"Die linke Hand" - читать интересную книгу автора (Tinti Hannah)

Wenn ein Mann ein besseres Buch schreiben, eine bessere Predigt halten oder eine bessere Mausefalle bauen kann als sein Nachbar, wird sich die Welt einen Trampelpfad zu seiner Tür bahnen, auch wenn seine Hütte tief im Wald steht. Ralph Waldo Emerson

Kapitel 2

In der Scheune zapfte sich Bruder Joseph einen Krug Wein und machte es sich auf seinem Stuhl bequem. Unter seiner Kutte lag ein Fußwärmer, eine kleine, mit Kohlen aus der Feuerstelle in der Küche gefüllte Blechdose. Er setzte erst eine Sandale darauf und dann die andere, während er die Jungen beim Arbeiten beaufsichtigte. Hin und wieder schlief er dabei ein, und dann fing seine Kutte Feuer. Irgendwie wachte er immer rechtzeitig auf, um die Flammen mit dem Inhalt seines Probierglases zu löschen.

Um ihn herum zupften die Jungen die Trauben von den Stängeln, pressten sie und seihten sie ab. Es war Herbst, und die Ernte ging dem Ende zu. Unter Bruder Josephs wachsamem Blick fügten sie dem gewonnenen Saft Zucker und Hefe bei, bedeckten die Eimer mit Mulltüchern und stellten sie beiseite. Später schöpften sie die Rückstände ab, gossen die Flüssigkeit in Holzfasser, gaben etwas fertigen Wein dazu und ließen das Gebinde gären. Der letzte Schritt bestand darin, den Wein auf Flaschen zu ziehen und sie zu verkorken. Drei Monate später konnte man ihn dann trinken.

Bruder Joseph ersparte Ren zwar keine dieser Arbeiten, aber er fand Mittel und Wege, ihm die Sache zu erleichtern. Wenn Ren draußen auf dem Feld Trauben pflückte, band er ihm einen Korb um die Taille; er zeigte ihm, wie er die Schaumkelle in die Armbeuge klemmen konnte; er schob ihm den Trichter zwischen die Hand und den glatten Armstumpf. Manchmal brauchte Ren doppelt so lang wie die anderen Jungen, um seine Arbeit zu erledigen, aber hin und wieder sagte Bruder Joseph ein paar aufmunternde Worte zu ihm, und das gab ihm genügend Ansporn, weiterzumachen.

Nun blickte der Mönch in seinen Krug und begutachtete den dunklen Rückstand, der sich am Boden gesammelt hatte. Dann betrachtete er die Jungen, die schweigend vor sich hin arbeiteten wie immer, wenn einer von ihnen ausgewählt worden war, ihre düsteren, gekränkten Gesichter. Bruder Joseph stellte seinen Krug auf den Boden und schob den Fußwärmer beiseite.

»Ich denke, wir sollten alle miteinander ein Gebet für William sprechen«, sagte er.

»Der braucht keins«, sagte Ichy.

»Jeder von uns braucht Gebete«, sagte Bruder Joseph. »Vor allem dann, wenn uns etwas Gutes widerfährt.« Er seufzte. »Alles Gute zieht Unglück nach sich. Und ein Unglück kommt selten allein.«

Die Jungen sannen über seine Worte nach, während sie weiterarbeiteten. Und nicht wenige von ihnen waren insgeheim froh.

»Was für ein Unglück William wohl abkriegt?«, fragte Ichy.

»Schwer zu sagen«, meinte Bruder Joseph. »Kann alles Mögliche sein.«

»Wetten, die werden auf der Heimfahrt ausgeraubt?«, sagte Ichy.

»Und wenn sie heimkommen«, sagte Brom, »steht das Haus in Flammen.«

Die anderen Jungen schlossen sich an, jeder mit seiner eigenen Phantasie des Unglücks, das William und seinen neuen Vater erwartete. Die beiden wurden von Bienenschwärmen überfallen und von Wolfsrudeln gehetzt. Sie bekamen die Gicht, die Windpocken, die Pest.

»Genug jetzt!«, sagte Bruder Joseph. »Mehr als dreimal erwischt es einen nicht.« Aber die Jungen machten weiter, stellten sich, berauscht von ihrer eigenen Gemeinheit, immer schlimmere Dinge vor.

