"Das Schlangenschwert" - читать интересную книгу автора (Lukianenko Sergej)
Erster Teil Der falsche Ritter
Kapitel 1
Unser Herbst ist sehr schön.
Ich lag auf einer glatten Steinplatte, die aus unerfindlichen Gründen nicht verbaut worden, sondern ans Flussufer gelangt war, und schaute in den Himmel. Über der Kuppel tobte ein Sturm. Die Sonne war klein und dunkelrot, weil sie vom wirbelnden Sand verdeckt wurde. Die Außenbewohner hatten es jetzt sehr schwer. Bei ihnen herrscht eine erhöhte Radioaktivität, der feine Sandstaub kriecht in jede Ritze.
»Tiki-Tiki!«
Ich drehte mich um, obwohl ich genau wusste, wer das war. Nur Dajka nennt mich Tiki-Tiki. Seit der ersten Klasse. Zuerst wollte sie mich damit ärgern, mittlerweile aber nicht mehr. Das glaubte ich jedenfalls.
»Wohin schaust du?«
»Zum Raumschiff«, schwindelte ich. Es war wirklich ein Raumschiff am Himmel. Sicher ein Erztransporter vom Hafen 2. Es kämpfte sich mit Hilfe seiner Plasmatriebwerke durch den Sturm und zog eine orange Schleife aus Protuberanzen hinter sich her. Nichts Atemberaubendes. Der Sturm an sich war entschieden interessanter.
Sie streckte sich neben mir aus, sodass ich zur Seite rücken musste. Sie trug einen neuen Badeanzug, ganz wie eine Erwachsene. O lala!
»Hm«, sagte ich, »du würdest zu einem Eiszapfen gefrieren!«
Dajka schwieg einige Zeit und erwiderte: »Na und? Du wirst auch kein Pilot.«
»Wenn ich es will, werde ich es«, antwortete ich. Dajka störte mich. Sie war mir zu aufdringlich und konnte einfach nicht verstehen, dass ich allein sein wollte. Ganz allein.
»Weißt du denn nicht, wie viel eine Pilotenausbildung kostet?«
»Viel.«
»So viel wirst du niemals verdienen!«
»Wenn ich Glück habe, verdiene ich genug.« Ich hielt es nicht mehr aus. »Aber du kannst garantiert kein Pilot werden! Du hast kein Y-Chromosom! Dich kann man im Weltraum nur als Gepäck befördern. Tiefgekühlt, mit Eiszapfen an den Wimpern.«
Dajka sprang auf und ging schweigend weg. Das war gemein von mir. Sie begeisterte sich mehr als mancher Junge für den Kosmos. Aber sie hat nun einmal kein Y-Chromosom. Und das bedeutet, dass sie stirbt, wenn sich das Raumschiff im Zeitsprung befindet. Natürlich nur dann, wenn sie nicht in Anabiose liegt. Eben mit Eiszapfen an den Wimpern…
»Dajka!«, rief ich und stützte mich auf die Ellenbogen, »Dajka!«
Aber sie ging weiter, ohne sich umzusehen.
Also räkelte ich mich wieder auf der Steinplatte und folgte mit dem Blick der Flugbahn des Raumschiffs. Der Zeitkanal, den die Raumschiffe für den Flug zwischen den Sternen benutzen, verläuft ganz in unserer Nähe. In einer Stunde würde das Raumschiff in ihn eintauchen und das Erz auf einen Industrieplaneten transportieren. Und danach vielleicht in andere interessante Welten. Natürlich würde ich nie genug Geld verdienen, um mir eine Pilotenausbildung leisten zu können.
Wenn ich überhaupt jemals in den Kosmos fliegen könnte, dann sowieso nur als Bestandteil eines Computers. Als »Gehirn in der Flasche«, wie das landläufig genannt wird.
Aber es ist immerhin eine Art Fliegen. Manchmal verdient man dadurch so viel, dass man ein richtiger Pilot werden kann. Ich drehte mich um und warf ein Steinchen an Glebs Schulter. Gleb sonnte sich nicht weit von mir. Er war es eigentlich, der mich an den Fluss gelockt hatte, denn er hält einzig die Herbstbräune für gesund und echt. Gleb hob den Kopf vom Handtuch und schaute mich fragend an. Entweder hatte er mein Gespräch mit Dajka nicht gehört oder ihm keine Beachtung geschenkt.
