"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)Mary Joe Salter 1Ein Junge mit einem Papagei auf der Schulter lief vertr#228;umt die Eisenbahnschienen entlang und schwenkte dabei ein G#228;nsebl#252;mchen. Mit jedem Schritt zog er die Fu#223;spitzen durch das Gleisbett, als vermesse er die Strecke mit einer in den Schotter gezogenen Spur seiner Schuhkappen. Es war Hochsommer, und irgendetwas an dem schwarzen Schopf und dem blassen Gesicht des Jungen vor dem H#252;gelband, das sich in der Ferne ausbreitete, irgendetwas an dem tanzenden wei#223;en Auge des G#228;nsebl#252;mchens, an den knochigen Knien in der kurzen Hose, an der aufrechten Haltung des h#252;bschen Graupapageis mit seiner wildroten Schwanzfeder, irgendetwas fesselte den alten Mann, der die beiden vorbeigehen sah. Fesselte ihn oder weckte seinen Sp#252;rsinn – eine einst in ganz Europa ger#252;hmte Gabe – f#252;r eine verhei#223;ungsvolle Eigent#252;mlichkeit. Der alte Mann lie#223; die j#252;ngste Ausgabe der britischen Bienenzeitschrift auf die Shetlanddecke sinken, die #252;ber seine ebenfalls knochigen, aber keineswegs ansprechenden Knie gebreitet war, und schob sein l#228;ngliches Gesicht n#228;her an die Fensterscheibe. Die Gleise – eine Nebenstrecke der Linie Brighton-Eastbourne, die Ende der zwanziger Jahre beim Ausbau der Southern Railway elektrifiziert worden war – verliefen hundert Meter n#246;rdlich des Cottages zwischen den Betonpfeilern eines Drahtzauns an einer B#246;schung entlang. Das Glas, durch das der alte Mann sp#228;hte, war verzogen und voller Bl#228;schen und Riffel, die die Au#223;enwelt verzerrten und neckten. Doch selbst durch die Vexierscheibe betrachtet, kam es dem alten Mann so vor, als habe er noch nie zwei Wesen erblickt, die sich einen sonnigen Sommernachmittag gen#252;gsamer geteilt h#228;tten und inniger miteinander verbunden gewesen w#228;ren als diese beiden. Ebenso sehr beeindruckte ihn ihr offenkundiges Schweigen. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass ein Graupapagei – eine f#252;r ihre Geschw#228;tzigkeit ber#252;chtigte Art – und ein neun- oder zehnj#228;hriger Junge nicht zu jedem denkbaren Zeitpunkt sprechen w#252;rden, zumindest einer von ihnen. Noch eine Eigent#252;mlichkeit. Was sie jedoch verhie#223;, das konnte der alte Mann – gleichwohl er einst durch eine lange, brillante Reihe von Schlussfolgerungen aus unwahrscheinlichen Faktenkombinationen zu Ruhm und Ansehen gelangt war – nicht einmal ansatzweise erahnen. Als der Junge in rund hundert Meter Entfernung fast auf einer Linie mit dem Fenster des alten Mannes war, blieb er stehen. Er drehte dem Alten seinen schmalen R#252;cken zu, als sp#252;rte er dessen Blick auf sich. Sonderbar verstohlen sah der Papagei zuerst nach Osten, dann nach Westen. Der Junge hatte etwas vor. Das Hochziehen der Schultern, das pr#252;fende Beugen der Knie … Es war eine geheimnisvolle Verrichtung, weit zur#252;ckliegend, und dennoch tief vertraut – ja – das abgenutzte Uhrwerk setzte ein; der saitenlose Steinway erklang: Selbst an einem hei#223;en Nachmittag wie diesem, wenn K#228;lte und Feuchtigkeit nicht an den Scharnieren seines Knochenger#252;stes nagten, konnte es, gewissenhaft ausgef#252;hrt, ein l#228;ngeres Unterfangen werden, sich aus dem Sessel zu erheben, dem f#252;r einen alten Junggesellen typischen Durcheinander von sich stets neu findenden Hindernissen auszuweichen, die das Durchqueren seines Wohnzimmers t#252;ckisch machten – Zeitungen von h#246;herer und minderer Qualit#228;t, Hosen, Gl#228;ser mit Heilsalbe und Leberpillen, akademische Jahres- und Vierteljahresschriften, Teller voller Kr#252;mel –, und die T#252;r zur Au#223;enwelt zu #246;ffnen. Tats#228;chlich war die entmutigende Aussicht, die Strecke vom Sessel zur T#252;rschwelle bew#228;ltigen zu m#252;ssen, ein Grund f#252;r seinen mangelnden Umgang mit der Welt, selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie vorsichtig den T#252;rklopfer in der feindseligen Form einer gewaltigen Kurz schwankte er, tastete bereits nach dem T#252;rriegel, obwohl er noch den ganzen Raum zu durchqueren hatte. Sein strapaziertes Arteriensystem bem#252;hte sich, das pl#246;tzlich zum Himmel strebende Hirn mit dem notwendigen Blut zu versorgen. Seine Ohren summten, die Knie schmerzten, die F#252;#223;e stachen. Mit einer Hast, die einen angenehmen Schwindel in ihm ausl#246;ste, taumelte er zur T#252;r und riss sie auf, wobei er sich irgendwie am Nagel des rechten Zeigefingers verletzte. »He, Junge!