"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

9

Mr Panicker fuhr ihn fast um.

Selbst bei gutem Wetter und mit einem Mann am Steuer, der so n#252;chtern war, wie es die Natur seiner Profession erfordert h#228;tte, war das Panicker-Fahrzeug – klein, belgisch, uralt, missbraucht vom Sohn des gegenw#228;rtigen Besitzers und nur noch im Besitz weniger Originalteile – schwer zu beherrschen. Die kleine Windschutzscheibe und der zerbrochene linke Scheinwerfer verliehen dem Wagen das blinzelnde, tastende Aussehen eines ertrinkenden S#252;nders, der nach der allegorischen Rettungsleine greift. Die Lenkung verlie#223; sich, m#246;glicherweise zu Recht, in hohem Ma#223;e auf das regelm#228;#223;ige Aussto#223;en von Gebeten. Die Bremsen mochten, auch wenn diese Feststellung Blasphemie war, #252;ber jede g#246;ttliche F#252;rsprache erhaben sein. Im Ganzen war das Fahrzeug in seiner Untauglichkeit, seiner Sch#228;bigkeit und seiner #252;berragenden Ausstrahlung unabweisbarer, unab#228;nderlicher Armut nach Mr Panickers ganz pers#246;nlicher Meinung ein Sinnbild f#252;r das Leben eines Mannes, der, bei weitem nicht professionell n#252;chtern, in einen Sturm innerer Turbulenzen geraten war, die fast ebenso heftig waren wie die B#246;en, die den traurigen braunen Imperia an diesem feuchtkalten, st#252;rmischen, typisch englischen Sommermorgen auf der Stra#223;e nach London herumschubsten. Es war ein Sinnbild f#252;r das Leben eines Mannes, der unversehens feststellen musste, dass er kurz davor stand – und hier trat Mr Panicker wie von Sinnen auf das nutzlose Bremspedal, w#228;hrend der einsame Scheibenwischer immer von neuem undurchsichtige B#246;gen #252;ber die Windschutzscheibe schmierte –, mit Hilfe eines Automobils einen Totschlag zu begehen.

Da er im ersten Moment nur einen flatternden Schatten sah, eine umherschlagende Plane aus #214;ltuch, leer und herrenlos, die vom Holzsto#223; eines Bauern geweht worden zu sein schien, machte er sich bereit, geradewegs hindurchzusto#223;en und sich seinem Schicksal anzuvertrauen, das herauszufordern schon immer sein Wunsch gewesen war. Aber gerade als es ihn wie eine Wolldecke umh#252;llen wollte, entpuppte sich die Plane als Cape mit Klauen, als eine ihm entgegentaumelnde Fledermaus aus braunem Tweed. Es war ein Mann, es war der alte Mann, der verr#252;ckte alte Imker mit dem langen blassen Gesicht, der mit rudernden Armen auf die Stra#223;e stolperte. Eine gigantische, panische Motte, die ihm in den Weg schwirrte. Mr Panicker riss das Lenkrad nach links. Die seinem elenden Sohn entwendete offene Flasche, die bisher die einzige Gef#228;hrtin seiner Qualen gewesen war, flog von ihrem Ehrenplatz auf dem Sitz neben ihm gegen das Handschuhfach und verteilte auf dem Flug durch die Luft den Brandy wie ein Weihwedel. Als habe der Imperia nun endlich den Zustand erreicht, nach dem er sich in seiner l#228;ppischen Laufbahn aus Bockspr#252;ngen, Hustern, Gestotter und Ger#246;chel schon lange sehnte, beschrieb er nun mit sp#252;rbarem Freiheitsgef#252;hl eine Folge ausgepr#228;gter, ballettartiger Schleifen, jede #252;ber ein kreisf#246;rmiges Muster mit der vorherigen verbunden, sodass auf dem glatten schwarzen Asphalt der Stra#223;e nach London die halbfertige Kinderzeichnung eines G#228;nsebl#252;mchens entstand. In diesem Moment zeigten Mr Panickers Beziehungen zu seiner Gottheit wieder einmal ihre langj#228;hrigen h#228;mischen Tendenzen. Der Wagen verlor das Interesse an seinen Eskapaden, und kam gute sieben Meter weiter zitternd zum Stehen; hoffnungsfroh wies seine K#252;hlerhaube gen London, der Motor rumpelte, der einsame Scheinwerfer blinzelte in den Regen, als sei er f#252;r seine Streiche gescholten worden und nun wieder bereit, dem#252;tig seinen Weg fortzusetzen. Mr Panickers Gedankeng#228;nge, bisher ungeregelte Verbrennungsprozesse, die aus einem Doppeltank von ungewohnter Trunkenheit und vergn#252;gtem Zorn gespeist wurden, schienen ebenfalls zitternd zum Stehen zu kommen. Wohin wollte er nur, was tat er hier blo#223;? War er letztendlich doch davongelaufen? Konnte man einfach seine Hose zusammenlegen, in den Koffer packen und gehen?

