe. Ein beeindruk­kender Anblick, dachte Charity spцttisch. Die AuЯerirdischen wьrden sich totla­chen, wenn sie ihn sahen. Immerhin stellte er das Nonplusultra irdischer Waffentechnik dar, ein Ungetьm von schier unvorstellbarer Vorsichtig umkreisten sie den toten Giganten, schlдngelten sich durch eine wei­tere Stacheldrahtsperre und nдherten sich einem langgestreckten Lagerhaus, vor dem eine ganze Hundertschaft Soldaten Lager bezogen hatte. Stanley, der jetzt ein Stьck voraus ritt, wechselte ein paar Worte mit einem Offizier, deutete auf die Halle und dann auf sie und Mike und beendete das Gesprдch schlieЯlich mit einer befehlenden Geste. Er sah nicht besonders gut gelaunt aus, als Charity ihr Pferd neben ihn lenkte und ihn fragend ansah. »Probleme?« »Nein«, log Stanley. »Kommen Sie. Es ist nicht mehr weit.« Aber er ritt nicht weiter, sondern schwang sich mit einer zornigen Bewegung aus dem Sattel und wartete, bis Charity und Mike seinem Beispiel gefolgt waren. Der stechende Schmerz in Charitys Rьcken erwachte zu neuer Wut, als sie vom Pferd stieg und den ersten Schritt machte; trotzdem war sie erleichtert, wieder auf ihren eigenen FьЯen zu stehen. Als Stanley sie gefragt hatte, ob sie reiten konnte, hatte sie angenommen, dass er ihr auch ein Reitpferd geben wьrde; kei­nen kreuzlahmen Gaul, den seine Leute wahrscheinlich aus dem Schlachthaus geholt hatten… Sie warf dem Pferd einen feindseligen Blick zu, lцste ihren Rucksack vom Sat­telgurt und beeilte sich, Stanley zu folgen. Sie betraten die Halle. Zuerst sah Charity gar nichts. Ihre Augen hatten sich an zwei Stunden Sonnen­licht gewцhnt und brauchten Sekunden, um sich auf die Dдmmerung hier drin­nen umzustellen. Es gab Licht – ein Dutzend grellweiЯer Inseln aus Helligkeit, die von groЯen Karbidscheinwerfern in die Schwдrze gestanzt wurden –, aber der krasse Kontrast zwischen kьnstlicher Nacht und ebenso kьnstlicher Hellig­keit schien die Schwдrze eher noch zu betonen. Dann begannen sich ihre Augen an die neuen Lichtverhдltnisse zu gewцhnen, und wenn das, was sie im aller ersten Moment glaubte, der Wahrheit entsprach, dachte sie, dann hatte Stanley verdammt recht, die Hдlfte seiner kleinen Armee hier aufzubieten… Der Hubschrauber war mindestens zwanzig Jahre alt. Die Pilotenkanzel war eine zerkratzte runde Plexiglaskugel, in der gerade Platz fьr zwei Passagiere war, von der spindeldьrren Konstruktion des Schwanzes blдtterten mindestens fьnf ver­schiedene Lackschichten herunter, und der Motor sah aus, als hдtten Stanleys Leute ihn aus einem Vorlдufer der Arche Noah ausgebaut. »GroЯer Gott, sagen Sie bloЯ, das Ding fliegt noch?« sagte Mike fassungslos. Stanley warf ihm einen ganz und gar undeutbaren Blick zu, antwortete aber nicht, sondern hob befehlend die Hand. »Croyd!« Ein kleiner, kahlkцpfiger Mann in einem weiЯen Kittel voller Цl– und Schmutz­flecken lцste sich aus der Dunkelheit und kam auf ihn zu. Seine Ьberraschung, als er Charity und Mike erkannte, war nicht zu ьbersehen. Aber er verbiss sich jede Bemerkung und sah nur Stanley fragend an. »Colonel?« Stanley deutete auf den Hubschrauber. »Wie seit sind Sie, Croyd?« fragte er knapp. »Fliegt er?« Croyd nickte ganz automatisch, dann zuckte er mit den Schultern. »Theoretisch, ja«, antwortete er. »Der Motor lдuft. Aber ob das Ding ьberhaupt noch jemals fliegt, kann niemand sagen. Wir haben noch keinen Probeflug gemacht, wenn Sie das meinen.« »Er wird funktionieren mьssen«, antwortete Stanley barsch. Er deutete auf Cha­rity. »Sie kennen Captain Laird?« »Wer kennt sie nicht?« antwortete Croyd. Er lдchelte flьchtig. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er wurde ьbergangslos ernst. »Sie wollen wirklich mit diesem Ding fliegen?« »Wenn wir es weiter als zehn Zentimeter in die Luft bekommen, ja«, antwortete Charity lдchelnd. »Das werden Sie«, antwortete Croyd ьberzeugt. »Diese alten Vцgel waren robu­ste kleine Maschinchen, die so schnell nichts umwirft. Aber es ist zu frьh.« Er wandte sich wieder an Stanley. »Kommen Sie morgen wieder, Colonel. Oder besser in zwei Tagen. Der Hubschrauber muss doch…« Stanley schnitt ihm mit einer zornigen Geste das Wort ab. »Wir haben weder bis morgen Zeit noch bis ьbermorgen, Croyd«, sagte er heftig. »Fliegt er, oder fliegt er nicht?« Croyd schwieg einen Moment, eher verblьfft als erschrocken, oder gar einge­schьchtert. »Theoretisch, ja«, wiederholte er. »Aber…« »Dann ist es ja gut«, sagte Stanley. »Alles andere wird sich zeigen. Weisen Sie Captain Laird in die Instrumente ein.« Croyd starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, aber Stanley gab ihm keine Gele­genheit mehr, zu widersprechen, sondern fuhr auf dem Absatz herum und ver­schwand mit schnellen Schritten im Hintergrund der Halle. Croyd blickte ihm kopfschьttelnd nach. »Was hat er?« Charity zuckte die Achseln. »Ich weiЯ es nicht«, sagte sie. Ein wenig war sie selbst ьberrascht, wie glatt ihr die Lьge von den Lippen kam. »Vielleicht ist er bцse, dass wir ihm sein Spielzeug wegnehmen«, sagte Mike. Croyd sah jetzt doch ein wenig erschrocken aus. »Aber Sie bringen es doch zu­rьck, oder?« »Selbstverstдndlich – falls wir nicht damit vom Himmel fallen.« Mike klaubte seinen Rucksack vom Boden auf und schlenderte auf den Hubschrauber zu. Croyd blieb stehen, um sich eine filterlose Zigarette anzuzьnden. Er stieЯ eine blaue Rauchwolke in Mikes Richtung und lдchelte ьbertrieben schadenfroh. »Ich bin nicht besonders scharf darauf, den Testpiloten zu spielen. Kцnnen Sie mit einer solchen Maschine umgehen?« Mike nickte. »Natьrlich«, sagte er beleidigt. »So natьrlich ist das gar nicht«, antwortete Croyd, wдhrend sie sich dem Hub­schrauber nдherten. »Ich weiЯ, dass Sie ein Raumschiff fliegen kцnnen, aber das da ist etwas anderes, glauben Sie mir. Sie haben keinerlei Hilfsmittel. Keine Computer, die jeden ihrer Fehler ausbьgeln. Nicht einmal einen Hцhenmesser. Wenigstens keinen«, fьgte er hinzu, »der funktioniert. Eine Maschine wie diese zu fliegen, erfordert eine Menge Fingerspitzengefьhl.« Sie hatten den Helikopter erreicht. Croyd цffnete die Kanzeltьr, trat einen Schritt zurьck und machte eine einladende Handbewegung. Mike zцgerte unmerklich, aber dann gab er sich einen sichtlichen Ruck, warf sein und Charitys Gepдck in den schmalen Stauraum hinter den Sitzen und kletterte umstдndlich in die Ma­schine hinein. Charity hцrte ihn seufzen. »Mein Gott, das Ding stammt ja noch aus der Steinzeit.« Croyd nickte ungerьhrt. »Seien Sie froh, dass das so ist, Lieutenant. Wenn er zehn Jahre jьnger wдre, hдtten wir ihn kaum hingekriegt.« »Haben Sie sich deshalb dieses Wrack ausgesucht?« fragte Charity. Wenn Croyd die Bezeichnung Wrack stцrte, so lieЯ er sich nichts anmerken. Er nickte. »Zum Teil«, gestand er. »Eine Maschine jьngeren Datums wдre mir per­sцnlich auch lieber gewesen, glauben Sie mir. Aber es hдtte keinen Sinn gehabt. Wir brauchten Wochen, um eines dieser vollelektronischen Spielzeuge wieder hinzukriegen – falls wir es ьberhaupt schaffen. Das hier…« Er schlug mit der fla­chen Hand gegen die Pilotenkanzel, und der ganze HeliCopter begann leicht zu zittern. »…ist so etwas wie ein Dinosaurier, wissen Sie? Ein einfacher, robuster Motor und so gut wie keine Elektronik.« Er deutete auf den Motor, der hinter und ьber der Pilotenkanzel angebracht war. »Das Schдtzchen da oben hat uns ein bisschen Kopfzerbrechen bereitet, aber jetzt lдuft es wieder.« »Woher haben Sie die Ersatzteile?« fragte Charity. »Ersatzteile?« »Zьndspule, Kerzen, Verteiler…« Sie machte eine Handbewegung, um anzudeu­ten, dass sie die Aufzдhlung noch weiterfьhren konnte, es aber nicht fьr nцtig hielt. »Es gibt keine«, sagte Croyd lakonisch. »Alles selbstgebaut. Gute amerikanische Handarbeit.« Er lдchelte flьchtig. »Falls Sie landen sollten, passen Sie auf, dass der Motor nicht ausgeht. Es gibt keinen Anlasser.« »Oh«, sagte Charity. Croyd grinste, streckte ьbertrieben galant den Arm aus und half ihr, zu Mike in die Kabine zu klettern. AnschlieЯend zog er sich schnaubend selbst auf die Kufen des HeliCopters hinauf und beugte sich vor, um Mike die Instrumente zu erklдren; ein Unterfangen, das mit einigen wenigen Worten erle­digt war, denn die allermeisten Anzeiger funktionierten nicht mehr. »Das da ist die Tankanzeige«, sagte er abschlieЯend. »Sie geht nicht. Wenn die Kiste anfдngt zu rьtteln, schalten Sie an diesem Hebel auf Reserve. Anschlie­Яend haben Sie noch ungefдhr zehn Minuten Zeit, die nдchste Tankstelle zu fin­den.« »Wie groЯ ist die Reichweite?« fragte Mike. Croyd zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Der Tank fasst hundert Gallonen – also vielleicht zweihundert Meilen. Kaum mehr. Diese alten Motoren haben einen gesegneten Appetit.« Zweihundert Meilen, dachte Charity betroffen. Das bedeutete, dass sie acht– bis zehnmal nachtanken mussten, ehe sie SS Nulleins erreichten. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen wьrden. Nicht mit diesem Wrack. »Aber um Ihren Treibstoffvorrat brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Croyd aufgerдumt fort. »Der Vogel ist vollgetankt. Es reicht, wenn sie ein Stьck aufs Meer hinausfliegen und ein paar Runden drehen. Wir wollen nicht wissen, ob das Ding kunstflugtauglich ist, sondern nur, ob es fliegt.« Mike sah verwirrt auf, aber Charity warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, und er schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. Vielleicht war es besser, wenn er nicht wusste, dass sie nicht wiederkommen wьrden. Stanley kam zurьck, und Croyd beendete seine Erklдrung in aller Hast und sprang wieder zu Boden, um den Colonel Platz zu machen. Charity sah, wie er um den Hubschrauber herumging und geschickt am Heck hinaufkletterte, um sich am Motor zu schaffen zu machen. In der rechten Hand hielt er ein gut an­derthalb Meter langes Seil. Es dauerte einen Moment, bis sich Charity an seine Worte erinnerte, den fehlenden Anlasser betreffend. Er und seine Kollegen musste eine Art Schwungrad gebastelt haben, um ihn wie die Maschine eines Motorbootes anzuwerfen. »Sind Sie so weit?« fragte Stanley. Er sprach sehr leise, wohl damit Croyd und die anderen Mechaniker seine Worte nicht hцrten. Charity nickte. »Ich… hoffe, Sie kommen durch«, sagte Stanley leise. Es klang traurig, aber Charity spьrte, dass es ehrlich gemeint war. Plцtzlich hatte sie das Bedьrfnis, ihm in irgendeiner Weise Trost zuzusprechen. Und sei es nur, um sich auf diese Weise selbst einzureden, dass sie ihn und all die anderen hier nicht einfach im Stich lieЯen. Aber sie nickte nur dankbar. »Fliegen Sie so lange wie mцglich an der Kьste entlang«, sagte Stanley. »Soviel ich weiЯ, konzentrieren sie sich im Moment eher auf das Landesinnere. Und falls Sie auftanken mьssen, tun Sie es auf irgendeinem Highway, mцglichst weit weg von der nдchsten Stadt. Es gibt wahrscheinlich fьnfzig Millionen Menschen in diesem Land, die sie ohne zu zц­gern umbringen wьrden, um einen Platz in dieser Maschine zu kriegen.« »Ich weiЯ«, sagte Charity. »Wir… wir passen schon auf, Colonel.« »Sie werden es nicht schaffen«, fuhr Stanley fort. Er sprach schnell, fast tonlos, in der Art eines Mannes, der hastig einen auswendig gelernten Text herunterras­selte, um ja nichts zu vergessen. »Nicht mit diesem Schrotthaufen. Wenn Sie runter mьssen, versuchen Sie irgendeinen Wagen wieder flott zumachen. Einen alten Ford vielleicht oder einen Dodge oder Volkswagen. Die Dinger bestehen praktisch nur aus Blech, kaum Elektronik.« Charity wollte antworten, aber Stanley hцrte nicht mehr hin. Mit einem Satz sprang er von der Kufe der Maschine herab, warf die Tьr zu und hob befehlend den Arm. Ьber Charitys und Mikes Kцpfen erwachte der altmodische Benzin­motor des Helikopters stotternd und spuckend zum Leben. Einen Moment lang lief er unruhig und drohte wieder auszugehen, aber dann gab Mike vorsichtig Gas, und sein Lauf wurde gleichmдЯiger. Ьber dem zerschrammten Plexiglas der Kuppel begannen sich die vier Rotorblдtter ganz langsam zu drehen. Die groЯen Rolltore der Halle wurden geцffnet. Grelles Sonnenlicht flutete in die Halle und lieЯ Charity blinzeln. Mike hob schьtzend die Hand vor die Au­gen, griff mit der anderen in die Brusttasche seines Hemdes und zog eine Son­nenbrille hervor. Auf einen weiteren Wink Stanleys hin befestigten einige Soldaten zwei Drahtseile an den Kufen des Hubschraubers und zogen die kleine Maschine ins Freie. Charity musste sich alle Mьhe geben, um mцglichst gelassen auszusehen, wдhrend sie darauf warteten, starten zu kцnnen. Die Mдnner wichen respektvoll vor den pfeifenden Rotoren zurьck und bildeten einen weiten Kreis um die Ma­schine. Wieder hatte sie das Gefьhl, all diese Mдnner im Stich zu lassen. Ein bisschen kam sie sich fast vor, als wдre sie schuld an dem, was ihnen passieren wьrde. »Ist irgend etwas?« fragte Mike. Ihm war nicht entgangen, wie ruhig sie plцtz­lich geworden war und wie verkrampft sie auf ihrem Sitz hockte. Charity schьttelte den Kopf und sah demonstrativ in eine andere Richtung. Zwei Minuten spдter hoben sie ab. Sie hatten Glьck, in zweifacher Hinsicht. Croyd und seine Mдnner schienen wirklich so etwas wie ein kleines Wunder vollbracht zu haben, denn der Hub­schrauber flog ganz ausgezeichnet, und der Tag war beinahe windstill, so dass Mike sich ganz darauf konzentrieren konnte, sich an diesen seltsamen Vogel zu gewцhnen. Sie folgten Croyds Rat und flogen in geringer Hцhe, aber sehr schnell, aufs of­fene Meer hinaus, schlugen dann einen Bogen und nдherten sich wieder der Kь­ste. Die verwaiste Plastikwelt von Coney Island huschte unter ihnen hinweg, dann jagte der Schatten des Helikopters ьber die ersten Hдuser der Vororte hin­weg. Drьben in Manhattan hatte die Stadt einen chaotischen Anblick geboten, aber hier wirkte sie … tot. Sie hatte damit gerechnet, dass das Motorengerдusch der Maschine die Menschen auf die StraЯe locken wьrde, aber sie sah nie­manden. Wenn hier ьberhaupt noch jemand lebte, dann verkrochen sie sich in ihren Hдusern. Fast gegen ihren Willen musste sie wieder an das Haus voller Toter denken, das sie entdeckt hatten. Vielleicht war es dort unten dasselbe, dachte sie schaudernd. Vielleicht waren es Hдuser voller Leichen, ьber die sie hinwegflogen. Mike beugte sich ein wenig im Pilotensitz vor, blickte nach unten und korrigier­te den Kurs des Hubschraubers dann ein wenig. Sie flogen jetzt fast parallel zur Kьste, und kaum noch hцher als dreiЯig Meter. Trotzdem regte sich unter ihnen nichts. »Niles?« fragte sie. Mike nickte. »Wenn ich das Haus finde«, sagte er. »Sieht alles ein bisschen an­ders aus, von hier oben.« Gut zehn Minuten lang flogen sie nach Sьden. Sie sahen jetzt doch gelegentlich Menschen – hier und da einen Radfahrer oder ein paar Leute, die der Lдrm der Rotoren aus den Hдusern gelockt hatte. SchlieЯlich erreichten sie die StraЯe, in der Niles' Haus lag. Selbst aus einer Hц­he von weniger als dreiЯig Metern deutete hier nichts auf die Katastrophe hin, die den Lebensnerv New Yorks durchschnitten hatte – eine normale StraЯe voller kleiner, geschmackvoller Einfamilienhдuser, die sich hinter liebevoll gepflegten Vorgдrten aneinander reihten. Mike lenkte den Helikopter im Tiefflug ьber das Haus hinweg, in dem Niles mit seiner Familie wohnte, kam in einer weit geschwungenen Kurve zurьck und setzte auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor dem Haus auf, so dicht, dass die Rotoren fast das Vordach berьhrt hдtten. »Beeil dich«, sagte er knapp. Charity lцste ihren Sicherheitsgurt und wollte die Tьr цffnen, aber Mike hielt sie am Arm zurьck. »Nimm das Ding mit«, sagte er und machte eine Kopfbewe­gung auf die Maschinenpistole, die zwischen ihren Sitzen lag. Einen Moment lang war Charity fast versucht, es zu tun. Dann schьttelte sie den Kopf, stieЯ die Tьr auf und sprang aus der Kanzel, ehe Mike sie abermals zu­rьckhalten konnte. Geduckt lief sie auf das Haus zu, wobei sie sich aufmerksam nach beiden Seiten hin umsah. Hinter den Fenstern des Nachbarhauses erschien ein Schatten; etwas blinkte. Aber niemand kam auf die StraЯe heraus. Hinter ihr heulte der Motor des Helikopters auf, und fьr einen Moment warf sie der kьnstliche Sturmwind der Rotoren fast um, als Mike die Maschine wieder startete und zehn Meter ьber der StraЯe in der Luft anhielt. Offensichtlich nahm er Stanleys Warnung sehr ernst. Die Tьr wurde geцffnet, als sie noch zwei Meter vom Haus entfernt war, und Niles trat heraus. Er trug eine einfache, schwarze Cordhose und eines der grell bunten Hemden, die er so liebte. Unter seinem Gьrtel steckte eine Pistole. Und er wirkte kein bisschen ьberrascht, als er Charity sah. Sekundenlang blickte er sie schweigend an, dann hob er den Kopf und sah zu dem Helikopter hinauf. »Wo habt ihr denn das Museumsstьck aufgetrieben?