"Meine russischen Nachbarn" - читать интересную книгу автора (Каминер Владимир)Der Enkel des PartisanenDie Wege der Ausländer, die in Deutschland landen, sind verschlungen. Ich kenne Landsleute, die als wertvolle Computerspezialisten nach Deutschland gekommen sind, andere werden als politische Flüchtlinge anerkannt. Manche kommen als Russlanddeutsche, im Zuge der Zusammenführung von Blut und Boden, und einige geben an, sie würden eine Million in die deutsche Wirtschaft investieren und bekommen dadurch ein Aufenthaltsrecht. Mein Nachbar Sergej gehört zu der wahrscheinlich kleinsten Minderheit der Einwanderer: Er kam als Enkel eines weißrussischen Partisanen nach Deutschland, eingeladen von einem deutschen Kriegsveteranen. In seiner Heimatstadt Gomel, der zweitgrößten Stadt Weißrusslands, gehörte Sergej zu den Studenten, die Deutsch statt Englisch oder Französisch lernten. Eine Perversität. Aber er behauptete, er fände den Klang der deutschen Sprache attraktiv. In der Regel sind Menschen, die kein Deutsch verstehen, von dieser Sprache alles andere als begeistert. Man sagt, Englisch höre sich an wie ein Popsong, Französisch wie ein Kuss, Russisch wie ein Trinkspruch und Deutsch wie Husten. Deutsch zu lernen ist an der russischen Universität der beste Weg, ein Außenseiter zu werden. Sergej studierte Deutsch beinahe im Alleingang. Doch in den späten Neunzigerjahren kamen immer häufiger Touristen aus Deutschland nach Weißrussland, und Sergejs Sprachkenntnisse zahlten sich aus. Er wurde von einem Reisebüro, als persönlicher Dolmetscher und Betreuer für Reisende angeheuert, die nicht in Gruppen, sondern alleine, auf eigene Faust, durch Weißrussland reisten. Diese Einzeltouristen waren komische Menschen. Niemand von ihnen kam nach Weißrussland, um einfach ein wenig in den Wäldern spazieren zu gehen. Sie alle hatten einen Plan. In der Regel ging es um die Rettung der Menschheit oder einzelner Personen. Bei der Erfüllung dieses Plans waren sie jedoch auf die Hilfe eines erfahrenen Dolmetschers angewiesen. Sergej finanzierte mit diesem Job seine damaligen Hobbys, Boxen und Rapmusik. Zusammen mit ein paar Freunden gründete er die erste weißrussische Rapband und richtete ein Tonstudio ein. Sie rappten in ihrer Heimatsprache, aber anders als der amerikanische Rap war der weißrussische nicht böse oder aggressiv, nicht einmal sozialkritisch. In ihren Rapsongs ging es hauptsächlich um schnelle Autos und um Frauen, auf die immer Verlass war. So verging das Leben. Sergej studierte Politologie, rappte, boxte, lernte weiter Deutsch und versuchte in der übrig gebliebenen Zeit, den deutschen Touristen zu helfen. Das war nicht leicht. Der eine wollte Hilfsgüter in ein Waisenhaus bringen und sie eigenhändig unter den bedürftigen Kindern verteilen, damit die Erwachsenen nichts für sich abgriffen. Sergej fuhr mit ihm zusammen zu einem Kinderheim, in dem die Not am größten war. Sie verteilten die Güter, und als sie die Räume dort in schlechtem Zustand vorfanden - im Schlafzimmer war sogar ein Loch in der Decke -, sorgte der Deutsche dafür, dass das Dach repariert wurde. Ein anderer Tourist wollte unbedingt Tschernobyl besuchen, um die Natur nach der Explosion des AKW zu beobachten und beispielsweise zu sehen, wie groß die Würmer geworden waren. Sergej fand ein Loch im Zaun, der seit 1987 geschlossenen Anlage und sie kletterten hindurch. Ein dritter Tourist wollte unbedingt mit Einheimischen um die Wette saufen: Sergej stellte sich ihm als Mittrinker zur Verfügung. Ein vierter wollte ein einheimisches Mädchen mit Riesenbrüsten aus einem Bordell retten: Sergej half ihm bei den Verhandlungen. Es war nie langweilig mit den Deutschen. Einmal kam ein alter Mann aus Norddeutschland, der unbedingt einen Kriegsveteranen kennenlernen wollte, am liebsten einen, der auch noch in Gefangenschaft gewesen war. Der Tourist war selbst