"Mord im Gurkenbeet" - читать интересную книгу автора (Bradley Alan)



Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Sweetness at the Bottom of the Pie« bei Orion,

an imprint of the Orion Publishing Group Ltd., London.


Für Shirley


Die Streusel schmecken süß, jedoch - viel süßer schmeckt der Boden noch.

William King: The Art of Cookery


1

Im Wandschrank war es so dunkel, und die Dunkelheit hat te die Farbe von altem Blut. Sie hatten mich einfach reingeschubst und abgeschlossen. Ich sog die abgestandene Luft tief durch die Nase ein und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich versuchte, bei jedem Einatmen bis zehn zu zählen und bei jedem Ausatmen bis acht. Zum Glück hatten sie mir den Knebel so fest in den Mund gesteckt, dass meine Nasenlöcher frei geblieben waren und ich einen tiefen Schnaufer nach dem anderen machen konnte.

Ich versuchte, die Fingernägel unter den Seidenschal zu zwängen, mit dem sie mir die Hände auf den Rücken gefesselt hatten, aber weil ich mir die Nägel immer bis auf die Kuppen abkaue, klappte es nicht. Wenigstens hatte ich daran gedacht, die Finger aufeinanderzulegen und die Handflächen auseinanderzudrücken, als sie den Knoten festgezogen hatten.

Jetzt ließ ich die Handgelenke kreisen und drückte die Hände gegeneinander, bis die Fesseln ein bisschen nachgaben, worauf ich den Knoten mit den Daumen herunterziehen konnte, bis er erst in meiner Handfläche landete - und dann zwischen meinen Fingern. Wären sie so schlau gewesen, mir auch die Daumen zu fesseln, hätte ich mich nie im Leben befreien können. Diese Trottel!

Als meine Hände endlich frei waren, war der Knebel schnell entfernt.

Jetzt die Tür. Aber erst musste ich mich vergewissern, dass sie nicht davor auf der Lauer lagen.

Ich spähte durchs Schlüsselloch auf den Dachboden hinaus. Kein Mensch war zu sehen, nur dunkle Ecken, das übliche Dachbodengerümpel und allerlei ausrangierte Möbel. Die Luft war rein.

Ich griff über den Kopf nach hinten und drehte einen der drahtenen Kleiderhaken heraus. Indem ich das krumme Ende in das Schlüsselloch steckte und das andere Ende nach unten drückte, bog ich mir einen L-förmigen Haken zurecht, mit dem ich in den Tiefen des alten Schlosses herumstochern konnte. Nachdem ich eine Weile zielstrebig hier und dort probiert und gefummelt hatte, wurde ich mit einem zufriedenstellenden Klick belohnt. Es war beinahe zu einfach gewesen. Die Tür ging auf, und ich war wieder frei.

Ich hüpfte die breite Steintreppe zur Eingangshalle hinunter und blieb ganz kurz vor der Esszimmertür stehen, nur so lange, wie ich brauchte, um meine Zöpfe auf den Rücken zu werfen, wo sie normalerweise immer lagen.

Vater bestand nach wie vor darauf, dass das Abendessen pünktlich zur gewohnten Zeit serviert und an unserem Esstisch aus massiver Eiche eingenommen wurde. Genau wie damals, als meine Mutter noch lebte.

»Sind Ophelia und Daphne noch nicht unten, Flavia?«, fragte er leicht gereizt und blickte von der neuesten Ausgabe des British Philatelist, der Zeitschrift für den Briefmarkenfreund, auf, die neben seinem Teller mit Braten und Kartoffeln lag.

»Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen«, antwortete ich.

Was der Wahrheit entsprach. Ich hatte die beiden nicht mehr gesehen - seit sie mich gefesselt und geknebelt und mit verbundenen Augen die Dachbodentreppe hochgeschleift und in den Schrank gesperrt hatten.