« fragte er. Seine Stimme klang sehr mьde. Charity sah einen Schatten hinter ihm im Haus und ein Paar dunkler Augen, die sie fast angstvoll musterten. Sie regi­strierte mit einem vцllig unbegrьndeten Gefьhl des Schreckens, dass es die Au­gen eines Kindes sein mussten. Eine M16 mit aufgeschraubtem Zielfernrohr lehnte an der Wand. Mit aller Gewalt musste sie sich dazu zwingen, Niles wie­der anzublicken. »Es fliegt, oder?« sagte sie. Niles lachte humorlos. »Ja«, sagte er. »Es geht wieder aufwдrts, wie?« »Wir… haben den Rьckruf bekommen«, sagte sie zцgernd. »Vor zwei Stunden, Niles. Von Becker persцnlich.« »SS Nulleins?« Niles deutete wieder auf den Hubschrauber. »Mit dem Ding?« »So weit wir kommen«, antwortete Charity achselzuckend. Verdammt, was war nur mit ihr los? Plцtzlich fiel es ihr schwer, weiterzusprechen. »Wir alle drei, Niles«, sagte sie. Niles verzog die Lippen, aber sie wusste nicht einmal, ob es ein Lдcheln sein sollte. »Ist da drinnen Platz fьr drei Passagiere?« Charity schьttelte wortlos den Kopf, und auch Niles schwieg fast eine Minute lang. »Dann wьnsche ich euch viel Glьck«, sagte er schlieЯlich. »Du… kommst nicht mit?« Niles lдchelte jetzt wirklich. »Nein, Captain. Auch nicht, wenn Sie es mir befeh­len.« »Du weiЯt, was das bedeutet?« fragte sie sehr leise. Niles nickte abermals. Sein Gesicht war wie eine Maske aus Stein. Nach einer Weile drehte sie sich einfach herum und gab Mike ein Zeichen, den Helikopter zu landen, damit sie wieder einsteigen konnte. Als der Helikopter eine halbe Minute spдter wieder startete, beugte sie sich noch einmal im Sitz vor und blickte in die Tiefe. Niles stand zusammen mit einer dunkelhдutigen Frau und einem vielleicht zehnjдhrigen Mдdchen hinter dem Haus. Die Frau winkte ihnen zu. In den Armen des Kindes lag eine Maschinenpistole, aber es hielt sie nicht wie eine Waffe, sondern so, wie ein Kind eine Puppe hielt, in beiden Ar­men und fest gegen die Brust gepresst. Charity vergaЯ dieses Bild nie wieder. Sie waren hundert Meilen von New York entfernt, als die Stadt unterging, und trotz der groЯen Entfernung konnten sie es sehen. Der Tag war sehr klar, und sie flogen jetzt sehr hoch, so dass die Tьrme Manhattans noch immer als ver­schwommene Silhouette vor dem Horizont zu erkennen waren. Als es geschah, wendete Mike den Hubschrauber und hielt ihn reglos in der Luft, so dass sie das schreckliche Schauspiel in allen Einzelheiten verfolgen konnten. Es war eine Art Nebel, der aus dem Nichts kam und sich wie eine halbdurchsichtige riesige Kuppel ьber New York stьlpte; die Faust eines Giganten, die sich lautlos um die Millionenstadt schloss und alles Leben darin auslцschte. Die steinernen Giganten Manhattans stьrzten nicht, es gab keinen Rauch, keine Flammen, auch keine schreckliche Explosion, die die Stadt vom Angesicht der Erde fegte. Sie dachte an das reglos daliegende Haus, das Niles und der Soldat vor fьnf Tagen entdeckt hatten, und plцtzlich wusste sie, dass es dieselbe fьrchterliche Macht war, die jetzt nach der ganzen Stadt griff und alles Leben darin auslцschte – schnell und gnadenlos und grьndlich. Die Glocke aus grauem Nichts blieb nur fьr wenige Minuten ьber der Stadt, ehe sie sich aufzulцsen begann, sehr langsam und ungleichmдЯig, als wдre die Macht, die sie bisher in ihrer Form gehalten hatte, urplцtzlich erloschen und gд­be sie nun dem Wind preis. In der Kuppel aus waberndem Nebel entstanden groЯe, wirbelnde Risse… schlieЯlich war es nur noch ein dьnner Schleier, aus dem die Wolkenkratzer Manhattans emporwuchsen wie abgestorbene Bдume aus einem nebelverhangenen Motor. Mike wendete schweigend den Hubschrauber und brachte die Maschine wieder auf Kurs. Keiner von ihnen sprach ein einziges Wort, bis sie das erste Mal zwi­schenlanden mussten. 12. Dezember 1998 Der Kontrollraum glich einem Hexenkessel. Das Licht flackerte in hektisch pul­sierendem Rot, und die Sirenen schrillten und schrillten. Sie hielt nach Becker Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken, was aber kein Wunder war: In dem riesigen Computersaal herrschte das reinste Chaos. Die Karte auf dem Wandschirm war verschwunden; statt dessen zeigte der riesi­ge Monitor jetzt einen Ausschnitt einer der oberen Etagen; welche, konnte Cha­rity nicht genau erkennen, denn das Bild war voller Staub und Rauch und flie­gender Trьmmer. Sie sah fliehende Menschen, hinter ihnen ein riesiger Schatten. In die aufgeregten Rufe der Zentralbesatzung mischten sich gellende Schreie und das gedдmpfte Krachen von Explosionen. Endlich entdeckte sie Becker – er stand auf der anderen Seite der Zentrale, auf halber Hцhe der Treppe, die zu der rundum laufenden Empore hinauffьhrte. Charity rief seinen Namen, winkte aufgeregt mit den Armen und schaffte es tat­sдchlich, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Becker blieb stehen, erwiderte ihr Winken und wartete ungeduldig, bis sie sich durch das Chaos in der Zentrale zu ihm durchgekдmpft hatte. »Was ist passiert?« fragte sie erregt. Becker deutete mit einer fast wьtenden Kopfbewegung auf den Bildschirm. »Sie sind durchgebrochen«, sagte er. Charity fiel erst jetzt auf, dass er in SchweiЯ gebadet war. »Durch die Tore?« Becker schьttelte abgehackt den Kopf. »Nein. Es … es sieht so aus, als kдmen sie direkt aus dem Boden.« Aber das war unmцglich! dachte Charity fassungslos. Ьber ihnen war eine halbe Meile Granit! Unglдubig wandte sie sich um und starrte auf den riesigen Video­schirm. Und wie um Beckers Worte auf grдssliche Weise zu bestдtigen, klдrte sich in diesem Moment das Bild. Der Staub, der den Blick der Kamera bisher verschleiert hatte, legte sich ein wenig, und sie sahen zum ersten Mal den Geg­ner, der die sicherste Bunkeranlage der Welt gestьrmt hatte: Sie erkannte jetzt, welchen Teil der Bunkeranlage die Kamera zeigte –es war nicht die Eingangshalle, sondern die dritte Ebene, ein riesiger Wohn– und La­gerkomplex, der bereits mehr als dreihundert Meter unter dem Boden lag. Die Rьckwand der gewaltigen Halle, auf die die Kameraoptik gerichtet war, war zu­sammengebrochen. Die mannsdicken Stahlbetonpfeiler, die die Decke getragen hatten, waren wie Streichhцlzer zusammengeknickt, und auch in den Wдnden und im Boden gдhnten Risse. Und inmitten dieses Chaos aus Trьmmern und wirbelndem Staub… Charity stцhnte vor Entsetzen. Es war ein Monster; ein Ungeheuer im wahrsten Sinne des Wortes: ein giganti­scher, sicher mehr als zwanzig Meter langer und gut fьnf Meter durchmessender Wurm von schwarzbrauner Farbe, ohne irgendwelche erkennbaren GliedmaЯen oder Sinnesorgane. Sein Kцrper befand sich in bestдndiger, zuckender Bewe­gung, als lebte jedes einzelne seiner zahllosen Segmente fьr sich. Ein giganti­sches Maul цffnete und schloss sich wie das eines Fisches auf dem Trockenen. Charity erkannte eine fьnffach gestaffelte Reihe krдftiger stumpfer Zдhne. Ein dьnner, blutroter Laserstrahl stach nach dem Ungeheuer. Er traf, aber eine Wirkung war nicht zu erkennen. Das braunschwarze Fleisch schien die geballte Ladung an Lichtenergie einfach aufzusaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm einen Wasserstrahl. Das Bild schwankte. Selbst durch hundert Meter massiven Fels hindurch spьrte Charity das Zittern, als ein weiterer Teil der Rьckwand zusammenbrach. Aus dem Chaos tauchte ein zweiter dieser gigantischen Wurmkreaturen auf, und diesmal erkannte sie deutlich den kreisrunden Schacht, aus dem sie hervorge­krochen kam. Einen Schacht, der direkt in den gewachsenen Fels der Rockys hineinfьhrte und sanft anstieg… »GroЯer Gott!« stammelte Becker. »Sie . . sie fressen sich durch den Berg!« Wieder zuckten Laserstrahlen ьber das Bild. Charity sah, wie die schwarze Pan­zerhaut des Ungeheuers in einem sanften, sehr dunklen Rot zu glьhen begann, dann Blasen zu werfen und zu schwelen – und plцtzlich bдumte sich der Wurm auf, warf sich in blinder Agonie hin und her –

– und begann sich in rasender Schnelligkeit in den Boden hineinzugraben! Die Laserstrahlen folgten ihm wie ein Gespinst aus tцdlichem Licht, aber dann ge­schah das, was Charity befьrchtet hatte – einer nach dem anderen erloschen die dьnnen Lichtfдden, als die Waffen einfach leergeschossen waren. Nach kaum

einer Minute war der monstrцse Wurm verschwunden. Wo er gelegen hatte, gдhnte ein fьnf Meter durchmessendes, kreisrundes Loch im Boden. »Das reicht«, sagte Becker. Sehr viel lauter und zu einem Mann irgendwo in dem Durcheinander unter ihnen gewandt fьgte er hinzu: »Rob – sagen Sie diesen Idioten, dass sie aufhцren sollen zu schieЯen! Rьckzug!« »Was haben Sie vor?« fragte Charity erschrocken. Becker schьrzte fast trotzig die Lippen. »Was glauben Sie, Captain Laird?« frag­te er. »Ich tue das, was ich schon vor zwei Tagen hдtte tun sollen. Ich sprenge. Vielleicht geben sfe ai|| wenn sie denken, dass hier unten alles zerstцrt ist.« ! »Aber Sie…« Becker schnitt ihr mit einer barschen Bewegung das Wort ab. »Sie kennen Ihre Befehle, Captain«, sagte er. »Gehen Sie!« »Gehen?« Charity schrie fast. »Sie mьssen verrьckt sein, Becker! Es dauert Stunden, das Schiff startklar zu machen. Die CONQUEROR…« »Ist seit einer Woche startklar«, unterbrach sie Becker unwillig. »Verdammt, halten Sie mich fьr einen Idioten, Laird? Holen Sie Ihre Ausrьstung und warten Sie in der Schleuse auf uns. Das ist ein Befehl.« Eine einzige, endlose Sekunde lang starrte Charity ihn nur an, dann drehte sie sich wortlos um und verlieЯ die Zentrale. 6. Dezember 1998 Es wurde wieder hell, als sie das dritte Mal zwischenlanden mussten, und dies­mal hatten sie weniger Glьck. Der Flug durch die Nacht war ein Alptraum ge­wesen. Unter ihnen waren keine Lichter gewesen. Hier und da hatten sie ein Feuer gesehen, aber sie hatten sich gehьtet, ihm nahe zukommen. Zumindest eines war kein Problem gewesen: Treibstoff. Mike war einfach nur dem Highway nach Westen gefolgt, und seine Rechnung war aufgegangen. Un­ter den Tausenden von Wagen, die auf dem grauen Betonband liegengeblieben waren, hatten sie zweimal Tanklaster voller Benzin entdeckt, so dass das Nach­tanken weder gefдhrlich noch zeitraubend geworden war. Mike hatte den Heli­kopter einfach auf der StraЯe aufgesetzt und mit laufendem Motor aufgetankt, wдhrend Charity mit entsicherter Waffe Wache hielt. Sie hatten Stanleys War­nung nicht vergessen. Und sie hatten wдhrend der ganzen Nacht keinen einzigen AuЯerirdischen gesehen. Sie entdeckten auch jetzt keinen, aber auch keinen Tankwagen. Es war hell ge­worden, und vor fьnf Minuten hatte Mike fluchend auf den Reservetank umge­schaltet, nachdem der Motor zu spucken begonnen hatte. Seitdem glitten sie in zwanzig Metern Hцhe ьber den Highway hinweg. »Wie lange noch?« fragte Charity. Mike zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht fьnf Minuten. Aber ich will nichts riskieren. Schlimmstenfalls landen wir neben irgendeinem Wagen und zapfen den Tank an.« Sein Tonfall machte deutlich, dass ihm die Idee nicht gefiel. Sie waren beide mьde. Sie hatten vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Und sie flogen ьber ein Land, das sich im Krieg befand, auch wenn sie davon bisher noch nichts ge­merkt hatten. Es kam Charity fast absurd vor, dass sie den Gegner, der eine gan­ze Welt in die Knie gezwungen hatte, bisher kein einziges Mal zu Gesicht be­kommen haben sollten. »Schau, da vorne.« Mike deutete auf einen kleinen, rechteckigen Umriss, der am Ende des monotonen Betonbandes aufgetaucht war und allmдhlich heranwuchs. Plцtzlich atmete er erleichtert auf. »Das Glьck ist mit den Dummen«, verkьnde­te er. »Ein Drive-In. Komplett mit Tankstelle und Motel.« Er grinste. »Ich spen­diere dir einen kalten Hamburger, sobald wir getankt haben, einverstanden?« Charity rang sich mьhsam dazu durch, sein Lдcheln wenigstens andeutungswei­se zu erwidern, nahm den Feldstecher von den Knien und blickte aufmerksam zu der kleinen Ansammlung schдbiger Gebдude hinьber. Alles wirkte vollkommen normal: Vor dem Restaurant stand ein halbes Dutzend Autos, und ein Stьck ne­ben der Tankstelle lag ein riesiger, hellgrьn gestrichener Tankwagen. »Bingo«, sagte sie. »Da steht ein Tanker. Die nдchsten dreihundert Meilen sind uns sicher.« Und damit hдtten sie dann die Hдlfte geschafft. Viel mehr, als sie zu hoffen gewagt hatten… Mike nahm vorsichtig Gas weg, flog eine Schleife und nдherte sich dem Motel von der der StraЯe abgewandten Seite, wдhrend Charitys Blick aufmerksam ьber die umliegende Landschaft glitt. Sie hatten abermals Glьck – es gab im Umkreis von mehreren Meilen nichts als flache Steppe, auf der kaum ein Strauch wuchs. Keine Gefahr, von einem Angreifer aus dem Hinterhalt ьberrascht zu werden. »Okay«, sagte Mike. »Wir machen es wie beim letzten Mal – ich tanke, du stehst Schmiere.« Er grinste. »Pfeif dreimal, wenn die Bullen kommen.« Sie landeten fьnf Meter neben dem Tanker. Mike lieЯ den Gashebel ganz vor­sichtig los und wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass der Motor ausging, aber das tapfere Maschinchen lief munter weiter. Charity fragte sich, wie lange der fьnfundzwanzig Jahre alte Motorblock die Dauerbelastung noch aushaken wьrde, bevor er ihnen schlichtweg um die Ohren flog. Sie stieЯ die Tьr auf, sprang mit einem federnden Satz aus dem Hubschrauber und hob sofort ihr Gewehr. Auf der anderen Seite kletterte Mike umstдndlich aus der Maschine heraus, reckte sich ausgiebig und strich sich mьde ьber Ge­sicht und Augen, ehe er sich daran machte, den Hubschrauber zu umkreisen und auf den Tankwagen zuzugehen. Er erreichte ihn nie. Wahrscheinlich war es ihre Mьdigkeit, die sie hatte leichtsinnig werden lassen. Es ging alles so schnell, dass Charity nicht einmal dazu kam, einen warnenden Ruf auszustoЯen. Die Tьr des Motels flog mit einem scheppernden Laut auf, und ein halbes Dutzend Bewaffneter stьrmte ins Freie; im selben Moment tauchte ein Gewehrlauf im Fenster des Lastwagens auf. Charity erstarrte mitten in der Bewegung. »Gut so«, sagte eine Stimme. Sie kam irgendwo aus dem Dunkel hinter dem Gewehr, und sie klang sehr entschlossen, aber auch voller Angst. »Mach jetzt lieber keine falsche Bewegung, Kleine. Leg dein Gewehr weg, aber hьbsch langsam.« Charity gehorchte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie auch Mike behutsam die Arme hob und zu einer Stelle am hinteren Ende des zwцlf Meter langen Trucks blickte. Hinter den Zwillingsreifen des Lasters war eine geduckte Gestalt aufge­taucht. Auch sie hielt ein Gewehr. »Hцren Sie«, sagte sie vorsichtig. »Wir sind nicht Ihre Feinde.« Sie bekam keine Antwort und hob vorsichtshalber die Arme noch ein wenig hц­her. Zwei Sekunden spдter verschwand der Gewehrlauf aus dem Fenster der Fahrerkabine, und die Tьr wurde aufgestoЯen. Ein vielleicht zwanzigjдhriger blonder Junge in einem zerschlissenen Overall sprang aus dem Wagen. Das Ge­wehr in seinen Hдnden war eine uralte Remington, die wahrscheinlich nicht einmal auf zwanzig Meter genau schoss. Aber das nutzte ihr verdammt wenig – der Junge war kaum drei Meter von ihr entfernt, und er sah ganz so aus, als wдre er zu allem entschlossen. AuЯerdem war er halb wahnsinnig vor Angst. »Wir sind auf eurer Seite«, sagte sie noch einmal. »Wirklich.« Der Junge antwortete nicht, aber in die Angst in seinem Blick mischte sich et­was wie vorsichtige Erleichterung. Trotzdem blieb er misstrauisch. Er wollte ihr gerne glauben, das spьrte sie, aber er konnte es nicht. Sie versuchte die Hдnde herunterzunehmen und provozierte damit eine rasche, drohende Bewegung des Gewehres. »Tun Sie lieber nichts, wozu Sie keine Zeit mehr hдtten, es zu bereuen«, sagte der Junge. Charity unterdrьckte ein Seufzen. In welchem Film hatte er diesen Satz aufge­schnappt? dachte sie. Aber sie gehorchte trotzdem. Aus dem Motel nдherte sich ihnen jetzt eine Gruppe von fьnf oder sechs Mдn­nern. Zwei von ihnen gingen auf den Helikopter zu, wдhrend die anderen hinter dem Jungen stehen blieben. Zwei weitere Gewehre und der Lauf einer kleinen Damenpistole richteten sich auf Charity. »Hцren Sie«, sagte sie, »wir sind amerikanische Soldaten, keine Marsmenschen. Ihre Vorsicht in allen Ehren, aber ich bin mьde und mir tut jeder einzelne Kno­chen im Leib weh. Kann ich jetzt vielleicht endlich die Hдnde herunterneh­men?