"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)

Erstes Kapitel

1. …weiße Juliglut, wie es sie seit zweihundert Jahren nicht mehr gegeben hatte, peinigte die Stadt. Über den erhitzten Dächern flimmerte es, alle Fenster standen sperrangelweit offen, und die Muttchen auf den Bänken vor den Haustoren schwitzten sich im kümmerlichen Schatten der abgekämpften Bäume die Seele aus dem Leib. Die Sonne überschritt den Meridian und durch glühte die vielgeplagten Buchrücken, knallte auf die verglasten Regale und polierten Schranktüren, und heiße, bösartige Reflexe gleißten auf den Tapeten. Immer näher rückte die quälende Nachmittagshitze, und nicht mehr fern war die Stunde, wo die rasende Sonne über dem gegenüberliegenden zwölfgeschossigen Punkthaus Stellung beziehen und ungehindert die ganze Wohnung befeuern würde. Maljanow schloss beide Fensterflügel und zog die schwere gelbe Gardine zu. Lüpfte die Turnhose und tapste barfuss in die Küche, wo er die Balkontür öffnete.

Es war kurz nach zwei.

Auf dem Küchentisch prangte, von Bröseln umrahmt, ein Stilleben: Pfanne mit angebackenem Spiegeleirand, Teeglas mit Rest und angeknabberter Brotranft mit Spuren zerlaufener Butter. Im Spülbecken türmte sich schmutziges Geschirr. Abgewaschen war ewig nicht.

Ein Dielenbrett knarrte, und völlig durchgedreht vor Hitze tauchte Kaljam auf, fixierte Maljanow mit grünäugigem Blick, öffnete und schloss lautlos den Mund. Ging schwanzzuckend weiter, zu seinem Futternapf unter dem Herd. Der Napf war leer — wenn man von ein paar trockenen Fischgräten absah.

„Fressen, was“, sagte Maljanow, wenig erbaut. Kaljams Antwort kam prompt und lautete sinngemäß: Ja-a, wird langsam Zeit.

„Hast doch heute früh was gekriegt“, knurrte Maljanow, sich vor den Kühlschrank hockend.

„Das heißt, nein… Gestern früh.“ Er zog Kaljams Topf vor, spähte rein: ein paar Fasern, Gallert und eine angeklebte Fischflosse. Was der Kühlschrank sonst noch bot, war auch nicht üppiger. Eine leere Schachtel vom Schmelzkäse, Marke

„Bernstein“, eine gräuliche Flasche mit halbvergammeltem Kefir und eine Weinflasche mit kaltem Tee. Im Gemüsefach siechte, in Zwiebelschalen gebettet, ein faustgroßer, verschrumpelter halber Kohlkopf dahin und erlosch, einsam und verachtet, eine angekeimte Kartoffel. Maljanow sah im Tiefkühlfach nach: Auf einer Untertasse, völlig in Raureif vergraben, hielt ein winziges Stück Speck seinen Winterschlaf. Das war alles.

Kaljam schnurrte und rieb seinen Bart an Maljanows nacktem Knie.

Maljanow klappte den Kühlschrank zu und stand auf.

„Tröste dich“, sagte er zu Kaljam.

„Jetzt ist sowieso überall Mittagspause.“ Natürlich hätte er zum Moskowski gehen können, wo von eins bis zwei Mittagspause war, aber dort standen ewig Schlangen, und bei der Hitze so weit laufen… Und gerade jetzt, wo er auf dieses lausige Integral gestoßen war! Na gut, mag es eine Konstante sein — von Omega hängt es jedenfalls nicht ab. Ist doch klar. Kann gar nicht davon abhängen, wie sich aus allgemeinen Überlegungen ergibt. Maljanow stellte sich diese Kugel vor und die Integration über ihre Oberfläche. Plötzlich war die Shukowskische Formel da. Einfach so, aus heiterem Himmel.

Maljanow verscheuchte sie, aber sie kam wieder. Mit konformer Abbildung müsste man es versuchen, dachte er.

Wieder klingelte das Telefon. Da erst merkte Maljanow, daß er ins Zimmer zurückgekehrt war. Fluchend warf er sich seitlings auf die Liege und angelte den Hörer.

„Ja bitte!“

„Vitja?“ meldete sich eine energische Frauen stimme.