Also erklärte ich ihm, was ich vorhatte.
Gleb meinte, ich sei ein Idiot. Der Anschluss eines menschlichen Gehirns an einen Computer als »Modul« würde nämlich Neuronen verbrennen, den freien Willen unterdrücken und einen verdummen. Da sei es schon einfacher, ins »Haus des Abschieds« zu gehen, davon habe wenigstens der Staat noch einen Nutzen…
In diesem Moment erinnerte er sich an meine Eltern und hielt inne. Ich nahm es ihm nicht übel. Erwiderte lediglich, dass viele berühmte Piloten damit angefangen hätten, als Module in Raumschiffen zu arbeiten. Man muss rechtzeitig kündigen, das ist wichtig. Und wenn man es überhaupt riskieren will, dann genau in unserem Alter, solange das Gehirn noch formbar ist und sich entwickelt. Dann kann es alles kompensieren.
Gleb wiederholte, dass ich ein Idiot sei, und räkelte sich unter der trüben orangefarbenen Sonne. Ich sagte auch nichts mehr, legte mich wieder hin und schaute in den Himmel. Er ist bei uns sogar bei schönem Wetter orange. Auf der Erde und dem Avalon ist er blau. Er kann auch grün, dunkelblau oder gelb aussehen. Die Wolken müssen nicht aus Sand sein, es gibt welche aus Wasserdampf. Wenn du aber nur auf dem Karijer bleibst, bekommst du das nicht zu sehen.
Auf einmal wurde mir klar, wie einfach alles war, dass es gar keinen Ausweg gab:
Hier konnte, wollte und würde ich nicht leben. Der Sozialarbeiter unseres Wohngebiets war eine Frau. Vielleicht sorgte sie sich deshalb so um mich, als ich ihr mitteilte, dass ich mich als Modul auf einem Raumschiff verdingen wollte. Sie sah mich lange an, ganz als ob sie erwartete, dass ich rot werden, mich abwenden und die Antragsunterlagen vom Tisch nehmen würde. Aber ich blieb sitzen und wartete, bis sie aufgab und die Aktenmappe öffnete.
Meine Unterlagen waren in Ordnung. Die staatliche Ablösesumme für die Arbeitserlaubnis im Kosmos konnte ich mit meinem Recht auf die Lebenserhaltungssysteme und der Wohnung, die mir die Eltern überschrieben hatten, bezahlen. Drei Zimmer zu acht Quadratmetern, Küche und Sanitärblock… Meine Eltern hatten wirklich einmal gut verdient. Die Mindestgrundausbildung hatte ich erhalten. Die Wohnungsnachbarn gaben mir wirklich sehr gute Beurteilungen. Vielleicht rechneten sie damit, die Wohnung untereinander aufteilen zu können.
»Tikkirej«, meinte die Beamtin leise, »eine Arbeit als Modul ist Selbstmord. Verstehst du das?«
»Ja.« Ich hatte mir vorgenommen, weder zu diskutieren noch etwas zu erklären.
»Du wirst im Koma liegen und dein Gehirn wird Datenströme verarbeiten!«
Sie verdrehte die Augen zur Decke, als ob man ihr selbst die Kabel mit den Datenströmen an den Neuroshunt angeschlossen hätte.
»Du wirst erwachsen, dann älter werden, nur für wenige Tage im Monat erwachen, und dein Körper ist plötzlich gealtert. Verstehst du das? Das ist ungefähr so, als würdest du nicht einhundert Jahre leben wie alle anderen Menschen, sondern nur ein Zwanzigstel davon. Kannst du dir das vorstellen, Tikkirej? Dir bleiben noch fünf Jahre zum Leben!«
»Ich arbeite fünf bis zehn Jahre, dann kündige ich und werde Pilot«, sagte ich.
»Was heißt kündigen!?« Die Beamtin schlug mit der Akte auf den Tisch. »Du willst das dann gar nicht mehr! Dein Gehirn verlernt es, irgendetwas zu wollen!«
»Mal sehen«, erwiderte ich.