Vater schaute mich die gesetzlich vorgeschriebenen vier Sekunden

Ich schenkte ihm ein so breites Lächeln, dass er eine prächtige Aussicht auf die Zahnspange hatte, mit der mein Gebiss verdrahtet war. Obwohl ich damit wie ein Luftschiff ohne Au ßenhülle aussah, wurde mein Vater gern ab und zu daran erinnert, dass er für sein Geld auch etwas bekam. Diesmal war er jedoch viel zu beschäftigt, um darauf zu achten.

Daraufhin hob ich den Deckel der mit Schmetterlingen und Brombeerranken handbemalten Terrine hoch und entnahm ihr eine großzügige Portion Erbsen. Unter Verwendung meines Messers als Lineal und meiner Gabel als Gerte dirigierte ich die Erbsen so, dass sie sich in Reih und Glied auf meinem Teller formierten. Die kleinen grünen Kugeln bildeten so exakt ausgerichtete Zweierreihen, dass der Anblick das Herz des penibelsten Schweizer Uhrmachers hätte höher schlagen lassen. Anschließend piekte ich sie von links unten nach rechts oben mit der Gabel auf und verputzte sie.

Ophelia war an allem schuld. Schließlich war sie schon siebzehn, weshalb von ihr inzwischen das Mindestmaß an Reife erwartet wurde, über das sie demnächst als Erwachsene verfügen sollte. Dass sie sich mit der dreizehnjährigen Daphne verbündete, war einfach nicht fair. Zusammen waren die beiden schon dreißig! Dreißig Jahre gegen meine kümmerlichen elf! Das war nicht nur unsportlich, sondern geradezu niederträchtig. Und es schrie förmlich nach Rache.

Am nächsten Morgen, als ich in meinem Labor im obersten Stock des Ostflügels gerade mit einigen Glaskolben und Reagenzgläsern beschäftigt war, kam Ophelia einfach so hereingeplatzt.

»Wo ist meine Perlenkette?«

Ich zuckte die Achseln. »Seit wann bin ich für deine Klunker verantwortlich?«

»Ich weiß, dass du sie weggenommen hast. Die Pfefferminzbonbons aus meiner Unterwäscheschublade sind auch weg, und mir ist nicht entgangen, dass alle in diesem Haushalt vermissten Pfefferminzbonbons früher oder später im selben ungewaschenen Mund wieder auftauchen.«

Ich regulierte die Flamme des Brenners, auf dem ich ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit erhitzte. »Wenn du damit andeuten möchtest, dass meine Körperpflege nicht denselben hohen Standards entspricht wie die deine, kannst du mir mal die Überschuhe lecken.«

»Flavia!«

»Und zwar kreuzweise. Ich habe es satt, immerzu als Sündenbock herzuhalten, Feely.«

Aber mein berechtigter Zorn verflog im Nu, als Ophelia kurzsichtig in das rubinrote Becherglas linste, in dem es just in diesem Augenblick zu brodeln anfing.

»Was ist das für ein klebriges Zeug auf dem Boden?« Sie klopfte mit einem langen, sorgsam gefeilten Fingernagel an das Glas.

»Das ist ein Experiment. Vorsicht, Feely! Das ist Säure!« Ophelia wurde leichenblass. »Das ist doch meine Kette! Die hab ich von Mama geerbt!«

Ophelia war die einzige von Harriets Töchtern, die von unserer Mutter als »Mama« sprach, denn sie war die einzige von uns dreien, die alt genug war, sich noch an die Frau aus Fleisch und Blut zu erinnern, die uns unter dem Herzen getragen hatte. Eine Tatsache, die uns Ophelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase rieb. Harriet war, als ich gerade mal ein Jahr alt war, beim Bergsteigen ums Leben gekommen, und seither wurde auf Buckshaw nicht oft von ihr gesprochen.

War ich eifersüchtig auf Ophelias Erinnerungen? Nahm ich es ihr übel, dass sie sich noch an unsere Mutter erinnern konnte? Ich glaube nicht. Es ging viel tiefer. Aus unerfindlichen Gründen verabscheute ich Ophelias Erinnerungen an unsere Mutter.