«, rief er, und selbst in seinen Ohren klang seine Stimme m#252;rrisch, kurzatmig, ja sogar ein wenig irre. »H#246;r sofort auf damit!« Der Junge drehte sich um. Mit einer Hand griff er sich an den Hosenschlitz. Mit der anderen warf er das G#228;nsebl#252;mchen fort. Der Papagei trippelte #252;ber die Schulter des Kindes zum Hinterkopf, als gehe er in Deckung. »Warum, glaubst du wohl, ist da ein Die Wertgegenst#228;nde mit einer raschen Handbewegung sicher hinter dem Rei#223;verschluss verstaut, der Blume entledigt, wartete der Junge regungslos. Er bot dem alten Mann ein Gesicht dar, so fahl und leer wie der Blechnapf eines Bettlers. Der alte Mann h#246;rte das ged#228;mpfte Scheppern der Milchkannen auf Satterlees Bauernhof eine Viertelmeile weiter, das aufgeregte Rascheln der Mehlschwalben unter seinem Dach und, wie stets, das unerm#252;dliche Treiben in den Bienenst#246;cken. Der Junge trat von einem Bein aufs andere, als suche er nach einer passenden Erwiderung. #214;ffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schlie#223;lich war es der Papagei, der sprach. Der alte Mann blinzelte. Die deutschen Zahlen waren so unerwartet, so buchst#228;blich fremd, dass er sie im ersten Moment nur als Aneinanderreihung unheimlicher Laute registrierte, als primitive ornithologische #196;u#223;erung bar jeden Sinns. Vorsichtig nickte der Junge, in seinem Blick das erste Aufflackern eines Gef#252;hls. Der alte Mann steckte den verletzten Finger in den Mund und saugte daran, ohne es zu merken, ohne den salzigen Geschmack seines Blutes wahrzunehmen. In den South Downs im Juli 1944 auf einen einzelnen Deutschen zu sto#223;en – zumal auf ein Kind –, das war ein R#228;tsel, das alte Begierden und Kr#228;fte entfachte. Er war froh, seinen gebeugten K#246;rper dem heimt#252;ckischen Griff des Sessels entwunden zu haben. »Wie bist du hergekommen?«, fragte der alte Mann. »Wo willst du hin? Woher um alles in der Welt hast du diesen Papagei?« Dann #252;bersetzte er jede seiner Fragen ins Deutsche, was ihm unterschiedlich gut gelang. Der Junge stand da und l#228;chelte schwach. Mit zwei schmutzigen Fingern kraulte er den Papagei am Hinterkopf. Die Schwere seines Schweigens legte mehr nahe als den Unwillen zu sprechen; der alte Mann #252;berlegte, ob der Junge nicht weniger deutsch als vielmehr geistig zur#252;ckgeblieben sein mochte, unf#228;hig zu sinnvollen #196;u#223;erungen. Dann kam ihm eine Idee. Er hob die Hand und signalisierte dem Jungen, er solle an Ort und Stelle warten. Dann zog er sich ins Dunkel seines Cottages zur#252;ck. Im Eckschrank hinter dem zerbeulten Kohleneimer, in dem er fr#252;her seine Pfeifen aufbewahrt hatte, fand er eine staubbedeckte Dose mit violetten Pastillen. Sie war mit dem Portr#228;t eines britischen Generals verziert, dessen gro#223;er Sieg l#228;ngst jegliche Bedeutung f#252;r die gegenw#228;rtige Lage des Empires verloren hatte. Auf der Netzhaut des alten Mannes schwammen Flecken, kaulquappenf#246;rmige Reflexe von Sommerlicht und die leuchtende, auf dem Kopf stehende Fata Morgana eines Jungen mit einem Papagei auf der Schulter. Pl#246;tzlich sah sich der alte Mann mit den Augen des Jungen als j#228;hzornigen Drachen, der mit einer rostigen Dose verd#228;chtiger S#252;#223;igkeiten in der klauenartigen, knochigen Hand wie in einem M#228;rchen der Gebr#252;der Grimm aus der Dunkelheit seines riedgedeckten Hauses kriecht. Als der alte Mann wieder vor die T#252;r trat, war er #252;berrascht und auch erleichtert zu sehen, dass der Junge sich nicht vom Fleck ger#252;hrt hatte. »Hier«, sagte er und hielt ihm die Dose hin. »Es ist zwar schon lange her, aber zu meiner Zeit galten S#252;#223;igkeiten als eine Art Esperanto f#252;r Kinder.« Er grinste, zweifellos ein schiefes Drachengrinsen. »Na komm, willst du eine Pastille? Hier. Guter Junge.« Der Junge nickte und durchquerte den sandigen Vorgarten zu den S#252;#223;igkeiten in der Dose. Er genehmigte sich drei oder vier kleine Pillen und nickte dann feierlich zum Dank. Stumm also – ein fehlender Stimmapparat. Wie Perlen rasselten die Pastillen gegen die kleinen Z#228;hne des Jungen. Z#228;rtlich fuhr ihm der Papagei mit seinem graphitblauen Schnabel durchs Haar. Der Junge seufzte, und ein entschuldigendes Zucken bem#228;chtigte sich fl#252;chtig seiner Schultern. Dann drehte er sich um und ging den Weg zur#252;ck, den er gekommen war. |
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