Eine ihm entgegentaumelnde Fledermaus aus braunem Tweed.


Die Beifahrert#252;r wurde aufgerissen. Mit Windesheulen und Regentropfen im Gefolge dr#228;ngte der alte Mann ins Auto. Er schlug die T#252;r zu und sch#252;ttelte sich in seinem Cape wie ein magerer, nasser Hund.

»Danke«, sagte er knapp. Er richtete seinen furchtbar klaren Blick auf seinen Retter, auf die umgekippte Brandyflasche, auf das zerschlissene Sitzleder, die freiliegenden Kabel und das ramponierte Armaturenbrett, auf den wahren Zustand, so schien es jedenfalls Mr Panicker, seiner durchweichten, erschrockenen Seele. Die gro#223;en, gebl#228;hten N#252;stern des alten Mannes erschnupperten jeden Brandytropfen in der Luft. »Einen guten Morgen.«

Mr Panicker vermutete, dass nun von ihm erwartet wurde, den Vorw#228;rtsgang einzulegen, nach London weiterzufahren und, als sei es vorher abgesprochen worden, seinen neuen, nach nasser Wolle und Tabak riechenden Beifahrer dorthin zu bef#246;rdern. Doch offenbar konnte er sich nicht dazu entschlie#223;en. Unbewusst identifizierte er sich nun so stark mit dem 1927er Imperia, dass er das Gef#252;hl hatte, dieser gewaltige, nasse alte Mann habe sich in der d#252;steren Heiligkeit seines ramponierten Sch#228;dels breit gemacht.

Wie mit einem Seufzer verfiel der Motor in einen geduldigen Leerlauf. Der Beifahrer schien Mr Panickers Bewegungslosigkeit und Schweigen als Bitte um Erkl#228;rung aufzufassen, was in gewisser Weise auch zutraf, dachte Mr Panicker.

»Die Zugverbindung ist ›unterbrochen‹«, sagte der alte Mann trocken. »Truppenbewegungen, nehme ich an. Zweifellos Verst#228;rkung f#252;r Mortain. Glaube, die K#228;mpfe dort sind festgefahren. Ich habe jedenfalls keine M#246;glichkeit, London heute noch per Eisenbahn zu erreichen, gleichwohl f#252;hle ich mich h#246;chst verpflichtet, dorthin zu fahren.«

Er sp#228;hte nach vorn, blickte in den Fu#223;raum zwischen seine schlammverkrusteten Stiefel, hochgeschn#252;rte, dickrippige alte Kommissstiefel, wie sie auf Khartoum und Bloemfontein marschiert waren. Mit einem St#246;hnen und einem Knirschen der Knochen, das Mr Panicker ziemlich alarmierend fand, beugte der alte Mann sich vor und hob die Brandyflasche sowie den kleinen Korkst#246;psel auf, der kurz nach Mr Panickers verstohlenem, aber nicht heimlichen Aufbruch im Pfarrhaus herausgesprungen und aus seinem Blickfeld gerollt war. Der alte Mann schnupperte am Flaschenhals, verzog das Gesicht und hob eine Augenbraue. Dann bot er die Flasche Mr Panicker mit derart undurchdringlicher Miene an, dass man nicht umhin konnte, den Spott darin zu vermerken.

Mr Panicker sch#252;ttelte tr#252;b den Kopf und bet#228;tigte die Schaltung. Der alte Mann dr#252;ckte den Stopfen zur#252;ck auf die Flasche. Dann brachen sie durch den Regen auf in Richtung Stadt.

Lange Zeit fuhren sie schweigend, und als Mr Panicker merkte, dass das Ma#223; seines Zorns abnahm und seine Trunkenheit nachlie#223;, versank er in einem Tief verbl#252;ffter Scham #252;ber sein j#252;ngstes Benehmen. Zuvorderst und in erster Linie war er immer ein Mann gewesen, dessen Taten und Ansichten von Gradlinigkeit, von einem bewussten Meiden aller #220;berraschungen gepr#228;gt waren. Diese Haltung als eine Kardinaltugend von erfolgreichen Pfarrern zu sch#228;tzen, hatte man ihm viele Jahre zuvor am Priesterseminar von Kottajam beigebracht. Das Schweigen, die tiefen, #228;ltlichen Seufzer und gelegentlichen Seitenblicke seines ungebetenen Beifahrers erschienen ihm wie das Vorspiel zu der unvermeidlichen Bitte um Erkl#228;rung.