Ich hob ganz langsam den Kopf, damit meine runden Brillengläser Ophelia ordentlich anblitzten, denn ich wusste, dass meine Schwester dann jedes Mal das beklemmende Gefühl bekam, vor einem verrückten deutschen Wissenschaftler aus einem alten Schwarzweißfilm zu stehen.

»Blöde Kuh!«

»Gewitterziege!«, fauchte ich zurück. Aber erst, nachdem Ophelia auf dem Absatz kehrtgemacht hatte - übrigens ausgesprochen elegant - und hinausgerauscht war.

Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. Was ich von Ophelia schon gewohnt war. Sie war, im Gegensatz zu mir, keine geduldige Planerin, die davon überzeugt war, dass man das Süppchen der Rache möglichst lange köcheln lassen musste, um es zur Perfektion reifen zu lassen.

Gleich nach dem Abendessen, als sich Vater wieder in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, um über seiner Sammlung papierener Miniaturporträts zu brüten, legte Ophelia das silberne Buttermesser, in dem sie die letzte Viertelstunde wie ein Wellensittich ihr Spiegelbild betrachtet hatte, ein klein wenig zu bedächtig auf den Tisch. Dann verkündete sie unvermittelt: »Weißt du, eigentlich bin ich gar nicht deine richtige Schwester. Und Daphne auch nicht. Darum sind wir auch so ganz anders als du. Dir ist wahrscheinlich noch nie in den Sinn gekommen, dass du bloß adoptiert worden bist.«

Ich ließ den Löffel fallen, dass es nur so schepperte.

»Das stimmt nicht! Ich bin Harriet wie aus dem Gesicht geschnitten! Das sagen alle.«

»Eben deswegen hat Mama im Heim für ledige Mütter gerade dich ausgesucht.« Ophelia schnitt eine angeekelte Grimasse.

»Wie konnte ich ihr denn ähnlich sehen, wo ich doch ein Neugeborenes war und sie eine Erwachsene?« So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen.

»Weil du sie an ihre eigenen Babybilder erinnert hast. Herrje, sie hat die Fotos sogar mitgeschleppt und zum Vergleich neben dich gehalten.«

Ich wandte mich an Daphne, die ihre Nase tief in eine ledergebundene Ausgabe von Die Burg von Otranto steckte. »Das ist gelogen, Daffy, stimmt’s?«

»Leider nein.« Daphne schlug behutsam eine zwiebelhautdünne Seite um. »Vater hat immer gesagt, dass es dich aus den Schuhen hauen wird, wenn du es eines Tages erfährst. Wir mussten ihm beide schwören, dass wir es dir nie verraten würden. Jedenfalls nicht vor deinem elften Geburtstag. Wir mussten einen richtigen Eid ablegen.«

»Eine grüne Gladstone-Tasche«, mischte sich Ophelia wieder ein, »hab ich selber gesehen. Ich hab gesehen, wie Mama ihre eigenen Babyfotos in eine grüne Gladstone-Tasche gesteckt hat und in das Heim gefahren ist. Ich war damals zwar erst sechs, fast sieben, aber ich werde ihre vornehm blassen Hände niemals vergessen … wie sie mit ihren schlanken Fingern die Messingschließe zugemacht hat.«

Ich brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus dem Esszimmer. Erst am nächsten Morgen beim Frühstück kam mir das Gift in den Sinn.

Wie alle großartigen Pläne war auch dieser ganz einfach.