« Sie hatte ziemlich scharf gesprochen, und der rьde Ton erzielte die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Der Junge wirkte plцtzlich nicht mehr halb so sicher; schlieЯlich nickte er. »Sagt Stan Bescheid«, sagte er, an einen der anderen Mдnner gewandt. »Wir ha­ben sie. Ich glaube nicht, dass es Russen sind.« Russen? Charity riss die Augen auf und starrte den Jungen an. Was zum Teufel… Ihre Ьberraschung entging dem Jungen keineswegs, und natьrlich deutete er es vцllig falsch. Das misstrauische Funkeln in seinen Augen wurde wieder stдrker. »Oder?« fragte er. »Natьrlich nicht«, antwortete Charity hastig. »Verdammt, schauen Sie sich mei­ne Uniform an – sehe ich aus wie ein russischer Soldat?« Der Junge kam tatsдchlich einen Schritt nдher und blickte misstrauisch auf das kleine Sternenemblem ьber ihrer Brust. »US Space Force?« Er starrte sie an, drehte den Kopf und blickte zum Helikopter hinьber. Plцtzlich grinste er. »Ko­mische Raumschiffe habt ihr neuerdings.« Seine Bemerkung brach den Bann. Charity konnte regelrecht sehen, wie die Spannung aus den Gesichtern der anderen wich, und auch der Junge atmete hцr­bar auf. Trotzdem zцgerte sie noch einen Moment, die Hдnde herunterzuneh­men. Diese Mдnner waren mehr als nur nervцs. Eine einzige falsche Bewegung, und ihre Reise fдnde ein vorzeitiges Ende. Sie setzten sich in Bewegung und gingen zum Motel hinьber. Der Motor des Helikopters erstarb mit einem seufzenden Gerдusch, als sie die halbe Strecke geschafft hatten, aber Charity sah sich nicht einmal um. Irgendwie wьrden sie das Ding schon wieder in Gang kriegen, dachte sie. Und wenn nicht… nun, sie waren ohnehin schon sehr viel weiter gekommen, als sie erwartet hatte. Im Mo­ment interessierte sie sich sehr viel mehr fьr ein Bett. Mike und sie brauchten dringend Schlaf. Im Inneren des Motels hielten sich etwa zehn Menschen auf – ein paar Angestellte, ein дltliches Ehepaar, dem man seine Angst selbst auf zwanzig Meter Entfernung ansah, ein Mann in kariertem Hemd, den sie ganz instinktiv als den Fahrer des Tanklasters einschдtzte, und ein junges Pдrchen in Lederklei­dung. Sie erinnerte sich flьchtig, eine Harley drauЯen auf dem Parkplatz gesehen zu haben. Strandgut, dachte sie, das der nie erklдrte Krieg in diesem Motel zusammengetrieben hatte. Ein ьbergewichtiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug kam auf sie und Mike zu, als sie das Lokal betraten. Mit Ausnahme des дlteren Ehepaares war er der einzige, der keine Waffe trug, und doch wusste sie, dass sie dem Fьhrer die­ser kleinen Gemeinschaft gegenьberstand. »Sie sind Stan?« fragte sie. Er nickte. Sein Blick war vollkommen ausdruckslos, wдhrend er Mike und sie musterte. »Und Sie Captain Laird, wenn ich mich nicht irre.« »Jedenfalls heiЯe ich nicht Lairdowska«, antwortete Charity sдuerlich. »Wie zum Teufel kommen Sie auf die Schnapsidee, dass wir Russen sein kцnnten?« Stan zuckte unbeeindruckt die Achseln. »Gibt nur zwei Mцglichkeiten, oder? Die Ameisen oder die Roten. Wie Ameisen sehen Sie nicht aus, Captain.« Ameisen? dachte sie verwirrt. Dann begriff sie. Keiner von diesen Menschen wusste, was wirklich passiert war – wahrscheinlich waren sie vor fьnf Tagen hier einfach durch Zufall zusammengekommen, und alles, was sie gesehen hatten, war der groЯe Blitz. Seither saЯen sie hier fest. Sie verzichtete auf eine Antwort auf Stans Bemerkung, steuerte einen der Tische an und lieЯ sich seufzend daran nieder. Plцtzlich war sie nur noch mьde. Und sie hatte entsetzliche Angst vor den Fragen, die sie stellen wьrden. »Sie sehen aus, als kцnnten sie eine kleine Stдrkung vertragen«, sagte Stan, nachdem sich auch Mike zu ihnen gesetzt hatte. »Polly – mach unseren Gдsten etwas zu Essen. Und einen starken Kaffee.« Er lдchelte, als er Charitys dankba­ren Blick bemerkte, zog sich einen Stuhl heran und lieЯ sich rittlings darauf nie­der. Nach und nach kamen auch die anderen heran, bis Mike, Charity und er von einem guten Dutzend Mдnnern und Frauen umringt waren. »Was ist passiert?« fragte Stan schlieЯlich. Charity sah widerstrebend auf, und er musste spьren, dass sie ihm nicht antworten wollte, denn er fьgte mit einer entschuldigenden Geste hinzu: »Wir sind seit einer Woche von allem abge­schnitten, wissen Sie? Hier funktioniert fast nichts mehr. Hat es … Krieg gege­ben?« v Charity schьttelte den Kopf, nickte und schьttelte gleich darauf wieder den Kopf. Mike warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Sie konnte diese Leute einfach nicht belьgen, obwohl sie das sichere Gefьhl hatte, einen schlimmen Fehler zu begehen, wenn sie antwortete. »Nicht mit den Russen, wenn Sie das meinen«, sagte sie. »Ich fьrchte, drьben sieht es auch nicht anders aus als hier.« »Es waren die Ameisen?« Eine sonderbare Bezeichnung fьr die AuЯerirdischen, dachte Charity. Sie nickte. »Sie haben sie gesehen?« »Ein paar«, antwortete der junge Mann in der Motorradkleidung. »Vor zwei Ta­gen. Haben sich drьben in den Hьgeln rumgetrieben. Aber sie sind nicht herge­kommen.« Wдren sie es, dachte Charity, dann wдrst du kaum noch am Leben, mein Freund. Dann sah sie wieder Stan an und versuchte zu lдcheln. »Sie sind nicht die einzi­gen, die abgeschnitten sind«, sagte sie vorsichtig. Stans Gesicht verdьsterte sich. »Der groЯe Knall, nicht?« sagte er. »Sie haben dieses ganze verdammte Land lahmgelegt.« »So ungefдhr«, gestand Charity. »Sie kцnnen nicht hier bleiben«, sagte Mike. »Es kann Monate dauern, bis Hilfe kommt. Und die AuЯerirdischen…« »Die sollen nur kommen«, unterbrach ihn der Junge, der Charity ьberrascht hat­te. »Wir haben Lebensmittel fьr ein halbes Jahr. Und genug Munition, um sie auf den Mars zurьckzuschicken.« Stan schwieg dazu. Seinem Gesicht war nicht die mindeste Regung anzusehen. Aber Charity spьrte genau, was in ihm vorging. AuЯer ihr und Mike war er viel­leicht der einzige, der wusste, was wirklich auf sie zukam. »Ihr Hubschrauber«, sagte Stan plцtzlich. »Wieso fliegt er? Hier funktioniert nichts mehr.« »Ein paar Techniker in New York haben ihn hingekriegt«, antwortete Charity ausweichend. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wie lange er durchhдlt.« »Aber wenn er funktioniert, dann mьssen doch auch andere Maschinen wieder arbeiten«, sagte der Motorradfahrer. »Ich meine – unsere Jungs werden doch kommen und diese verdammten Aliens zurьckjagen, oder?« Charity wollte antworten, aber Stan war schneller. Mit einer befehlenden Geste wandte er sich an den anderen. »Halten Sie den Mund, Patrick. Sie sehen doch, dass die beiden vцllig fertig sind. Ich schlage vor, wir lassen Sie jetzt erst einmal in Ruhe. Sie werden essen und sich dann grьndlich ausschlafen, Captain. Sie sehen aus, als kцnnten Sie beides gebrauchen.« Sie hatten weder fьr das eine noch fьr das andere Zeit, aber Charity widersprach nicht. Ihre Chance, SS Nulleins lebend zu erreichen, war nicht besonders groЯ, wenn Mike oder sie am Steuerknьppel des Helikopters einschliefen. Dankbar nickte sie Stan zu. Er lдchelte. »Machen Sie sich keine Sorgen um ihren Hubschrauber«, sagte er. »Wir tanken ihn auf, und Patrick kann sich die Maschine ansehen. Er versteht eine Menge von Motoren. Morgen frьh kцnnen Sie weiterfliegen.« Charity zцgerte noch immer, obwohl sie im Grunde recht gut wusste, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als Stans Angebot anzunehmen. Sie war nicht ein­mal sicher, ob er sie ьberhaupt gehen lassen wьrde, wenn sie darauf bestanden. Sie kannte ihn und die anderen ja erst seit wenigen Minuten. Was, wenn Stanley mit seiner Warnung recht gehabt hatte? Was, wenn… Wenn ich allmдhlich anfange, hinter jeder freundlichen Geste eine Falle zu wit­tern? dachte sie. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, dass sie diesen Leuten hier vertrauen sollte. Mike nahm ihr die Entscheidung ab, indem er nickte. »Wir nehmen Ihr Angebot an, Stan«, sagte er. »Falls wir Ihnen nicht zur Last fallen.« »Bestimmt nicht«, sagte Stan. »Im Gegenteil, Lieutenant. Wir haben auf jeman­den wie Sie gewartet. Aber ganz so billig«, fьgte er nach einer winzigen Pause hinzu, »kommen Sie uns nicht davon. Sie mьssen uns alles erzдhlen, wenn Sie gegessen haben – einverstanden?« »Ein Steak gegen Informationen?« Mike zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Und wahrscheinlich, fьgte Charity in Gedanken hinzu, war das ohnehin die Wдhrung, in der in Zukunft in diesem Land bezahlt werden wьrde. Falls es ьberhaupt noch eine Zukunft gab. Sie musste vier oder fьnf Stunden geschlafen haben. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es kurz vor Mittag, als sie die Augen aufschlug, und es dauerte einen Moment, bis sie spьrte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Dann fuhr sie mit einem Ruck hoch und griff nach der Pistole, die unter ihrem Kopf­kissen lag. Stan hob erschrocken die Hдnde. »Nicht!« sagte er hastig. »Ich bin es nur.« Charity blickte ihn einen Moment lang verwirrt an, dann senkte sie die Waffe. »Haben Sie noch nie gehцrt, dass man anklopft, wenn man das Schlafzimmer einer Dame betritt, Stan?« fragte sie mьde. »Vor allem, wenn sie eine Waffe unter dem Kopfkissen hat«, fьgte Stan hinzu. »Ich weiЯ. Nehmen Sie sie ruhig herunter, Miss Laird. Ich will nur mit Ihnen reden. Ohne die anderen«, fьgte er hinzu. Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb abermals stehen. »Legen Sie das Ding zur Seite«, bat er noch einmal. »Ich will wirklich nur re­den.« Mit einem verlegenen Lдcheln legte sie die Waffe auf das Bett, stand auf und taumelte schlaftrunken zum Waschbecken. Der Wasserhahn drehte sich quiet­schend, aber es kam kein Tropfen heraus. Nein, dachte sie дrgerlich – sie war wirklich noch nicht ganz wach. Stan lдchelte, kam mit zwei raschen Schritten zu ihr herьber und goss frisches Wasser aus einem groЯen Porzellankrug in das Becken. Charity seufzte. Ob sie sich irgendwann einmal daran gewцhnen wьrde, dass sie um gut zweihundert Jahre zurьckgeworfen worden waren? Kaum. Sie wusch sich flьchtig, fьhlte sich aber hinterher kein bisschen wacher. »Also?« sagte sie. Sie sah Stan nicht an, sondern ging zum Fenster und blickte hinaus. Alles sah so friedlich aus. Sie schauderte. »Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, heute morgen, nicht wahr?« begann Stan. Charity betrachtete ihr eigenes Spiegelbild in der verschmutzten Scheibe. »Wol­len Sie sie denn hцren?« »Ich glaube schon«, sagte Stan. Er klang fast ein bisschen verдrgert. »Wie schlimm ist es wirklich?« »Schlimmer«, sagte Charity hart. »Sie haben New York vernichtet, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Und wahrscheinlich jede andere GroЯstadt in diesem ganzen Land.« Stan wurde ein bisschen blass, nahm die Nachricht aber ansonsten fast aus­druckslos hin. »Die Hilfe, auf die Sie warten, wird nicht kommen, Stan«, fuhr sie fort, ein we­nig sanfter, weil ihr ihre eigenen Worte schon wieder leid taten. »Es gibt keine Hilfe mehr. Die Army ist paralysiert, und ich fьrchte, die Ameisen werden kaum warten, bis sie sich wieder erholt hat.« Sie schьttelte traurig den Kopf und wьnschte sich, sich nicht vor zwei Jahren das Rauchen abgewцhnt zu haben. Vielleicht sollte sie Stan um eine Zigarette bitten. Dann fuhr sie fort: »Ich wьrde Ihnen gerne den Rat geben, von hier zu verschwinden, Stan, aber ich kann es nicht. Ich wьsste nicht, wohin ich Sie schicken sollte, wissen Sie? Ich glaube, Sie haben es hier ganz gut getroffen. Wenigstens leben Sie noch.« »Keine Hilfe?« murmelte Stan, als hдtte er alles, was sie danach gesagt hatte, gar nicht gehцrt. Charity ьberlegte, ob sie sich vielleicht in ihm getдuscht hatte. Vielleicht war er nicht so stark, wie sie und Mike angenommen hatten, sondern spielte nur den Fьhrer. Sie schьttelte den Kopf. »Wenn Sie auf die Air Force warten, Stan«, sagte sie sanft, »muss ich Sie enttдuschen. Das fьnfundzwanzig Jahre alte Wrack dort drauЯen ist die Air Force.« »Aber warum?« murmelte Stan. »Es ist bisher nichts passiert.« »Hier«, sagte Charity – obwohl sie zugeben musste, dass Stan nicht vцllig un­recht hatte. Sie hatten keine AuЯerirdischen gesehen, seit sie New York verlas­sen hatten, und das, obwohl sie jetzt beinahe tausend Meilen weit geflogen wa­ren. Aber die Karte in Stanleys Bьro behauptete das Gegenteil. »Vermutlich konzentrieren sie sich im Moment darauf, den Widerstand zu zer­schlagen«, sagte sie. »Ich denke, dass Sie hier noch eine Weile Ruhe haben wer­den, Stan. Die meisten unserer Waffen funktionieren nicht mehr, aber das heiЯt nicht, dass wir wehrlos sind. Es dauert eine Weile, eine ganze Welt zu erobern.« Sie lachte bitter. »Keine Hilfe?« murmelte Stan noch einmal. Er wirkte erschьttert, so sehr, wie sie es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Und plцtzlich begriff sie. Das Dutzend Menschen, das das Schicksal hier zusammengefьhrt hatte, hat­te ihn zu ihrem Fьhrer gewдhlt, aber er hatte ihnen wahrscheinlich nur Mut ge­ben kцnnen, weil sie alle glaubten, dass irgendwann Hilfe kommen wьrde. Wenn sie die Wahrheit erfuhren, wьrde ihre Gemeinschaft so schnell zerbre­chen, wie sie entstanden war. »Sie sollten versuchen, sich in die Berge durchzuschlagen«, sagte sie. »Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, Stan. Es ist ein verdammt langer Weg, zu FuЯ, aber…« »Wir werden fahren«, sagte Stan. Charity sah ihn ьberrascht an. »Patrick hat sich ihren Hubschrauber angesehen«, erklдrte Stan. »Keine Sorge, er hat nichts angerьhrt. Aber er sagt, es wдre eigentlich ganz leicht, wenn man nur einmal wьsste, wie man es macht. Wir werden ein paar der Wagen flott ma­chen und so viel Benzin mitnehmen, wie wir kцnnen. Ich… ich weiЯ nur noch nicht genau, wie ich es ihnen beibringen soll.« »Soll ich es tun?« fragte Charity. Stan schьttelte traurig den Kopf. »Das ist meine Aufgabe«, sagte er. »Aber ich … werde warten, bis Sie wieder abgeflogen sind.« Er seufzte, lieЯ sich auf einen Stuhl sinken und verbarg das Gesicht in den Hдnden. Er tat Charity sehr, sehr leid. Aber sie sagte nichts mehr, sondern wartete, bis er nach einer Weile wieder auf­stand und sie allein lieЯ, ehe sie sich umzog und ihr Gepдck wieder zusammen­packte. Sie aЯen noch einmal zusammen, ehe sie abflogen. Charity war sicher, dass Stan niemandem etwas von ihrem Gesprдch verraten hatte, aber die anderen schienen zu spьren, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie redeten sehr wenig, und so ab­surd es war – Charity hatte das sichere Gefьhl, dass nicht nur Stan erleichtert war, als sie schlieЯlich aufstanden und erklдrten, es wдre Zeit aufzubrechen. Diesmal saЯ Charity hinter dem Steuerknьppel. Sie winkte Stan und den anderen zum Abschied zu, zog den Helikopter vorsichtig hцher und flog noch eine Schleife um das Drive-In. Mike runzelte vielsagend die Stirn, aber er war klug genug, nichts zu sagen. Aber sie brachte die Maschine auch anschlieЯend nicht wieder auf Kurs, sondern flog auf die Berge zu. Mike sah sie verwirrt an. »Was soll das?« fragte er barsch. Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hьgelkette vier oder fьnf Mei­len vor ihnen. »Der Junge hat gesagt, er hдtte die Fremden dort beobachtet«, antwortete sie. »Ich will mir das ansehen.« »Und wozu?