»Ich nehme an, Sie fragen sich …«, begann er, die H#228;nde ums Lenkrad geklammert und vorn#252;bergebeugt, damit das Gesicht n#228;her an der Windschutzscheibe war.

»Ja?«

Er beschloss – die Idee tauchte, wie von einer listigen Hand geworfen, perfekt und gl#228;nzend in seinem Kopf auf –, dem alten Mann zu sagen, er sei auf dem Weg nach London, um dort an einer – v#246;llig frei erfundenen – Synode der anglikanischen Geistlichkeit von S#252;dostengland teilzunehmen. Das w#252;rde erkl#228;ren, warum neben den Dosen mit wertvollem Benzin auf der R#252;ckbank ein Handkoffer lag, der f#252;r eine Reise von zwei, drei Tagen gepackt war. Ja, eine Synode im Church House. Er w#252;rde im Crampton mit seinem guten Restaurant Quartier nehmen. Morgens w#252;rde es nachdenkliche Diskussionen #252;ber liturgische Fragen geben, gefolgt von einem Mittagessen. Am Nachmittag w#252;rde dann eine Reihe eher praktischer Seminare stattfinden, die sich der Aufgabe stellten, das Amt des Geistlichen in die Nachkriegszeit hin#252;berzuf#252;hren. Der ehrw#252;rdige Bischof Stackhouse-Hall, Archidiakon von Bromley, w#252;rde mit der ihm eigenen akademischen Jovialit#228;t die unerwarteten Spannungen ansprechen, die selbstredend in Familien zu erwarten waren, in denen man aus dem Krieg heimkehrende V#228;ter und Ehem#228;nner begr#252;#223;te. W#228;hrend Mr Panicker seine Ausrede dekorierte und auf Hochglanz polierte, wuchs ihre Anziehungskraft auf ihn, sodass ihn die Aussicht auf die Tagung schlie#223;lich sonderbar aufmunterte.

»Ich wei#223;, dass ich mich Ihnen in einer schwierigen Zeit aufgedr#228;ngt habe«, sagte der alte Mann.

Mit einer wehm#252;tigen Geste fegte Mr Panicker Konferenzsaal, Hotel, Restaurant und mehrere T#252;rmchen aus Streichholzschachteln vom Tisch seiner Phantasie. Er war ein ungl#228;ubiger Geistlicher mittleren Alters, betrunken und auf der Flucht vor den Tr#252;mmern seines Lebens.

»Oh, nein, ich …«, begann Mr Panicker, merkte dann aber, dass er nicht weitersprechen konnte, dass sich seine Kehle zusammenschn#252;rte und drohende Tr#228;nen in seinen Augen brannten. Wie Mr Panicker wohl wusste, gab es Zeiten, da war es schon eine Form schwachen Trostes, wenn jemand unseren Kummer auch nur erahnte.

»Es ist wirklich durchaus bemerkenswert, dass ich Ihnen heute Morgen buchst#228;blich #252;ber den Weg gelaufen bin. Denn das Anliegen, das mich nach London f#252;hrt, ist aufs Engste mit Ihrem Haushalt verbunden, Sir.«

Das war es also. Obwohl die Polizei seinen Sohn entlastet oder zumindest die Ermittlung im Mordfall dieses breitbeinig dasitzenden Handlungsreisenden f#252;r Zitzenkneifmaschinen eingestellt hatte, lag noch immer der Schatten des Zweifels auf Mr Panickers Bereitschaft zum Verbrechen. Die M#246;glichkeit, dass Reggie schuldig sein konnte, besch#228;mte Mr Panicker wie nahezu alles, was auf diese oder jene Art mit seinem Spr#246;ssling zu tun hatte. Diesmal aber war seine Scham von dem Wissen durchdrungen, dass der brutale Mord an Richard Shane auf der Stra#223;e hinter dem Pfarrhaus im Entwurf wie im Detail die heimlichen Tendenzen seiner dunkelsten Phantasien widerspiegelte. Als Detective Inspector Bellows in der vergangenen Woche vor der T#252;r gestanden hatte, war die eigentliche Bedeutung seines Besuchs unmissverst#228;ndlich gewesen, obgleich die Fragen von #228;u#223;erster Umsichtigkeit gezeugt hatten. Er selbst, Kumbhampoika Thomas Panicker, #246;ffentlicher Verfechter und lebendiges Symbol f#252;r Gottes G#252;te und Unbestechlichkeit, stand unter dem glaubhaften Verdacht, einen Mann get#246;tet zu haben – aus Eifersucht. Und Mr Panicker vermochte einfach nicht das Gef#252;hl abzusch#252;tteln, dass dieser Wunsch – diese Wut, die seine H#228;nde zittern lie#223;, sobald ein Wort von Shane das unglaubliche Wunder eines L#228;chelns auf dem Gesicht seiner Frau hervorgerufen hatte – irgendwie aus seinem Herz gekrochen war, wie ein Gas, und das bereits erkrankte Organ seines Sohnes verh#228;ngnisvoll vergiftet hatte.

