"Der Zauberer der Smaragdenstadt" - читать интересную книгу автора (Wolkow Alexander)
Zweiter Teil Der Grosse und Schreckliche
Die Smaragdenstadt
Am nächsten Morgen, als die Freunde bereits mehrere Stunden unterwegs waren, sahen sie plötzlich ein grünes Leuchten am Horizont.
«Das ist wahrscheinlich die Smaragdenstadt», meinte Elli.
Das Leuchten wurde, je näher sie kamen, immer stärker, aber erst am Nachmittag erreichten die Wanderer die hohe grellgrüne Mauer, von der es ausging. Vor ihnen befand sich ein großes Tor mit riesigen Smaragden, die so stark funkelten, daß sie sogar den Scheuch blendeten, obwohl er nur gemalte Augen hatte. Hier hörte der gelbe Backsteinweg
auf, der die Freunde so viele Tage geführt und schließlich ans ersehnte Ziel gebracht hatte.
Über dem Tor hing eine Glocke. Elli zog an der Schnur, und die Glocke gab einen tiefen klaren Ton. Alsdann öffnete sich langsam das Tor, und die Wanderer traten in ein Zimmer mit gewölbter Decke, dessen Wände von zahllosen Smaragden funkelten.
Ein kleines Männlein empfing sie, das von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet war und an der Hüfte eine grüne Tasche trug.
Das Männlein war sehr erstaunt bei ihrem Anblick und sagte:
«Wer seid ihr?»
Ich bin ein Strohmann und brauche ein Gehirn!» erwiederte der Scheuch.
«Ich bin aus Eisen gemacht und wünsche mir ein Herz», sagte der Holzfäller.
«Ich bin der Feige Löwe und möchte mir hier Mut holen», erklärte der Löwe.
«Und ich bin Elli aus Kansas und will in meine Heimat zurückkehren», sagte das Mädchen.
«Wozu seid ihr aber in die Smaragdenstadt gekommen?»
«Wir wollen den Großen Goodwin sehen. Wir hoffen, daß er unsere Wünsche erfüllt, denn uns kann außer einem Zauberer niemand helfen.»
«Schon viele Jahre hat niemand bei Goodwin dem Schrecklichen um Einlaß gebeten», erwiderte das Männlein nachdenklich. «Er ist mächtig und schrecklich, und falls ihr ohne triftigen Grund oder mit der bösen Absicht gekommen seid, den weisen Zauberer beim Denken zu stören, so wird er euch im Handumdrehen vernichten.»
«Aber wir haben doch wichtige Anliegen an Goodwin», sagte der Scheuch nachdrücklich. «Wir haben gehört, daß er ein gütiger Weiser ist.»
«Das stimmt», meinte das grüne Männlein. «Er regiert weise die Smaragdenstadt. Aber wer aus purer Neugier in die Stadt kommt, den beneide ich nicht. Ich bin der Torhüter, und da ihr gekommen seid, werde ich euch zu Goodwin führen, nur müßt ihr Brillen aufsetzen.»
«Brillen?» wunderte sich Elli.
«Ohne Brillen wird euch die Pracht der Smaragdenstadt blenden. Bei uns tragen alle Einwohner Tag und Nacht Brillen. So hat's der Weise Goodwin befohlen. Die Brillen haben ein Schloß, damit sie niemand abnehmen kann.»
Er öffnete seine grüne Tasche, in der sich viele grün Brillen jeder Größe befanden. Die Ankömmlinge, der Löwe und Totoschka nicht ausgenommen, mußten Brillen aufsetzen, deren winzige Schlößchen der Torhüter verschloß.
Dann setzte er gleichfalls eine Brille auf und führte die betroffen schweigenden Wanderer durch die gegenüberliegende Tür auf eine Straße.