»Ich werde nichts unterschreiben, Tikkirej«, erklärte die Beamtin. »Nimm deine Unterlagen und geh in die Schule. Deine Eltern haben sich so um dich gekümmert und du…«
»Sie haben kein Recht, nicht zu unterschreiben«, sagte ich. »Sie wissen das selbst ganz genau. Wenn ich keine Unterschrift bekomme, gehe ich zum städtischen Sozialdienst und beschwere mich über Sie. Wegen grundloser Ablehnung einer Erlaubnis wird man Ihnen das Nutzungsrecht für die Lebenserhaltungssysteme für ein halbes Jahr oder, wenn es ganz schlimm kommt, für ein Jahr entziehen. Das Gesetz muss geachtet werden!«
Das Gesicht der Frau bekam rote Flecken. Sie war ehrlich davon überzeugt, dass sie wusste, was für mich am besten wäre.
»Du hast dich informiert?«, fragte sie.
»Na klar. Ich bereite mich immer vor.«
Die Beamtin öffnete noch einmal die Akte und unterschrieb die Papiere…
»Zimmer 8, dort wird gesiegelt und kopiert«, sagte sie trocken und reichte die Unterlagen zurück.
»Danke«, verabschiedete ich mich.
»Schöne fünf Jahre, Gehirn in der Flasche…«, flüsterte sie giftig.
Mir machte das nichts aus. Vielleicht hat auch sie früher wie Dajka davon geträumt, in den Kosmos zu fliegen. Auf unseren Planeten kamen natürlich keine interessanten Raumschiffe.
Was sollten hier auch reiche Touristen oder Militärs? Jedes halbe Jahr landete ein Passagierschiff, das bis zur Erde flog, aber seine Mannschaft war sicher komplett. Gütertransporter kamen dafür täglich. Und auf jedem Gütertransporter, sogar dem kleinsten, müsste es neben der Mannschaft zehn bis zwölf Module geben.
Also nahm ich das Geld, das von den Eltern übrig geblieben war, meine eigenen Ersparnisse und die Münzsammlung des Großvaters, die zwar keinen großen Wert hatte, deren Münzen aber noch im Umlauf waren. Ich machte mich auf den Weg zum Kosmodrom, ging zuerst unter der Erde aus der Wohnkuppel in die technische und fuhr danach mit dem Bus durch den offenen Raum. Niemand beachtete mich. Vielleicht glaubten alle, dass ich zu meinen Eltern fahren würde, die irgendwo auf dem Kosmodrom arbeiteten.
Als der Bus am Hotel hielt, bezahlte ich und stieg aus.
Wir hatten auf Karijer keine eigene Weltraumflotte und auch keine entsprechende Personalvermittlung. Wenn also ein Flugkapitän Module brauchte, ging er einfach in die Bar des Kosmodroms und wartete dort bei einem Glas Bier. Das hatte ich von Erwachsenen gehört und in den Nachrichten gesehen und wollte es jetzt selbst ausprobieren.
Die Bar sah nicht so luxuriös aus wie im Fernsehen. Obwohl, da war die Tafel mit den Autogrammen berühmter Piloten, ein Stück von der Hülle eines Kampfraumschiffs des Imperiums, ein Tresen mit außerplanetaren Getränken, die ein Vermögen kosteten. Aber all das war klein. In der Bar waren vielleicht zehn Gäste. Dabei dachte ich, dass die Bar riesig sein würde, mindestens so groß wie die Schulturnhalle…
Im Halbdunkel, durch das wunderschöne holographische Bilder schwebten, ging ich zum Tresen. Ich sah auf die Preise und erstarrte. Ein Glas Limonade kostete hier mehr als eine Zweiliterflasche im Geschäft. Aber was blieb mir übrig? Ich suchte meinen größten Geldschein heraus, bestellte ein Glas Ingwerbier, nahm das Wechselgeld entgegen und setzte mich auf einen hohen Drehstuhl.
Der Barkeeper, ein ganz junger Mann mit einem Radio im Shunt beobachtete mich neugierig. Dann schaute er auf die Kaffeemaschine, die summte und eine Tasse betörend duftenden Kaffees zubereitete.
»Entschuldigung, sind hier Flugkapitäne?«, fragte ich.
»Ach so«, erwiderte der Barkeeper, »dass ich das nicht gleich gemerkt habe… Nein, mein Junge. Auf dem Kosmodrom sind gegenwärtig nur zwei Erztransporter, der eine schon auf Startposition.«
»Fliegt er bald los?«, wollte ich wissen und trank einen Schluck. Schmeckte gut.
»In ein paar Minuten, du wirst es hören. Wenn du willst, mache ich den Monitor an.«
»Als ob ich noch keinen Start gesehen hätte! Aber wie finde ich den zweiten Kapitän?«
»Willst du als Modul anheuern?«
Er sagte nichts vom »Gehirn in der Flasche«, deshalb fand ich ihn sofort sympathisch.