„Wen wollen Sie sprechen?“

„Ist dort der ›Intourist‹?“

„Nein, ein Privatanschluss!“ Maljanow knallte den Hörer auf die Gabel und blieb reglos liegen. Wo seine nackte Haut auf dem flauschigen Bezug lag, brach ihm der Schweiß aus. Widerlich. Die gelbe Gardine fluoreszierte, schweres gelbes Licht erfüllte den Raum. Eine Luft — wie Sirup. In Bobkas Zimmer müsste man umziehen, jawohl! Die reinste Sauna hier. Er blickte auf seinen Schreibtisch: haufenweise Papier und Bücher. Allein der Smirnow, Wladimir Iwanowitsch — sechs Bände! Und dann noch die Bogen, die auf dem Fußboden rumlagen. Schon der Gedanke an einen Umzug war schrecklich. Halt, ich hatte doch eben einen Geistesblitz… Scheiße… Die mit ihrem

„Intourist“, die blöde Kuh! Also, ich war in der Küche, kam hier her… Aha! Die konforme Abbildung! Verrückt, der Einfall! Aber man muss ihn prüfen… Ächzend erhob er sich von der Liege, doch sofort meldete sich wieder das Telefon.

„Idiot!“ sagte er zum Apparat und nahm den Hörer ab.

„Ja!“

„Ist dort der Stützpunkt? Hallo — ist dort der Stützpunkt?“

Maljanow legte auf und rief die Störungsstelle an.

„Spreche ich mit der Störungsstelle? Meine Nummer: dreiundneunzig, neun, acht, null, sieben… Hören Sie, ich hab Sie schon gestern angerufen. Dabei kann doch kein Mensch arbeiten, dauernd klingelt es und…“

„Ihre Nummer?“ unterbrach ihn eine barsche Frauenstimme.

„Dreiundneunzig, neun, acht, null, sieben. Dauernd wollen die Leute den ›Intourist‹ oder die Garage oder…“

„Legen Sie auf, wir prüfen den Anschluss.“

„Ja, ich bitte darum“, sagte Maljanow devot, doch bereits zum Amtszeichen. Dann ging er — patsch, patsch — an den Tisch, setzte sich und nahm den Kuli. Also… Das Integralchen — wo hab ich das schon mal gesehen? So schön gebaut, vollkommen symmetrisch. Wo hab ich das gesehen? Und nicht irgendeine Konstante, sondern einfach die Null! Na schön, lassen wir die erst mal beiseite. Obwohl ich das gar nicht mag — etwas beiseite lassen. Setzt einem ständig zu, wie ein kaputter Zahn.

Er sah die Bogen mit den gestrigen Berechnungen durch. Und erschauerte plötzlich vor Wonne. Heureka! Das ist doch was. Mensch, Maljanow! Bist ein As! Endlich hast du es hingekriegt, wie es scheint.

Und gleich richtig! Das ist nicht bloß eine Routine arbeit, das hat vor dir noch keiner gemacht, Freund chen! Unberufen, toi, toi, toi. Das Integral… Zum Teufel damit — weiter im Text, immer weiter! Es klingelte. Diesmal an der Tür. Kaljam sprang von der Liege, rannte mit aufgestelltem Schwanz in den Flur. Maljanow legte mit Bedacht den Kuli hin.

„Wie im Irrenhaus“, zischte er. Im Flur zog Kaljam ungeduldig Kreise, kam ihm zwischen die Beine, miaute laut.

„Ka-al-jam!“ sagte Maljanow, mühsam seine Wut zügelnd.

„Geh weg, Kaljam!“ Er ging und öffnete. Draußen stand ein unansehnlicher Kerl in fipsigem Jäckchen von unbestimmter Farbe, unrasiert und verschwitzt. Leicht hinten übergeneigt, hielt er einen großen Pappkarton vor dem Bauch. Er brubbelte etwas Unverständliches und steuerte direkt auf Maljanow zu.

„Sie… äh…“ stammelte Maljanow zurückweichend.

Schon war der Fremde im Flur, warf einen Blick nach rechts, zum Zimmer, und bog entschlossen nach links, in die Küche, weiße Staubtapfen auf dem Linoleum hinterlassend.

„Erlauben Sie mal… äh…“ lallte Maljanow, der ihm auf die Fersen trat.

