"Kalle Blomquist" - читать интересную книгу автора (Линдгрен Астрид)ZWEITES KAPITEL»Und wie heißt du, meine schöne junge Dame?« fragte der Mann eine Weile später Eva-Lotte, die mit ihren beiden Beglei-tern hinter der Hecke hervorgekrochen war. »Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte furchtlos. »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, will ich dir sagen. Ich habe dich gesehen, als du so klein warst, daß du noch in der Wiege gelegen und den ganzen Tag geschrien hast.« Eva-Lotte warf den Kopf zurück. Sie konnte nicht glauben, daß sie jemals so klein gewesen war. »Wie alt bist du jetzt?« fragte der Mann. »Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotte. »Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen gewollt neckischen Lachen. Eva-Lotte warf noch einmal den Kopf zurück. Sie hatte es nicht nötig, hier zu stehen und sich Bosheiten von jemand anzuhören, den sie nicht kannte. »Wer sind Sie denn?« fragte sie. »Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Vetter deiner Mutter, meine schöne junge Dame!« Er zog Eva-Lotte an einer ihrer blonden Locken. »Und wie heißen deine Kavaliere?« Eva-Lotte stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf Schossen mit einer tadellosen Verbeugung nach vorn. »Nette Jungen«, sagte Onkel Einar billigend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Ich werde ein Schloß für dich bauen, wo du den ganzen Tag umherlaufen und spielen kannst.« »Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis. Anders und Kalle fühlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur für ein langes, klappriges Stück Unglück, das plötzlich hier auftauchte? Personalbeschreibung – wollen mal sehen, sagte Kalle für sich. Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein –er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten. »Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar. »Ja, da kommt sie.« Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte. »Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich. »Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist, weiß Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?« Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung. »Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.« »Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte ärgerlich. »Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.« »Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, daß du kommen willst?« »Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Gerade jetzt fand ich, daß es schön wäre, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plötzlich ein, daß ich eine ungewöhnlich nette Kusine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?« Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben. »Mit einer ungewöhnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange. »Ach, laß doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!« »Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar. »Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander. »Wie lange hast du Ferien?« »Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schluß zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.« »Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotte hitzig. »Dieses Land ist das beste von allen.« Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotte an. »Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotte«, sagte er und ließ gleich darauf wieder sein wieherndes Gelächter hören. Eva-Lotte fing bereits an, es herzlich zu verabscheuen. »Die Jungen können dir damit helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin. »Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar. In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mücke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun ohnehin wach war, hielt er es für klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nähe trieben. Zuerst sah er durch das Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Da war alles öde und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Bäckermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen blühenden Apfelbäumen. Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen die Rollgardine zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab. »Onkel Einar, ph, wie blöd der ist«, sagte Kalle für sich. Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar! »Warum trabt er bloß so herum?« dachte Kalle, und im nächsten Augenblick schoß er wieder in sein eigenes schönes Bett hinein. Schon um acht Uhr am Montagmorgen hörte er Anders’ Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotte. Kalle schlüpfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gießen und ein Auge auf eventuelle Mörder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend. Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und aß ein Butterbrot und stürzte zur Tür, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Hälfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Frühstück zu servieren beabsichtigt hatte.