»Woher wissen Sie das?«
Der Barkeeper lachte. »Was sollte denn ein Halbwüchsiger sonst in dieser Bar machen? Etwa Ingwerbier trinken, das hier mehr kostet als ein Mittagessen in der Stadt? Du brauchst keinen Flugkapitän, mein Freund. Die Kapitäne heuern richtige Kosmonauten an, für die Module sind die Ältesten zuständig.«
»Aber die Module gehören auch zur Mannschaft!«
»Ja, ungefähr so wie meine Kaffeemaschine. Möchtest du einen Kaffee? Ich lade dich ein.«
Ich hätte gern einen Kaffee getrunken, aber ich schüttelte den Kopf.
Der junge Mann schaute mich an und zuckte nach einer Weile mit den Schultern. »Ich werde dir nicht auf die Nerven gehen, die brauchst du noch. Was hast du für einen Neuroshunt?«
»Kreativ-Gigabit.«
Er schien sich zu wundern.
»Tja, das ist nicht schlecht. Und alle Unterlagen sind vollständig? Und die Eltern sind einverstanden?«
»Die Eltern haben ihr Verfassungsrecht in Anspruch genommen. Vor einer Woche.«
»Alles klar«, er stellte die Tasse zur Seite, »dort in der Ecke, unter dem Eisenteil…«
Er hatte nichts übrig für das ruhmreiche Stück aus der Panzerung des Kampfschiffes.
»Ja, und?«, fragte ich.
»Der Kerl, der Wodka säuft, ist der Älteste des zweiten Erztransporters. Spendiere ihm etwas zu trinken, das gehört sich so. Und biete deine Dienste an.«
Ich schaute sofort auf die Preisliste, aber der Barkeeper verdeckte sie mit seiner Hand.
»Du wolltest keinen Kaffee, also… gib mir einfach ein Zeichen und ich bringe etwas.«
»Danke«, murmelte ich. Die Alkoholpreise hatte ich gesehen. Wenn ich hätte bezahlen müssen, wäre nicht einmal Geld für die Rückfahrt übrig geblieben.
»Dafür bedankt man sich nicht. Wenn du davon überzeugt bist, dass du richtig handelst, dann geh!«
»Danke«, wiederholte ich störrisch.
Auf einmal schwankte die Bar leicht. Durch die verdunkelten Fenster brach ein roter Schein. Der Älteste am Ecktisch erhob das Glas, als ob er mit jemand Unsichtbarem anstoßen wollte, und trank es in einem Zug aus.
»Der ist überladen, fliegt mit dem Hauptmotor«, bemerkte der Barkeeper, »also, entscheide dich, Junge.«
Ich sprang vom Barhocker und ging zum Ältesten. Es war nicht so, dass ich Hemmungen gehabt hätte. Letztendlich war ich dazu bereit, jeden Tag hierherzukommen. Aber der nette Barkeeper würde mir nicht jedes Mal helfen. Ich wollte mir diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen.
Der Älteste hob den Kopf und schaute mich aufmerksam an.
Vor ihm stand eine fast leere Flasche.
Papa hätte niemals so viel getrunken. Der Kosmonaut wirkte nicht einmal betrunken. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, ohne besondere Kennzeichen. Keine Narben, keine kosmische Bräune, keine künstlichen Organe.
»Guten Abend«, sagte ich, »darf ich Sie einladen?«
Eine Weile schwieg der Älteste, dann zuckte er mit den Schultern. »Bitte!«
Ich winkte dem Barkeeper zu, der mir mit einem völlig ernsten und undurchdringlichen Gesicht zunickte. Er stellte zwei volle Gläser auf das Cybertablett und sandte es durch den Saal. Der kleine Gravitator des Tabletts blinkte orangefarben, er entlud sich. Aber das Tablett kam problemlos am Tisch an, schaffte es sogar, durch die Hände eines Typs zu schlüpfen, der lachend nach einem Glas griff.
Erst daraufhin nahm ich beide Gläser und realisierte, dass auch ich trinken musste.
Bisher hatte ich nur Hopfenbier und Sekt probiert. Den Sekt allerdings vor so langer Zeit, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, und das Bier hatte mir nicht geschmeckt.