Die herrliche Stadt blendete die Ankömmlinge, obwohl die Brillen ihre Augen schützten. Zu beiden Seiten standen prächtige Häuser aus grünem Marmor, deren Wände Smaragde schmückten. Die Fahrbahn bestand aus grünen Marmorplatten, zwischen die Smaragde eingelegt waren. Auf der Straße drängte sich das Volk.
Neugierig betrachteten die Leute Ellis Gefährten, doch niemand richtete ein Wort an sie. Auch hier schienen sich alle vor dem Löwen und Totoschka zu fürchten. Die Stadtbewohner trugen grüne Kleider, und auch ihre Haut schimmerte grün. Alles war in der Smaragdenstadt grün, sogar die Sonnenstrahlen.
Der Torhüter geleitete die Wanderer durch die grünen Straßen zu einem hohen schönen Gebäude in der Mitte der Stadt. Es war das Schloß des Großen und Weisen Zauberers Goodwin.
Ellis Herz pochte laut vor Erregung, als sie durch den Schloßpark gingen, in dem viele Springbrunnen und Blumenbeete zu sehen waren. Jetzt wird sich ihr Schicksal entscheiden, jetzt wird sie erfahren, ob der Zauberer Goodwin sie in ihre Heimat führen werde, ob die Strapazen des langen und mühsamen Weges umsonst waren oder nicht.
Das Schloß war gegen Feinde gut gesichert. Eine hohe Mauer umgab es, um die sich ein Wassergraben zog, und es war auch eine Zugbrücke da, die man im Bedarfsfall herablassen konnte.
Als der Torhüter und die Ankömmlinge am Graben anlangten, war die Brücke hochgezogen. Auf der Mauer stand ein hochgewachsener Soldat in grüner Uniform. Er hatte einen grünen Bart, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte und auf den er sehr stolz war, um so mehr als sich kein anderer Bewohner dieses Landes eines solch herrlichen Bartes rühmen konnte. Neider behaupteten, es sei der einzige Vorzug des Soldaten, nur ihm habe er den hohen Posten auf der Mauer zu verdanken.
Der Soldat hielt einen kleinen Spiegel und einen Kamm in den Händen, mit dem er seinen prächtigen Bart kämmte. Über diese Beschäftigung weder sah noch hörte er, was ringsum vorging.
«Din Gior!» rief der Torhüter zur Mauer hinauf. «Da sind ein paar Fremde, die den Großen Goodwin sehen möchten.»
Als keine Antwort erfolgte, schrie der Scheuch mit seiner heiseren Stimme:
«Herr Soldat! Laßt uns ein! Wir sind berühmte Wanderer, Sieger über die Säbelzahntiger und wagemutige Fahrer über Flüsse.»
Keine Antwort.
«Ihr Freund leidet wahrscheinlich an Zerstreutheit?»
«Ja, das kommt bei ihm vor», erwiderte der Torhüter.
«Verehrtester, schenkt uns Eure Aufmerksamkeit!» schrie der Holzfäller. «Nein, er hört nicht. Laßt uns alle gemeinsam rufen!»
Sie holten tief Atem, und der Holzfäller setzte sogar seinen Trichter an den Mund. Auf ein Zeichen des Scheuchs schrien sie aus Leibeskräften:
«Herr Soldat! Laßt uns ein! Herr Soldat! Laßt uns ein!»
Der Scheuch schlug mit seinem Stock gegen das Geländer des Grabens, daß es dröhnte, und Totoschka bellte laut. Das machte aber keinen Eindruck auf den Soldaten, der fortfuhr, seinen Bart liebevoll zu kämmen.
«Da werd ich wohl brüllen müssen wie die Tiere des Waldes», sagte der Löwe, «ich sehe keinen anderen Ausweg.»
Er stemmte sich fest auf seine Taten, reckte den Kopf und stieß ein Gebrüll aus, daß die Scheiben in den Fenstern klirrten, die Blumen ringsum erschauerten, das Wasser aus den Becken spritzte und die Neugierigen, die die seltsame Gesellschaft von weitem beobachteten, die Hände an die Ohren preßten und auseinanderstoben.