Buckshaw war seit undenklichen Zeiten das Zuhause unserer Familie, der de Luces. Das jetzige Gebäude im georgianischen Stil wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche elisabethanische Haus von den Dorfbewohnern, die den de Luces unterstellten, mit den Oraniern zu sympathisieren, bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war. Dass wir vierhundert Jahre lang glühende Katholiken gewesen waren und sich daran auch nichts geändert hatte, konnte die aufgebrachten Bürger von Bishop’s Lacey nicht besänftigen. Das »Alte Haus«, wie es damals hieß, war in Flammen aufgegangen, und inzwischen

Zwei spätere Familienmitglieder, Antony und William de Luce, die über den Krimkrieg in Streit geraten waren, hatten die Anlage verschandelt, indem jeder nachträglich einen Flügel hatte anbauen lassen: William den Ostflügel, Antony den Westflügel.

Jeder hatte sich in sein höchsteigenes Herrschaftsgebiet zurückgezogen, und jeder hatte dem anderen untersagt, auch nur einen Fuß über den schwarzen Strich zu setzen, den sie quer durch die vordere Eingangshalle, das Vestibül und das Wasserklosett des Butlers hinter der Treppe gezogen hatten. Die beiden gelben, pustelhaft viktorianischen Ziegelanbauten, zeigten wie die steinernen Schwingen eines Friedhofsengels nach hinten, was den hohen Fenstern und Fensterläden der georgianischen Fassade in meinen Augen das affektierte, leicht verdutzte Aussehen einer alten Jungfer mit schmerzhaft straffem Haarknoten verlieh.

Ein späterer de Luce - Tarquin, auch »Tar« genannt - hinterließ nach einem spektakulären Nervenzusammenbruch das, was einmal eine brillante Chemikerkarriere zu werden versprach, als Scherbenhaufen. Er wurde in dem Sommer, in dem Königin Viktoria ihr fünfundzwanzigjähriges Thronjubiläum beging, von der Universität Oxford verwiesen.

Tars nachsichtiger Vater, stets besorgt um die schwache Gesundheit seines Sohnes, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, ihm im obersten Stock des Ostflügels ein richtiges Labor einzurichten: komplett mit Glasbehältern, Mikroskopen und einem Spektroskop aus Deutschland, Messingwaagen aus Luzern sowie einer verwirrend geformten, mundgeblasenen deutschen Geißlerröhre, an der Tar elektrische Spulen befestigen konnte, um zu untersuchen, wie verschiedene Gase fluoreszieren.

Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster stand ein Leitz-Mikroskop,

Es gab sogar ein Skelett auf einem Rollständer, das Tar im zarten Alter von zwölf Jahren von dem berühmten Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, dessen Vater einst das mumifizierte Herz von König Ludwig XIV. verzehrt hatte.

Drei Wände waren mit deckenhohen Schränken und Vitrinen versehen, von denen wiederum zwei mit Chemikalien in gläsernen Apothekengefäßen vollgestellt waren, ein jedes mit Tar de Luces akribischer Handschrift beschriftet, denn Tar hatte dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und sie alle überlebt. Er war 1928 im Alter von sechzig Jahren inmitten seines chemischen Königreichs gestorben, wo er eines Morgens von seinem Verwalter gefunden wurde, am Schreibtisch sitzend und mit dem gebrochenen Auge durch sein geliebtes Leitz-Mikroskop spähend. Man munkelte, er habe sich mit dem Zerfall erster Ordnung von Stickstoffpentoxid beschäftigt. Wenn das stimmt, handelt es sich um die erste belegte Forschung zu einer Reaktion, die letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte.

Onkel Tars Schatzkammer wurde verschlossen und verharrte in staubiger ungestörter Stille, bis das, was Vater meine »skurrile Begabung« nannte, zutage trat und ich so weit war, das Labor für mich zu beanspruchen.

Mich überläuft immer noch jedes Mal ein freudiger Schauer, wenn ich an den regnerischen Herbsttag denke, an dem die Chemie in mein Leben trat.

Ich war beim Bergsteigerspielen in der Bibliothek an den Regalen hochgeklettert, als ich mit dem Fuß abrutschte und ein dickes Buch zu Boden polterte. Als ich es aufhob und die zerknitterten Seiten glatt streichen wollte, sah ich, dass es nicht nur Worte, sondern auch lauter Abbildungen enthielt. Zum Beispiel gossen körperlose Hände Flüssigkeiten in eigenartig geformte Glasbehälter, die außerirdischen Musikinstrumenten glichen.