»Ich hatte es so verstanden … Reggie … die Polizei sagte …«

Nun wurde ihm klar, dass der alte Mann ihm kurz zuvor beileibe nicht »#252;ber den Weg gelaufen« war. Er, Mr Panicker, war immer noch Gegenstand der Ermittlungen, und jetzt hatte die Polizei offensichtlich einen alten Veteranen aufgeboten, oder aber dieser #252;berspannte Trottel widmete sich, halb senil, selbst#228;ndig dem Fall.

»Erz#228;hlen Sie mal«, sagte der alte Mann, und der staatsanwaltliche Ton in seiner Stimme best#228;tigte s#228;mtliche #196;ngste von Mr Panicker. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Fremden in der N#228;he des Pfarrhauses gesehen oder sogar pers#246;nlich getroffen?«

»Fremde? Ich habe …«

»Zum Beispiel einen Burschen aus London, wohl eher ein #228;lterer Mann, vielleicht Jude. Nennt sich Black.«

»Dieser Vogelh#228;ndler«, sagte Mr Panicker. »Seine Karte wurde doch in Reggies Tasche gefunden.«

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass er Ihrem kleinen Untermieter Linus Steinman vor kurzem einen Besuch abgestattet hat.«

»Einen Besuch abgestattet?« Nat#252;rlich bekam der Junge #252;berhaupt keinen Besuch, abgesehen von Martin Kalb. »Nicht, soweit ich …«

»Wie ich von Anfang an vermutete, hatte Mr Black nat#252;rlich Kenntnis von Brunos Existenz und seinen bemerkenswerten F#228;higkeiten. Sein j#252;ngster Versuch direkter Kontaktaufnahme mit dem kleinen Steinman l#228;sst vermuten, dass Black keine Nachricht von seinen mutma#223;lichen Mittelsm#228;nnern erhalten hat und daher nichts vom Verschwinden des Vogels wusste. Vielleicht f#252;rchtete er tats#228;chlich, niemals eine solche Nachricht zu erhalten, und stattete dem Jungen einen heimlichen Besuch ab, um das Gesch#228;ft in die Wege zu leiten oder das Tier m#246;glicherweise selbst zu entwenden. Auf jeden Fall beabsichtige ich, Mr Joseph Black von der Club Row ein paar sehr direkte Fragen zu stellen. Sonst werde ich niemals eine endg#252;ltige Entscheidung #252;ber den Aufenthaltsort des Vogels treffen k#246;nnen.«

»Der Vogel«, wiederholte Mr Panicker und ging vom Gas. Sie n#228;herten sich East Grinstead, wo die Polizei einen Kontrollpunkt eingerichtet hatte; der Verkehr staute sich bereits. Also hatte der alte Mann Recht gehabt, als er vermutete, die milit#228;rischen Aktivit#228;ten n#228;hmen zu; die Sicherheitsvorkehrungen waren verst#228;rkt worden. »Sie suchen den Vogel.«

Der alte Mann sah ihn mit erhobener Augenbraue an, als sei etwas an Mr Panicker bedauerlich oder tadelnswert.