« Mike gab sich nicht einmal mehr Mьhe, seine Verдrgerung zu verbergen. »Vielleicht, weil ich gerne weiЯ, was hinter mir ist«, antwortete Charity. Aber das war nicht der wahre Grund – die Wahrheit war, dass sie sich auf eine vцllig widersinnige Art fьr das Schicksal der Menschen am Drive-In verantwortlich fьhlte. Und das mindeste, was sie fьr sie tun konnten, war, sich davon zu ьber­zeugen, dass sie in Sicherheit waren. Sie waren es nicht. Eine grдssliche Szenerie breitete sich unter ihnen aus. Wo vor Tagen noch nichts als unberьhrte Steppe und Sand und ein paar Bьsche gewesen waren, lag jetzt eine ungeheuerliche Masse chitinglitzernder gepanzerter Kцrper, zwischen de­nen sich eine seltsame schwarze Pyramide erhob. Charity konnte das Gefьhl nicht besser in Worte fassen – es war schlicht und einfach unangenehm, das schwarze Bauwerk anzusehen. Etwas in ihr krampfte sich zusammen, wenn sie es versuchte. Zitternd setzte sie den Feldstecher ab, reichte ihn an Mike weiter und kroch wie­der ein Stьck den Hьgel hinab, hinter dem sie den Hubschrauber gelandet hat­ten. Ein flaues Gefьhl breitete sich in ihrem Magen aus, als sie daran dachte, was ihnen wahrscheinlich passiert wдre, hдtte sie den Hьgel ьberflogen, um sich das dahinterliegende Tal aus der Luft heraus anzusehen, wie sie es ursprьnglich vorgehabt hatte. Mike kam zurьck. Er war sehr blass, und seine Hдnde zitterten, als er ihr den Feldstecher zurьckgab. Er sagte kein Wort, aber Charity spьrte, dass er darauf wartete, dass sie aufstehen und zum Hubschrauber zurьckgehen wьrde. Statt dessen klappte sie das Fernglas mit einer raschen Bewegung auf, kramte einen Film aus der Brusttasche ihrer Uniform und legte ihn ein. »Was zum Teufel hast du vor?« fauchte Mike. »Das siehst du doch«, antwortete Charity, kaum weniger gereizt als er. »Ich ma­che ein paar Aufnahmen. Ich will wissen, was sie dort unten treiben.« Sie gab Mike keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern robbte den sandigen Hang wieder hinauf, schob sich vorsichtig auf den Hьgelkamm und setzte den Feldstecher abermals an. Der Mikrocomputer in seinem Inneren funktionierte nicht mehr, und sie verstand absolut nichts vom Fotografieren, aber sie hoffte, dass Beckers Spezialisten wenigstens einigermaЯen schlau aus den Aufnahmen werden wьrden, die sie machte. Mike tauchte wieder neben ihr auf. Sie rechnete mit neuen Vorwьrfen, aber er schwieg, wдhrend sie den Feldstecher langsam von links nach rechts schwenkte und alle paar Sekunden auf den Auslцser drьckte. »Das ist unglaublich«, murmelte Mike. »Es… ergibt keinen Sinn. GroЯer Gott – Sternenschiffe und Materietransmitter und dann das da!« Charity antwortete nicht, aber sie verstand ihn. Was sich unter ihnen ausbreitete, das war… einfach absurd. Ihre genaue Zahl war schwer zu schдtzen, aber Charity vermutete, dass es Tau­sende dieser bizarren Kreaturen sein mussten, die sich in dem flachen Hьgeltal sammelten. Durch das Fernglas hatte sie beobachtet, dass sie aus dem pyrami­denfцrmigen Gebдude im Zentrum des Lagers kamen; ein dьnner, aber unauf­hцrlicher Strom aller nur denkbaren Horrorkreaturen, von denen einige nur mit Mьhe aus dem halbrunden Eingang der Pyramide herauskriechen konnten. Es waren nicht nur die riesigen Kдferwesen, die das Tal bevцlkerten, oder ihre vierarmigen Reiter, sondern ein ganzes Sammelsurium der absonderlichsten Kreaturen, die nur eines gemeinsam hatten – sie alle wirkten auf die eine oder andere Art gefдhrlich. Und mit Ausnahme der Vierarmigen, die die Sturmtrup­pen der Fremden zu sein schienen, waren es ausnahmlos Tiere. »Vielleicht doch«, sagte sie plцtzlich. Sie senkte den Feldstecher, fuhr sich mь­de mit dem Handrьcken ьber die Augen und deutete mit einer Kopfbewegung ins Tal hinab. »Es ergibt Sinn, wenn man…« Sie suchte nach den passenden Worten, fand sie nicht und zuckte die Achseln. »Wenn man anders denkt als wir«, sagte sie schlieЯlich. »Und wie?« Mikes Tonfall machte deutlich, dass auch er sich Gedanken ьber diese Frage gemacht hatte. Und vielleicht war er zu dem gleichen, schrecklichen Ergebnis gekommen wie sie. »Ich vermute, das da sind nur die Sturmtruppen«, sagte Charity. »Die groЯe Dampfwalze, die sie vorausschicken, weiЯt du?« »Es sind Tiere«, sagte Mike betont. »Und?« fragte Charity. »Wir schicken Raketen oder Roboter und sie Tiere – wo ist der Unterschied? Vielleicht haben sie sie zu keinem anderen Zweck gezьch­tet.« »Aber…« »Verdammt noch mal, wьrde es etwas дndern, wenn dort unten zehntausend Ro­boter aufmarschiert wдren?« unterbrach ihn Charity gereizt. »Diese Monster funktionieren perfekt, oder? Du kannst ja runtergehen und dich bei ihnen be­schweren, dass sie sich nicht an die Spielregeln halten!« »Es ist so … so unmenschlich«, sagte Mike nach einer Weile. »Sie sind keine Menschen«, erinnerte Charity gereizt. »Und wer immer sie sind, das da unten sind nicht unsere wirklichen Gegner. Es sind ihre Panzer.« Aber sie verstand, was Mike meinte. Neben der ungeheuerlichen Gefahr, die diese Armee aus Horrorkreaturen darstellte, gab es auch noch einen psychologischen Effekt, und sie war nicht einmal sicher, ob er nicht sogar beabsichtigt war. Nicht nur Mike wдre es einfach leichter gefallen, gegen eine Armee gefьhlloser Roboter mit Strahlenwaffen zu kдmpfen. Diese Invasion der Ungeheuer lahmte schon durch ihren bloЯen Anblick. »Und wahrscheinlich haben sie es schon auf Dutzenden von Welten getan«, knьpfte sie an ihre unterbrochene Rede an. »Sie schicken diese Ungeheuer, und wenn alles vorbei ist, kommen sie selbst und sammeln die Trьmmer auf.« Sie setzte endgьltig den Feldstecher ab, verstaute ihn sorgsam in der ledernen Hьlle an ihrem Gьrtel und begann langsam den Hang wieder hinabzukriechen. Mike folgte ihr. Auf halber Strecke erhoben sie sich und rannten geduckt zum Hubschrauber. Charity schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass der Wind ge­gen sie stand und das Rotorengerдusch vom Hьgel fortwehte. Sie hoben ab. Charity flog sehr vorsichtig, kam hцher als fьnf, sechs Meter, und so langsam, wie es die Maschine ьberhaupt zulieЯ. Erst, als sie sich eine gute Meile vom Hьgel und damit dem Camp der Fremden entfernt hatte, wagte es Charity, den Hubschrauber ein wenig hцher zu steuern und in eine sanfte Links­kurve zu lenken. »Was hast du jetzt schon wieder vor?« fragte Mike дrgerlich. »Ich warne Stan und die anderen«, erwiderte Charity. »Falls du nichts dagegen hast.« Mike sagte nichts, aber sein Blick sprach Bдnde, und er schwieg auf eine ganz bestimmte, nicht sehr freundliche Art. Charity war ziemlich sicher, dass er sie nach der nдchsten Zwischenlandung nicht noch einmal an den Steuerknьppel lassen wьrde. Verdammt, was war nur mit ihm los? dachte sie. Er hatte sich ver­дndert, seit sie New York verlassen hatten. Sie war plцtzlich sehr sicher, dass sie sich voneinander trennen wьrden, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. 12. Dezember 1998 Sie schaffte es nicht. Irgend jemand schien beschlossen zu haben, den Teil der Rocky Mountains, in denen sich der Bunker befand, als AmboЯ zu benutzen, jedenfalls waren die Erschьtterungen beinahe unbeschreiblich. Trotz aller Panik war sie umsichtig genug, nicht den Aufzug zu benutzen, was ihr wahrscheinlich das Leben rettete. Sie verlor fьr Sekunden das Bewusstsein, so hart war der Schlag, der den Berg traf und sie von den FьЯen riss, und als sie wieder erwachte, war das Licht erlo­schen und dem dьsteren Rot der Notbeleuchtung gewichen. Der Berg stцhnte.Ьberall rings um sie herum krachte und polterte es, als stьrze der ganze unterir­dische Bunker zusammen. SS Nulleins war in ein natьrliches Hцhlensystem hin­eingebaut worden. Einige schwere Erschьtterungen konnten das ganze ver­dammte Labyrinth zusammenbrechen lassen. Mьhsam arbeitete sie sich auf die FьЯe, wischte sich Staub und Blut aus dem Gesicht und verzog schmerzhaft die Lippen, als die alte Wunde in ihrem Ober­schenkel sich wieder meldete. Warmes Blut lief an ihrem Bein herab. Sie biss die Zдhne zusammen, klaubte ihren Tornister unter dem Berg von Schutt und Staub hervor und humpelte weiter. Vor ihr wurden die Schreie lauter, dann hцrte sie das Gerдusch von Schьssen und das hohe, boshafte Summen ei­nes Lasers. GroЯer Gott – waren sie schon hier? Ihr Armbandfunkgerдt meldete sich piepsend. Charity drьckte die Antworttaste und hielt das Gerдt ans Ohr, aber alles, was sie hцrte, war ein helles, an– und ab­schwellendes Pfeifen und ein paar vollkommen unverstдndliche Wortfetzen. Sie fluchte, humpelte mit zusammengebissenen Zдhnen weiter und lieЯ Gewehr und Rucksack einfach fallen, als sie eines der Wandtelefone entdeckte. Sie hatte kaum damit gerechnet – aber es funktionierte noch. Becker hцchstper­sцnlich meldete sich, als sie den Knopf drьckte. »Laird – wo sind Sie?« »Irgendwo auf halber Strecke«, antwortete Charity. »Was ist passiert?« Becker ignorierte ihre Frage. »Versuchen Sie sich zum Schiff durchzuschlagen, Captain«, sagte er. »Wir kommen so schnell wie mцglich nach.« »Der halbe Bunker ist zusammengebrochen«, antwortete Charity. »Ich glaube nicht, dass ich die Schleuse erreiche. Wir…« »Verdammt, dann benutzen Sie den Fluchttunnel!« brьllte Becker. »Ich habe jetzt keine Zeit fьr Diskussionen, Captain! Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!. Wir sind in spдtestens zwanzig Minuten beim Raumschiff!« Es klickte leise, als Becker die Verbindung kurzerhand unterbrach. Charity starr­te den Hцrer einen Herzschlag lang wьtend an, knallte ihn auf die Gabel zurьck und bьckte sich abermals nach ihren Sachen. Becker hatte nicht einmal so un­recht – der Hangar, in dem die CONQUEROR und ihr Schwesterschiff standen, war weit genug von der eigentlichen Bunkerfestung entfernt, um vielleicht noch intakt zu sein. Was immer SS Nulleins getroffen hatte – und es musste etwas verdammt GroЯes gewesen sein! –, war mit Sicherheit auf das Herz der Bunker­anlage gezielt gewesen, nicht auf einen fast fьnf Meilen entfernt liegenden Raumschiffhangar, von dessen Existenz ohnehin nur eine Handvoll Leute wuss­ten. Ihr Bein schmerzte stдrker. Sie sah an sich herab und bemerkte einen dunklen, allmдhlich grцЯer werdenden Fleck ьber der Wunde. Aber das war jetzt unwich­tig. Wenn sie nicht verdammt schnell hier herauskam, dachte sie, brauchte sie sich um das Loch in ihrem Oberschenkel wohl keine Gedanken mehr zu ma­chen… Mit zusammengebissenen Zдhnen humpelte sie weiter, erreichte die nдchste Ab­zweigung und blieb abermals stehen. Wo zum Teufel war dieser verdammte Fluchttunnel? Becker hatte ihn ihr nur ein einziges Mal gezeigt, und allein der Gedanke daran hatte ihr eine solche Furcht eingejagt, dass sie sich den Standort seiner Eingдnge kaum gemerkt hatte – es war nicht unbedingt jedermanns Sache, sich in ein Loch fallen zu lassen, um anderthalb Meilen weit in immer grцЯer werdenden Spiralen in die Tiefe zu rutschen… Das SchieЯen vor ihr wurde lauter, und zwischen dem peitschenden Rattern der MP-Salven und dem Schreien hцrte sie noch einen anderen Laut, ein Gerдusch, das ihr nur zu bekannt vorkam und das ihr schier das Blut in den Adern gerinnen lieЯ: das dumpfe, trockene Krachen der plumpen Insektenwaffen, wie die AuЯerirdischen sie benutzten. Und als sie das Ende des Korridors erreicht hatte, entdeckte Charity sie auch. Ein halbes Dutzend der riesigen Wurmkreaturen lag reglos zwischen den Trьmmern, und hinter und zwischen ihnen bewegten sich Dutzende der schlan­ken, vierarmigen Sцldnerkreaturen. Charity begriff schmerzhaft, dass diese rie­sigen Wьrmer nichts als die Vorhut gewesen waren, die Pioniere, die den Weg in den Bunker freischaufelten und denen jetzt die Sturmtruppen folgten. Der Angriff schien nicht besonders erfolgreich zu sein – es waren kaum zwei Dut­zend Soldaten, die sich gegen die Insektenwesen wehrten, aber offenbar schцssen sie sie zu Hunderten ab; beinahe schneller, als sie aus den riesigen Wurmlцchern herauskommen konnten. Trotzdem wьrde es nichts nutzen, dachte sie verbittert. Einen Gegner, der ьber unbegrenzte Reserven verfьgt, konnte man nicht zermьrben. Mit einem lautlosen Fluch zog sie sich ein Stьck in den Gang zurьck, entdeckte eine weitere Abzweigung, an der sie das erste Mal einfach vorbeigelaufen war, und humpelte los. Ihr Bein schmerzte immer stдrker. Als sie in den Seitengang eindrang, stand sie einem Schatten gegenьber. Instink­tiv hob sie ihr Gewehr, hцrte einen erschrockenen Ausruf und nahm im letzten Moment den Finger vom Abzug, als sie ihren Gegenьber erkannte. »Stone!« rief sie. »Was zum Teufel tun Sie hier?« »Ich habe Sie gesucht«, antwortete Stone. Nervцs blickte er sich um und deutete dann in die Richtung, aus der er gekommen war. »Wir mьssen weg. Kommen Sie, Captain!« »Was soll das?« fragte Charity gereizt. »Ich habe meine Befehle, Lieutenant, und Sie…« »Vergessen Sie sie«, unterbrach sie Stone. »Sie sind ьberall, Laird. Es ist aus. Aber ich kann sie hier herausbringen, wenn Sie wollen.« Charity rьhrte sich noch immer nicht. »Heraus?« fragte sie. »Und wohin, Lieu­tenant? Dort oben ist nichts als eine radioaktive Hцlle!« Stone lachte hart. »Ach? Sie denken, wir wдren von einer Bombe getroffen wor­den?« Er schьttelte so heftig den Kopf, dass seine Haare flogen. »Das war Be­cker«, sagte er. »Becker?« Charity atmete erschrocken ein. Sie wusste, was Stone meinte, aber sie wollte es einfach nicht glauben. »Dieser Idiot hat die Sprengsдtze gezьndet«, sagte Stone bitter. »Es war keine Atombombe, Captain. Becker hat den halben Bunker in die Luft gejagt. Es gibt jetzt keinen Ausgang mehr.« Der Friede der vergangenen Tage und die Grabesruhe von Stans Drive-In tдuschten – sie sahen mehr und mehr die Spuren schwerer Kдmpfe, je weiter sie ins Landesinnere vordrangen, und allein wдhrend des nдchsten Tages wurden sie zweimal direkt angegriffen – von einem Insektenmonster, das zum Glьck viel langsamer war als der Helikopter; Mike wich dem ersten Angriff des fliegenden Scheusals aus und gab dann einfach Gas. Das zweite Mal hatten sie weniger Glьck – Mike bemerkte die Gefahr zu spдt, und sie fanden sich unversehens in einem Schwдrm faustgroЯer, schwarzbrauner Tiere, die sich gleich zu Tausen­den auf den Helikopter stьrzten. Sie waren nicht schnell und nicht widerstands­fдhig genug, etwa die Plexiglaskanzel zu zerschlagen, aber sie prasselten wie Maschinengewehrfeuer auf den kleinen Hubschrauber herab. Hinterher kam es Charity fast wie ein Wunder vor, dass Mike die Maschine ьberhaupt in der Luft hatte halten kцnnen. • Aber sie mussten landen. Der Motor begann zu stottern, und die Kanzel war so verschmiert mit den zermalmten Resten der Insekten, dass sie beinahe blind waren. Sie flogen noch ein Stьck – zehn, vielleicht zwцlf Meilen, von denen Charity inbrьnstig hoffte, dass sie ausreichten, sie aus der Reichweite des fliegenden Schwarmes zu bringen, dann zog Mike die Maschine herunter. Ein paar Meilen abseits der StraЯe blinkte ein kleiner See in der Vor­mittagssonne, an dessen Ufer sie landeten. Wдhrend Charity mit einem ihrer Uniformhemden und reichlich Wasser aus dem See versuchte, die klebrigen Reste der Rieseninsekten von der Kanzel zu wischen, kletterte Mike auf die Maschine hinauf und untersuchte den Motor. Charity hцrte ihn gedдmpft fluchen. »Was ist los?« fragte sie. »Was los ist?« Mike fluchte erneut. »Komm rauf und schau dir die Schweinerei an, dann weiЯt du, was los ist«, fauchte er. »Diese verdammte ScheiЯe verklei­stert den ganzen Motor! Ich brauche mindestens eine Stunde, um den Dreck he­runterzubekommen. Wenn ich es ьberhaupt schaffe!« Trotz allem konnte Charity ein Lдcheln nicht unterdrьcken. Mike hцrte sich an wie jemand, der gerade entdeckt hat, dass der Nachbarsjunge mit einem Nagel den Lack seines neuen Wagens verziert hatte. Vielleicht, dachte sie spцttisch, war das ihr Untergang gewesen: die AuЯerirdischen hдtten nicht die menschli­che Rasse, sondern ihre Autos angreifen sollen. Mцglicherweise hдtte sich der gerechte Zorn einer ganzen Welt voller Autofahrer erhoben und sie wieder zu­rьck in die Galaxis gefegt. Sie schьttelte – noch immer lдchelnd – den Kopf, trat einen Schritt vom Hub­schrauber zurьck und blinzelte zu Mike hinauf. »Kriegst du es hin?« »Ich hoffe es«, grollte Mike. »Ich…« Er sprach nicht weiter, und obwohl Charity ihn nur als schwarzen Umriss gegen die Sonne erkennen konnte, sah sie doch, wie er erschrocken aufsah und nach Sьden blickte. »Da kommt jemand«, sagte er. »Ein… ein Wagen!« Charity drehte sich herum und hob die Hand ьber die Augen. Ein schwarzer Punkt kroch auf sie zu und zog eine gewaltige Staubwolke hinter sich her. Mike kletterte umstдndlich vom Hub­schrauber herunter, wдhrend sich Charity in die Kanzel beugte und ihr Gewehr holte. Es war ein schwarzer Trans-Am, der sich ьber die Steppe zu ihnen quдlte. Er fuhr schnell, und mehr als einmal rechnete Charity ernsthaft damit, dass der fla­che Sportwagen einfach in einem Schlagloch stecken bleiben oder sich die Ach­sen brechen wьrde. Aber nichts davon geschah – der Wagen kam nдher und blieb schlieЯlich vor dem Hubschrauber stehen. Charity erkannte die Silhouette einer einzelnen Person hinter der abgedunkelten Frontscheibe. Sie gab Mike ein Zeichen, zurьckzubleiben, nahm das Gewehr in einer nur scheinbar lдssigen Haltung in die Armbeuge und ging auf den Wagen zu. Das Fenster wurde heruntergelassen, als sie noch zwei Schritte davon entfernt war. Ein sehr blasses, sehr erschrockenes Gesicht blickte zu ihr auf. »Gott sei Dank, Sie sind ein Mensch«, sagte der junge Mann. Charity hatte sel­ten eine solche Erleichterung in der Stimme eines Menschen gehцrt. »Sollten wir etwas anderes sein?