Auch Ren versuchte sich für William ein Unglück auszudenken, kam aber nur bis zum Anblick des Farmers, der den Jungen auf den Wagen hob. Er fragte sich, ob William ihnen schreiben würde, sobald er sich eingelebt hatte. Einige der adoptierten Jungen schickten Briefe, in denen sie ihr neues Leben in allen Einzelheiten schilderten – die warmen Betten und die saubere Kleidung und die besonderen Mahlzeiten, die ihre Mütter eigens für sie zubereiteten. Diese Briefe wurden in Ehren gehalten und von einem Jungen an den nächsten weitergereicht, bis die Seiten zerfleddert waren und die Tinte verblasst.

Ren stellte sich das Abendessen vor, das William zu Hause erwartete. Bestimmt hatte die Frau des Farmers das gute Geschirr hervorgeholt, sofern sie welches besaßen. Ja, entschied Ren, sie hatten gutes Geschirr. Teller aus weißem Porzellan. Und auf dem Tisch stand eine kleine Schale mit Wildblumen, rosaroten und blauen, und winzigen gelben Butterblumen, frisch gepflückt aus dem Garten hinter der Küchentür. Bestimmt gab es Brot, noch warm und in Scheiben geschnitten, in einem mit einem Mundtuch bedeckten Korb. Es gäbe Eintopf, heiß und mit viel Fleisch, das mit Kräutern eingerieben und zart und weich war und sich leicht kauen ließ. Und einen Berg Kartoffeln. Und dazu vom Kolben abgeschabten Mais. Und Gläser voll frischer Milch. Und auf dem Fensterbrett, gleich hinter der Farmersfrau, die jetzt im Türrahmen stand und Ausschau nach dem Wagen ihres Mannes hielt, stand ein Brombeerkuchen. Nur für sie drei.

Dieser Frau hätte seine fehlende Hand nichts ausgemacht. Sie hätte ihr nicht das Geringste ausgemacht.

Ren saß auf dem Boden der Kelterei und sortierte Trauben, zupfte Blätter und Rebenreste vom Fruchtfleisch, warf faulige und unreife Beeren zur Seite. In den Körben, die aus den Weingärten kamen, waren immer Spinnen und Schwärme von Kriebelmücken und manchmal auch kleine schwarze Schlangen. Rens Finger waren rot gefleckt. Es würde Tage dauern, bis die Farbe auf seiner Haut verblasste.

Als er fertig war, schüttete er die Trauben über den Rand der Weinpresse, einer gewaltigen, neumodischen Apparatur, die in der Mitte der Scheune thronte. Die Kinder kauerten unten neben den Auslassrinnen und fingen mit Eimern den Saft auf, während andere die Kurbel drehten, die in der Mitte der Presse steckte und an liegende Windmühlenflügel erinnerte. Es war harte Arbeit. Die ältesten Jungen waren zum Kurbeln eingeteilt und gingen, jeder an einem Kurbelarm, fortwährend im Kreis. Noch ein Jahr, und Ren wäre einer von ihnen.

Nur wenige Jungen in Saint Anthony waren schon so alt und so oft übergangen worden, dass sie schließlich zum Militär geschickt wurden. Einer von ihnen hieß Frederick, ein stämmiger Kerl, der Mühe mit dem Atmen hatte, häufig ohnmächtig wurde und dann lautlos am Boden zusammensackte. Die Soldaten kamen in der Nacht und nahmen ihn mit. Vom Fenster im Schlafsaal der Kleinen aus hatte Ren gesehen, wie die Männer Frederick über den Hof und durch das hölzerne Tor schleiften; sein Körper war schlaff, und seine Füße hüpften über die Pflastersteine. Man hörte nie wieder etwas von ihm.

Ein anderer hieß Sebastian, ein auffallend bleicher und dünner Junge. Sechs Monate nachdem er mit den Soldaten fortgegangen war, tauchte er am Tor des Waisenhauses auf; er hatte sich so verändert, dass die anderen Jungen ihn nicht wiedererkannten. Sein Gesicht war eingefallen, und beide Augen waren blau geschlagen. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, und ein Bein schien gebrochen. Sebastian drückte die kleine Türklappe im Tor auf, durch die man ihn als Kind geschoben hatte, und flehte die Mönche an, ihn wieder aufzunehmen. Pater John murmelte ein Gebet und schob den zweiten Riegel vor. Drei Tage lang blieb der Junge da draußen, weinte anfangs, dann flehte er, dann schrie er, dann betete er, dann fluchte er und schließlich verstummte er, und dann kam ein Wagen mit drei Soldaten, und sie luden ihn hinten auf und fuhren mit ihm davon.