Jetzt galt es nur, Eva-Lotte herauszubekommen. Aus irgendeinem Anlaß fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Strenggenommen war es ja nicht einmal passend, daß sie mit einem Mädchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotte mit dabei war. Sie war übrigens nicht diejenige, die vor einem Spaß zurückscheute. Sie ging ebenso drauflos und war ebenso flink wie irgendein Junge. Als der Wasserturm um-gebaut wurde, war sie auf das Holzgerüst ebenso hoch raufge-klettert wie Anders und Kalle, und als Schutzmann Björk sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, daß es wohl am sichersten wäre, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ruhig ganz vorn auf ein Brett, wo jeder andere schwind-lig geworden wäre, und sagte lachend: »Kommen Sie rauf und holen Sie uns!« Sie hatte wohl nicht gedacht, daß Schutzmann Björk sie beim Wort nehmen würde. Aber Schutzmann Björk war der Beste im Sportklub, und es kostete ihn nicht viele Sekunden, zu Eva-Lotte heraufzukommen. »Bitte deinen Vater, daß er dir ein Trapez kauft, an dem du herumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfällst, hast du wenigstens einigermaßen Aussicht, dir nicht den Hals zu brechen.« Dann nahm er sie kräftig um den Leib und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Schutzmann Björk gern. Und – wie gesagt – sie mochten Eva-Lotte auch gern, ganz abgesehen davon, daß sie beide sich mit ihr verheiraten wollten. »Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hätten nicht viele Mädels getan. Viele Jungens übrigens auch nicht!« Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Kontorchefs, der immer so böse zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotte vor seinem Fenster stehengeblieben und hatte mit ihrem Harzstück auf dem Draht gerieben, bis der Kontorchef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Aber Eva-Lotte war schnell über den Zaun geschossen und in die Bootsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotte war nichts auszusetzen, darüber waren sich Anders und Kalle einig. Anders ließ einen neuen Pfiff ertönen in der Hoffnung, daß es Eva-Lotte drinnen hören würde. Das tat sie auch. Sie kam heraus. Aber zwei Schritte hinter ihr kam Onkel Einar. »Darf der kleine artige Junge hier auch mitspielen?« fragte er. Anders und Kalle schauten ihn etwas verlegen an. »Ausreißer und Einfänger zum Beispiel«, wieherte Onkel Einar. »Ich will am liebsten Ausreißer sein.« »Ph!« machte Eva-Lotte. »Oder wollen wir zur Schloßruine gehen?« schlug Onkel Einar vor. »Die ist wohl immer noch da?« Natürlich war die Schloßruine noch da. Das war ja die größte Sehenswürdigkeit der Stadt, die alle Touristen sich ansahen, sogar noch bevor sie die Deckenmalereien in der Kirche gesehen hatten. Wenn auch natürlich nicht so viele Touristen kamen. Die Ruine lag auf einer Höhe und schaute auf die kleine Stadt hinunter. Ein mächtiger Herr hatte einmal in früheren Zeiten dieses Schloß gebaut, und nach und nach war in dessen Nähe eine Stadt entstanden. Die kleine Stadt blühte und gedieh, aber von dem früheren Schloß war nur noch eine schöne Ruine übrig. Kalle und Anders und Eva-Lotte hatten nichts dagegen, zur Ruine zu gehen. Sie war einer ihrer liebsten Aufenthaltsorte. Man konnte in den alten Sälen Versteck spielen oder auch die Burg gegen anstürmende Feinde verteidigen. Onkel Einar ging rasch den steilen Weg hinauf, der sich zur Ruine hinschlängelte. Kalle, Anders und Eva-Lotte trabten hinterher. Sie warfen sich hin und wieder verstohlene Blicke zu und blinzelten vielsagend. »Ich hätte Lust, ihm eine Klapper zu geben, dann könnte er irgendwo für sich allein sitzen und damit spielen«, flüsterte Anders. »Und du glaubst, daß er das tun würde«, sagte Kalle. »Nee, du, wenn erwachsene Leute sich vornehmen, mit Kindern zu spielen, dann kann nichts sie daran hindern, merk dir das!«