« fragte sie verwirrt. Der Fahrer des Trans-Am antwortete nicht darauf, sondern цffnete die Tьr und stieg umstдndlich aus dem Wagen. Seine Bewegungen wirkten erschцpft, und Charity sah erst jetzt, dass er eine vцllig zerfetzte Uniform trug. Ьber seiner rechten Hьfte war ein groЯer, kaum eingetrockneter Blutfleck. Sein Blick flak­kerte. Er schien halb verrьckt vor Angst zu sein. »Wer sind Sie?« fragte Charity noch. »Und was ist passiert?« »Harker«, antwortete der Soldat. »Sergeant Jonathan Harker, 7. Panzerbataillon. Und wahrscheinlich der einzige, der noch lebt.« Er begann nervцs auf der Stelle zu treten und sah sich immer wieder um, als fьrchte er, die Fremden kцnnten jeden Moment hinter ihm aus dem Boden wachsen. »Ich habe Ihren Hubschrau­ber gesehen und gehofft, dass Sie landen«, fuhr er fort. »Und Gott sei Dank ha­ben Sie es getan. Ich habe kaum noch Benzin. Bitte – Sie mьssen mir helfen! Sie tцten uns. Ich… ich glaube nicht, dass einer der anderen noch lebt. Ich bin nur entkommen, weil… weil ich dieses Ding hier gefunden habe.« Er deutete auf den Trans-Am. »Aber sie sind hinter mir her.« Charity verbiss sich die Frage, wieso der Trans-Am ьberhaupt noch fuhr. »Sie kцnnen ein paar Gallonen Benzin von uns haben«, sagte Mike, der mittler­weile ebenfalls herangekommen war. »Aber jetzt erzдhlen Sie erst einmal, was ьberhaupt passiert ist, Mann. Sie wurden angegriffen?« »Angegriffen?« Harker kreischte fast. »Sie haben uns aufgerieben! Ich … ich habe nie so etwas erlebt. Es … es mьssen Millionen sein. Und es werden immer mehr. O Gott, sie … sie vernichten alles. Sie tцten jeden, den sie sehen.« Mike wollte Harker erneut unterbrechen, aber Charity warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu. Sie spьrte, dass der junge Soldat ganz kurz vor dem Zu­sammenbruch stand. Ein falsches Wort, und sie wьrden ьberhaupt nichts mehr erfahren. »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal, John«, sagte sie. »Im Moment sind Sie nicht in Gefahr.« Sie deutete auf den Helikopter. »Wir sind den ganzen Morgen ьber geflogen, ohne auch nur einen einzigen AuЯerirdischen zu sehen.« »Sie kommen«, beharrte Harker. »Das mag ja sein«, sagte Charity, eine Spur hдrter. »Aber nicht jetzt. Sie werden sich jetzt verdammt noch mal beruhigen und uns dann erzдhlen, was passiert ist.« Mike verdrehte ungeduldig die Augen, aber Charity machte abermals eine war­nende Geste. Harker war halb verrьckt vor Angst. Sie konnten schon froh sein, wenn er ьberhaupt sprach. Harkers Augen waren voller Panik, aber er beruhigte sich tatsдchlich ein wenig. Trotzdem dauerte es noch fast fьnf Minuten, ehe er sich wieder so weit in der Gewalt hatte, mit dem geforderten Bericht zu beginnen. »Wir waren drьben in Colinsville stationiert«, begann er, »als das Licht ausging. Ein kleines Kaff, vielleicht fьnfzig Meilen von hier. Kein Mensch wusste, was ьberhaupt passiert war, verstehen Sie? Zuerst dachten wir, dass die Bomben ge­fallen wдren, aber nach und nach erfuhren wir dann die Wahrheit. Viele sind einfach abgehauen. Desertiert, verstehen Sie? Wollten nach Hause zu ihren Fa­milien.« »Und dann kamen die Fremden?« fragte sie behutsam. Harker schьttelte den Kopf. »Nicht gleich. Zuerst war alles friedlich. Wir hцrten von Kдmpfen, weiter im Osten und im Norden, aber bei uns … tat sich nichts. Es sieht so aus, als wьrden sie nur das Militдr angreifen. Flughдfen, Basen, die Ma­gazine der Nationalgarde…« Harker trat nervцs von einem FuЯ auf den anderen. Sein Blick irrte zwischen dem Hubschrauber und den Hьgeln im Norden hin und her. Er war ein Kind, dachte Charity, halb mitleidig, halb verдrgert. Man sollte Kinder nicht in Uni­formen stecken und dann von ihnen erwarten, die Arbeit von Mдnnern zu tun. »Haben Sie … eine Zigarette?« fragte Harker plцtzlich. Charity schьttelte den Kopf, aber Mike griff in die Jackentasche und fцrderte ein noch nicht angebro­chenes Pдckchen Marlboro zutage. »Behalten Sie sie«, sagte er. »Aber seien Sie sparsam. So etwas wird heute nicht mehr hergestellt. Vorkriegsware.« Harker lдchelte pflichtschuldig, griff nach den Zigaretten und senkte die andere Hand in die Tasche, um ein Feuerzeug herauszuziehen. Wenigstens war es das, was Charity glaubte. Aber er zog kein Feuerzeug hervor, sondern eine Pistole, und er griff auch nicht nach der Zigarettenpackung, sondern nach Mikes Handgelenk, schnell und hart und mit einem Male gar nicht mehr nervцs, sondern mit solcher Kraft, dass Mi­kes instinktive Abwehrbewegung zu spдt kam. Mike schrie auf, brach in die Knie, als Harker seinen Arm rasch und brutal verdrehte, und versuchte vergeb­lich, seinen Griff zu sprengen. Charity lieЯ sich einfach zur Seite fallen, kam mit einer blitzschnellen Rolle wieder auf die FьЯe und federte auf Harker zu. Ein Schuss krachte. Zehn Zentimeter vor Charitys FьЯen spritzte der Sand auf, und sie erstarrte mitten in der Bewegung. Ganz langsam hob sie die Hдnde, starrte Harker einen Moment lang fassungslos an und drehte sich dann ganz langsam zur Seite. Es war nicht Harker, der geschossen hatte. Der Kofferraum des Trans-Am hatte sich geцffnet, und zum Vorschein kam ein grьn uniformierter GI, dessen Mio-Gewehr drohend auf Charitys Magen wies. Sie konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, aber sie war ziemlich sicher, dass der nдchste Schuss nicht nur den Sand vor ihr treffen wьrde. »Sehr gut«, sagte eine Stimme auf der anderen Seite des Wagens. Vorsichtig, um den Mann mit dem Gewehr – und vor allem seinen Zeigefinger – nicht noch nervцser zu machen, als er ohnehin schon war, drehte sie sich herum und er­kannte einen dritten Uniformierten, der sich ohne sichtbare Hast hinter dem Wa­gen aufrichtete. Auch in seiner Hand lag eine Pistole, aber er hielt die Waffe sehr nachlдssig. Charity fragte sich, wo er hergekommen war. Der Kofferraum des Trans-Am war nicht groЯ genug, gleich zwei Mдnner zu verstecken. Er musste hinter den Sitzen gelegen haben. In Gedanken verfluchte sie sich fьr ih­ren eigenen Leichtsinn, sich den Wagen nicht genauer angesehen zu haben. »Gut, dass Sie vernьnftig sind, Captain«, sagte der Mann, wдhrend er langsam um den Wagen herum auf sie zukam. »Wenn Sie es auch bleiben, werden wir uns sicher verstehen. Wenn nicht, wird Mark Sie erschieЯen. Klar?« Charity nickte. »Klar«, sagte sie gepresst. Jetzt, als er nдher kam, sah sie, dass er die Uniform eines Generals trug. »Wer sind Sie?« fragte sie. »Barton?« »General Barton, um genau zu sein, Captain. Aber sonst stimmt es.« Barton wandte sich an den Jungen, der Mike ьberwдltigt hatte. »Sie kommen klar, Har­ker?« Harker lдchelte wortlos. Der Mann mit dem Gewehr kletterte umstдndlich aus dem Kofferraum des Wa­gens heraus, ohne sie allerdings dabei auch nur eine halbe Sekunde aus dem Vi­sier zu lassen, und Barton richtete seine Pistole auf Mike. »Lassen Sie ihn los, Harker«, befahl er. »Aber vorsichtig.« Harker gehorchte, sprang rasch einen Schritt zurьck und drьckte den Lauf seiner Pistole gegen Mikes Schlдfe, als er sich erhob. Mike ballte hilflos die Fдuste und erstarrte zur Reglosigkeit. »Verdammt, Barton, was soll das bedeuten?« fragte Charity,»wir stehen auf derselben Seite!« »Habe ich das Gegenteil behauptet?« fragte Barton. »Dann nehmen Sie diese verdammte Pistole herunter!« verlangte Charity. »Sofort«, sagte Barton. »Sobald Sie Ihre Waffe weggelegt und mir Ihr Ehren­wort als Offizier gegeben haben, keine Dummheiten zu machen.« »Sind Sie vцllig verrьckt geworden?« keuchte Charity. »Wovon reden Sie ьber­haupt? Was soll dieser Ьberfall?!« »Begreifst du es immer noch nicht?« sagte Mike leise. »Was?« Charity funkelte ihn und Barton abwechselnd an. »Sie wollen den Hubschrauber«, sagte Mike. »Nicht wahr, General?« Barton nickte. Er lдchelte noch immer. Zumindest in einem Punkt hatte Harker die Wahrheit gesagt, dachte Charity wь­tend – Colinsville war ein Kaff, ein Nest, das normalerweise wahrscheinlich nicht einmal tausend Einwohner hatte und die Bezeichnung Ortschaft nur mit sehr viel gutem Willen verdiente. Aber immerhin – es hatte ein eigenes Gefдng­nis, das nur aus einem einzigen, groЯen Raum bestand, der von einem Gitter aus daumendicken Eisenstдben in zwei gleichgroЯe Hдlften geteilt wurde. Barton war sogar zuvorkommend genug gewesen, Mike und ihr Einzelzimmer zuzuwei­sen: Sie war in die rechte und er in die linke der beiden Gitterkдfige gesperrt worden. Seither waren fьnf oder sechs Stunden vergangen. Gegen Mittag war einer von Bartons Mдnnern gekommen und hatte ihr und Mike einen Becher mit kaltem Tee und ein paar lieblos geschmierte Sandwiches durch das Gitter gereicht, wдh­rend ein zweiter GI mit entsichertem Gewehr dabeistand und aufpaЯte, dass sie nicht versuchten, durch die Gitterstдbe zu schlьpfen oder ihn mit dem Sandwich zu erschlagen. Zwei weitere Bewaffnete hielten drauЯen auf dem Gang Wache. Charity bewegte sich unruhig auf dem harten Bett. Sie hatte versucht, es Mike gleichzutun und die Zeit wenigstens zu nutzen, um zu schlafen, aber sie konnte es nicht. Der Gedanke, dass ihre Reise nach allem hier enden sollte, trieb sie fast zur Raserei. Und sie verzieh es sich einfach nicht, sich auf so plumpe Art von Barton und Harker ьberrumpelt haben zu lassen. Sie mussten hier heraus, ganz egal, wie! Das Gerдusch eines Schlьssels, der im Schloss gedreht wurde, riss sie aus finste­ren Ьberlegungen. Sie sah auf, stemmte sich gemдchlich auf die Ellenbogen hoch und stand mit einem Ruck auf, als sie Barton erkannte. Er hatte sich verдndert, und es war keine Verдnderung, die Charity gefiel. Bar­ton hatte seine Generalsuniform gegen einen schmucklosen Kampfanzug ge­tauscht, und sein Gesicht war zum Teil mit RuЯ geschwдrzt. Ьber seiner rechten Schulter hing eine Maschinenpistole; drei Handgranaten baumelten von seinem Gьrtel herab. Charity zog die linke Augenbraue hoch. »Wollen Sie Krieg spielen, General?« fragte sie spцttisch. »Nein«, antwortete Barton gelassen. »Ich werde das tun, was Sie und all diese anderen Idioten im Pentagon versдumt haben, Captain. Ich sprenge diese ver­dammten Aliens dorthin zurьck, wo sie hergekommen sind.« »Ich fьrchte nur, dazu brauchen Sie mehr als drei Handgranaten«, sagte Mike. Charity hatte nicht einmal gehцrt, dass er aufgestanden war. Wьtend trat er an das Gitter heran und schloss die Hдnde um die rostigen Stдbe. Barton wich einen halben Schritt zurьck, obwohl er nicht einmal in Mikes Reichweite war. »Das haben wir, Lieutenant, das haben wir«, versicherte er. »Wir sind nicht ganz so wehrlos, wie diese Biester glauben.« Er legte den Kopf auf die Seite, als lau­sche er, und deutete zum Fenster. »Hцren Sie das?« Charity konzentrierte sich einen Moment, und sie hцrte tatsдchlich etwas – sehr weit entfernt, aber eindeutig: das Gerдusch eines schweren Dieselmotors, der langsam auf Touren kam. Barton lдchelte triumphierend. »Sie hцren recht, Captain. Ich habe ein paar be­gabte Techniker unter meinen Jungs. Dieses Pack wird sich wundern, wenn es in die Lдufe unserer Panzer blickt. Aber nicht lange.«»Panzer?« Es gelang Mike nicht ganz, seine Ьberraschung zu verbergen, was den Ausdruck von Triumph auf Bartons Gesicht noch verstдrkte. »Nicht sehr viele«, gestand er. »Und auch nicht unbedingt die neuesten Modelle. Aber genug, um mit ein paar grцЯenwahnsinnigen Ameisen fertig zu werden, glauben Sie mir.« »Sie sind ja verrьckt«, sagte Mike. »Sie werden nicht einmal in ihre Nдhe kom­men!« »O doch«, widersprach Barton. »Nicht zuletzt wegen Ihres Hubschraubers. Wir wissen jetzt wenigstens genau, wo sie sind. Und wie viele es sind. In ein paar Stunden ist der ganze Spuk vorbei.« »Und Sie lassen uns frei und geben uns den Helikopter zurьck«, sagte Charity. Barton zog eine Grimasse. »Seien Sie nicht albern, Captain Laird. Ich werde… ьber Ihre Freilassung nachdenken, sobald ich zurьck bin, aber der Helikopter…« Er seufzte und breitete in einer entschuldigenden Geste die Hдnde aus. »Ich fьrchte, wir brauchen ihn ein wenig dringender als Sie.« »Das glaube ich nicht«, sagte Mike, mьhsam beherrscht. »Wir fliegen nicht zu unserem Privatvergnьgen durch die Gegend, General. Wir …» »Ich weiЯ«, unterbrach ihn Barton hart. Plцtzlich klang seine Stimme verдndert. »Halten Sie mich fьr einen Idioten, Wollthorpe?« fragte er scharf. »Verdammt, ich weiЯ genau, wer Sie sind. Und ich kann mir ganz gut denken, warum Sie un­ terwegs sind. Wahrscheinlich werden die Dienste von euch unersetzlichen Raumfahrern irgendwo ganz dringend gebraucht. Doch wozu? Um die Idioten, die fьr diesen Schlamassel hier verantwortlich sind, in Sicherheit zu bringen?« Er lachte schrill. »Tut mir leid, Lieutenant, da spiele ich nicht mit.« »Diese Idioten, General«, sagte Charity vorsichtig, »sind die gleichen Leute, de­nen Sie den Treueid geleistet haben.« »Unsinn!« widersprach Barton. »Ich habe diesem Land die Treue geschworen. Ich habe geschworen, es mit meinem Leben zu verteidigen, und genau das wer­de ich tun.« Wьtend trat er dichter an das Gitter heran und deutete mit einem anklagend ausgestreckten Zeigefinger auf Mike und sie. »Sie«, sagte er, »haben ihre Chance gehabt, Captain. Sie hдtten dieses verdammte Ding in die Luft sprengen sollen, solange sie es noch konnten! Statt dessen habt ihr es hierher geholt! Ihr…«Er brach ab, biss sich auf die Unterlippe und ballte die Fдuste. Dann beruhigte er sich so schnell wieder, wie er in Zorn geraten war. »Sie hatten Ihre Chance«, sagte er noch einmal. Charity starrte ihn betroffen an. »Glauben Sie das wirklich?« fragte sie. »Dass wir sie geholt haben?« »Jedenfalls haben Sie nichts getan, um sie fernzuhalten«, antwortete Barton. »Sie hatten alle Mцglichkeiten dazu, oder nicht? Sie hдtten dieses Ding in den Kosmos sprengen kцnnen, mit ihrem Schiff. Aber Sie haben nichts getan.« Mike seufzte. »Niemand wusste, was passieren wьrde«, sagte er. In Bartons Augen blitzte es auf. »O doch«, widersprach er heftig. »Ich wusste es und andere auch. Ich habe versucht, diese Narren im Generalstab zu warnen, aber sie haben nicht auf mich gehцrt.« Er lachte bitter. »Sie haben mich ausge­lacht, diese Narren, und auf die groЯen Brьder aus dem Weltraum gewartet. Und jetzt sind sie da.« »Und Sie glauben wirklich, sie vertreiben zu kцnnen?« fragte Charity. »Mit ei­nem Hubschrauberwrack und ein paar alten Panzern?« Einen Moment lang schien Bartons Selbstsicherheit wirklich erschьttert. Dann schьttelte er trotzig den Kopf. »Natьrlich nicht«, sagte er. »Aber ich kann tun, wofьr ich bezahlt werde. Ich kann mich wehren. Und ich bin nicht der einzige. Wir werden mit ihnen fertig, auch ohne eure Hilfe.« »Was Sie tun, ist glatte Befehlsverweigerung, General«, sagte Charity. »Ist Ih­nen das klar?« Barton lachte. »Befehl?« wiederholte er. »Wessen Befehl, Captain? Sie haben mir nichts zu befehlen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Uniform. »Ich gehцre zur Army, nicht zur Space Force.« Charity schьttelte den Kopf. »Aber Sie unterstehen ebenso dem Prдsidenten.« Barton wurde merklich unsicher. Eine halbe Minute lang starrte er sie nur an, und sie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Und wenn es ihr gelungen wдre, in diesem Moment die richtigen Worte zu finden, hдtte sie ihn sogar zur Vernunft bringen kцnnen. Aber sie fand sie nicht, und der Moment verstrich ungenutzt. Nach ein paar Se­kunden schьttelte Barton abermals den Kopf. »Ich weiЯ nicht, ob Sie die Wahr­ heit sagen oder nicht, Captain«, sagte er. »Aber wahrscheinlich stimmt es sogar. Sie sind unterwegs zu Ihrem Schiff, nicht wahr?« Charity nickte. Es brachte nichts ein, Barton zu belьgen. »Ein Prдsident, der sein Volk im Stich lдsst, verdient keine Loyalitдt«, erklдrte Barton. »Das ist doch Unsinn«, widersprach Charity sanft. »Niemand spricht davon, ir­gend jemanden im Stich zu lassen, General. Aber Lieutenant Wollthorpe und ich sind wahrscheinlich die einzigen, die das Raumschiff fliegen kцnnen. Und wir brauchen es. Mit einem einzigen Schiff wie der CONQUEROR kцnnen wir tau­sendmal so viel ausrichten wie Sie mit Ihren Soldaten. Vielleicht… kцnnen wir sogar das Mutterschiff zerstцren.