Es ging das Gerücht, dass Pater John von den Soldaten Geld bekam und auch ein Papier unterzeichnete, mit dem die Jungen in deren Besitz übergingen. Kein Tag verging, an dem Ren nicht daran denken musste, und wann immer das geschah, begann die Narbe an seinem Arm zu jucken. Mit jedem Mal, das er in der Reihe übergangen wurde, mit jedem Mal, das er zusehen musste, wie ein anderer Junge mitgenommen wurde, und mit jedem Jahr, das er älter wurde, juckte sie stärker.

Zum Ausgleich dafür klaute Ren. Mit kleinen essbaren Sachen fing es an. Zum Beispiel stellte er sich, nachdem er die Feuerstelle gesäubert hatte, vor den Koch, und der schaute flüchtig auf Rens Narbe, drehte sich dann um, begutachtete einen Berg Kohlköpfe und rief gleichzeitig nach jemandem, der die Bohnen waschen sollte, und unterdessen hatte Ren gerade genug Zeit, um eines von mehreren Brotstücken, die auf der Anrichte liegen geblieben waren, in die Tasche zu schieben.

Er nahm nie etwas, was sich nicht leicht verstecken ließ. Er klaute Socken und Schnürsenkel, Kämme und Heiligenbildchen, Knöpfe, Schlüssel und kleine Kruzifixe. Alles, was ihm in die Finger kam. Mal behielt er die Sachen, mal legte er sie zurück, mal warf er sie in den Brunnen. Auf diese Weise war Ren für die meisten verlorenen Gegenstände verantwortlich, um die an der Statue des heiligen Antonius gebetet wurde.

Die Sachen, die er an sich nahm, verwahrte er in einem schmalen Spalt im Brunnen, etwa drei Handbreit unterhalb des Randes. Wenn er sich über die Steinbrüstung beugte, konnte er die Hand in das Versteck schieben, und das Wasser tief unten warf seinen Atem zurück wie ein Echo. Zu seinen Besitztümern zählten eine blau-weiße Tonscherbe, eine Schlangenhaut, die er im Wald gefunden hatte, ein paar Rosenkranzperlen aus echten Rosen, die er Pater John stibitzt hatte, und – für ihn am wichtigsten – seine Steinsammlung.

Alle Jungen in Saint Anthony sammelten Steine. Sie horteten sie wie Kostbarkeiten, so als könnten sie sich durch das Sammeln von Feldspat und Schiefer den Weg in ein neues Leben bahnen. Wenn sie an den richtigen Stellen gruben, fanden sie seltenere Stücke – Quarzbrocken oder Glimmer oder Pfeilspitzen. Diese Schätze waren heiß begehrt und wurden sorgfältig aufbewahrt und getauscht und manchmal, wenn ein Junge adoptiert wurde, auch zurückgelassen.

Nachdem Bruder Joseph an diesem Nachmittag eingenickt war, wurden Williams Steine auf dem Scheunenboden ausgelegt, und die Jungen stritten sich um ihre Verteilung. Dreißig oder vierzig Stück mochten es sein. Steine, die glänzten wie Metall oder braune und schwarze Steifen hatten oder gar welche in den Farben des Sonnenuntergangs, rot und orange. Aber das Prunkstück der Sammlung war ein Wunschstein. Ein hellgrauer Stein mit einem geschlossenen weißen Ring. Einer, der imstande war, einen Wunsch zu erfüllen.