Der Soldat steckte Kamm und Spiegel in die Tasche, beugte sich über die Mauer und betrachtete verwundert die Ankömmlinge. Als er den Torhüter erblickte, atmete er sichtlich erleichtert auf.
«Bist du's, Faramant!» fragte er. «Was ist los?»
«Din Gior, wir stehen schon eine halbe Stunde da und schreien zu dir hinauf», erwiderte der Torhüter wütend.
«Ach, erst eine halbe Stunde», meinte der Soldat gleichmütig. «Das ist doch eine Kleinigkeit. Sag mir lieber, was das für Leute sind, die du mitbringst.»
«Fremde, die den Großen Goodwin sehen wollen!»
«Na, meinetwegen sollen sie eintreten», sagte Din Gior seufzend. «Ich will's dem Großen Goodwin melden…»
Er ließ die Brücke herab. Die Wanderer nahmen vom Torhüter Abschied, gingen über den Graben und traten in das Schloß. Der Soldat, der sie in den Empfangssaal führte, bat die Ankömmlinge, sich auf einer grünen Matte vor dem Eingang den Staub von den Füßen abzutreten, und hieß sie in grünen Sesseln Platz nehmen.
«Wartet hier. Ich will mich vor die Tür des Thronsaals begeben und dem Großen Goodwin eure Ankunft melden.»
Wenige Minuten später kam der Soldat zurück. Elli fragte ihn:
«Habt Ihr Goodwin gesehen?»
«O nein. Ich sehe ihn niemals!» war die Antwort. «Der Große Goodwin spricht mit mir nur durch die Tür. Er ist offenbar so furchtbar von Gestalt, daß er die Leute nicht umsonst schrecken möchte. Als ich ihm eure Ankunft meldete, wurde er zornig und wollte zunächst nichts hören. Dann fragte er plötzlich, wie ihr gekleidet seid. Als ich die silbernen Schuhe erwähnte, da horchte er auf und sagte, er würde euch alle empfangen. Doch müßt ihr wissen, daß er an einem Tag nur einen Bittsteller vorläßt. Das ist so seine Gewohnheit. Also werdet ihr hier mehrere Tage bleiben müssen. Er hat befohlen, euch Zimmer anzuweisen, damit ihr nach dem langen Weg ausruht.»
«Ich bitte dem Großen Goodwin in unserem Namen zu danken», sagte Elli.
Sie war beinahe sicher, daß der Zauberer gar nicht so schrecklich sei, wie es sich herumsprach, und die Heimat zurückführen werde.
Din Gior blies in seine grüne Pfeife, und ein schönes Mädchen in grünem Seidenkleid trat ins Zimmer. Sie hatte eine glatte grüne Haut, grüne Augen und lockiges grünes Haar. Das Mädchen verneigte sich tief vor Elli und sagte:
«Folgt mir, ich soll Euch in Euer Zimmer führen.»
Sie schritten durch prunkvolle Gemächer, stiegen viele
Treppen auf und ab und kamen schließlich in das Zimmer, das für Elli bestimmt war. Ein schöneres und behaglicheres Gemach konnte man sich gar nicht vorstellen. Da stand ein kleines Bett, und in der Mitte gab es einen Springbrunnen, dessen feiner Wasserstrahl in ein schönes Becken zurückfiel. Selbstverständlich war auch hier alles grün.
«Fühlt Euch wie zu Hause», sagte das grüne Mädchen. «Der Große Goodwin wird Euch morgen früh empfangen.»
Dann ging das Mädchen, um die anderen in ihre Zimmer zu führen, die gleichfalls herrlich eingerichtet waren und im schönsten Teil des Schlosses lagen.