Der Titel des Buches lautete Grundzüge der Chemie, und ich entnahm dem Werk im Handumdrehen, dass das Wort Jod von »violett« und das Wort »Brom« vom griechischen Wort für »Gestank« abgeleitet ist. Hochspannend! Ich schob den dicken roten Wälzer unter meinen Pullover und nahm ihn mit nach oben in mein Zimmer, und erst viel später entdeckte ich, dass jemand H. de Luce auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte. Das Buch hatte Harriet gehört.

Schon bald vertiefte ich mich in jeder freien Minute in meine neue Errungenschaft. Abends konnte ich es manchmal kaum erwarten, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Harriets Buch war inzwischen mein heimlicher Freund.

Es führte sämtliche Alkalimetalle eingehend auf: Metalle mit wunderlichen Namen wie Lithium und Rubidium, außerdem Erdalkalien wie Strontium, Barium und Radium. Als ich las, dass eine Frau, nämlich Madame Curie, das Radium entdeckt hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus.

Und dann die Giftgase: Phosphin, Arsin (von dem eine einzige Blase tödlich sein kann), Stickstoffpentoxid, Schwefelwasserstoff … die Liste war schier endlos. Als ich entdeckte, dass mein Buch auch noch ausführliche Anleitungen für die Herstellung dieser Stoffe enthielt, war ich im siebten Himmel.

Sobald ich mir beigebracht hatte, wie man chemische Gleichungen liest (etwa K4FeC6N6 + 2K = 6KC N + Fe, womit die Reaktion beschrieben wird, die auftritt, wenn man das gelbe Prussiat Pottasche oder auch Kalziumkarbonat erhitzt, um Kaliumzyanid

Am spannendsten fand ich aber, dass alles (die ganze Schöpfung - ohne Ausnahme!) von unsichtbaren chemischen Verbindungen zusammengehalten wurde. Und ich fand es aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen tröstlich, dass es irgendwo - selbst wenn es unsereiner nicht sehen kann - etwas unerschütterlich Dauerhaftes gibt.

Anfangs kam ich nicht gleich darauf, den offenkundigen Zusammenhang zu bemerken - nämlich den zwischen dem Buch und dem verlassenen Labor; aber als der Groschen endlich fiel, erwachte mein Leben erst zum richtigen Leben, falls irgendwer versteht, wie ich das meine.

Hier, in Onkel Tars Labor, standen ordentlich aufgereiht sämtliche Chemiebücher, die er einst liebevoll zusammengetragen hatte, und schon bald fand ich heraus, dass die meisten gar nicht so sehr über meinen Verstand gingen.

Es folgten einfache Experimente, bei denen ich mich darin übte, die Anweisungen Wort für Wort zu befolgen. Was nicht heißen soll, dass es nicht gelegentlich zu beträchtlichem Gestank und etlichen Explosionen gekommen wäre, aber darüber wollen wir lieber den Mantel des Schweigens breiten.

Meine Notizbücher wurden immer dicker. Sobald sich mir die Geheimnisse der organischen Chemie offenbart hatten, traute ich mir immer kniffligere Experimente zu und erfreute mich an meinem neuen Wissen darüber, was einem die Natur so alles großzügig zur Verfügung stellt.

Meine besondere Vorliebe galt den Giften.

Ich hieb mit einem Bambusspazierstock, den ich aus dem Elefantenfuß-Schirmständer in der vorderen Eingangshalle gemopst hatte, auf das Unkraut ein. Hier hinten im Küchengarten hatten die hohen roten Ziegelmauern die wärmende

Ich bahnte mir einen Weg durch das wuchernde, letztes Jahr nicht mehr gemähte Gras, bis ich am Fuß der Mauer das Gesuchte entdeckte: ein Büschel hellrot schimmernder Pflanzen, deren dreiblättrige Stauden sich von den anderen Kletterpflanzen abhoben. Ich zog die baumwollenen Gartenhandschuhe an, die ich mir in den Gürtel gesteckt hatte, und machte mich, begleitet von einer schallend gepfiffenen Interpretation von Bibbidi-Bobbidi-Buu, frisch ans Werk.