« Barton presste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wieso sollte Ihnen jetzt gelingen, was Sie vorher nicht konnten?« fragte er misstrauisch. »Weil sie nicht damit rechnen«, antwortete Mike an Charitys Stelle. »Es ist eine Chance, General. Sie kцnnen nicht wissen, dass das Schiff noch einsatzfдhig ist.« Barton ьberlegte einen Moment. »Der Versuch war es wert, Lieutenant«, sagte er dann. »Aber trotzdem – nein. Vielleicht lasse ich Sie frei, wenn wir zurьck sind. Vielleicht gebe ich Ihnen sogar einen Wagen.« Er grinste. »Sie sollten mir Glьck wьnschen.« Mikes Miene verdьsterte sich. »Wollen Sie wirklich wissen, was ich Ihnen wьn­sche, General?« fragte er. Barton blickte ihn einen Moment lang mit steinerner Miene an. Dann schьttelte er den Kopf, wandte sich wortlos um und verlieЯ die Zelle. Sie erfuhren nicht einmal, warum er ьberhaupt gekommen war. 12. Dezember 1998 »Dort entlang!« Stones Stimme drang nur verzerrt unter seiner halbdurchsichti­gen Atemmaske hervor, und sein Gesicht war hektisch gerцtet, wo es nicht von pulverfeinem weiЯem Staub bedeckt war. Sie folgte mit Blicken der Richtung, in die sein ausgestreckter Arm wies, erkannte nichts als Trьmmer und Staub, nickte aber trotzdem. Sie hatte lдngst jede Orientierung verloren. AuЯerdem kannte er sich hier unten sowieso viel besser aus als sie. So schnell es der pochende Schmerz in ihrem Bein zulieЯ, folgte sie ihm. Die Hitze stieg. Selbst die Luft aus der kleinen Sauerstoffpatrone an ihrem Gьrtel schmeckte warm. Sie kдmpften sich durch den Qualm und erreichten das Ende des Stollens. Stone deutete auf eine offenstehende Lifttьr. Die Kabine dahinter war verschwunden. Ein halbes Dutzend Drahtseile hing sonderbar schlaff herab, und der blutigrote Widerschein von Feuer erhellte den rechteckigen Schacht. Stone begann ungeduldig mit beiden Hдnden zu gestikulieren, als sie zцgerte, beugte sich durch die offenstehenden Tьren und deutete auf eine Reihe kleiner, eiserner Trittstufen, die senkrecht an der Wand in die Tiefe fьhrten. »Los!« befahl er. »Ehe hier alles zusammenbricht!« ' Charity zцgerte noch einmal einen endlosen Augenblick, aber dann trat sie ent­schlossen an ihm vorbei, griff nach der obersten Stufe und zog sich mit einem kraftvollen Ruck in den Schacht. Die Hitze wurde immer unertrдglicher. Unter sich, sehr tief unter sich, konnte sie die brennenden Trьmmer der abgestьrzten Liftkabine erkennen, und der Aufzugschacht wirkte wie ein Kamin, in dem die glьhendheiЯe Luft nach oben stieg. Trotzdem ging es besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte noch fьr eine halbe Stunde Sauerstoff, und ihr Kampfanzug hielt wenigstens die allerschlimm­ste Hitze fern. Rasch, aber sehr vorsichtig kletterte sie in die Tiefe. Becker, du verdammter Idiot, dachte Charity immer wieder. Stones Worte hatten sie getroffen wie eine Ohrfeige, obwohl sie keinen Moment an seinen Worten gezweifelt hatte. Sie hдtte es sich selbst denken kцnnen, und schlieЯlich hatte Becker es ja sogar gesagt – aber offenbar hatte sie sich schlichtweg geweigert, die Wahrheit zu akzeptieren; nдmlich die, dass auch ein Mann wie Becker die Nerven verlieren und einen entsetzlichen Fehler begehen konnte. Die Tьren der nдchsten Ebene waren geschlossen. Sie kletterten weiter. Die Hit­ze war kaum mehr auszuhalten. Sie konnten sich jetzt nur noch zwei, allerhцch­stens drei Ebenen ьber der untersten Sohle des Bunkers befinden, und Charity begann sich ernsthaft zu fragen, wo Stone ьberhaupt hin wollte – ihres Wissens gab es auЯer der Notrutsche keinen zweiten Ausgang aus dem Bunker, schon gar nicht hier unten. Trotzdem kletterte sie weiter, bis er ihr das Zeichen gab, den Schacht zu verlassen. Die kleine Anstrengung, den Arm auszustrecken und sich in die Sicherheit des Korridores zu ziehen, ьberstieg fast ihre Krдfte. Schweratmend lieЯ sie sich zu Boden sinken, riss die Sauerstoffmaske vom Ge­sicht und atmete gierig ein und aus. Die Luft hier unten schmeckte wesentlich schlechter als die aus der Patrone, sie war heiЯ und stank nach Qualm und Staub, aber sie hatte nur diesen winzigen Vorrat und musste sparsam sein. Charity sah mьde auf, als Stone neben ihr aus dem Schacht geklettert kam. Auch er nahm seine Maske herunter und atmete ein paarmal tief durch, ehe er sie sorg­fдltig wieder an seinem Gьrtel befestigte und statt dessen das Lasergewehr vom Rьcken nahm. Charity verfluchte ihren eigenen Leichtsinn, selbst keine Waffe mitgenommen zu haben. Aber verdammt, so hatte geglaubt, wenigstens noch diese paar Minuten zu haben! Alles war so entsetzlich schnell gegangen! »Wohin?« fragte sie. Stone sah sich einen Moment lang mit deutlicher Hilflosigkeit um. Dann deutete er nach links. »Versuchen wir es. Vielleicht haben wir Glьck, und sie sind noch nicht hier.« Sie liefen weiter. Der Boden unter ihren FьЯen zitterte noch immer leicht, und manchmal glaubte Charity wieder dieses schreckliche, hдmmernde Gerдusch zu hцren, als wenn irgendwo Wдnde zusammenstьrzten. Dann erkannte sie, dass es nur das Hдmmern ihres eigenen Herzens war. Endlich sah sie, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatte: einen kreisrun­den, feuerrot gestrichenen Stahldeckel, massiv wie eine Safetьr und mit einem Schloss versehen, zu dem es nur ein knappes Dutzend Schlьssel gab. Die Flucht­rutsche. Sie blieb stehen, lehnte sich einen Moment gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen, und griff dann in die Tasche. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie Mьhe hatte, den kleinen, kompliziert geformten Schlьssel zu finden. »Wir mьssen weiter, Captain«, sagte Stone keuchend. »Sie kцnnen jeden Mo­ment hier auftauchen!« Charity schьttelte den Kopf. Sie wollte antworten, aber ihr Mund war plцtzlich voller bitter schmeckendem Speichel. Sie hatte das Gefьhl, sich ьbergeben zu mьssen, wenn sie auch nur versuchte, zu sprechen. Unsicher kramte sie den Schlьssel hervor, taumelte auf das Panzerschott zu und versuchte ihn ins Schlьs­selloch zu stecken. Ihre Hдnde zitterten so stark, dass es ihr nicht gelang. »Helfen Sie mir, Stone«, sagte sie mьhsam. »Ich… schaffe es nicht.« Stone rьhrte sich nicht von der Stelle. Seine Augen waren weit vor Angst und Unglauben. »Sie wollen doch nicht wirklich da rein?« fragte er. »Haben Sie eine bessere Idee?« keuchte Charity. »Verdammt, Stone, es ist aus! Der ganze Laden hier geht in ein paar Minuten in die Luft.« Sie begriff, dass er ihr nicht helfen wьrde, drehte sich wieder um und versuchte erneut, den Schlьs­sel in den schmalen, plastikversiegelten Schlitz zu schieben. Diesmal gelang es ihr, aber sie musste beide Hдnde zu Hilfe nehmen; die linke, um ihre rechte zu halten, die einfach zu stark zitterte. Wie wollte sie nur ein Raumschiff fliegen? »Das werden Sie nicht tun«, sagte Stone ruhig. Seine Stimme klang hysterisch. Vorsichtig lieЯ sie den Schlьssel los, drehte sich ganz langsam herum… …und blickte genau in den Lauf seines Lasergewehres. »Sind Sie… wahnsinnig geworden?« fragte sie entsetzt. Stone schьttelte den Kopf. Charity sah, wie sein Zeigefinger nervцs ьber den Abzug der tцdlichen Waffe strich. »Sie werden nicht dort hineingehen«, sagte er noch einmal. »Ich brauche Sie hier.« »Stone, bitte«, sagte Charity verzweifelt. Ihre Gedanken ьberschlugen sich. Sto­ne meinte es ernst, das spьrte sie ganz genau. Aber er war zu weit entfernt, als dass sie eine reelle Chance gehabt hдtte, ihn zu ьberwдltigen. Nicht mit ihrem verletzten Bein. »Sie… Sie kцnnen mitkommen«, sagte sie. »Ich sorge dafьr, dass Sie einen Platz auf der CONQUEROR bekommen. Ich brauche sowieso Hilfe im Cockpit, und…« »Gehen Sie von der Tьr weg«, unterbrach sie Stone. »Schnell!« Charity nahm die Hдnde ein wenig hцher und trat gehorsam zwei Schritte zur Seite. Stones Lasergewehr folgte ihrer Bewegung. »Was… was haben Sie vor?« fragte Charity stockend. Sie verlagerte ihr Kцrper­gewicht ein wenig, versuchte, das verletzte Bein zu entlasten, um Kraft fьr einen Sprung zu sammeln. Es war Wahnsinn, aber sie hatte keine Wahl. Er wьrde schieЯen, das wusste sie. »Das werden Sie schon noch frьh genug merken«, antwortete Stone. »Sie wer­den mich hier herausbringen, Captain. Und ich Sie. Aber wir schaffen es nur zu­sammen.« Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die Panzertьr. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mitkommen kцnnen, Stone. Ich hдtte Sie sowieso mitge­nommen. Das Schiff ist groЯ genug. Stecken Sie die Waffe weg. Ich verspreche Ihnen, dass…« Sie sprang. Vцllig ansatzlos federte sie auf Stone zu, drehte sich dabei halb um ihre Achse und zielte mit dem linken, unverletzten FuЯ auf sein Handgelenk. Und Stone drьckte ab. Barton und seine kleine Armee waren kurz nach seinem Besuch im Gefдngnis abgerьckt, und mit Ausnahme des Mannes, der ihnen das Essen gebracht hatte, war er der letzte gewesen, der zu ihnen kam. Der Rest des Tages war so vergan­gen, wie Tage in Gefдngnissen seit Urzeiten zu vergehen pflegten: langsam und eintцnig und vor allem von Langeweile bestimmt. Irgendwann war es ihr trotz allem gelungen einzuschlafen. Charity erwachte, als ein lauter Donner die ganze Stadt erzittern lieЯ. Fьr eine halbe Sekunde drang hellroter Feuerschein durch das winzige Zellenfenster, dann erlosch er wieder. Verwirrt setzte sie sich auf, lauschte einen Moment und fuhr sich mьde mit der Hand ьber die Augen. In der Zelle neben ihr regte sich Mike. Auch er sah mьde aus, aber auch auf seinem Gesicht war der gleiche, unglдubige Schrecken zu er­kennen, den auch Charity spьrte. »Was war das?« fragte er alarmiert. Charity hob andeutungsweise die Schultern, stand vollends auf und trat ans Fen­ster. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinaussehen zu kцnnen, doch sie sah nichts anderes als das, was sie den ganzen Tag ьber gesehen hatte: einen kleinen, von einer zwei Meter hohen Ziegelsteinmauer umschlossenen In­nenhof, auf dem sich Abfдlle und leere Kisten und Farbeimer stapelten. Der Himmel war schwarz. »Es klang wie eine Explosion«, sagte sie zцgernd. »Vielleicht war es auch…« »Was?« fragte Mike, als sie nicht weitersprach. Seine Stimme klang spцttisch. »Das klang nicht nur wie eine Explosion – es war eine«, fuhr er fort. »Unser Freund Barton kommt zurьck. Und ich fьrchte, nicht allein.« Charity sah ihn nachdenklich an. Aber sie verzichtete auf eine Antwort, sondern drehte sich wieder herum und blickte abermals aus dem Fenster. Sie lauschte angestrengt, aber der Explosionsdonner wiederholte sich nicht. Dafьr glaubte sie ein fernes Rufen zu hцren und dann sehr schnelle Schritte, die sich dem Gebдu­de nдherten. Jemand schrie. Mike begann wьtend an den Gitterstдben zu rьtteln. »Wache!« brьllte er. »Kommen Sie her! Verdammt noch mal, Wache!« Charity hatte nicht damit gerechnet – aber tatsдchlich hцrten sie plцtzlich das Gerдusch der Schlьssel, und einer der beiden Mдnner, die drauЯen auf dem Flur Wache hielten, kam herein. Er war blass und wirkte ьberaus nervцs. »Was geht da drauЯen vor?« fragte Mike aufgeregt. »Sie greifen an, nicht wahr? Sie kommen hierher. Verdammt, machen Sie die Tьr auf!« Der Mann machte einen halben Schritt auf das Gitter zu und blieb wieder stehen. Irgendwo, sehr weit entfernt, aber nдher als beim ersten Mal, krachte eine zweite Explosion. »Lassen Sie uns raus!« sagte Mike noch einmal. »Um Gottes willen, Mann, sie werden uns alle umbringen, wenn wir nicht fliehen!« »Unsinn«, widersprach der Soldat. »Barton wird schon mit ihnen fertig.« »Das hцrt man«, antwortete Mike gereizt. »Verdammt, sind Sie taub? Sie hцren doch, was da drauЯen los ist!« »Ich… kann nicht«, antwortete der GI nervцs. »Barton lдsst mich erschieЯen, wenn ich Sie laufen lasse.« Und damit wandte er sich fast fluchtartig um und warf die Tьr hinter sich zu. »Bravo«, sagte Charity spцttisch. »Fьhlst du dich jetzt besser?« Mike funkelte sie wьtend an. »Dieser Idiot«, fauchte er. »Wir werden hier ver­recken, nur weil dieser hirnlose Idiot da drauЯen Krieg spielen muss!« So aufbrausend und wьtend hatte sie Mike noch nie erlebt. Er hatte sich sehr verдndert, ohne dass sie genau sagen konnte, worin diese Verдnderung bestand. Ohne ein weiteres Wort trat sie wieder ans Fenster und blickte hinaus. Sie hцrte jetzt keine einzelnen Schьsse mehr, sondern ganze Salven. Dann und wann huschte ein roter Lichtreflex ьber den Himmel. »Wir mьssen hier heraus«, sagte Mike gehetzt. »Verdammt, ich habe keine Lust, in diesem Loch zu krepieren!« Charity trat ein Stьck vom Fenster zurьck, drehte sich zu ihm um und machte eine beruhigende Handbewegung. »Du hilfst uns bestimmt nicht, wenn du in Panik gerдtst«, sagte sie. »Wir…« Irgend etwas stimmte nicht. Aus den Augenwinkeln hatte sie eine Bewegung am Fenster wahrgenommen und fuhr herum – und schrie gellend auf. Wo vor Sekunden noch ein rechteckiger Ausschnitt des Nachthimmels gewesen war, glotzte sie jetzt ein gewaltiger, schwarzer Insektenschдdel an, ein monstrц­ses gepanzertes Ding mit einem einzigen, irisierenden Auge, das sich wie der Sehschlitz einer mittelalterlichen Rьstung quer ьber die ganze Breite des Insek­tengesichtes zog. Dьnne, biegsame Antennen peitschten in ihre Richtung. Fьr die Dauer eines endlosen, grauenerfьllten Herzschlages starrte das gewaltige Facettenauge des Ungeheuers Charity direkt an, dann verschwand das Alp­traumgesicht wieder. Und ein ungeheuerlicher Schlag traf das Gebдude. Charitys abermaliger Schrecksschrei ging im Krachen der zerberstenden Mauer und dem hellen, zornigen Pfeifen des Monstrums unter. Die Erschьtterung riss sie von den FьЯen. Noch im Fallen sah sie, wie ein ge­waltiger, gezackter Riss quer durch die Wand und bis zur Decke hinauflief, krьmmte sich instinktiv zusammen und schlug die Arme ьber den Kopf, als Trьmmer und Staub auf sie herabrieselten. Ein zweiter, kaum weniger heftigerer Schlag traf das Haus. Die Wand, in der das Fenster gewesen war, brach in einer gewaltigen Staubwolke zusammen, und plцtzlich glдnzten schwarzbraunes Chitin und schreckliche Klauen zwischen den niederprasselnden Steinen. Das Ungeheuer schob sich mit fast gemдchlichen Bewegungen auf Charity zu. Sie hцrte Mike schreien, kroch verzweifelt vor dem angreifenden Monster weg und prallte gegen das Gitter. Ein gigantisches Ameisenbein schlug nach ihr und verfehlte sie um Zentimeter. Ein Schuss krachte, so dicht an ihrem Ohr, dass sie glaubte, ihr Trommelfell wьrde platzen. Das Rieseninsekt bдumte sich auf, stieЯ ein hohes, zorniges Pfei­fen aus und warf den Kopf hin und her. Sein flaches Panzergesicht war plцtzlich voller Blut. Ein zweiter Schuss fiel. Das Ungeheuer taumelte, machte noch einen letzten, mьhsamen Schritt und brach zusammen. Charity plagte sich auf, wдhrend der Soldat, der sie gerettet hatte, bereits den Schlьssel von seinem Gьrtel nestelte und ihre Zellentьr цffnete. Es war der glei­che Mann, mit dem Mike vor ein paar Minuten gesprochen hatte. Seine Augen waren starr vor Entsetzen. »Schnell!« keuchte Mike. »Um Gottes willen, beeilen Sie sich, Mann!« Der GI war so nervцs, dass er die Tьr zu Charitys Zelle kaum aufbekam. Sein Blick irrte immer wieder zu der toten Insektenkreatur, als rechnete er jeden Au­genblick damit, sie wieder aufstehen und abermals angreifen zu sehen. Es dauer­te fast eine Minute, bis er Charity endlich aus ihrem Gefдngnis befreit hatte. Wortlos nahm sie ihm den Schlьssel aus der Hand, stieЯ ihn grob beiseite und befreite auch Mike. »Eine Waffe!« keuchte Mike. »Wir brauchen Waffen – gibt es hier welche?« Der Soldat nickte, fuhr auf der Stelle herum und stьrmte durch die Tьr, so schnell, dass Charity und Mike fast Mьhe hatten, ihm zu folgen. Irgendwo in ihrer unmittelbaren Nдhe explodierte etwas. Das ganze Gebдude erzitterte. Der Soldat riss einen Schrank auf und warf Mike eine Maschinenpistole zu. »Munition finden Sie da drinnen«, sagte er. »Und jetzt hauen Sie ab, Mann.