Auf den Scheuch machte die ganze Pracht keinen Eindruck. Als das Mädchen weg war, stellte er sich gleichmütig neben die Tür und verharrte so bis zum Morgen. Die ganze Nacht hindurch starrte er eine kleine Spinne an, die sorglos ihr Netz wob, als befände sie sich nicht in einem herrlichen Schloß, sondern in der Hütte eines armen Schusters.
Der Eiserne Holzfäller legte sich zwar ins Bett, doch tat er es nicht, weil ihn danach verlangte, sondern weil er sich an die Zeit erinnerte, als er noch einen Körper aus Fleisch und Blut hatte. Aber auch er schloß die ganze Nacht kein Auge, da er immer wieder den Kopf, die Arme und die Beine bewegte, um sich zu vergewissern, daß sie nicht eingerostet waren.
Der Löwe hätte am liebsten im Hinterhof auf Stroh geschlafen, weil dies aber nicht anging, stieg er ins Bett, rollte sich wie eine Katze zusammen und begann so laut zu schnarchen, daß es im ganzen Schloß zu hören war. Das gleiche tat, allerdings viel leiser, Totoschka, der es sich neben seinem mächtigen Freund gemütlich gemacht hatte.
DIE WUNDERBAREN VERWANDLUNGEN GOODWINS DES ZAUBERERS
Am Morgen kam das grüne Mädchen wieder, wusch und kämmte Elli und führte sie in den Thronsaal.
In einem anstoßenden Saal standen festlich gekleidete Höflinge und Hofdamen. Obwohl Goodwin niemals vor sie trat und sie auch niemals empfing, pflegten sie sich seit Jahr und Tag jeden Morgen zu Schwatz und Klatsch im Schloß zu versammeln. Sie nannten das «Hofdienst» und bildeten sich viel darauf ein.
Die Höflinge betrachteten Elli mit Staunen, und als sie ihre silbernen Schuhe gewahrten, verneigten sie sich bis zum Boden.
«Eine Fee, eine Fee», hörte man flüstern.
Einer der Beherzesten trat auf Elli zu und fragte sie unter vielen Bücklingen:
«Ich erkühne mich, hochverehrte Frau Fee, an Euch die Frage zu richten: Wird Goodwin der Schreckliche Euch wirklich die Ehre eines Empfangs zuteil werden lassen?»
«Ja, Goodwin will mich sehen», erwiderte Elli bescheiden.
Ein Raunen ging durch die Menge. Im gleichen Augenblick hörte man ein Glöckchen läuten.
«Das Zeichen!» sagte das grüne Mädchen. «Goodwin erwartet Euch im Thronsaal!»
Ein Soldat öffnete das Tor. Elli trat zaghaft ein und sah sich in einem wunderlichen runden Saal mit hoher gewölbter Decke. Diele, Wände und Decke funkelten von unzähligen Edelsteinen.
In der Mitte stand ein Thron aus grünem Marmor mit herrlichen Smaragden, und auf diesem Thron lag ein riesiger lebender Kopf ohne Körper.
Er war so schrecklich anzusehen, daß es Elli kalt überlief.
Ein glattes, fettes Gesicht mit Pausbacken, langer fleischiger Nase und großen, zusammengepreßten Lippen. Der kahle Schädel glänzte wie ein Spiegel. Der Kopf schien leblos, keine Falte auf der Stirn, keine um den Mund, nur die Augen waren hellwach. Sie rollten in den Höhlen, hielten dann plötzlich inne und starrten zur Decke. Wenn die Augen rollten, knarrte es höchst merkwürdig im stillen Saal.
Elli war von dem unbegreiflichen Augenrollen so verwirrt, daß sie sich vor dem Kopf zu verneigen vergaß.
«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche! Wer bist du und warum belästigst du mich?»
Es fiel Elli auf, daß die Lippen sich beim Sprechen nicht bewegten und die Stimme, die weder laut noch unangenehm klang, irgendwo von der Seite kam.