Später, als ich glücklich wieder in meinem Sanctum Sanctorum, meinem Allerheiligsten, saß - auf diesen Ausdruck war ich in einer Biografie Thomas Jeffersons gestoßen und hatte ihn mir sogleich angeeignet -, stopfte ich die bunten Blätter in einen Destillierkolben und achtete darauf, dass ich die Handschuhe erst auszog, nachdem ich alles bis ganz unten auf den Boden gedrückt hatte. Nun kam der Teil, der mir am meisten Spaß machte.

Ich stöpselte den Destillierkolben zu, verband ihn auf einer Seite mit einem Glaskolben, in dem bereits Wasser kochte, und auf der anderen mit einer gewundenen gläsernen Kühlschlange, die in ein leeres Reagenzglas mündete. Das Wasser brodelte wie verrückt, und ich sah zu, wie sich der Dampf seinen Weg in den Kolben mit den Blättern bahnte. Die fingen schon an, weich zu werden und sich aufzurollen, während der heiße Dampf die winzigen Taschen zwischen den Zellen öffnete und die Essenz der Pflanze freisetzte.

So hatten schon die alten Alchimisten ihre Kunst praktiziert: Feuer und Dampf, Dampf und Feuer. Destillation.

Einfach herrlich.

Destillation. Ich sprach es laut vor mich hin: »Des-til-lation!«

Ehrfürchtig sah ich zu, wie sich der Dampf in der Glasspirale abkühlte und kondensierte, rieb mir verzückt die Hände, Plopp! in das Auffanggefäß fiel.

Als das ganze Wasser verdampft war, drehte ich den Bunsenbrenner aus, stützte das Kinn in die Hände und beobachtete gespannt, wie die Flüssigkeit in dem Reagenzglas zwei Schichten bildete. Unten auf dem Boden sah man das klare destillierte Wasser, obendrauf schwamm eine gelbliche Flüssigkeit, der Pflanzensaft. Er wurde Urushiol genannt, eine Substanz, die unter anderem bei der Lackherstellung verwendet wird.

Ich zog ein goldfarbenes Röhrchen aus der Pullovertasche, nahm die Kappe ab und musste schmunzeln, als die rote Spitze erschien. Es war Ophelias Lippenstift, aus der Schublade ihrer Frisierkommode geklaut, wie auch die Perlenkette und die Pfefferminzbonbons. Und Feely - Fräulein Rotzfahne - war nicht mal aufgefallen, dass ihr heißgeliebter Lippenstift verschwunden war.

Apropos Pfefferminzbonbons - ich steckte eins in den Mund und zermalmte es krachend.

Der Lippenstift selbst ließ sich ganz leicht herausdrehen. Ich zündete den Bunsenbrenner wieder an. Der wachsähnliche Stift verwandelte sich im Nu in eine klebrige Masse. Wenn Feely wüsste, dass man Lippenstifte unter anderem aus Fischschuppen herstellt, dachte ich, wäre sie vielleicht nicht ganz so erpicht darauf, sich das Zeug auf den Mund zu schmieren. Ich musste es ihr bei Gelegenheit mal erzählen. Aber das hatte Zeit.

Mit einer Pipette entnahm ich dem Reagenzglas eine kleine Menge destillierten Saft, ließ ihn vorsichtig in die Lippenstiftpampe tröpfeln und rührte die Mixtur mit einem Holzspatel kräftig durch.

Zu dünn, fand ich, nahm ein Gefäß aus dem Regal und fügte ein paar Klümpchen Bienenwachs hinzu, um die ursprüngliche Konsistenz zu erreichen.