»Sie etwa nicht?«, sagte er. »Mir scheint, dass jeder, der die Aufgabe hat, in loco parentis zu handeln, das Verschwinden eines solch geliebten, bemerkenswerten Tieres …«

»Ja, ja, nat#252;rlich«, sagte Mr Panicker. »Wir sind alle sehr … der Junge war … untr#246;stlich.«

Tats#228;chlich war der Vogel in den zwei Wochen seit seinem Verschwinden in Mr Panickers Gedanken nur als gruselige Randfigur der blutr#252;nstigen, grausamen Szenen aufgetaucht, in denen gewaltsame Eifersucht und Rache die Hauptrolle spielten. Szenen, die Mr Panickers Phantasien w#228;hrend des kurzen Aufenthalts des verfluchten Mr Shane im Pfarrhaus gepr#228;gt hatten. Denn er war #252;berzeugt, dass Bruno, der Papagei, gestorben war, und zwar eines besonders schauerlichen, gewaltt#228;tigen Todes. Auch wenn das Tier, wie die Konsultation des »P«-Bandes der Encyclopedia Britannica dem Pfarrer verraten hatte, aus den tropischen Gefilden Afrikas stammte, war Bruno ein gez#228;hmter, kultivierter Hausvogel. In der freien Natur, in der Hand von R#252;peln, w#252;rde ihm sicherlich ein Leid geschehen. Mr Panicker stellte sich die starren Tinten#228;uglein des Vogels vor, wenn ihm der Hals umgedreht wurde, er sah, wie sein geschundener K#246;rper unter einem Flaum- und Federwirbel in einen M#252;lleimer oder in den Rinnstein geworfen wurde, sah, wie er von Wieseln in St#252;cke gerissen wurde oder sich in Telegrafendr#228;hten verstrickte. Angesichts der Tatsache, dass Mr Panicker den Vogel sehr sch#228;tzte, anders als den verstorbenen Dick Shane, den seine Phantasie #228;hnlichen Schicksalen #252;berantwortet hatte, verst#246;rte ihn ein wenig die Grausamkeit seiner Visionen. In dem Durcheinander der Mordermittlung, dem faulen Schwall von Nachbarschaftsklatsch und der letztendlich erreichten Synthese im lebenslangen Syllogismus von Entt#228;uschung, die seine Ehe mit Ginny Stallard darstellte, waren diese Ausbr#252;che blutgrellen ornithologischen Gemetzels die einzigen #220;bergriffe des Vogel-Falls auf sein Bewusstsein gewesen. Nun verschwendete Mr Panicker zum ersten Mal (und hier war sein Schamgef#252;hl st#228;rker und brennender als alles, das seine Ehe, sein Beruf oder die Ungezogenheit seines ungl#252;ckseligen Sohnes jemals in ihm hervorgerufen hatte oder haben k#246;nnte) einen Gedanken an diesen Jungen, der seinen einzigen Freund verloren hatte – ein kleiner, zerbrechlicher, ernst blickender, wortloser, Linus-Steinman-gro#223;er Gedanke.

»Im j#252;ngsten Durcheinander …«, kam ihm der alte Mann hilfreich entgegen. Und dann: »Zweifellos haben Ihre geistlichen Pflichten und Aufgaben …«

»Nein«, sagte Mr Panicker. Auf einmal war er n#252;chtern und ruhig, gleichzeitig #252;berrollte ihn eine absurde Welle der Dankbarkeit. »Nat#252;rlich nicht.«

Sie hatten den Kontrollpunkt erreicht. Zwei Polizisten in Uniform n#228;herten sich dem Imperia, auf jeder Seite einer. Mr Panicker kurbelte das Fenster herunter, wobei er – notwendigerweise – mit mehreren kurzen Zupfern an der Scheibenkante nachhalf.

»Guten Morgen, Sir. Darf ich den Grund Ihrer Reise nach London erfahren?«

»Den Grund?«

Mr Panicker sah den alten Mann an, der seinen Blick mit unbeirrter, humoriger Unbek#252;mmertheit erwiderte.

»Ja«, sagte Mr Panicker. »#196;hm, ja. Nun, wir wollen, hm, einen Papagei suchen, nicht wahr?«