Kriegsveteran. Er hatte irgendwo in den Wäldern von Weißrussland gegen Partisanen gekämpft, war gefangen genommen worden und hatte nach dem Krieg sechs Jahre in einem sibirischen Lager überlebt. Der einfachste Weg, diesen Touristen glücklich zu machen, wäre, ihn zu Sergejs eigenem Großvater zu bringen. Dieser war ebenfalls im Krieg gewesen und besaß Orden und Auszeichnungen bis zu den Knien. Seine Uniform zog er allerdings nicht einmal am Tag des Sieges an. Sergejs Großvater war 1941 mit seiner Einheit in den Kessel bei Rowno geraten, war dann bei den Partisanen, wurde verhaftet und kam in ein KZ. Anders als die meisten Kriegsgefangenen musste er jedoch nach der Befreiung nicht auch noch einige Jahre in sowjetischen Lagern absitzen. In der Familie galt er als schwieriger Mensch mit einem leichten Knall. Er redete wenig, und vom Krieg erzählte er gar nichts. Er weigerte sich, seine Kriegsverletzungen untersuchen zu lassen, und er weigerte sich, die Granatsplitter, die er vom Krieg im Körper zurückbehalten hatte, entfernen zu lassen. Er meinte, die Granatsplitter seien ein Teil seines Körpers geworden. Sein Enkelkind liebte er über alles. Einmal wollte der kleine Sergej unbedingt mit dem Jagdgewehr seines Großvaters schießen. Draußen saßen Gäste, die Familie feierte gerade ein Jubiläum. »Dann lass uns hier drin schießen«, quengelte der Junge. Der Großvater konnte einfach nicht nein sagen - und schoss mit Schrot in den Ofen, der daraufhin neu gesetzt werden musste. Die Oma und die anderen Frauen schrien vor Angst und Wut, aber der Großvater zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das Enkelkind darf einmal schießen.« Bei Tisch aß der Großvater nur mit seinem Kriegslöffel, den er aus dem deutschen Lager mitgenommen hatte. Er gab ihn nie aus der Hand, und niemand durfte den Löffel des Großvaters anfassen, außer Sergej. Der Löffel war von allen Seiten abgekaut, dünn, fast durchsichtig und auf der unteren Seite war ein Hakenkreuz eingraviert. Sergej wusste nicht, wie sein Großvater auf den deutschen Touristen reagieren würde, ging aber das Risiko ein. Sein Plan war, mit dem Deutschen zusammen bei ihm aufzukreuzen, ihr Gespräch zu übersetzen und dann je nach dem, was kam, zu handeln. Sein Großvater ließ sie in die Wohnung, verschwand in der Küche, kam mit einer Halbliterflasche Wodka zurück, verteilte den Inhalt der Flasche auf zwei Gläser und gab eines dem Touristen. Beide leerten ihre Gläser in einem Zug, schauten einander in die Augen und weinten. Danach umarmten sie sich, und der Deutsche ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Überhaupt war während des ganzen Treffens kein einziges Wort gefallen und Sergejs Übersetzerfähigkeiten nicht gefordert worden. Am nächsten Tag traf er den Deutschen wieder. Dieser lud Sergej ein, ihn in seiner Heimatstadt Vechta zu besuchen. So kam Sergej zum ersten Mal nach Deutschland. Die Stadt fand er klein und hässlich, aber alle sprachen Deutsch, und es gab sogar eine Universität, die kleinste Deutschlands. Der Kriegsveteran, der ihn eingeladen hatte, galt in Vechta ebenfalls als Mann mit einem Knall - mit einem Russenknall. Während die meisten in der Stadt dicke Autos fuhren, raste er auf einem sowjetischen Motorrad der Marke Sergej beschloss, erst einmal ein Paar Semester in Deutschland zu studieren. Er immatrikulierte sich an der dortigen Universität, schrieb sich für BWL ein und blieb. Geld zum Leben verdiente er in einer Fabrik, die Verpackungslinien für Hühnereier produzierte. Das Studium gefiel ihm gut, die Stadt weniger. Er ging lieber in den Wald oder zum Sport als in eine Kneipe. Kaum war er mit dem Studium fertig, zog er zuerst nach Köln und dann nach Berlin. Mir erzählte er, er fühle sich in Deutschland manchmal wie ein Partisan. Wie der Nachkomme eines Partisanen. |
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