Sie faßte sich ein Herz und antwortete:
«Ich bin Elli, ein kleines schwaches Mädchen. Ich komme aus weiter Ferne, um Eure Hilfe zu erbitten.»
Wieder rollten die Augen, hielten inne und blickten zur Seite. Es schien, als wollten sie Elli anschauen, vermochten es aber nicht.
Die Stimme fragte:
«Woher hast du die silbernen Schuhe?»
«Aus der Höhle Gingemas, der bösen Zauberin. Mein Häuschen ist auf sie herabgestürzt und hat sie zerdrückt. Jetzt sind die guten Käuer erlöst…»
«Die Käuer sind erlöst?» fragte die Stimme lebhaft, «und Gingema ist tot? Eine angenehme Nachricht!» Wieder rollten die Augen und hefteten sich schließlich auf Elli.
«Was willst du aber von mir?»
«Daß Ihr mich nach Hause bringt, nach Kansas, zu Vater und Mutter…»
«Du kommst aus Kansas?» unterbrach sie die Stimme, die jetzt milde und menschlich klang. «Und wie sieht's jetzt dort aus…» Doch plötzlich verstummte sie, und die Augen wandten sich von Elli ab.
«Ich komme aus Kansas», wiederholte das Mädchen. «Obwohl es in Eurem Land sehr schön ist, kann ich es doch nicht lieben», fuhr sie beherzt fort. «Da gibt es auf Schritt und Tritt so viele Gefahren.»
«Was ist dir denn zugestoßen?» wollte die Stimme wissen.
«Unterwegs raubte mich ein Menschenfresser. Er hätte mich gefressen, hätten mir meine treuen Freunde nicht beigestanden, der Scheuch und der Eiserne Holzfäller. Dann verfolgten uns schreckliche Säbelzahntiger… und später kamen wir in ein tückisches Mohnfeld, das war ein Reich des Schlafes! Ich, der Löwe und Totoschka schliefen dort ein, und hätten uns der Scheuch und der Eiserne Holzfäller und dann die Mäuse nicht geholfen, so hätten wir dort geschlafen, bis wir gestorben wären… Um Euch das alles ausführlich zu erzählen, würde ich einen ganzen Tag brauchen. Jetzt möchte ich Euch aber bitten: erfüllt die drei sehnlichsten Wünsche meiner Freunde, und wenn Ihr es getan habt, so werdet Ihr auch mich nach Hause bringen müssen.»
«Und warum werde ich dich nach Hause bringen müssen?»
«Weil es so im Zauberbuch Willinas steht…»
«Ach, das ist ja die gute Zauberin aus dem Gelben Land'.' Ich habe von ihr gehört», sagte die Stimme. «Was sie prophezeit, geht aber nicht immer in Erfüllung.»
«Außerdem müßt Ihr mir noch aus dem Grunde helfen, weil sich die Starken der Schwachen stets annehmen müssen», fuhr Elli fort. «Ihr seid doch ein großer und weiser Zauberer, ich aber bloß ein hilfloses kleines Mädchen…»
«Du warst aber stark genug, die böse Zauberin zu töten», wandte der Kopf ein.
«Das hat die Zauberei Willinas getan», erwiderte das Mädchen schlicht, «nicht ich!»
«Höre meine Antwort», sagte der Kopf und rollte die Augen so schnell, daß Elli einen Schrei des Entsetzens ausstieß. «Ich tue nichts umsonst. Willst du durch meine Zauberkunst nach Hause kommen, so mußt du tun, was ich dir befehle.»
Dabei blinzelten die Augen mehrmals. Trotz ihrer Angst verfolgte Elli mit Interesse die Augen und war gespannt darauf, was sie weiter tun würden. Die Bewegung der Augen stimmte mit den Worten des Kopfes und dem Tonfall seiner Stimme gar nicht überein, ja es schien sogar, als führten die Augen ein selbständiges Leben.