Jetzt war es wieder Zeit für die Handschuhe - und für die eiserne Patronengussform, die ich mir aus der recht passablen Feuerwaffensammlung von Buckshaw ausgeborgt hatte.

Schon komisch, dass ein Lippenstift genauso groß ist wie ein Projektil vom Kaliber 45. Gut zu wissen, jedenfalls. Wenn ich heute Abend im warmen Bettchen lag, musste ich ausführlicher darüber nachdenken, was sich mit diesem Wissen noch alles anfangen ließ, jetzt war ich zu beschäftigt.

Nachdem ich den roten Pfropf behutsam aus der Gussform gelöst und unter kaltem Wasser abgekühlt hatte, passte er wieder anstandslos in seine goldene Hülse.

Ich drehte ihn mehrmals raus und rein, um mich zu vergewissern, dass der Stift einwandfrei funktionierte, dann schob ich die Kappe wieder darüber. Feely war eine Langschläferin und saß bestimmt noch beim Frühstück.

»Wo ist mein Lippenstift, du Miststück? Was hast du damit gemacht?«

»Der liegt in deiner Schublade«, antwortete ich. »Da hab ich ihn jedenfalls gesehen, als ich deine Perlenkette geklaut hab.«

In meinem kurzen Leben war ich, als jüngste von drei Schwestern, wohl oder übel zu einer Meisterin der gespaltenen Zunge geworden.

»In der Schublade ist er nicht. Da hab ich eben erst nachgeschaut.«

»Hast du die Brille aufgehabt?«, fragte ich feixend.

Obwohl uns Vater alle drei mit Brillen ausgestattet hatte, weigerte sich Feely hartnäckig, ihre aufzusetzen, und meine enthielt kaum mehr als Fensterglas. Ich trug sie fast nur im Labor, als Augenschutz, und sonst hin und wieder auch mal, um Mitleid zu erregen.

Feely schlug auf den Tisch und stürmte in ihr Zimmer.

Ich widmete mich seelenruhig wieder den unergründlichen Tiefen meiner zweiten Schüssel Weetabix.

Später schrieb ich in mein Notizheft:

Freitag, 2. Juni 1950, 9.42 Uhr. Verhalten der Versuchsperson normal, wenn auch missmutig. (Aber so ist sie eigentlich immer.) Eintritt der Wirkung kann zwischen 12 und 72 Stunden betragen.

Ich konnte warten.

Mrs Mullet, die untersetzt und grau und rund wie ein Mühlstein war und die, da bin ich mir sicher, sich für eine Gestalt aus einem Gedicht von A. A. Milne hielt, war in der Küche mit einem ihrer eitergelben Schmandkuchen beschäftigt. Wie gewöhnlich kämpfte sie mit dem riesigen AGA-Herd, der die kleine, vollgestopfte Küche schier erschlug.

»Ach, du bist’s, Miss Flavia! Hilf mir doch bitte mal mit dem Herd, mein Schatz.«

Noch ehe mir eine passende Erwiderung einfiel, stand Vater hinter mir.

»Ich muss dich kurz sprechen, Flavia.« Sein Ton war gewichtig wie die Bleistücke an den Stiefeln eines Tiefseetauchers.

Ich schielte zu Mrs Mullet hinüber. Die pflegte sich nämlich beim kleinsten Anzeichen von Missstimmigkeiten aus dem Staub zu machen. Einmal hatte sie sich sogar, als Vater die Stimme erhoben hatte, in einen Teppich eingerollt und sich geweigert, wieder herauszukommen, bis man nach ihrem Mann geschickt hatte.

Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre sie aus kostbarstem Kristallglas.

»Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen steht in der Wärmeklappe.«

»Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin.

Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs.

»Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de Luce, aber … um Himmels willen!«

Vater und ich mussten uns an ihr vorbeidrängeln.

Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier.

Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine Briefmarke.

Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im Herbst, und sein Gesicht war aschfahl.