« Er fuhr herum, riss die Tьr auf und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf die StraЯe hinaus. Er kam nicht einmal zwei Schritte weit. Ein dunkler, glitzernder Schatten fiel direkt vom Himmel und begrub ihn unter sich. Das Blitzen rasiermesserscharfer Klauen erstickte seinen Schrei. Mike riss seine MP in die Hцhe und drьckte ab, aber nichts geschah. Fluchend legte er den Sicherungshebel um, zielte erneut auf die Kreatur und drьckte ab – aber noch immer funktionierte die Waffe nicht. Das Insektenmonster richtete sich langsam ьber dem toten Soldaten auf und drehte sich herum. Kleine, gna­denlose Augen starrten sie an. Mit aller Macht packte Charity die Tьr, warf sie ins Schloss und legte den Rie­gel vor. »Runter!« schrie Mike. Charity gehorchte, und sie tat es keine Sekunde zu frьh! Irgend etwas traf die Tьr mit der Wucht eines Dampfhammers. Das Holz zersplitterte, fingerlange, mцrderische Krallen rissen und fetzten. Charity rollte sich blindlings zur Seite, kam mit einem Satz wieder auf die FьЯe und sprang zurьck, als sie sah, wie Mike die nutzlose Waffe fallen lieЯ und ein anderes Gewehr aus dem Schrank riss. Und diesmal funktionierte die Waffe. Die Tьr erzitterte ein zweites Mal wie un­ter einem Hammerschlag, als er die MP hochriss und schoss. Von drauЯen drang ein gellender, durch und durch unmenschlicher Schrei herein, dann das Ge­rдusch von splitterndem Hцrn. SchlieЯlich hцrten sie den Aufprall eines schwe­ren Kцrpers. Aber Mike schoss immer weiter, hielt den Abzug gekrьmmt, bis das Magazin leer war. Auch dann hielt er die Waffe noch starr in der Hand. Charity trat vorsichtig an ihn heran und berьhrte ihn an der Schulter. Mike fuhr zusammen wie unter einem Schlag. Aber dann erkannte er sie. Aus dem lдh­menden Entsetzen in seinem Blick wurde nackte Angst. »Alles wieder okay?« fragte Charity misstrauisch. Sie kannte die Vorzeichen einer beginnenden Panik zu gut, um sich selbst noch etwas vorzumachen. Plцtz­lich wusste sie mit unerschьtterlicher Sicherheit, dass Mike es nicht schaffen wьrde. Er war kein Kдmpfer. Er hatte gelernt, ein Raumschiff zu fliegen und mit einer Laserkanone auf Raketen zu schieЯen, nicht, sich gegen einen lebendig gewordenen Alptraum zu wehren. »Ich… glaube schon«, antwortete er mьhsam. Er versuchte zu lдcheln. Es miss­lang. »Dann laЯ uns verschwinden.« Charity schob ihn mit sanfter Gewalt zur Seite, цffnete den Waffenschrank vollends und entdeckte zu ihrer Erleichterung eine zweite Maschinenpistole. Hastig hдngte sie sich die Waffe ьber die Schulter, nahm so viele Ladestreifen an sich, wie sie gerade noch tragen konnte, und be­deutete Mike mit einer Kopfbewegung, sich ebenfalls zu bewaffnen. Dann ging sie in den Zellenraum zurьck. »Wo willst du hin?« fragte Mike erschrocken. »Raus«, antwortete Charity. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die zer­schossene Vordertьr. »Hast du vielleicht Lust, diesen Ausgang zu nehmen?« Mike antwortete nicht darauf, aber sie hдtte auch gar nicht mehr hingehцrt. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als sie in die offenstehende Zelle zu­rьcktrat und das erschossene Rieseninsekt sah, das den Ausweg blockierte. Das Loch, das das Monstrum in die Wand gerissen hatte, war groЯ genug, um be­quem hindurchzuschlьpfen, aber sie wьrden ьber den gewaltigen Kadaver klet­tern mьssen. Charitys Magen zog sich zu einem harten, stacheligen Klumpen zusammen. Aber sie schaffte es, irgendwie. Und es war nicht einmal so schlimm, wie sie geglaubt hatte. Colinsville glich einem Tollhaus. Die Stadt stand in Flammen. Aus den entfern­ten Gewehrsalven war ein nicht enden wollendes Krachen und Drцhnen gewor­den, in das sich nur noch dann und wann der dumpfe Schlag der Panzerkanone mischte. Menschen hasteten ziellos und in Panik umher. Der Himmel war rot vom Widerschein des gewaltigen Feuers, das sich rasend schnell in die Stadt hi­neinfraЯ. Ein Soldat taumelte schreiend vorьber. Irgendeine winzige Gestalt hockte in seinem Nacken, und sein Hemd war voller Blut. Charity hob ihre Waf­fe, aber der Mann war zu schnell vorьber. Und wahrscheinlich hдtte sie ihn oh­nehin nicht mehr retten kцnnen. Schaudernd vor Entsetzen drehte sie sich um und blickte das Flammenmeer an, das im Norden von Colinsville tobte; eine Wand aus Feuer, die das vor sich her­trieb, was von Bartons zweitausend Mann ьbriggeblieben war – ein jдmmerlicher Haufen aus panikerfьllten Mдnnern, die in wilder Flucht die StraЯe herabgerannt kamen. Und hinter ihnen… Das Licht war zu grell, so dass Charity kaum etwas erkennen konnte, aber was sie sah, nahm ihr fast den Atem. Es war eine Armee aus kriechenden, hьpfen­den, flatternden, hopsenden und rennenden Horrorkreaturen, ein Bild von Hie­ronymus Bosch, das zum Leben erwacht war. Die Mдnner schцssen ununterbro­chen, und sie trafen ununterbrochen, aber die grelle Wand aus Feuer spie immer mehr furchterregende Bestien aus. »Dorthin!« Mike deutete hektisch nach rechts, nicht direkt in die dem Feuer ent­gegengesetzte Richtung, sondern auf eine schmale Gasse auf der anderen Seite der HauptstraЯe. Sie wussten beide, dass es Selbstmord war, sich der fliehenden Menschenmenge anzuschlieЯen. Sie wьrden einfach niedergetrampelt werden. Trotzdem hдtten sie es beinahe nicht geschafft. Am anderen Ende der Ortschaft ertцnte ein dumpfes Krachen, als sie die StraЯe zur Hдlfte ьberquert hatten, und plцtzlich fьhlte Charity einen entsetzlich heiЯen, rasenden Luftzug. Eine halbe Sekunde spдter explodierte die Panzergranate am anderen Ende der StraЯe, in­mitten der heranrasenden Insektenarmee. Aber auch inmitten von Bartons Leuten… Charity sah entsetzt weg, rannte blindlings weiter und blieb erst stehen, als sie die rettende Gasse erreicht hatten. Mike lieЯ sich neben ihr auf die Knie fallen, hob seine MP und jagte einen kurzen FeuerstoЯ in die Dunkelheit vor ihnen. Schweratmend drehte sich Charity um. Der Panzer kam rasselnd nдher, und sie erkannte jetzt, dass es ein uralter Sherman war, ein Modell aus dem Zweiten Weltkrieg, das nur noch aus Rost und ein bisschen Farbe zu bestehen schien. Eine untersetzte Gestalt mit grauem Haar ragte aus der offenen Einstiegsluke. »Barton!« schrie sie. »Um Gottes willen, hцren Sie auf!« Ihre Worte gingen im Brьllen der Panzerkanone unter. Eine zehn Meter lange Flammenzunge stach ьber die StraЯe und explodierte eine halbe Meile entfernt in der Wand eines zweistцckigen Gebдudes. Charity schloss geblendet die Au­gen, als das Haus in einer Wolke aus Feuer und fliegenden Trьmmern auseinan­der flog. Dann hob sie ihre Waffe, zielte kurz und drьckte ab. Ein einzelner Schuss lцste sich peitschend. Die Kugel prallte harmlos einen Meter vor Barton vom Stahl ab, aber Bartons Kopf flog mit einem Ruck herum. Trotz der groЯen Entfernung konnte sie sei­nen Schrecken sehen, als er sie erkannte. »Hцren Sie auf, Sie Idiot!« schrie sie mit ьberschnappender Stimme. »Sie brin­gen Ihre eigenen Leute um!« Der Turm des Panzers drehte sich. Fьr einen kurzen, schrecklichen Moment war Charity fast sicher, dass die nдchste Granate sie und Mike treffen wьrde, aber dann bewegte sich die Kanone wieder zurьck. Der Panzer fuhr klirrend weiter, verminderte sein Tempo fьr einen Moment und beschleunigte wieder, als Barton sich aus der Luke herausstemmte und zu Boden sprang. Die Front der Insektenungeheuer war noch nдher gekommen, aber ihr Vor­marsch verlor jetzt rasch an Geschwindigkeit. Auf der StraЯe vor Colinsville hatte sie Bartons Mдnner einfach vor sich hergetrieben, doch hier fanden die GIs genьgend Deckung, um sich ihnen in den Weg stellen zu kцnnen. »Sind Sie zufrieden, Sie dдmlicher Hund?« begrьЯte Mike den General. »Wie viele von Ihren Mдnnern leben noch? Hundert?« Bartons Lippen pressten sich zu einem schmalen Schlitz zusammen. Er zitterte. Aber er sagte kein Wort. Charity warf Mike einen raschen, warnenden Blick zu, zog Barton mit einer groben Bewegung in die Deckung der Mauer zurьck und deutete nach Norden. »Was ist passiert?« fragte sie einfach. »Es war… eine Falle.« Bartons Stimme klang flach. Von seiner unerschьtterli­chen Siegessicherheit war nichts mehr geblieben. »Wir haben sie umstellt«, fuhr er fort. »Wir hatten ihr Lager gefunden, vom Helikopter aus. Ein Tal in den Ber­gen, nur ein paar Meilen von hier.« »Und?« fragte Mike, als Barton nicht weitersprach. »Ich weiЯ es nicht«, murmelte Barton. »Wir hatten sie in der Falle. Es … es schien alles so einfach zu sein. Ich kenne dieses Tal. Es … es ist klein, kaum eine halbe Meile tief. Aber plцtzlich waren sie da. Millionen. GroЯer Gott, es mьssen … es mьssen Millionen sein. Sie tauchen wie aus dem Nichts auf. Wir haben Tausende abgeschossen, aber es … es werden immer mehr.« Charity starrte blicklos zu Boden. Bartons Worte entsetzten sie. Sie hдtten es ihm sagen kцnnen, dachte sie matt. Er war wahrscheinlich wirklich davon ьber­zeugt, siegen zu kцnnen. Von dem Materietransmitter hatte er keine Ahnung ge­habt. Charity sah nach Norden. Der Vormarsch der Fremden war nicht vollends zum Stehen gekommen, aber doch beinahe. Bartons Mдnner hatten sich in die umlie­genden Hдuser zurьckgezogen und schцssen jetzt gezielt auf die heranstьrmen­den Kreaturen, und auch der Panzer erцffnete immer wieder das Feuer. Charity sah, dass er gezielt die groЯen Kдferwesen anvisierte, mit denen Mike und sie bereits Bekanntschaft gemacht hatten. Sie sah keinen einzigen der Vierarmigen, was sie allerdings nicht erstaunte. »Wie viele Panzer haben Sie noch?« Barton schьttelte den Kopf. »Keinen. Das ist … der letzte. Es waren nur vier«, fьgte er in einem entschuldigenden Tonfall hinzu, fьr den Charity ihm am lieb­sten den Gewehrlauf in die Zдhne geschlagen hдtte. Plцtzlich hцrte sie das Knattern eines Hubschraubers, der sich der Stadt nдherte. Sie sah auf, blickte in den Himmel und erkannte ihren Helikopter. Sie erschrak. Die Maschine taumelte wie ein betrunkener Schmetterling. Das Motorgerдusch klang unregelmдЯig, und der Pilot schien Mьhe zu haben, die Maschine ьber­haupt in der Luft zu halten. Barton sprang auf, lief ein paar Schritte auf die StraЯe hinaus und riss ein Wal­kietalkie aus dem Gьrtel. »Harker!« schrie er. »Ich bin hier! Runter!« »Der… der Mistkerl will abhauen!« keuchte Mike. »Verdammt, er lдsst uns ein­fach im Stich!« Er wollte aufspringen, aber Charity riss ihn im letzten Moment zurьck. Der Hubschrauber erreichte die StraЯe nicht. Harker versuchte es, aber er bekam immer grцЯere Schwierigkeiten, die Maschine zu steuern. Plцtzlich war noch etwas am Himmel; ein riesiges Wesen aus schwarzem Leder, das mehr durch die Luft torkelte, als es flog. Aber die scheinbare Schwerfдlligkeit seiner Bewegungen tдuschte. Plцtzlich schoss es auf den taumelnden Helikopter zu, hing einen Moment fast reglos ьber den rasenden Rotoren – und schloss sich wie eine formlose Riesenfaust um die winzige Maschine. Der Hubschrauber explodierte noch in der Luft. Ein Teppich aus Feuer und brennenden Trьmmern regnete auf die Stadt herab, zusammen mit den zerfetzten Ьberresten des Wesens, das den Helikopter vernichtet hatte. Und in der gleichen Sekunde begann der endgьltige Angriff der Monster. Als wдre die Vernichtung des Helikopters ein Zeichen gewesen, tat sich die Nacht am anderen Ende der StraЯe auf und spie alle Kreaturen der Hцlle aus. Es waren viele Tausende, eine ungeheuerliche Walze aus glitzerndem Hцrn, das die StraЯe, das Feuer, die Hдuser und selbst den Panzer einfach ьberrollte. Charity sah, wie sich drei der gigantischen Kдferwesen gleichzeitig auf den Sherman-Tank stьrzten und ihn kurzerhand umwarfen, mit einer Kraft, die einfach unvor­stellbar war. Augenblicke spдter explodierte etwas im Inneren des Panzers, und greller Feuer­schein ьberstrahlte noch einmal die Armee der Horrorkreaturen. »Weg hier!« brьllte Mike mit ьberschnappender Stimme. Er sprang auf, riss Charity einfach mit sich und hetzte los. Keine Sekunde zu frьh. Ein mannsgroЯes Ding mit Tausenden von kleinen, na­delspitzen Stacheln rollte wie ein losgerissenes Rad ьber die StraЯe auf sie zu. Mike schoss und traf, aber im gleichen Moment lцsten sich Dutzende der klei­nen Hornstacheln aus dem Monstrum und prallten wie tцdlicher Hagel an der Stelle gegen die Wand, wo er und Charity gerade noch gesessen hatten. Einer von ihnen traf. Charity spьrte einen harten, betдubenden Schlag gegen den Oberschenkel, einen kleinen Moment der Schwдche – und dann raste ein entsetzlicher Schmerz durch ihr Bein und explodierte ьberall in ihrem Kцrper zugleich. Sie schrie gellend auf, stьrzte zu Boden und umklammerte ihren Oberschenkel. Blut lief in breiten Strцmen ьber ihr Bein. Die Hornnadel musste ihren Schenkel glatt durchschla­gen haben. Mike versuchte sie in die Hцhe zu ziehen, aber sofort schoss eine neue, unertrдg­liche Schmerzwelle durch ihren Kцrper. Vergiftet, dachte sie. Der Dorn musste vergiftet worden sein! Das Ding war kaum dicker als eine Stricknadel gewesen, aber der Schmerz war trotzdem entsetzlich, pure Agonie, die jeden einzelnen Nerv in ihrem Kцrper in Flammen setzte. Blindlings schlug sie Mikes Hand bei­seite, krьmmte sich erneut und schrie. Sie registrierte kaum, dass Mike sie mit einer Hand am Arm ergriff und in die Gasse zurьckschleifte, aus der sie gerade geflohen war, wдhrend er mit der an­deren die MP schwenkte und blindwьtig um sich schoss. Dann erlosch der Schmerz, so schnell, wie er gekommen war. Ihr Bein tat weiter fast unertrдglich weh, und sie bezweifelte, dass sie laufen konnte, aber die fьrch­terliche Qual, die ihr gesamtes Nervensystem gepeinigt hatte, war fort. Wenn es Gift gewesen war, hatte ihr Kцrper es rasch absorbiert. Trotzdem – ein einziger oder gar mehrere Treffer dieser lebenden Pfeile in den Kцrper… Sie dachte den Gedanken vorsichtshalber nicht zu Ende, sondern stemmte sich mьhsam hoch, tauschte das Magazin ihrer MP gegen ein neues aus und kroch ungeschickt an Mikes Seite. Er sah ьberrascht hoch, hцrte aber nicht auf, zu schieЯen. Und als sie auf die StraЯe hinausblickte, wusste sie auch, warum. »GroЯer Gott!« flьsterte sie. »Das ist das Ende.« »Ja«, antwortete Mike gepresst. »Das ist…« Er stockte, runzelte die Stirn und sah verwirrt nach rechts und links. »Wo ist Barton?« Charity zuckte automatisch die Achseln, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihn vor­hin gesehen hatte. Er war zu einem niedrigen Gebдude am anderen Ende der StraЯe hinьbergerannt. »Dort«, sagte sie. »In der Scheune?« Mike nickte grimmig. »Das habe ich mir gedacht. Der Mist­kerl will abhauen! Los!» Er sprang auf, riss Charity brutal mit sich und rannte im Zickzack ьber die Stra­Яe, wobei er wild um sich schoss. Sie hatten Glьck; ein allerletztes Mal. Die Monster konzentrierten ihre Angriffe auf ein Gebдude auf der anderen StraЯenseite, in dem sich einige von Bartons Mдnnern verschanzt hatten, so dass sie nicht angegriffen wurden. Trotzdem hдt­te zumindest Charity es nicht geschafft, wenn Mike sie nicht einfach mit sich gezerrt hдtte. Ihr Bein blutete noch immer, und die Schmerzen wurden durch das Laufen nicht gerade besser. Aber Mike gestattete ihr auch jetzt noch keine Atempause. Sie erreichten den Lagerschuppen, in dem sie Barton hatte verschwinden sehen, und Mike trat kur­zerhand die Tьr ein. Dahinter lag eine weitlдufige, fast leere Lagerhalle, die von einer Petroleumlam­pe nur schwach erhellt wurde. Direkt vor dem Tor stand der schwarze Trans-Am, in dem Harker zu ihnen gekommen war. Unter der getцnten Windschutz­scheibe konnten sie die Silhouette General Bartons erkennen. Mike blieb stehen, hob das Gewehr und legte es an. »Tun Sie es nicht, Barton«, sagte er. »Ich schwцre Ihnen, dass ich Sie erschieЯe, wenn Sie den Zьndschlьs­sel auch nur ansehen.« Der Schatten hinter der Scheibe erstarrte. »Keine Bewegung«, fuhr Mike drohend fort. »Cherry – mach das Tor auf.« Charity schob mit zusammengebissenen Zдhnen den schweren Riegel zur Seite. Die kleine Anstrengung ьberstieg fast ihre Krдfte. Ihr wurde schwindelig. Sie blieb einen Moment reglos stehen, um Atem zu holen, dann wollte sie das Tor vollends aufschieben, aber Mike hielt sie mit einem raschen Kopfschьtteln zu­rьck. »Nicht«, sagte er. »Noch nicht. Geh zum Wagen. Pass auf, dass er keine Dummheiten macht.« Der schwarze Trans-Am begann vor ihren Augen zu verschwimmen, als sie den ersten Schritt machte. Sie war so schwach. Und die Schmerzen wurden stдrker. Es kostete sie ihr letztes bisschen Energie, neben die Fahrertьr zu treten. Die Kraft, ihre Waffe zu heben, hatte sie schon nicht mehr. Barton blickte sie aus schreckgeweiteten Augen an. »Hцren Sie«, begann er. »Wir kцnnen zusammen fahren. Der Wagen ist groЯ genug. Ich … ich ergebe mich.