Ren hatte erst einen einzigen solchen Stein gesehen; er hatte Sebastian gehört. Dieser hatte ihn Ren einmal gezeigt, aber anfassen durfte ihn niemand, weil Sebastian befürchtete, der Wunsch könnte dadurch verloren gehen. Er wollte ihn sich, wie er sagte, aufsparen für eine Zeit, in der er in Schwierigkeiten wäre, und als er zur Armee ging, hatte er ihn mitgenommen. Später, als Sebastian vor der Backsteinmauer stand, die das Waisenhaus umgab, die Lippen von der Sonne aufgesprungen, berichtete er Ren durch die Klappe im Tor, dass jemand ihm den Wunschstein gestohlen hatte, während er schlief. »Ich hätte ihn nicht aufheben sollen«, heulte er. »Ich hätte ihn gleich nutzen sollen, als ich ihn in die Finger bekommen habe.«

Die Stimmen der Jungen fingen sich im Gebälk der Scheune und hallten von dort zurück. Ein paar von ihnen hatten den Wunschstein bereits entdeckt. Sobald Williams Steine verteilt würden, hätte Ren seine Chance sicher verpasst. Er rückte näher an die Stelle, wo der Wunschstein lag, heran und schob dabei den Ärmel nach oben. Dann tat er so, als hätte jemand ihn geschubst, warf sich mitten in den Pulk und landete auf allen vieren am Boden; dabei verdeckte er mit dem Stumpf seines linken Arms die rechte Hand. Die anderen stießen ihn beiseite.

»Weg da!«

»Krüppel!«

»Aus dem Weg!«

Während die Jungen sich weiter zankten, zog Ren sich in den hinteren Teil der Scheune zurück, den Stein fest in der Hand. Er öffnete die Faust und betrachtete ihn. Der Wunschstein hatte die Farbe des Regens. Seine Ränder waren glatt. Dort, wo der weiße Ring anfing, spürte Ren die schmale Rinne, und er dachte an all die Dinge, die er sich wünschen würde.

Brom und Ichy flüsterten miteinander, dann verließen sie die Meute und gesellten sich zu Ren. Sie wussten, dass er etwas an sich genommen hatte. Sie waren seine Freunde, aber sie wollten auch ihren Anteil.

»Was hast du da in der Hand?«

»Nichts.«

»Gib her!«

Die anderen Kinder wurden aufmerksam. Erst Edward mit seiner Triefnase, dann Luke und Marcus. Ren wusste, dass ihm nur wenige Augenblicke blieben, ehe sich alle auf ihn stürzten.

Er versetzte Brom einen Hieb mit der Faust, spürte das harte Kinn seines Freundes an den Knöcheln. Dann tauchte er unter Ichys Arm hindurch, stürmte aus der Scheune und rannte, so schnell er konnte, zum Brunnen, in der Hoffnung, ihn rechtzeitig zu erreichen, um den Stein verstecken zu können, und dabei betete er die ganze Zeit, er möge nicht von den Jungen verfolgt werden. Aber sie waren ihm dicht auf den Fersen, allen voraus Brom, der Ren gleich an der Schulter packen würde, und dann war es so weit, und beide fielen zu Boden.

Ichy setzte sich auf Rens Brustkorb, und Brom verdrehte ihm den Arm, bis er die Faust aufmachte. Ren versuchte die beiden mit Tritten abzuschütteln, biss und kratzte, obwohl ihm klar war, dass er verspielt hatte, und spürte, wie ihm der Stein aus der Hand glitt. Die Zwillinge ließen Ren keuchend im Dreck liegen und beugten sich über ihre Beute.

»Ich wünsche mir eine Pfeilspitze«, sagte Ichy.

»Das ist viel zu wenig«, sagte Brom.

»Dann eben Süßigkeiten.«

»Dass sich Bruder John das Genick bricht.«

»Spielzeug.«

»Dass ich beim nächsten Mal ausgewählt werde.«

»Hundert Wünsche statt dem einen.«

Ren hörte seinen Freunden zu. Noch nie hatte er jemanden so gehasst. Der Hass strömte aus seinen Fingerspitzen, und er stürzte sich auf sie und entriss ihnen den Stein. Wenn er den Wunsch nicht haben konnte, sollte ihn auch kein anderer haben. Die Zwillinge packten ihn am Hemd, aber der Hass verlieh ihm Kraft, mehr Kraft, als er je gespürt hatte, und er riss sich los, beugte sich über den Rand des Brunnens und warf den Stein hinein. Kein Laut war zu hören, als er hinabfiel, nur das Echo von Rens Keuchen in der Dunkelheit, und dann verriet ihm ein leises »Plopp«, dass er im Wasser gelandet war.