»Das hat beim Start ganz schön gewackelt, findest du nicht?«, sagte plötzlich der Älteste.
Ich erinnerte mich an die Worte des Barkeepers und antwortete: »Fliegt mit dem Hauptmotor. Überladen.«
»Dumm bist du nicht, Junge«, bemerkte der Älteste zufrieden, »na dann, auf einen guten Flug…«
Er trank mit einem Schluck aus und verzog dabei keine Miene.
Ich musste daran denken, wie Vater Wodka trank: Er hielt die Luft an und goss ihn mit einem Schluck in sich hinein. Schleunigst spülte ich mit Ingwerbier nach. Das war Klasse. Die Nase kribbelte vom scharfen Aroma und im Hals wurde es warm. So musste es sein.
»Okay«, sagte der Älteste, »nun sag schon, was du willst!«
»Ich möchte meine Dienste als Modul anbieten«, sprudelte es aus mir heraus.
»Welcher Shunt?«
»Kreativ-Gigabit.«
»Für Dauerbetrieb zugelassen?«
»Vierundachtzigeinhalb.«
Der Älteste kratzte sich am Kinn. Schenkte sich Wodka nach und schaute mich fragend an. Ich nickte und er goss mein Glas halb voll.
»Hast du eine Genehmigung?«
»Ja.« Ich griff in die Tasche, aber der Kosmonaut schüttelte den Kopf: »Nicht jetzt… alles geregelt, alles geklärt, alle Genehmigungen vorhanden, ich glaube dir… aber warum?«
»Ich möchte hier nicht leben«, antwortete ich ehrlich.
»Wenn du gesagt hättest, du könntest ohne den Kosmos nicht leben, hätte ich dir den Riemen zu kosten gegeben«, äußerte sich der Älteste etwas nebulös, »Aber hier leben… ja, das würde ich auch nicht wollen… Weißt du denn überhaupt, was ein Modul ist?«
»Darunter versteht man den Onlineanschluss eines Gehirns als Prozessor der ununterbrochenen Datenverarbeitung, welche die Navigation im Hyperkosmos ermöglicht«, legte ich los. »Da beim Überschreiten der Konstante c die Schnelligkeit elektronischer Datenverarbeitungssysteme direkt proportional zur Geschwindigkeit des Raumschiffs abnimmt, stellt die Nutzung der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns die einzige Navigationsmethode im Zeittunnel dar.«
»Du kannst dabei nicht denken!«, erklärte der Älteste. »Du wirst dich nicht einmal an etwas erinnern. Der Stecker wird angeschlossen und du schaltest dich ab. Erst nach der Landung lebst du wieder auf. Der Kopf tut etwas weh, und es kommt dir vor, als ob nur eine Minute vergangen wäre, lediglich ein Bart ist dir inzwischen gewachsen… na ja, bei dir vielleicht nicht gerade. Und? Was ist daran so schön?«
»Ich möchte hier nicht leben«, wiederholte ich. Dieser Grund schien den Ältesten ja überzeugt zu haben.
»Die Bezahlung der Module ist progressiv. Während der fünf Jahre Realzeit kannst du genügend Geld sparen, um in die Kosmonautenschule aufgenommen zu werden«, führte der Älteste aus. »Außerdem hast du das richtige Alter dafür. Die Sache hat aber einen Haken: Die Arbeit im Dauerbetrieb schädigt die Prozesse der Motivation und Zielsetzung im Gehirn. Du möchtest dann nicht mehr weg. Verstehst du das?«
»Ich schon.«
»Nur zwei Prozent der Personen, die als Modul tätig sind, verlassen ihren Platz nach Ablauf des fünfjährigen Standardvertrages. Ungefähr ein Prozent kündigt den Vertrag vorzeitig. Alle anderen arbeiten bis… bis zum Tod.«
»Ich riskiere es.«
»Du liebst das Risiko.« Der Älteste erhob das Glas und trank. Ich zögerte und folgte dann seinem Beispiel. Dieses zweite Mal klappte es nicht so richtig, ich fing an zu husten und der Älteste klopfte mir auf den Rücken.
»Nehmen Sie mich, bitte«, flehte ich ihn an, nachdem ich wieder atmen konnte. »Ich verdinge mich so oder so als Modul. Wenn nicht bei Ihnen, dann eben bei einem anderen.«
Der Älteste erhob sich. In seiner Flasche war noch ein Rest, aber er schien nicht darauf zu achten. Die Kosmonauten sind alle ungeheuer reich.