»Sie sind vergnügungssüchtig, das ist das Ganze«, entschied Eva-Lotte. »Aber da er Mutters Vetter ist, müssen wir wohl versuchen, ein bißchen mit ihm zu spielen, sonst wird er bloß ärgerlich.« Eva-Lotte kicherte vergnügt. »Aber das wird langweilig werden, wenn er furchtbar lange Ferien hat«, sagte Anders. »Ach, er reist sicher bald ins Ausland«, meinte Eva-Lotte. »Du hast ja gehört, was er gesagt hat – in diesem Land hier kann man es nicht aushalten.« »Ja, ich für meinen Teil werde ihm keine Träne nachwei-nen«, sagte Kalle. Es blühte in dichten Büschen rings um die ganze Ruine. Die Hummeln summten. Die Luft zitterte in der Wärme. Aber drinnen in der Ruine war es kühl. Onkel Einar blickte sich zufrieden um. »Schade, daß man nicht runter in das Kellergeschoß gehen kann«, sagte Anders. »Warum kann man das nicht?« fragte Onkel Einar. »Nee, sie haben eine dicke Tür davorgesetzt«, sagte Kalle. »Und die ist verschlossen. Da sind sicher viele Gänge und Kellerlöcher unten, und es ist kalt und feucht, und da wollen sie nicht, daß man runtergeht. Der Bürgermeister hat sicher den Schlüssel.« »Früher sind die Leute da unten hingefallen und haben sich die Beine gebrochen«, sagte Anders. »Und ein Kind hätte sich beinahe verlaufen, so daß jetzt niemand mehr runter darf. Aber das ist verdammt schade.« »Wollt ihr gern runtergehen?« fragte Onkel Einar. »Das lie- ße sich vielleicht machen.« »Wie soll denn das zugehen?« fragte Eva-Lotte. »So!« sagte Onkel Einar und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Er beschäftigte sich eine Weile mit dem Schloß, und gleich danach schwang die Tür knirschend in ihren Angeln. Die Kinder starrten voll Erstaunen abwechselnd Onkel Einar und die Tür an. Das war ja die reine Zauberei. »Wie hast du das gemacht, Onkel Einar? Darf ich mal sehen?« fragte Kalle eifrig. Onkel Einar hielt den kleinen Metallgegenstand hin. »Ist das – ist das ein Dietrich?« fragte Kalle. »Richtig geraten«, sagte Onkel Einar. Kalle war überglücklich. Er hatte so oft von Dietrichen gelesen, aber er hatte nie einen gesehen. »Darf ich den mal haben?« fragte er. Er bekam ihn, und er fühlte, daß dies ein großer Augenblick in seinem Leben war. Dann kam ihm ein Gedanke. Nach dem, was er gelesen hatte, waren es meist dunkle Gestalten, die Dietriche besaßen. Das erforderte eine Erklärung. »Warum hast du einen Dietrich, Onkel Einar?« fragte er. »Weil ich geschlossene Türen nicht liebe«, sagte Onkel Einar kurz. »Wollen wir nicht runtergehen?« fragte Eva-Lotte. »Ein Dietrich ist ja nicht die Welt«, fügte sie hinzu, als ob sie niemals etwas anderes getan hätte, als Schlösser mit dem Dietrich auf-zumachen. Anders war bereits die ausgetretene Treppe, die in den Keller führte, hinuntergelaufen. Seine braunen Augen leuchteten vor Abenteuerlust. Das war spannend! Nur Kalle fand, daß ein Dietrich etwas Merkwürdiges war. Nein, aber alte Gefängnishöhlen, das war etwas! Mit einem bißchen Phantasie konnte man beinahe das Rasseln der Ketten hören, mit denen die armen Gefangenen hier unten vor vielen hundert Jahren gefesselt waren. »Hu, ich hoffe, daß es nicht spukt«, sagte Eva-Lotte und kletterte mit scheuen Seitenblicken die Treppe hinunter. »Sei nicht allzu sicher«, sagte Onkel Einar. »Denk bloß, wenn ein altes bemoostes Gespenst kommt und dich kneift. So zum Beispiel!