Ihrem Nachnamen unselig unterworfen, litt Mr Panickers Gattin an Gephyrophobie, der krankhaften Angst, Br#252;cken zu #252;berqueren. Wenn ein Auto, ein Bus oder ein Zug, in dem sie sa#223;, #252;ber dem Tamar, dem Avon oder der Themse hing, sank sie tief in ihren Sitz, schloss die Augen, atmete in kurzen, pfeifenden St#246;#223;en durch die Nase und blieb mit dem randvollen Kelch ihrer Angst in den H#228;nden vollkommen reglos sitzen, so als wage sie nicht, einen Tropfen zu versch#252;tten. Als Mr Panicker durch Croydon fuhr, schien die #252;bereilte, willk#252;rliche Zusammenballung der Stadt ringsherum eine #228;hnliche phobische Unruhe in dem alten Mann auszul#246;sen. Wie der Atem durch seine Nase rasselte, wie seine wei#223;en Fingerkn#246;chel die stieligen Knie umklammerten, wie die Streben seines ausgezehrten Halses hervortraten – in all diesen Symptomen erkannte Mr Panicker die Anzeichen einer nicht zu bew#228;ltigenden Angst. Doch als sie nach London hineinfuhren, blieben die Augen des alten Mannes, anders als die von Mrs Panicker, wenn sie sich inmitten der Br#252;ckenbogen gefangen wusste, sperrangelweit ge#246;ffnet. Er war ein Mann, der den Dingen ins Auge sah, auch wenn sie ihm, wie jetzt, erkennbar Angst machten.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Eine geschlagene Minute lang gab der alte Mann keine Antwort, sondern starrte aus dem Seitenfenster und sah die Stra#223;en S#252;dlondons vorbeigleiten.

»Dreiundzwanzig Jahre«, kr#228;chzte er. »Am 14. August 1921.« Er zog ein Taschentuch aus der Innentasche, wischte sich #252;ber die Stirn, betupfte seine Mundwinkel. »Ein Sonntag.«

Seinem letzten Blick auf London ein Datum und einen Wochentag zuordnen zu k#246;nnen schien das Gleichgewicht des alten Mannes in gewisser Weise wieder herzustellen.

»Ich wei#223; nicht, was ich … wie dumm. Man hat doch so ausgiebig #252;ber den von Bomben und Br#228;nden angerichteten Schaden gelesen. Ich war auf Tr#252;mmer vorbereitet. Ich gestehe sogar, einfach aus einer Art, nun, seien wir nachsichtig und nennen es ›wissenschaftlicher Neugier‹ heraus, bis zu einem gewissen Grad gehofft zu haben, wissen Sie, diese gro#223;artige Stadt in qualmenden Tr#252;mmern am Ufer der Themse liegen zu sehen. Aber das hier ist …«

Das angemessene Adjektiv entzog sich ihm. Sie hatten den Fluss inzwischen #252;berquert und fanden sich zwischen zwei hohen roten Stra#223;enbahnen gefangen, die neben ihnen aufragten. Mit inquisitorischer Gleichg#252;ltigkeit starrten Gesichter auf sie hinab. Dann trennten sich die Bahnen und fuhren nach Osten beziehungsweise Westen, und als habe sich ein Schleusentor ge#246;ffnet, brach die Flut der Londoner Innenstadt #252;ber sie herein. Man hatte die Stadt beschossen, man hatte sie in Brand gesetzt, aber man hatte sie nicht vernichtet, und jetzt sandte sie Triebe und Ranken eines sonderbaren neuen Lebens aus. Was Mr Panicker am st#228;rksten beeindruckte, und zwar schon das ganze Jahr #252;ber, bis zum 6. Juni, war die erstaunliche Amerikanisierung von London: amerikanische Flieger und Matrosen, Offiziere und Fu#223;soldaten, amerikanische Milit#228;rfahrzeuge in den Stra#223;en, amerikanische Filme in den Kinos, dazu die l#228;rmige Atmosph#228;re ordin#228;rer Gro#223;tuerei, der Geruch von Haarwasser, die Kakophonie lang gezogener Vokale, was, wie Mr Panicker bereit war zuzugeben, ausschlie#223;lich das Produkt seiner Phantasie sein mochte, die Stadt f#252;r ihn jedoch auf eine Weise beseelte, die er gleichzeitig erschreckend und unwiderstehlich fand, eine Stimmung z#252;gelloser, brutaler guter Laune, als sei die Invasion Europas, die sich nun in blutigen Phasen #252;ber Nordfrankreich zog, lediglich die unvermeidliche Folge von um sich greifendem l#228;ssigen Slang und unbeherrschbarer Tanzlust.