»Gehen wir!«
Als wir hinausgingen, blinzelte ich dem Barkeeper zu. Er lächelte und winkte mir zu. So, als ob er mir nicht wirklich zustimmen, aber meine Entscheidungsfreiheit anerkennen würde.
Ein wirklich guter Mensch, bestimmt deshalb, weil er auf dem Kosmodrom arbeitete.
Durch das schöne Hotelfoyer gingen wir zu den Fahrstühlen.
Wortlos zeigte der Älteste dem Sicherheitsdienst seinen galaktischen Pass. Der Sicherheitsdienst ließ ihn ebenso wortlos passieren. Neben den Fahrstühlen befand sich in einer Nische noch eine kleine Bar. Dort saßen ungefähr fünf junge Frauen, alle sehr schön und sehr verschieden — eine Asiatin, eine Schwarze und eine Weiße. Sie tranken genüsslich ihren Kaffee. Die Asiatin schaute zu uns herüber und sagte etwas zu ihren Freundinnen, die zu lachen anfingen.
»Kuscht euch, ihr Pack!«, schnappte der Älteste und sein Gesicht färbte sich dunkelrot.
Die Damen lachten noch mehr. Ich schaute sie verstohlen von der Seite an, als wir uns im gläsernen Fahrstuhl in die oberen Etagen bewegten.
»Wir warten erst einmal ab, was der Arzt sagt«, teilte mir der Älteste mit. »Eurem Gesundheitswesen vertraue ich nicht.«
»Hm«, stimmte ich ihm zu, »unser Gesundheitswesen ist gut, aber veraltet.«
Ich folgte dem Ältesten durch eine der Türen. Wir befanden uns in einem luxuriösen Hotelzimmer mit Videoscreen, auf dem gerade ein Historienfilm lief. Im Sessel davor hing ein hagerer, großer Mann, der einen edlen Glaskelch mit irgendeinem Getränk in der Hand hielt.
Das Glas sah ihm sehr ähnlich und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Es lief überhaupt alles wie am Schnürchen!
»Anton«, sagte der Älteste und schubste mich nach vorn, »untersuche den Jungen. Er will als Modul bei uns anfangen.«
Der Mann wandte sich um, stellte das Glas ab und sagte: »Die Dummen werden immer jünger. Hast du ihm wenigstens klargemacht, was es bedeutet, auf Dauerbetrieb zu sein?«
»Habe ich. Er kennt sich aus.« Der Älteste kicherte. »Hat sogar bemerkt, dass die Arizona mit Hauptmotor gestartet ist.«
Anton beugte sich zum Videoscreen vor und schaltete ihn aus. Das Licht im Zimmer wurde heller. Mir fiel auf, dass die Zimmerfenster genauso undurchsichtig waren wie in der Bar. Bestimmt missfällt den Kosmonauten unser Planet dermaßen, dass sie alle Fenster abdunkeln.
»Zieh dich aus!«, befahl er.
»Ganz?«, fragte ich.
»Nein, die Stiefel kannst du anbehalten.«
Er machte sich natürlich über mich lustig. Wer trägt denn Stiefel innerhalb der Kuppel? Ich zog mich nackt aus und legte meine Kleidung über den Stuhl, den mir der Älteste zuschob.
»Was hast du für einen Shunt?«, fragte Anton, »einen Neuron?«
Wie dankbar ich doch meinen Eltern war! In meiner Klasse hatten fast alle einen Neuron, ein fürchterliches Ding. Ich sagte, dass ich einen Kreativ hätte.
»Ein ernstzunehmender Junge«, bestätigte Anton und holte ein kleines Köfferchen hervor.
»Stell dich hierhin!«
Ich stellte mich hin wie gewünscht und bewegte die Arme wie befohlen. Anton holte ein Kabel aus dem Köfferchen und warnte mich: »Gleich wird dir schwindlig!«
Mir war so schon schwindlig, aber das verriet ich ihm nicht. Der Weltraumarzt — Anton war auf alle Fälle einer — schloss das Kabel an meinen Neuroshunt an und stellte vor mir einen Scanner auf ein Stativ.
»Hast du gute Nerven?«, wollte er wissen.
»Sicher!«
»Das ist auch gut so!«
Der Videoscreen leuchtete wieder auf. Nur dass jetzt ich darauf zu sehen war. Der Scanner summte leise, der Detektorkopf vibrierte. Die Abbildung auf dem Screen begann sich zu verändern.