Der Kopf wartete, daß Elli weiter frage.
«Und was muß ich tun?» fragte sie.
«Du sollst das Violette Land aus der Gewalt der bösen Zauberin Bastinda erlösen», sagte der Kopf.
«Wie kann ich das?» rief Elli.
«Du hast die Käuer aus der Sklaverei erlöst und dir die silbernen Zauberschuhe Gingemas verschafft. Jetzt ist nur noch eine böse Zauberin in meinem Lande geblieben, die die armen, schüchternen Zwinkerer, die Bewohner des Violetten Landes, unterdrückt. Sie müssen ihre Freiheit erhalten…»
«Aber wie soll ich ihnen helfen?» fragte Elli. «Ich kann doch die Bastinda nicht töten.»
«Hm, hm…» Die Stimme stockte einen Augenblick lang. «Das ist deine Sache. Man könnte Bastinch in einen Käfig sperren, sie aus dem Violetten Land vertreiben, man könnte…» -
die Stimme klang jetzt unwirsch-, «schließlich wirst du an Ort und Stelle sehen, was zu tun ist. Es kommt darauf an, die Zwinkerer von der Zauberin zu erlösen. Urteilt man danach, was du von dir und deinen Freunden erzählst, so könnt und müßt ihr es schaffen. Das sage ich, Goodwin der Große und Schreckliche, und was ich sage, ist Gesetz.»
Das Mädchen brach in Tränen aus.
«Ihr verlangt Unmögliches von uns!»
«Jede Belohnung will verdient werden», entgegnete der Kopf trocken. «Mein letztes Wort: Du kehrst nach Kansas zurück, zu Vater und Mutter, wenn du die Zwinkerer befreit hast. Merke dir, Bastinda ist eine mächtige und böse Zauberin, furchtbar mächtig und böse, und man muß ihr die Zauberkraft nehmen. Geh und kehre nicht eher zurück, als bis du deine Aufgabe erfüllt hast.»
Betrübt verließ Elli den Thronsaal und kehrte zu ihren Freunden zurück, die sie schon unruhig erwarteten.
«Keine Hoffnung!» sagte sie weinend. «Goodwin hat mir befohlen, der bösen Bastinda die Zauberkraft zu nehmen, und das werde ich niemals fertigbringen.»
Alle ließen die Köpfe hängen, und niemand wußte Elli zu trösten. Sie ging in ihr Zimmer und weinte, bis sie einschlief.
Am nächsten Morgen stellte sich der grünbärtige Soldat beim Scheuch ein.
«Folgt mir, Goodwin erwartet Euch!»
Als der Strohmann den Thronsaal betrat, sah er eine wunderschöne Nixe mit schillerndem Fischschwanz auf dem Thron sitzen. Ihr Gesicht war reglos wie eine Maske, die
Augen starrten vor sich hin, und in der Hand hielt sie einen Fächer, den sie bewegte.
Der Scheuch, der den lebenden Kopf zu sehen erwartet hatte, war verwirrt, nahm sich aber zusammen und verneigte sich höflich. Die Nixe sagte mit tiefer angenehmer Stimme, die irgendwo aus der Wand zu kommen schien.
«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche. Wer bist du, und was führt dich zu mir?»
«Ich bin ein Scheuch, mit Stroh ausgestopft, und bitte Euch um ein Gehirn für meinen Strohkopf. Dann werde ich so sein wie alle Menschen in Eurem Reich, und das ist mein sehnlichster Wunsch.»
«Warum kommst du mit dieser Bitte zu mir?»
«Weil Ihr weise seid und weil mir außer Euch niemand helfen kann.»
«Ich verteile meine Gaben nicht umsonst», erwiderte die Nixe. «Höre meine Antwort: Nehme der Bastinda ihre Zauberkraft, und ich werde dir so viel Gehirn geben — ganz prächtiges Gehirn -, daß du der weiseste Mensch in Goodwins Land wirst.»