»Das ist neu«, sagte der alte Mann immer wieder und wies mit steifem Finger auf ein B#252;rogeb#228;ude oder Mietshaus. »Das war vorher nicht da.« Und als sie an dem d#252;steren Koloss eines weiteren ausgebombten H#228;userblocks vorbeifuhren, hier und dort noch geschm#252;ckt mit Flatterb#228;ndern grauen Qualms, lediglich: »G#252;tiger Gott.«

Je tiefer sie in die Ver#228;nderungen eintauchten, die Bauarbeiter und deutsche Bomben seit jenem Sonntagnachmittag im Jahr 1921 in London herbeigef#252;hrt hatten, desto mehr wurde seine Stimme zu einem rauen, entsetzten Fl#252;stern. Mr Panicker stellte sich vor – und er hatte eine gewaltige, donnernde Phantasie –, dass der alte Mann gerade (ziemlich sp#228;t, fand der Pfarrer) eine Art Vorgeschmack auf die Natur des Todes oder eine Demonstration derselben erhielt. Er hatte offenbar erwartet, dass die Stadt, in der er einst sein stilles Zepter geschwungen hatte, sich w#228;hrend seiner langen Abwesenheit nicht mehr ver#228;nderte, sondern irgendwie aufh#246;rte zu existieren, wie die Welt, wenn wir aus ihr scheiden. Nach uns der Blitzkrieg! Und jetzt wurde er hier nicht nur mit dem Fortbestand der Stadt konfrontiert, sondern inmitten qualmender Berge von Ziegelsteinen und zersplitterter Fensterscheiben mit ihrem ununterdr#252;ckbaren, unmenschlichen Expansionsdrang.

»Asche«, sagte der alte Mann staunend, als sie ein gro#223;es neues Gel#228;nde mit von Mr Churchill errichteten Notunterk#252;nften passierten. Es glich einem riesengro#223;en gepfl#252;gten Schrebergarten, in dem eine Reihe Blechh#228;uschen neben der anderen aus dem Boden spross. »Ich hatte gedacht, ich w#252;rde nichts als Ru#223; und Asche sehen.«

Sie fuhren an den geschw#228;rzten B#246;gen des Bishopsgate Goodsyard vorbei. Am Arnold Circus, einer Stra#223;e, die erkennbar den Einschlag einer deutschen SC erlitten hatte, stiegen sie neben einem s#228;uberlichen Berg von Pflastersteinen aus dem Auto, die vor der Explosion gerettet worden waren und auf ihre Verlegung warteten. Dann bogen sie zu Fu#223; um die Ecke in die Club Row. Ge#252;bt, beinahe gebieterisch reichte Mr Panicker dem #196;lteren einen st#252;tzenden Arm, aber der alte Mann wehrte auch diesen Versuch ab, hatte sich sogar geweigert, sich vom Pfarrer aus dem beengten Innenraum des Autos helfen zu lassen. Sobald er sozusagen wieder festen Boden unter den F#252;#223;en hatte – sobald die Jagd begann, wie Mr Panicker nicht umhin konnte, ein wenig romantisch zu denken –, schien der Alte die phobische Best#252;rzung der Reise abzusch#252;tteln. Er hielt das Kinn hochgereckt und umfasste den Knauf seines Stocks, als w#252;rde er jeden Moment ausholen und ihn den Tunichtguten wohlverdient auf den Sch#228;del schlagen. Als sie in die Club Row einbogen, geriet Mr Panicker tats#228;chlich in Bedr#228;ngnis, mit den langen, schiefen Flatterschritten des alten Mannes mitzuhalten.

Club Row hatte sich, wenn #252;berhaupt, seit August 1921 nur sehr wenig ver#228;ndert – allerdings auch nicht sehr seit August 1901 oder 1881, vermutete Mr Panicker. Eine l#228;ngst vergessene Angelegenheit hatte ihn an einem viele Jahre zur#252;ckliegenden Sonntagmorgen hierher gef#252;hrt. Er erinnerte sich, dass die Stra#223;e durch die scheu#223;liche Fr#246;hlichkeit, die oft #252;ber Zoos und Menagerien lag, seelenlos lebendig gewirkt hatte, dass die Schreie der Vogelh#228;ndler, Welpenverk#228;ufer und Katzenkr#228;mer sich vermischten und eine schaurige, verst#246;rende Echolalie schufen, die das Gekreische ihrer eingesperrten, glotzenden Handelsware verspottete und zugleich von ihr verspottet wurde. Obwohl ihm im Vorbeigehen vollkommen klar gewesen war, dass die Loris und Wellensittiche, die Spaniels und Tigerkatzen, selbst das ein oder andere wachsame wieselartige Wesen als Haustiere verkauft und erworben w#252;rden, hatte Mr Panicker bei jenem vergessenen Botengang in der Club Row sich des Eindrucks nicht erwehren k#246;nnen, dass er eine Stra#223;e der Verdammten entlangging und all dieses traurige, gefangene Tierfleisch ausschlie#223;lich zur Schlachtung bestimmt sei.