Zuerst kam es mir vor, als ob man mir die Haut abziehen würde. Ich warf einen schnellen Blick auf mich, um mich zu überzeugen, dass sie noch an Ort und Stelle war.
Um mein Abbild leuchteten verschiedene Bezeichnungen und Ziffern auf. Nicht in Lingua, sondern in einer unbekannten Sprache.
»Ernährst du dich vollwertig?«, fragte Anton.
»Ja.«
»Das ist verteufelt gut… Eindeutig, du bist nicht zum Säckeschleppen bestimmt.«
Jetzt verschwanden von meinem Abbild sämtliche Muskeln. Übrig blieben die Knochen und die inneren Organe. Ich krümmte mich und fühlte eine aufsteigende Übelkeit.
»Tut dir oft der Magen weh?«, erkundigte sich der Arzt.
»Nein, niemals.«
»Warum lügst du? Man sieht es ja doch… Pawel! Hast du ihm etwa Wodka eingeflößt?«
»Das ist so üblich. Wir haben ein Gläschen miteinander getrunken.«
»Eine Mannschaft von Schwachsinnigen… Junge, gab es bei dir positive Mutationen?«
»Ja. Den Komplex Inferno.«
Ich hielt die Augen geschlossen und hörte, wie Anton dem Ältesten erklärte: »Siehst du, dass die Organe des Immunsystems vergrößert sind? Die Nieren sind für die Ausschwemmung von Nukliden ausgelegt, Schilddrüse und Hoden geschützt. Der Junge kann ziemlich gut mit Radioaktivität leben. Und auch die üblichen Kleinigkeiten — ein gänzlich von Lymphgewebe ausgefüllter Blinddarm, ein verstärktes Herz…«
»Anton, mir wird gleich übel. Erspare mir den Anblick eines skelettierten Kindes!«
»Wie du willst…«
Ich öffnete wieder die Augen und schaute auf mein eigenes Skelett. Das war mir recht sympathisch, wirkte aber ziemlich mickrig.
»Hattest du dir die Hand gebrochen?«, fragte der Arzt.
»Die rechte«, bestätigte ich. In meinem Gesundheitspass gab es darüber schon keine Eintragung mehr, und ich hatte darauf gehofft, dass niemand davon erfahren würde.
»Nicht so schlimm, ist ganz gut zusammengewachsen«, beruhigte mich Anton. Er nahm sich einen Handdetektor, kam näher und untersuchte mich mit dem Schallkopf, ohne einen Blick auf den Screen zu werfen.
»Annehmbar?«, interessierte sich der Älteste. Er saß im frei gewordenen Sessel, trank bedächtig Antons Getränk aus und rauchte eine Zigarette.
»Der Körper ist in Ordnung«, gab Anton zu, »jetzt prüfen wir den Shunt auf Durchgängigkeit… Wann warst du das letzte Mal auf Toilette, mein Junge?«
»Hä?«, ich verstand den Zusammenhang nicht.
Anton zog eine Grimasse: »Okay, vielleicht bleibt es ihm erspart.«
»Sicher bleibt es ihm erspart«, bekräftigte der Älteste fröhlich.
Anton fasste mich kräftig unter die Oberarme, hob mich hoch und empfahl: »Halt es zurück!«
Das Kommando gab er sicherlich über seinen Shunt. Ich verlor nämlich sofort das Bewusstsein. Als ich nach einem Augenblick wieder zu mir kam, tat mein Kopf weh und die Hände zitterten leicht. Anton hielt mich noch immer fest. Meine Beine waren nass und über den Boden kroch eine Reinigungsschildkröte, die ab und zu an meine Hacken stieß.
Ich hatte mich bepinkelt!
»Geh duschen, diese Tür da«, sagte mir Anton. »Wasch dich und zieh dich an.«
Er verzog zwar das Gesicht, war mir aber anscheinend nicht böse. Ich nahm meine Sachen und verschwand im Bad, rot wie ein Krebs und davon überzeugt, dass nun alles zu Ende sei.
Ein schönes Modul, bei dem die Schließmuskeln nichts aushalten… Unter der Dusche dachte ich traurig, dass ich besser gleich verschwinden sollte, ohne mich noch einmal bemerkbar zu machen.
Ich ging aber doch zurück.