Doch der Mann hatte den Karton bereits auf den Hocker gestellt und fingerte aus der Brusttasche einen Stapel Quittungen.

„Vom Reparaturstützpunkt, was?“ Womöglich der Klempner, der endlich den Wasserhahn im Bad reparieren kam?

„Nein, von der Feinkosthandlung“, krächzte der Fremde und reichte Maljanow zwei Quittungen, die mit einer Stecknadel zusammengeheftet waren.

„Unterschreiben Sie — hier.“

„Was ist das denn?“ fragte Maljanow, sah aber auch schon, daß es ein Schein vom Bestelldienst war.

Kognak — zwei Flaschen, Wodka…

„Halt, halt“, sagte er,

„meines Wissens haben wir nichts. .“ Da fiel sein Blick auf die Summe. Ach du heiliger Schreck! So viel Geld hatte er nicht im Haus. Und überhaupt — wie kam er dazu? Seine von Panik erfasste Phantasie malte ihm sofort eine ganze Kette aller möglichen Scherereien aus, zum Beispiel die Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen, sich zu verwahren, das Gegenteil zu beweisen, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren… Er müsste sich ans Telefon hängen, rumfahren… Doch da entdeckte er in einer Ecke der Quittung den Stempel

„Bezahlt“ und gleich daneben den Namen des Bestellers: Maljanowa, I. J. Irka!… Nicht zu fassen.

„Hier müssen Sie unterschreiben, hier“, brummte der Mann und stupste einen Finger mit Trauerrand aufs Papier.

„Wo das Häkchen ist…“ Maljanow ließ sich von ihm den Bleistiftstummel geben und quittierte.

„Danke“, sagte er und reichte den Stummel zurück.

„Vielen Dank“, wiederholte er benommen, während er sich zusammen mit dem Fremden durch den engen Flur zwängte. Er hätte ihm was zustecken sollen, hatte aber kein Kleingeld da.

„Vielen herzlichen Dank, auf Wiedersehen!“ rief er hinter dem fipsigen Jäckchen her und trat erbost nach Kaljam, der partout den Zementfußboden auf dem Treppenabsatz lecken wollte.

Dann schloss Maljanow die Tür und stand ein Weilchen im Halbdämmer des Flurs. Er war völlig durcheinander.

„Komisch“, sagte er und kehrte in die Küche zurück. Kaljam strich bereits um den Karton. Maljanow hob den Deckel und erblickte Flaschenhälse, Päckchen, Tüten, Konservenbüchsen. Auf dem Tisch lag die Kopie der Quittung. Tja. Die Kopie war wie üblich verrutscht, dennoch gut leserlich. Heldenstraße… Hm… Schien alles seine Richtigkeit zu haben. Besteller: Maljanowa, I. J. Das war viel leicht ein Gruß — na, ich danke! Er sah auf die Summe. Heller Wahnsinn! Drehte die Quittung um. Auf der Rückseite — nichts von Belang, bloß eine zerquetschte Mücke, angetrocknet. Hat Irka den Verstand verloren! Wir haben Schulden, fünfhundert Rubel… Moment mal — vielleicht hat sie was gesagt, vor der Abreise? Er ging in Gedanken den Abreisetag durch: aufgeklappte Koffer, rumliegende Kleider, Irka, halbnackt, hantiert mit dem Bügeleisen…

„Vergiss nicht, Kaljam zu füttern, hol ihm Gras, du weißt, das scharfe… Denk an die Miete… Wenn mein Chef anruft, gib ihm meine Adresse!“ Mehr hat sie wohl nicht gesagt. Das heißt, doch — aber da kam Bobka mit seinem MG angerannt… Ach ja — die Wäsche wegbringen… Nein, ich, kapier das nicht.

Ganz vorsichtig zog er eine Flasche aus dem Karton. Kognak. Großer Gott — fünfzehn Rubel! Was soll das bloß — hab ich heut Geburtstag oder was? Wann ist Irka fort? Donnerstag, Mittwoch, Dienstag… Er bog die Finger um. Aha — vor zehn Tagen. Bestellt hat sie es also vorher. Wieder jemand angepumpt und bestellt. Das nennt sich Über— raschung. Wir sitzen mit fünfhundert in der Kreide, und sie heckt Überraschungen aus!… Klar war nur eins: Das Einkaufen blieb ihm erspart. Alles übrige war mysteriös. Geburtstag?. Nein. Hochzeitstag? Wohl kaum. Nein, ganz bestimmt nicht. Bobkas Geburtstag? Der ist im Winter. Er zählte die Flaschenköpfe. Genau zehn. Für wen sind die berechnet? Ich schaff das kaum in einem Jahr. Auch Wetscherowski trinkt selten, und Valka Waingarten, den kann sie nicht ausstehen. Ohrenzerreißendes Gemaunze ertönte. Kaljam witterte was — in besagtem Karton…

