"Meine russischen Nachbarn" - читать интересную книгу автора (Каминер Владимир)Der 7. TibeterAuf unseren Spaziergängen durch Berlin landeten meine russische Nachbarn, meine Frau Olga und ich einmal zufällig in Kreuzberg. Es war gerade Mittagszeit und Sergej schlug vor, in einem vor kurzem eröffneten Restaurant was zu essen. Das Lokal hieß Die Speisekarte des »Das sind doch alles Pelmenis, wie sie jede Oma in Sibirien macht«, meinte sie rebellisch. »Das haben diese Bergleute alles den Russen abgekuckt.« »Was würden Sie uns empfehlen?«, fragte ich die hübsche Kellnerin um Rat. »Wir haben sehr viele Gerichte«, sagte sie, »aber die meisten Gäste entscheiden sich für Teigtaschen.« Das wunderte uns überhaupt nicht. Ohne lange zu überlegen, entschieden wir uns wie die anderen Gäste. Sergej nahm die gedünsteten, Andrej die gebratenen Teigtaschen, meine Frau und ich blieben beim Wein. Die Kellnerin notierte gewissenhaft unsere Bestellung auf einem Block, um die Teigtaschen nicht zu verwechseln und verschwand in der Küche. Wir rätselten währenddessen über den geheimnisvollen Namen des Ladens. »Eine alte Legende«, meinte Sergej. »Ich erinnere mich dunkel daran. Die Blavatskaja und Rerich haben darüber berichtet. Auf dem höchsten Berg Tibets, weit über den Wolken, sitzen seit einer Ewigkeit sechs Weise und warten auf den siebten. Nur gemeinsam können sie den Menschen die Wahrheit und den Sinn des Daseins offenbaren. Jeder von ihnen besitzt einen Teil dieser Wahrheit. Aber einer ist verschwunden - mit dem siebten Tibeter. Im Grunde warten wir alle darauf, dass er zurückkommt.« »Wo ist er denn hin?«, fragte meine Frau. »Was sagt die Legende?« »Das weiß ich nicht, ich habe es vergessen«, winkte Sergej ab. »Er ist wahrscheinlich vom Berg gestiegen, um frische Teigtaschen zu holen, hat es aber auf dem Rückweg nicht ausgehalten und unterwegs alle aufgegessen. Daraufhin konnte er sich vor Scham nicht mehr auf dem Gipfel blicken lassen. Denn kaum käme er dort an, würden ihn die anderen sechs fragen: ›Na, wo sind unsere Teigtaschen, du Tibeter?‹« »Und so wandert er seit einer Ewigkeit durch die Welt und findet nirgends Ruhe, während seine Freunde auf dem Berg verhungern und die Menschheit weiter im Dunkel des Unwissens umherirrt. Und schuld daran sind nur die Teigtaschen«, spannen wir gemeinsam die Geschichte zu Ende. Der Koch brachte unsere Bestellung persönlich an den Tisch. »Dürfen wir Sie etwas fragen?«, erkundigte ich mich höflich. »Natürlich«, nickte er. »Wer oder was ist der siebte Tibeter? Klären Sie uns bitte auf!« »Ich bin’s«, sagte der Koch und lachte. »Ich bin der siebte Tibeter, das heißt der siebte Mensch aus Tibet, der hier eine Aufenthaltgenehmigung bekommen hat. Vor mir waren es nur sechs. Es gab zwar noch einen siebten, aber dessen Asylantrag wurde abgelehnt, er kam dann ein Jahr später unter einem anderen Namen wieder. Aber da war er schon der zwölfte. Und ich bin der siebte!«, lächelte der Koch stolz. Etwas enttäuscht von der Prosa des Lebens, aßen wir die Teigtaschen auf und verließen das Lokal. |
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