« »Au!« schrie Eva-Lotte. »Kneif mich doch nicht! Jetzt bekomme ich einen blauen Fleck auf dem Arm, das weiß ich.« Sie rieb wütend ihren Arm. Kalle und Anders schnüffelten überall herum wie zwei Spür-hunde. »Denk bloß, wenn man hier so oft sein dürfte, wie man will«, sagte Anders begeistert. »Und alles kartographieren könnte! Und sein Versteck hier haben könnte!« Er sah in die dunklen Gänge hinein, die sich nach allen Seiten hin verzweigten. »Hier könnten sie einen zwei Wochen lang suchen, ohne soviel wie eine Feder zu entdecken. Wenn man etwas ausgefressen hätte und sich verstecken müßte, dann wäre so eine Gefängnishöhle hier ein großartiges Versteck!« »Meinst du wirklich?« fragte Onkel Einar. Kalle ging umher und schnüffelte mit der Nase beinahe auf der Erde. »Was machst du denn da?« fragte Onkel Einar. Kalle wurde etwas rot. »Ich wollte bloß mal sehen, ob noch Spuren von den Kerlen übrig sind, die hier im Gefängnis gesessen haben.« »Ach, seitdem sind ja hier so viele Menschen gewesen, du Dummerjan«, sagte Eva-Lotte. »Onkel Einar, du weißt vielleicht nicht, daß Kalle Detektiv ist?« Anders schien etwas belustigt und überlegen, als er das sagte. »Du lieber Himmel, nein, das wußte ich nicht«, sagte Onkel Einar. »Ja, wirklich, einer der besten, die es im Augenblick gibt.« Kalle sah Anders wütend an. »Das bin ich sicher nicht«, sagte er. »Aber ich finde, es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen. Mit Schurken, die im Gefängnis landen. Da ist doch nichts dabei!« »Absolut nicht, mein Junge! Ich hoffe, du fängst bald einen ganzen Haufen, den du zusammenbinden und zur Polizei schikken kannst.« Onkel Einar wieherte. Kalle war wütend. Niemand nahm ihn ernst. »Bilde dir nichts ein«, sagte Anders. »In unserer Stadt hier ist nie ein anderer Schurkenstreich vorgekommen, als daß Friedrich mit dem Fuß eines Sonntags in der Sakristei die Kollekte geklaut hat. Mehr nicht. Im übrigen hat er sie am nächsten Tag zurückgebracht, als er wieder nüchtern war.« »Und jetzt sitzt er immer über Samstag und Sonntag im Loch, so daß er es nicht noch mal machen kann«, sagte Eva-Lotte lachend. »Sonst hättest du dich in den Hinterhalt legen und ihn das nächste Mal auf frischer Tat ertappen können, Kalle«, sagte Anders. »Dann hättest du zum mindesten »Jetzt wollen wir aber nicht boshaft sein zu dem Herrn Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar. »Ihr sollt mal sehen, eines Tages rafft er sich auf und setzt einen fest, der eine Tafel Schokolade in Vaters Laden geklaut hat.« Kalle kochte vor Wut. Anders und Eva-Lotte konnten ihn vielleicht necken, aber kein anderer. Am allerwenigsten dieser grinsende Onkel Einar. »Ja, Kalle«, sagte Onkel Einar, »du wirst sicher gut, wenn du fertig bist. – Nein, laß das doch sein!« Das letzte war an Anders gerichtet, der einen Bleistift hervor-geholt hatte und seinen Namen auf eine glatte Steinwand schreiben wollte. »Warum denn?« fragte Eva-Lotte. »Wir wollen unsere Namen und das Datum hinschreiben! Das wäre lustig. Vielleicht kommen wir noch mal hierher, wenn wir ganz, ganz alt geworden sind, fünfundzwanzig Jahre oder so. Wäre das nicht lustig, wenn wir dann unsere Namen hier finden würden?