Anton saß wieder in seinem Sessel, das Köfferchen war verstaut, über die Wände liefen künstliche bunte Verzierungen. Der Älteste rauchte. Der Boden war sauber und trocken.
»Verzeihung«, murmelte ich.
»Ich bin ja selber schuld«, äußerte Anton plötzlich, »hatte dich zu lange unter Spannung.«
»Lange?«, fragte ich irritiert.
»Eine Viertelstunde. Es waren zu interessante Werte. Du hast nicht vierundachtzigeinhalb, wie es im Attest steht, sondern neunzig Komma sieben. Hervorragende Werte. Damit wirst du in die Kriegsflotte aufgenommen, Abteilung Pilot und Raumschiffkapitän.«
Der Älteste schien meine Angst zu verstehen.
»Aber wir nehmen dich doch, wir nehmen dich«, sagte er, »wenn du unbedingt willst, bist du als Modul eingestellt.«
»Obwohl ich empfehlen würde, das Gehirn zu schonen«, bemerkte Anton. »Verstehst du, mein Freund, die Stirnhirnlappen sind nicht für den Dauerbetrieb geschaffen. Sie… wie soll ich das ausdrücken… schlafen ein. Sie fangen an zu faulenzen. Mit allen unangenehmen Folgen…«
Plötzlich fing er an zu lachen. Ich ahnte den Grund und wurde wieder rot.
»Zusammengefasst, ich würde dir abraten«, fuhr Anton schon ernster fort, »ehrlich. Aber wenn du darauf bestehst, nehmen wir dich mit Kusshand. Wir brauchen immer Module.«
»Ich… ich bin bereit.«
»Musst du noch irgendwelche Dinge regeln?«, fragte mich der Älteste.
»Ja.«
Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich alles so schnell entscheiden würde!
»Dann komm morgen früh hierher. Wir starten am Abend… Wobei dir das eigentlich egal sein kann.«
Ich nickte und zog mich zur Tür zurück.
»Warte!«, rief Anton plötzlich. »Ich möchte dir noch eine Sache erklären, mein Junge. Jetzt unterhalten wir uns mit dir, und das ist für uns angenehm, denn du bist ein kluger, tapferer Kerl. Der durchaus unser Kollege werden könnte… unser echter Kollege. Wenn du aber ein Modul wirst, wird sich alles verändern. Wir werden uns dir gegenüber völlig anders verhalten. Auch wenn du dir nach der ersten Reise das Kosmodrom des anderen Planeten anschauen wirst, noch fröhlich, neugierig und interessiert. Wir werden uns mit dir dann nicht mehr unterhalten, Späße machen und lachen. Wir haben nämlich Hunderte von solchen wie dich gesehen, am Anfang noch klug, mutig und gut. Und wenn man euch wie normalen Menschen begegnen würde, nachdem ihr an den Dauerbetrieb angeschlossen wart, dann würden das die stärksten Nerven nicht aushalten.«
Ich fühlte mich wie nach einem Schlag ins Gesicht. Ich würgte an einem nicht existenten Brocken im Hals, denn ich mochte den Ältesten und sogar den gemeinen, fiesen Arzt.
Jetzt jedoch sahen sie mich sehr ernsthaft an und…
Genau wie ich die Eltern, als sie mir vom »Haus des Abschieds« erzählten.
»Als Mannschaftsmitglied und Miteigentümer des Raumschiffs, der damit seinen Lebensunterhalt verdient, möchte ich dich sehr gern als Modul anwerben«, sagte der Älteste und hüstelte, »aber als Mensch, der selbst Söhne großzieht, würde ich dir nicht zuraten.«
»Ich komme«, flüsterte ich.
»Hier, nimm!« Der Älteste kam auf mich zu und gab mir einige zusammengeheftete Blätter.
»Das ist unser Arbeitsvertrag für Module. Es ist ein Standardvertrag, genau wie er von der Gilde empfohlen wurde. Lies ihn dir trotzdem sorgfältig durch. Alles Weitere ist dann deine Entscheidung.«
Ich nahm den Vertrag an mich und verließ den Raum. In meinem Kopf summte es und die Haut über dem Ohr um den Shunt herum juckte ein wenig. Das kam von der Aufregung.
Außerdem war mir unheimlich, dass sowohl der Älteste als auch der Arzt ehrlich zu mir gewesen waren. Dass sie gute Menschen waren.