« »Halt die Schnauze!« sagte Mike hart. »Raus aus dem Wagen.« Barton rьhrte sich nicht. Sein Gesicht war weiЯ wie das eines Toten. »Sie kцn­nen mich doch nicht zurьcklassen«, wimmerte er. »Das ist Mord.« »Tun Sie, was er sagt«, murmelte Charity. »Wir nehmen Sie mit, aber jetzt… tun Sie es. Es ist besser… fьr Sie.« Sie war so schwach, dass sie sich an der Wagen­tьr festhalten musste, um nicht zu stьrzen. Barton blickte entsetzt zu ihr auf, schlieЯlich aber gehorchte er. Charity sah die Maschinenpistole zu spдt, die er auf den Knien hatte. Sie schrie warnend, aber im gleichen Moment stieЯ Barton die Tьr mit solcher Wucht auf, dass sie einfach von den FьЯen gerissen wurde, und lieЯ sich aus dem Wagen fallen. Mike und er feuerten gleichzeitig. Mikes Kugel durchschlug die Tьr des Trans-Am, Bartons rechte Hand und dann seinen Hals, wдhrend Bartons Salve Mikes beide Knie zerschmetterte und eine blutige Spur ьber seine Brust zog. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe Charity wieder genug Kraft gesammelt hatte, Bartons Leichnam vollends aus dem Trans-Am herauszuzerren und seine Ta­schen nach dem Schlьssel zu durchsuchen. Der Kampflдrm drauЯen auf der StraЯe hatte nachgelassen, aber nicht ganz aufgehцrt, und einmal hatte etwas an der Tьr gekratzt. Die beiden Flьgel des groЯen Holztores, die jetzt nicht mehr verriegelt waren, hatten sich bewegt, aber was immer dort drauЯen gestanden hatte, war nicht hereingekommen. Nach allem, was es ihr angetan hatte, schien sich das Schicksal nur einen letzten, bцsen Scherz mit ihr erlaubt zu haben. Ihr wurde wieder ьbel, als sie sich hinter das Lenkrad des Trans-Am zog und mit zitternden Fingern den Zьndschlьssel ins Schloss steckte. Ihr rechtes Bein war steif; sie wьrde Kupplung, Gas und Bremse nur mit dem linken FuЯ bedienen mьssen, aber irgendwie wьrde es schon gehen. Sie hatte keine Angst mehr. Sie fragte sich, was drauЯen auf der StraЯe auf sie warten mochte, aber sie dachte auch diesen Gedanken ohne Angst. Ihr Blick streifte Mikes reglosen Kцrper. Sie hatte es bisher krampfhaft vermie­den, ihn auch nur anzusehen, aber es war nicht halb so schlimm, wie sie ge­glaubt hatte. Sie spьrte… nichts. Aber der Schmerz wьrde kommen. Sie drehte den Zьndschlьssel. Der Wagen sprang sofort an. Ein letztes Mal vi­sierte sie das Tor ьber die flache Schnauze des Trans-Am hinweg an, dann legte sie behutsam den Gang ein und gab Gas. Vor ihr lagen noch fast tausend Meilen, und jede einzelne davon konnte geradewegs in die Hцlle fьhren. Aber sie wusste einfach, dass sie es schaffen wьrde. Irgendwie. 12. Dezember 1998 Ihr linker Arm brannte. Alles, was sie fьhlte, war Schmerz, ein entsetzlicher, brennender Schmerz, der im Takt ihres rasenden Herzschlages pulsierte und ihr die Trдnen in die Augen trieb. Sie konnte kaum noch denken. Wenn Stone ihr nicht von Zeit zu Zeit einen StoЯ in den Rьcken versetzt hдtte, hдtte sie lдngst aufgegeben und sich in irgendeine Ecke gekauert, um zu sterben. Aber das lieЯ er nicht zu. Immer, wenn sie stehen bleiben wollte, versetzte er ihr einen weite­ren StoЯ mit dem Gewehrlauf; und wenn ihre Krдfte einfach versagten, was jetzt immer цfter und in immer kьrzeren Abstдnden geschah, zerrte er sie grob auf die FьЯe und stieЯ sie weiter. Rings um sie herum brach der Bunker Stьck fьr Stьck zusammen. Das Wimmern der Alarmsirenen war lдngst verstummt, und groЯe Teile der unterirdischen Hцhlen und Stollen waren wieder in die Dunkelheit versunken, aus der die Menschen sie fьr wenige kurze Jahre herausgerissen hat­ten. Sie hцrte Schreie und Schьsse und dazwischen immer wieder das dumpfte Echo schwerer Explosionen. Es war ein Wunder, dass sie kein einziges Mal an­gegriffen wurden. Charity hatte lдngst die Orientierung verloren. Sie wusste nicht mehr, auf wel­cher Ebene sie waren oder wohin Stone sie brachte. Sie wusste nur, dass er den Verstand verloren haben musste. Sie blieb stehen, als Stone ihr mit einer abgehackten Geste gebot, anzuhalten. Warnend hob er die Waffe, deutete auf die gegenьberliegende Wand und machte eine Bewegung, sich dorthin zu setzen und nicht zu rьhren. Charity hдtte es nicht einmal gekonnt, wenn sie es gewollt hдtte. Ihr linker Arm und ihr rechtes Bein fьhrten einen verbissenen Wettkampf darin, sich gegensei­tig mit Schmerzwellen zu ьbertreffen; sie fьhlte sich so schwach wie nie zuvor im Leben. Stone sah sie einen Moment lang scharf an, dann drehte er sich mit einer abrup­ten Bewegung um und verschwand in einem Seitengang. Aber sie wusste, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Er wьrde nur Sekunden fortbleiben. Fьr Augenblicke drohte sie die Besinnung zu verlieren. Alles um sie herum be­gann sich zu drehen. Ьbelkeit breitete sich in ihrem Magen aus. Verbissen kдmpfte Charity das Gefьhl nieder, atmete gezwungen tief ein und aus und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, die schwarzen Schleier zu vertreiben, die ihre Gedanken einlullen wollten. Der Schmerz in ihrem Arm trieb ihr die Trдnen in die Augen. Dabei war die Wunde kaum grцЯer als ein Stecknadelkopf. Stone hatte den La­ser auf die niedrigste Wirkungsstufe eingestellt gehabt, und ihr Kцrperschild hat­te dem Strahl zusдtzlich Energie entzogen. Aber das, was ihren Arm schlieЯlich getroffen und durchbohrt hatte, war immer noch genug gewesen, jeden einzel­nen Nerv in ihrer linken Kцrperhдlfte zur WeiЯglut zu bringen. Sie wusste nicht, ob sie den Arm jemals wieder wьrde bewegen kцnnen. Stone kam zurьck. Auf seinem Gesicht lag noch immer der gleiche, gehetzte Ausdruck. Hastig ьberzeugte er sich davon, dass der Gang hinter ihnen noch leer war, dann kniete er neben ihr nieder und half ihr dabei, aufzustehen. Charity wollte seinen Arm beiseite stoЯen, aber sie konnte es nicht. »Geht es noch?« fragte er. Er lдchelte. »Es ist nicht mehr weit. Nur ein paar Schritte.« »Hцren Sie doch auf, Stone«, sagte Charity mьhsam. »Das… das hat doch alles… keinen Zweck mehr.« Selbst das Sprechen bereitete ihr Mьhe. »O doch«, widersprach Stone. »Sie werden mir noch dankbar sein, Captain.« Er verstдrkte den Druck seiner Hand ein wenig und zwang sie mit sanfter Gewalt, weiterzugehen. Ein weiterer finsterer Gang nahm sie auf. Stone schaltete seinen Scheinwerfer ein und lieЯ den bleichen Lichtstrahl ьber weiЯgestrichenen Beton gleiten. Flьchtig sah sie eine gewaltige Panzertьr, deren Schloss offensichtlich mit einem Laser herausgeschnitten worden war. Aber sie begriff trotzdem erst, als er sie durch diese Tьr stieЯ und sie die Tanks sah. Fьr einen Moment vergaЯ sie sogar ihre Schmerzen, so verblьfft war sie. Es war so naheliegend, dass sie sich fragte, wieso sie nicht lдngst von selbst auf die gleiche Idee gekommen war. Aber es war auch ebenso verrьckt wie naheliegend. Die Tanks! GroЯer Gott, das… das konnte ьberhaupt nicht funktionieren! »Das ist nicht Ihr Ernst, Stone«, sagte sie erschьttert. Stone lieЯ ihren Arm los, entfernte sich rьckwдrts gehend und machte sich ir­gendwo hinter ihr an der Wand zu schaffen. Der grelle Strahl seiner Taschen­lampe wich dabei keine Sekunde von Charitys Gesicht. Etwas klickte, und mit einem Male erlosch das blendende WeiЯ von Stones Lampe, aber eine Sekunde spдter glomm unter der Decke das dьstere Rotlicht der Notbeleuchtung auf. Charity taumelte vor Schwдche. Der Schock klang ebenso rasch ab, wie er gekommen war, und Schmerzen und Ьbelkeit meldeten sich zurьck. Mьhsam drehte sie sich zu Stone um und sah zu, wie er sich an der Kontrolltafel neben der Tьr zu schaffen machte. Er stellte sich nicht besonders geschickt dabei an, aber er hatte Erfolg. Irgendwo hinter ihr begann ein Elek­tromotor zu summen. Ьber der Tьr flackerte ein Warnlicht, dann ein zweites, und dann schoben sich zwei gewaltige, gezahnte Metallplatten aus Boden und Decke und eine zweite, zwanzig Zentimeter starke Tьr aus fast unzerstцrbarem Stahl, die sich in wenigen Augenblicken schlieЯen und diesen Raum hermetisch versiegeln wьrde. Charity wusste, dass es auЯer einem atomaren Sprengkopf nicht viel gab, was diese Barriere zerstцren konnte. »Bitte, Stone«, sagte sie so ruhig, wie sie nur konnte. »Sie wissen nicht, was Sie tun. Das ist Selbstmord!« Stone lachte, aber sein Gesicht blieb dabei unbewegt. Nur sein Blick flackerte. »Selbstmord wдre es, drauЯen zu bleiben«, sagte er. »Sie werden die Dinger da jetzt einschalten, Captain. Zwei Stьck – einen fьr mich und einen fьr Sie.« Charity blickte unsicher zu dem halben Dutzend gewaltiger Stahlsдrge hinьber, auf die Stone gedeutet hatte. Dann schьttelte sie den Kopf. »Das kann ich gar nicht«, behauptete sie. Nervцs sah sie zur Tьr. Die beiden stдhlernen Zahnreihen waren nur noch einen halben Meter voneinander entfernt. Noch Sekunden, und die Falle schloss sich. »Das ist nicht wahr!« sagte Stone heftig. Das Lasergewehr in seinen Hдnden ruckte drohend hoch. »Ich weiЯ, dass Sie es kцnnen. Ich habe mich erkundigt, wissen Sie?« »Theoretisch«, sagte Charity leise. »Es ist Selbstmord, Stone! Niemand hat diese Dinger je ausprobiert; auЯer ein paar Affen. Und von denen ist nur die Hдlfte wieder aufgewacht!« »Ich weiЯ«, antwortete Stone. Die Panzerplatten waren jetzt noch fьnfzehn Zen­timeter voneinander entfernt. Noch Sekunden, dachte Charity. Sie musste irgend etwas tun, wenn sie jemals wieder aus dieser Falle herauskommen wollte! Aber sie konnte es nicht. Stone hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihr auch noch in den anderen Arm schieЯen wьrde, wenn sie versuchte, ihn an­zugreifen oder zu fliehen. »Eine Fьnfzig-Prozent-Chance reicht mir«, fuhr Stone fort. »Ist mehr, als wir drauЯen haben, oder?« »Und die anderen? Becker und… und die, die jetzt unten beim Schiff auf uns warten?« fragte Charity. »Sie bringen sie um, Stone.« »Das haben sie schon lдngst selbst getan«, antwortete Stone zornig. »Was glau­ben Sie, wie weit Sie mit ihrem lдcherlichen Raumschiff kommen, ehe die Fremden Sie abschieЯen?« Er schьttelte heftig den Kopf und deutete befehlend auf die Tanks. »Fangen Sie an, Captain.« Die stдhlernen Zahnreihen berьhrten sich. Es geschah vollkommen lautlos. Nur die flackernden Warnlampen ьber der Tьr erloschen wieder. Charity schloss mit einem kaum hцrbaren Seufzer die Augen. Gefangen, dachte sie. Nein, schlim­mer – sie waren lebendig begraben. »Fangen Sie an!« sagte Stone noch einmal. »Und wenn ich es nicht tue?« Charity lдchelte. »Sie kцnnen mich nicht zwingen, Stone. ErschieЯen Sie mich, wenn es Ihnen SpaЯ macht. Das geht schneller.« Stone lдchelte kalt, und Charity begriff, dass er auf diese Antwort gewartet hatte. »Vielleicht kann ich das wirklich nicht«, sagte er. »Aber Sie werden es tun, Cap­tain – entweder jetzt oder in ein paar Tagen, wenn sie halb verrьckt vor Hunger und Durst sind.« Er hob befehlend die Waffe. »Los!« Wahrscheinlich hatte er sogar recht, dachte Charity. Es war aus, so oder so. Trotzdem dauerte es noch lange, ehe sie sich umdrehte und zцgernd auf den er­sten der sechs riesigen Hibernationstanks zuging. Hatte ihr der Anblick beim ersten Mal nur Unbehagen eingeflцЯt, so erfьllte er sie jetzt mit nackter Angst. Der Tank war gewaltig, und trotz seiner unbestreit­baren technischen Eleganz hatte er etwas Dьsteres an sich. Alles in ihr krampfte sich bei dem bloЯen Gedanken zusammen, sich in dieses Ding legen zu sollen. »Fangen Sie an«, sagte Stone noch einmal. »Und keine Tricks. Ich passe genau auf. dass sie beide Apparate gleich programmieren. Und dann werfe ich eine Mьnze, um zu entscheiden, in welchem Sie Platz nehmen dьrfen, Captain.« Charity ballte hilflos die Fдuste. Stones Wahnsinn hatte Methode. Er war ver­rьckt, aber nicht dumm. Unsicher machte sie sich an die Aufgabe, das elektronische Herz des Kдlte­schlaftanks zu programmieren, sehr langsam und von nichts als der fast pani­schen Furcht erfьllt, einen Fehler zu begehen. Eine entsetzliche Vision stieg vor ihrem inneren Auge auf: Sie sah sich selbst, hilflos in einen der gewaltigen Stahlsдrge eingesperrt, bei vollem Bewusstsein, aber sterbend, durch irgendei­nen dummen Programmierfehler, ein Zittern ihrer Hдnde, einen qualvollen, tage­, vielleicht wochenlangen Tod sterbend. Sie verscheuchte die Vision. »Wie lange wollen Sie schlafen, Lieutenant?« fragte sie. »So lange es geht«, antwortete Stone. »Stellen Sie die maximale Laufzeit ein.« Charity sah auf. »Das kцnnen hundert Jahre sein«, sagte sie vorsichtig. Oder tau­send. Diese Anlagen waren so gut wie unzerstцrbar. Aber das sprach sie nicht aus. »Um so besser«, sagte Stone. »Los! Tun Sie, was ich gesagt habe.« Sie gehorchte. Als sie fertig war, winkte Stone sie zurьck, warf einen kurzen, aber sehr aufmerksamen Blick auf die Kontrollen am Kopfende des Tanks und deutete auf den Stahlsarg daneben. »Jetzt den.« Sie brauchte zehn Minuten, um auch den zweiten Computer zu programmieren, und Stone wiederholte die Prozedur – er scheuchte sie zurьck und betrachtete das komplizierte Schaltpult. Dann ging er zwischen den Tanks hin und her, of­fensichtlich, um die beiden Anlagen zu vergleichen. Verdammter Narr, dachte Charity. »Scheint in Ordnung zu sein«, sagte Stone schlieЯlich. »Jetzt fragt sich nur noch, was Sie wirklich getan haben, Captain.« Er lдchelte flьchtig. »Nicht, dass Sie mich fьr einen kompletten Idioten halten, Laird. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie das Ding so programmieren kцnnen, dass ich nie wieder aufwache. Haben Sie es getan?« »Ich bin kein Mцrder«, antwortete Charity. »Ich weiЯ.« Stone deutete mit einer Geste auf den Tank, den sie als erstes einge­schaltet hatte. »Nach Ihnen, Captain.« Charity zцgerte. Sie hatte Angst. Schreckliche Angst. Aber schlieЯlich setzte sie sich doch in Bewegung. Langsam trat sie auf den ge­waltigen Stahlzylinder zu, berьhrte die rote Taste an seinem Kopfende und trat zurьck, als der Deckel lautlos auseinander klappte. Das Innere des Tanks war winzig, verglichen mit seinem klobigen Дu­Яeren – eine schmale, mit weichem Schaumgummi ausgeschlagene Rцhre, in deren rechter Seite eine Anzahl kleiner Kontrollinstrumente und Anschlьsse un­tergebracht waren. Eine Lampe verbreitete gelbes, gedдmpftes Licht. Sie schau­derte. Es war kein Tank, es war ein Sarg. Sie wьrde wahnsinnig werden, wenn sie auch nur eine einzige Minute darin verbringen musste. »Gehen Sie«, sagte Stone noch einmal. Langsam kletterte sie in den Tank, streckte sich auf dem weichen Schaumgum­mipolster aus und griff mit zitternden Hдnden nach einem kleinen Metallring, der neben ihr an der Wand hing. Ein Dutzend dьnner verschiedenfarbiger Drдhte verband ihn mit dem Computer tief im Inneren des Tanks. Sie spьrte, wie sich eine Anzahl winziger spitzer Nadeln in ihre Haut senkten, als sie den Ring ьber ihr linkes Handgelenk streifte und schloss. Stone beugte sich ьber sie. Er beobachtete sehr aufmerksam, was sie tat. Und Charity flehte lautlos, dass es richtig war. GroЯer Gott, man hatte es ihr zehnmal erklдrt, aber ihr Gehirn war wie leergefegt. Es war, als hдtte sie alles vergessen, was sie jemals gelernt hatte! »Viel Glьck, Captain Laird«, sagte Stone leise. Und fьgte hinzu: »Das mit Ihrem Arm tut mir leid. Aber ich musste es tun, das verstehen Sie doch, oder?« »Ja«, antwortete Charity. »Ich verstehe es.« Sie wollte noch mehr sagen, aber alle Worte erschienen ihr plцtzlich so sinnlos und ьberflьssig. Rasch griff sie mit der freien Hand nach der durchsichtigen Sauerstoffmaske, die von der Decke hing, stьlpte sie ьber Mund and Nase und spьrte, wie sie sich festsaugte. Ir­gendwo unter ihr begann eine Pumpe zu arbeiten. Die Luft, die ihre Lungen fьll­te, schmeckte plцtzlich bitter. Sie sah noch, wie Stone zurьcktrat und die Hand nach dem roten Schalter aus­streckte, und sie sah auch noch, wie sich der Deckel des gewaltigen stдhlernen Sarges ganz langsam wieder zu schlieЯen begann, dann griff etwas wie eine warme weiche Hand nach ihren Gedanken, eine Hand, die jeden Schmerz und alle Angst auslцschte. Sie hatte das Gefьhl, in einer unendlich warmen, unend­lich wohltuenden Umarmung zu versinken. Und ganz kurz, bevor sie endgьltig einschlief, fand sie noch Zeit fьr einen einzigen Gedanken: Was wьrde sie er­warten? Die Antwort auf diese Frage erfahren Sie im zweiten Band der Serie CHARITY – DUNKEL IST DIE ZUKUNFT