2. …Lachs im eigenen Saft und ein Stück Schinken mit altbackenem Brot. Dann machte er sich an den Abwasch. Wenn man im Kühlschrank solchen Luxus hat, stört einen der Schmutz in der Küche dann doch. Inzwischen klingelte zweimal das Telefon, aber Maljanow schob bloß den Unterkiefer vor. Ich geh nicht ran, ihr könnt mich mal — mit euren Garagen und Stützpunkten! Die Pfanne muss auch geschrubbt werden, die wird jetzt weit höheren Zwecken dienen als einem lumpigen Spiegelei… Wo liegt er im Pfeffer, der Hase? Wenn das Integral tatsächlich gleich Null ist, bleiben auf der rechten Seite nur der erste und der zweite Differentialquotient… Den physikalischen Sinn seh` ich hier nicht ganz, aber egal — ich hab sie am Wickel, diese Blasen. Ja, so will ich sie nennen: Blasen. Nein, besser ist wohl „Kavernen“.

„Maljanow-Kavernen.“

„M-Kavernen.“ Hm…

Er stellte das abgewaschene Geschirr in die Regale und sah nach Kaljams Topf. Noch zu heiß, dampft. Armes Katervieh. Musst dich noch gedulden. Noch ein Weilchen Kohldampf schieben… Er trocknete sich gerade die Hände ab, als ihm plötzlich eine Erleuchtung kam. Genau wie gestern. Und wie gestern konnte er es anfangs nicht fassen.

„Moment mal, Moment“, flüsterte er aufgeregt, und schon trugen ihn die Beine durch den Flur, über das kühle Linoleum, das an den Fersen klebte, in die dicke gelbe Hitze hinein, zum Tisch, zu seinem Kuli… Verflixt, wo ist denn der hin? Die Mine ist alle! Irgendwo muss doch ein Bleistift liegen… Und zugleich, auf der zweiten Ebene, nein, auf der ersten, auf der Hauptebene: die Hartwigsche Funktion… Und die ganze rechte Seite ist einfach futsch… Die Kavernen erweisen sich als achsensymmetrisch… Und das Integralchen ist gar keine Null! Das heißt, es ist so wenig eine Null, mein Integralchen, daß die Größe eigentlich überhaupt positiv ist… Aber was für ein Bild, ach, was für ein Bild ergibt das! Wieso bin ich nicht gleich draufgekommen? Tröste dich, Maljanow, tröste dich, Bruderherz: Nicht bloß du allein — das Akademiemitglied, der Professor, der ist auch nicht draufgekommen… In gelbem, leicht gekrümmtem Raum rotieren langsam, gigantischen Blasen gleich, achsensymmetrische Kavernen, die Materie umfließt sie, sucht vergebens in sie ein zudringen, komprimiert sich an ihrer Oberfläche zu unwahrscheinlicher Dichte, und die Blasen beginnen zu leuchten. Gott allein weiß, womit es begonnen hat. Macht nichts, auch das kriegen wir raus. Die Faserstruktur — ruck! die Ragosinski-Bogen-zuck! Und dann sind die Planetennebel dran. Was habt denn ihr gedacht, Leutchen? Dass es abgeworfene Hüllen sind, die sich ausweiten? Keine Spur! Genau umgekehrt!

Wieder schrillte das verdammte Telefon. Malja-now fauchte Hasserfüllt, schrieb jedoch weiter. Gleich würg ich’s ab, das Teufelsding! Da ist doch so ein Schalter… Er warf sich auf die Liege und packte wütend den Hörer.

„Ja doch!“

„Dima?“

„Ja… Wer ist da?“

„Erkennst du mich nicht, du Hund?“ Es war Waingarten.

„Ah, Valka. Was ist?“ Pause.

„Warum gehst du nicht ans Telefon?“ fragte Waingarten dann.