« »Ja, das würde uns an unsere verflossene Jugend erinnern«, sagte Anders. »Na ja, macht, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar. Kalle bockte ein bißchen. Er wollte erst nicht mitmachen, aber zuletzt besann er sich, und bald standen alle drei Namen in einer zierlichen Linie da: Eva-Lotte Lisander, Anders Bengtsson, Kalle Blomquist. »Willst du nicht auch deinen Namen hinschreiben?« fragte Eva-Lotte. »Du kannst vollkommen sicher sein, daß ich das nicht tue«, sagte Onkel Einar. »Im übrigen ist es hier kalt und feucht, und das ist nicht gut für meine alten Knochen. Jetzt gehen wir wieder raus in die Sonne!« »Und nun noch etwas«, fuhr er fort, als die Tür wieder hinter ihnen zugefallen war. »Wir sind »Was? Dürfen wir nicht davon reden?« fragte Eva-Lotte mißvergnügt. »Nein, meine schöne junge Dame! Das ist ein Staatsgeheim-nis«, sagte Onkel Einar. »Und vergiß es nicht! Sonst kneife ich dich vielleicht wieder.« »Das sollst du bloß wagen!« sagte Eva-Lotte. Die Sonne blendete sie, als sie aus dem dunklen Ruinenge-wölbe heraustraten, und die Wärme erschien ihnen beinahe überwältigend. »Ob ich versuche, mich ein bißchen beliebt zu machen?« fragte Onkel Einar. »Soll ich euch zu Limonade und Kuchen in den Konditoreigarten einladen?« Eva-Lotte nickte gnädig. »Manchmal machst du ganz vernünftige Vorschläge!« Sie bekamen einen Tisch ganz dicht am Geländer unten am Fluß. Man konnte den kleinen Fischen, die hungrig ange-schwommen kamen und sich bis an die Oberfläche stellten, Brotkrumen zuwerfen. Einige Linden gaben einen angenehmen Schatten. Und als Onkel Einar eine große Platte mit Kuchen und drei Flaschen Saft bestellte, fing sogar Kalle an, seine Anwesenheit in der Stadt ganz erträglich zu finden. Onkel Einar schaukelte auf dem Stuhl, warf den Fischen einige Brotkrumen zu, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und pfiff ein bißchen. Und dann sagte er: »Eßt, soviel ihr reinkriegen könnt, aber beeilt euch! Wir können nicht den ganzen Tag hier sitzen.« »Wie komisch er ist«, dachte Kalle. »Er will niemals lange bei einer Sache bleiben.« Und er war immer mehr davon überzeugt, daß Onkel Einar eine unruhige Natur war. Er selbst hätte wer weiß wie lange hier im Konditoreigarten sitzen mögen und den Kuchen genießen und die lustigen Fische und die Sonne und die Musik. Er konnte nicht verstehen, daß ein Mensch es so eilig haben konnte, von hier wegzukommen. Onkel Einar sah auf seine Uhr. »Um diese Zeit muß wohl schon die ›Stockholmer Zeitung‹ gekommen sein«, sagte er. »Du, Kalle, du bist jung und gesund, lauf zum Kiosk und hole eine für mich!« »Klar, daß gerade ich laufen soll«, dachte Kalle. »Anders ist bedeutend jünger und gesünder«, sagte er. »Wirklich?« »Ja, er ist fünf Tage später als ich geboren. Wenn er auch natürlich nicht so dienstbereit ist wie ich«, sagte Kalle und fing die Krone auf, die Onkel Einar ihm zuwarf. »Aber dann will ich wenigstens ein bißchen reingucken«, sagte er für sich, als er die Zeitung bekommen hatte. »Zum mindesten auf die Überschriften. Und die Bildgeschichten.« Es war ungefähr wie immer. Erst eine ganze Menge von den Atombomben und dann ein Haufen Politik, was keinen Menschen interessieren konnte. Und »Zusammenstoß zwischen Autobus und Zug«, »Roher Überfall auf einen alten Mann«, »Wütende Kuh verursacht Panik«, und »Großer Juwelendiebstahl«. Nichts besonders Spannendes, entschied Kalle.