«Aber Ihr habt das doch schon Elli befohlen», rief der Scheuch verwundert.
«Mir ist's egal, wer es tut», erwiderte die Stimme. «Doch merke dir: Solange die Zwinkerer Bastindas Sklaven bleiben, wird dein Wunsch nicht erfüllt. Geh und verdien dir dein Gehirn!»
Betrübt wankte der Scheuch zu seinen Freunden hinaus und erzählte ihnen, wie Goodwin ihn empfangen habe.
Alle waren verwundert zu hören, daß Goodwin sich dem Scheuch als Nixe gezeigt habe.
Am nächsten Tag holte der Soldat den Eisernen Holzfäller. Als dieser, die Axt auf der Schulter (er trug sie immer mit sich), den Thronsaal betrat, sah er weder den lebenden Kopf noch die Nixe. Auf dem Thron saß ein grauenhaftes Tier. Es hatte den Kopf eines Nashorns, und aus dem Gesicht glotzten etwa ein Dutzend Augen nach allen Seiten. Zwölf Pranken von verschiedener Länge und Dicke hingen vom ungeschlachten Rumpf herab. Die Haut war stellenweise mit zottigem Fell bedeckt, kahl und grau und mit warzenartigen Auswüchsen übersät.
Ein abscheulicheres Ungeheuer konnte man sich gar nicht vorstellen. Bei seinem Anblick würde jedes Menschen Herz heftig zu schlagen beginnen. Der Holzfäller hatte aber kein Herz, und so erschrak er nicht, sondern grüßte nur höflich. Er war freilich enttäuscht, Goodwin nicht in der Gestalt der schönen Nixe zu sehen, die, wie er annahm, ihm eher ein Herz geben würde.
«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche», brüllte das Tier, und seine Stimme kam nicht aus dem Rachen, sondern aus irgendeinem Winkel. «Wer bist du, und warum belästigst du mich?»
«Ich bin ein Holzfäller aus Eisen, der kein Herz hat und deshalb nicht lieben kann. Gebt mir ein Herz, und ich werde wie alle anderen Menschen Eures Landes sein. Das ist mein sehnlichster Wunsch.»
«Immer wieder Wünsche! Wollte ich alle eure sehnlichsten Wünsche erfüllen, so müßte ich Tag und Nacht über meinen Zauberbüchern sitzen!» Nach kurzem Schweigen fuhr die Stimme fort: «Wenn du ein Herz willst, so mußt du es dir verdienen!»
«Wie?»
«Packe Bastinda und sperr sie in einen steinernen Kerker. Dann bekommst du das größte und gütigste Herz in Goodwins Land, ein Herz, das vor Liebe übergehen wird», knurrte das Ungeheuer.
Da überkam den Eisernen Holzfäller eine solche Wut, daß er die Axt von der Schulter riß und vorschnellte. Die Bewegung war so unerwartet, daß das Ungeheuer erschrak. Es zischte: «Halt! Wenn du noch einen Schritt tust, wird es dir und deinen Freunden schlimm ergehen!»
Verwirrt trat der Eiserne Holzfäller aus dem Thronsaal und eilte zu seinen Freunden. Als diese die unangenehme Nachricht hörten, sagte der Feige Löwe grimmig:
«Ich bin zwar feige, aber morgen werde ich mit Goodwin doch ein Hühnchen rupfen müssen. Zeigt er sich mir in Gestalt eines wilden Tieres, so werde ich ein Gebrüll ausstoßen wie damals, als die Säbelzahntiger uns überfielen, daß ihm angst und bange wird. Nimmt er aber die Gestalt der Nixe an, so werde ich ein Wörtchen mit ihm reden, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Am besten wäre es, wenn er sich als lebender Kopf zeigen würde. Dann will ich ihn durch das Zimmer rollen und mit ihm Ball spielen, bis er unsere Wünsche erfüllt hat!»