„Weil ich arbeite!“ sagte Maljanow ergrimmt. Er war sehr unfreundlich. Es zog ihn an den Schreibtisch zurück, zu seinem Bild mit den Blasen.

„Du arbeitest…“ Waingarten schnaufte.

„Zimmerst an deinem Ruhm…“

„Was ist, willst du herkommen?“

„Nein, das nicht, aber…“ Da platzte Maljanow der Kragen.

„Was willst du also?“

„Hör mal, Alter… Womit beschäftigst du dich grade?“

„Ich arbeite! Sitzt du auf den Ohren?“

„Nicht doch… Ich meine: Woran arbeitest du?“ Maljanow war perplex. Fünfundzwanzig Jahre kannte er Waingarten, aber noch nie hatte sich der für seine, Maljanows, Arbeit interessiert. Seit jeher fand Waingarten nur Waingarten interessant. Und zwei geheimnisumwobene Dinge: das Zwanzig-kopekenstück von 1934 und den sogenannten

„Konsulhalbrubel“, der nicht mal ein Halbrubel war, sondern irgend so eine ausgefallene Briefmarke. Hat Langeweile, der Lump. Der Quatschkopf. Oder braucht er ein Ausweichquartier, daß er so rum druckst? Da fiel ihm Awertschenko ein.

„Woran ich arbeite?“ wiederholte er schadenfroh.

„Bitte — sollst du gleich hören, bis in alle Einzelheiten. Dich als Biologen reißt es bestimmt vom Stuhl. Gestern früh bin ich endlich vom toten Punkt runter. Es stellt sich heraus, unter sehr allgemeinen Voraussetzungen für die Potentialfunktion haben meine Bewegungsgleichungen noch ein weiteres Integral, außer dem Energieintegral und den Momentenintegralen. Das Ergebnis ist so etwas wie eine Verallgemeinerung eines speziellen Dreikörperproblems. Schreibt man die Bewegungsgleichung in Vektorform und wendet die Hartwigschen Trans formationen an, so wird damit die Integration über die Oberfläche ausgeführt, und das ganze Problem läuft auf die Lösung von Integrodifferentialgleichun-gen vom Kolmogorow-Fellerschen Typ hinaus…“ Zu seinem größten Erstaunen unterbrach Waingarten ihn nicht. Für einen Augenblick glaubte Maljanow sogar, man hätte sie getrennt.

„Hörst du mir zu?“

„Ja, ja, sehr aufmerksam.“

„Sag bloß, du verstehst mich?“

„Ich geb mir Mühe“, erwiderte Waingarten betont forsch, und da erst fiel Maljanow auf, wie seltsam Waingartens Stimme klang. Er bekam einen Schreck.

„Valka, ist was passiert?“

„Wo?“ fragte Waingarten, abermals nach einer Pause.

„Na bei dir — wo denn sonst? Ich merk doch, du bist irgendwie… Sag mal, kannst du nicht frei sprechen?“

„Aber wieso denn, Alter. Genug, lassen wir den Schmonzes. Die Hitze macht einen kaputt. Kennst du den Witz von den zwei Hähnen?“

„Nein, erzähl mal!“

Waingarten erzählte den Witz von den zwei Hähnen — er war saublöd, aber urkomisch. Irgendwie passte er so gar nicht zu Waingarten. Maljanow hörte natürlich zu, und als es soweit war, prustete er los, aber der Witz bestärkte ihn noch in dem dunklen Gefühl, daß mit Waingarten etwas nicht stimmte. Wohl wieder mal mit Swetka verkracht, dachte er, nicht sehr überzeugt. Wieder mal ein paar Federn gelassen.

Doch da fragte Waingarten:

„Hör mal, Dima… Der Name Snegowoi — sagt dir der was?“

„Snegowoi? Arnold Palytsch? So heißt mein Nachbar, von nebenan… Wieso?“ Eine Weile schwieg Waingarten. Schnaufte nicht mal mehr. Aus dem Hörer drang nur leises Geklimper — sicher warf er in der Hand seine gesammelten Zwanzigkopekenstücke hoch. Schließlich sagte er:

„Und womit befasst er sich — dein Snegowoi?“

„Ich glaub, er ist Physiker. Arbeitet in einem dieser Kästen. Supergeheim. Woher kennst du ihn?“

„Ich kenn ihn doch gar nicht“, erwiderte Waingarten, merkwürdig verstimmt — doch da klingelte es an der Tür.