Aber Onkel Einar griff eifrig nach der Zeitung. Er blätterte sie schnell durch, bis er zu der Seite kam, wo die letzten Neuigkeiten standen. Dort vertiefte er sich in einen Artikel, so daß er nicht hörte, als Eva-Lotte fragte, ob sie noch ein Stück Kuchen nehmen dürfe. »Was kann das sein, was ihn so furchtbar interessiert?« dachte Kalle. Er hätte sich gern hinter ihn gestellt, aber er war nicht sicher, ob Onkel Einar das gefallen würde. Offenbar war es nur Auf der Hauptstraße ging Schutzmann Björk. »Hallo, Onkel Björk!« rief Eva-Lotte. »Hallo«, sagte der Schutzmann und legte die Hand an die Mütze. »Bist du noch nirgends runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen?« »Noch nicht ganz«, sagte Eva-Lotte. »Aber morgen will ich auf den Aussichtsturm im Stadtpark klettern, vielleicht wird es da was. Natürlich, wenn Sie nicht kommen und mich runterholen.« »Ich will es versuchen«, sagte der Schutzmann. Onkel Einar kniff Eva-Lotte ins Ohr. »Soso, du bist mit der Polizeimacht liiert«, sagte er. »Ach, laß das doch sein«, sagte Eva-Lotte. »Ist er übrigens nicht zum Sterben schick?« »Wer? Ich?« »Nein«, sagte Eva-Lotte. »Schutzmann Björk natürlich!« Vor einem Eisenwarengeschäft blieb Onkel Einar stehen. »Auf Wiedersehen so lange, Kinder«, sagte er. »Ich gehe mal hier rein.« »Schön«, sagte Eva-Lotte, als er verschwunden war. »Ja, denn wenn er uns auch mit Kuchen traktiert, was Richtiges wird es doch nicht, wenn er sich die ganze Zeit an uns hängt«, sagte Anders. Dann vergnügten sich Anders und Eva-Lotte damit, sich auf die Brücke zu stellen und zu sehen, wer am weitesten in den Fluß spucken konnte. Kalle beteiligte sich nicht. Es fiel ihm plötzlich ein, ob er rauskriegen könnte, was Onkel Einar im Eisenwarengeschäft kaufen wollte. »Die reine Routinearbeit«, sagte er sich. »Aber man kann eine ganze Menge über einen Menschen erfahren, wenn man weiß, was er in Eisenwarengeschäften kauft. Wenn er ein elek-trisches Bügeleisen kauft«, dachte Kalle, »dann ist er eine häusliche Natur, und wenn er einen Schlitten kauft – ja, wenn er einen Schlitten kauft, dann ist er nicht richtig bei Troste! Bei den augenblicklichen Schneeverhältnissen dürfte er wirklich wenig Nutzen davon haben. Aber ich könnte Gift drauf nehmen, daß es kein Schlitten ist, den er da kaufen will.« Kalle stellte sich an das Schaufenster und sah in den Laden. Da drinnen stand Onkel Einar. Der Verkäufer war gerade dabei, etwas zu zeigen. Kalle legte die Hand über die Augen und versuchte zu sehen, was es war. Es war – es war eine Taschenlampe! Kalle dachte nach, daß es nur so krachte. Wozu brauchte Onkel Einar eine Taschenlampe? Mitten im Sommer, wo es beinahe die ganze Nacht über hell war! Erst einen Dietrich und dann eine Taschenlampe! Was war es sonst, wenn nicht im höchsten Grade mystisch? Onkel Einar war eine im höchsten Grade mystische Person, entschied Kalle. Und er, Kalle Blomquist, war nicht der, der mystische Personen ohne Überwa-chung herumlaufen ließ. Onkel Einar würde sofort unter Kalle Blomquists besondere Aufsicht gestellt werden. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Zeitung! Wenn eine mystische Person so auffallend an etwas interessiert ist, was in der Zeitung steht, so ist auch das mystisch und bedarf näherer Untersuchung. Die reine Routinearbeit! Er lief zurück in den Konditoreigarten. Die Zeitung lag noch auf dem Tisch. Kalle nahm sie und steckte sie unter sein Hemd. Er wollte sie aufheben. Selbst wenn er jetzt nicht herauskriegen konnte, was Onkel Einar so eifrig gelesen hatte, dann konnte sie später vielleicht einen Hinweis geben. Meisterdetektiv Blomquist ging nach Hause und goß die Erdbeeren, sehr zufrieden mit sich selbst. |
||||||||||||
|