Als der Löwe am nächsten Morgen den Thronsaal betrat, prallte er vor Staunen zurück. Auf dem Thron lag ein gleißender Feuerball, der so strahlte, daß der Löwe die Augen schließen mußte.
Aus der Wand drang eine Stimme:
«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche. Wer bist du und warum belästigst du mich?»
«Ich bin der Feige Löwe! Gebt mir ein bißchen Mut, damit ich König der Tiere werde, wie mich alle nennen.»
«Wenn du Bastinda aus dem Violetten Land vertreiben hilfst, so soll dir der ganze Mut gehören, der in Goodwins Schloß vorhanden ist! Falls du's aber nicht tust, so bleibst du ein Feigling dein Leben lang, und ich werde dich verhexen, daß du sogar vor Mäusen und Fröschen Angst haben wirst!»
Der ergrimmte Löwe wollte sich an den Feuerball heranschleichen und ihn packen, doch ihm schlug eine solche Glut entgegen, daß er aufheulte und mit eingeklemmtem Schwanz aus dem Saal rannte. Zu seinen Freunden zurückgekehrt, erzählte er, wie Goodwin ihn empfangen hatte.
«Was sollen wir nun anfangen?» fragte Elli traurig.
«Wir müssen versuchen, Goodwins Befehl auszuführen», sagte der Löwe.
«Und wenn's uns nicht gelingt?» fragte Elli.
«Dann werde ich niemals Mut bekommen», erwiderte der Löwe.
«Und ich werde niemals zu einem Gehirn kommen», sagte der Scheuch.
«Und ich niemals zu einem Herzen», fügte der Holzfäller hinzu.
«Und ich kehre nimmermehr nach Hause zurück», rief Elli schluchzend.
«Dann wird Nachbars Rektor allen erzählen, ich sei von der Farm geflohen, weil ich mich vor dem entscheidenden Kampf mit ihm fürchtete», sagte Totoschka.
Elli wischte sich die Tränen ab und sagte:
«Ich will's versuchen, obwohl ich weiß, daß ich niemals die Hand gegen Bastinda erheben werde, selbst wenn man mich mit allen Schätzen der Welt belohnen würde!»
«Ich gehe mit dir», sagte der Löwe. «Wenn ich auch zu feige bin, dir im Kampf mit der bösen Zauberin beizustehen, so werden dir meine Dienste vielleicht doch zustatten kommen.»
«Auch ich gehe mit dir», sagte der Scheuch. «Freilich werde ich dir kaum zu etwas nutze sein, weil ich doch so dumm bin!»
«Ich werd es nie über mich bringen, Bastinda ein Leid anzutun, mag sie noch so tückisch und boshaft sein», erklärte der Eiserne Holzfäller. «Aber wenn ihr geht, so gehe ich natürlich mit euch, meine Freunde!»
«Na, und was mich betrifft», sagte das Hündchen mit wichtiger Miene, «so lasse ich meine Freunde natürlich nicht im Stich!»
Elli dankte ihren treuen Gefährten von Herzen.
Sie beschlossen, am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang aufzubrechen.
Der Eiserne Holzfäller schärfte seine Axt, schmierte sorgfältig alle seine Gelenke und füllte die Ölkanne bis an den Rand mit bestem Schmieröl. Der Scheuch bat, sein Stroh zu erneuern, Elli verschaffte sich Pinsel und Farben und zog ihm die Augen, den Mund und die Ohren nach, die vom Straßenstaub und von der grellen Sonne ganz blaß geworden waren. Das grüne Mädchen füllte Ellis Körbchen mit schmackhaftem Mundvorrat. Sie kämmte auch Totoschka und band ihm ein silbernes Glöcklein um den Hals.
Am frühen Morgen erwachten die Gefährten vom Geschrei eines grünen Hahns, der im Hinterhof lebte.