„Nein, wirklich — wie im Irrenhaus!“ sagte Mal janow.

„Einen Moment, Valka, an der Tür klingelt’s Sturm.“

Waingarten sagte ja, rief noch etwas, aber Maljanow hatte den Hörer bereits auf die Liege geworfen und eilte in den Flur. Natürlich rannte ihm wieder Kaljam vor die Füße, und um ein Haar wäre er hingesegelt. Er öffnete die Tür — und trat sofort einen Schritt zurück. Draußen stand eine junge Dame in weißem Minisarafan, ganz braungebrannt, mit kurzem, sonnengebleichtem Haar. Eine Fremde. Und hübsch. (Maljanow wurde sich gleich bewusst, daß er bloß Turnhosen anhatte und sein Bauch nassgeschwitzt war.)

Zu ihren Füßen sah er einen Koffer, über dem linken Arm trug sie einen Staubmantel.

„Dmitri Alexejewitsch?“ fragte sie mit schüchternem Augenaufschlag.

„Ja-a…“ sagte Maljanow. Ob es die Kusine um drei Ecken war? Die Sina aus Omsk?

„Entschuldigen Sie, Dmitri Alexejewitsch… Ich komme wohl ungelegen?… Hier, bitte.“ Sie reichte ihm ein Kuvert. Maljanow nahm es wortlos entgegen und förderte einen Zettel zutage. In seiner Seele brodelten schreckliche Gefühle gegen sämtliche Verwandten auf der Welt, besonders gegen diese Sina — oder Soja? — dritten Grades.

Aber es war gar nicht die Kusine dritten Grades. Der Zettel kam von Irka. In großen Krakeln, krumm und schief, sichtlich in Eile geschrieben, stand da:

„Dimkaherz! Das ist Lidka Ponomarjowa, m. beste Schulfreundin. Ich erz. Dir später v. ihr. Nimm sie anständ. auf, sie bl. nicht lange. Sei k. Flegel. Bei uns ist alles in Butt. Sie erz. Dir alles. Kuss. I.“ Maljanow stieß innerlich einen langen Verzweiflungsschrei aus, schloss und öffnete wieder die Augen. Doch seine Lippen formten sich bereits ganz von selbst zu einem freundlichen Lächeln.

„Sehr angenehm“, rief er familiär-ungezwungen.

„Bitte, treten Sie näher, Lida… Verzeihen Sie meinen Aufzug — die Hitze!“ Trotzdem: seine Liebenswürdigkeit klang wohl nicht ganz echt; denn auf Lidas hübschem Gesicht chen malte sich plötzlich Verwirrung, und sie blickte seltsam ratlos in den leeren, sonnendurchfluteten Treppenflur zurück — so als zweifle sie, ob sie hier richtig sei.

„Darf ich Ihren Koffer…“stammelte Maljanow beflissen.

„Immer nur herein, genieren Sie sich nicht. Den Mantel hängen wir hier auf. Das ist unser Wohnzimmer, dort arbeite ich, und das hier, das ist Bobkas Zimmer. Es steht zu Ihrer Verfügung. Sie möchten sicher duschen?“

Da vernahm er ein näselndes Gequake — es kam von der Liege.

„Pardon!“ rief er.

„Machen Sie es sich bitte bequem, ich bin gleich wieder da.“

Er drückte die Muschel ans Ohr und hörte, wie Waingarten monoton und mit völlig veränderter Stimme daherbrabbelte:

„Dima. . Dima… Antworte doch, Dima…“

„Hallo!“ meldete sich Maljanow.

„Hör mal, Valka…“

„Dima!“ brüllte Waingarten.

„Bist du es?“ Vor Schreck fuhr Maljanow zusammen.

„Was brüllst du so? Ich hab Besuch bekommen, entschuldige bitte. Ich ruf dich später an.“

„Wer? Was für ein Besuch?“ fragte Waingarten mit schauerlicher Stimme.

Maljanow überlief es kalt. Valka war übergeschnappt. Ein Tag war das heute!

„Valka“, sagte er möglichst ruhig.

„Was ist mit dir los? Eine junge Dame ist gekommen… Irkas Freundin…“

„Schweinehund!“ zischte Waingarten plötzlich und hängte auf…