An diesem Tage jedoch war es still in der Club Row, sie wurde lediglich durch den Abfall und das schwache, unsichtbare Rinnsteintr#246;pfeln des Montags nach dem Markttag belebt: zerrissenes Einwickelpapier, fettige Zeitungsfetzen, verdrehte Lumpen, festgebackenes S#228;gemehl in Pf#252;tzen, #252;ber deren Herkunft Mr Panicker lieber nicht spekulieren wollte; die Marktst#228;nde und Gesch#228;fte dunkel hinter ihren Vorh#228;ngen aus streng gegliederten Stangen und mit Schl#246;ssern verh#228;ngten Eisengittern. #220;ber den Schaufenstern dr#228;ngten sich die niedrigen, verrufenen H#228;user in dicht geschlossenen Reihen wie zusammengetriebene Verd#228;chtige, die sich bem#252;hten, kollektiv unschuldig zu wirken, w#228;hrend ihre Backsteingesimse sich kaum wahrnehmbar vorbeugten, um vorbeikommenden Opfern in die Brusttasche zu sp#228;hen. Es war ein einzigartig deprimierender Anblick oder h#228;tte es jedenfalls sein sollen. Doch der Schwung, der energische Schritt des alten Mannes und die Art, wie er seinen schweren Stock mit der Geste eines Tambourmajors schwang, vermittelten Mr Panicker einen schwindelnden, #252;berraschenden Optimismus. Auf dem Weg hinunter zur Bethnal Green Road hatte er zunehmend das Gef#252;hl – ein Gef#252;hl, das seine obskuren Wurzeln in dem verlorenen Marktmorgen hatte, als er zwischen den quirligen St#228;nden der Tierh#228;ndler einhergegangen war –, dass sie ins Herz eines ureigenen Londoner Geheimnisses oder vielleicht des Lebens selbst vorstie#223;en und dass er an der Seite dieses einzigartigen alten Herrn, von dessen Herrschaft #252;ber das Geheimnis einst an so fernen Orten wie Kerala gesprochen worden war, nun endlich Erhellung #252;ber das herzzerbrechende Werken der Welt erhalten mochte.

»Hier«, sagte der alte Mann mit einem seitlichen Hieb seines Stocks. Der Knauf schlug gegen ein kleines Lackschild, mit verrosteten Schrauben im Ziegelstein von Hausnummer 122 befestigt. Es trug die Aufschrift BLACK, darunter in kleineren Buchstaben: SELTENE UND EXOTISCHE V#214;GEL. Ein Gitter war vor den Eingang gezogen, doch konnte Mr Panicker durch das getr#252;bte Fenster die asiatisch anmutenden Umrisse von pagodenartigen Vogelbauern und m#246;glicherweise sogar das Geflatter einer Fl#252;gel- oder Schwanzfeder ausmachen, geisterhaft wie ein Lufthauch im Staub. Schwach drang ein munteres Pfeifen durch Dunkelheit, Glasscheibe und Fensterl#228;den, wurde lauter und verkomplizierte sich, noch w#228;hrend sich seine Ohren daran gew#246;hnten. Offenbar hatte der alte Mann mit seinem Pochen die Bewohner von Blacks Gesch#228;ft aufgeschreckt.

»Keiner da«, sagte Mr Panicker und presste die Stirn gegen den morgendlich kalten Stahl des Gitters. »Wir h#228;tten nicht am Montag kommen sollen.«

Der alte Mann hob den Stock und schlug mit bestialischem Frohlocken gegen die St#228;be, immer wieder, seine Augen leuchteten ob des st#228;hlernen Schepperns und Klirrens. Als er aufh#246;rte, hatte sich die Bev#246;lkerung des Gesch#228;fts in einen H#246;llenl#228;rm gesteigert oder war hineingesteigert worden. Der alte Mann stand da, den Stock hochgereckt, mit bebender Brust und einem Speicheltropfen auf der Wange. Das Get#246;se des Zornausbruchs verhallte und erstarb. Das Licht schwand aus seinen Augen.

»Ein Montag«, sagte er traurig. »Daran h#228;tte ich denken m#252;ssen.«

»Sie h#228;tten besser vorher angerufen«, sagte Mr Panicker, »und einen Termin mit diesem Black vereinbart.«

»Zweifellos«, sagte der alte Mann. Er setzte seinen Stock auf den B#252;rgersteig und st#252;tzte sich schwer darauf. »In der Eile habe ich …« Mit dem Handr#252;cken wischte er sich #252;ber die Wange. »Derlei praktische Erw#228;gungen scheinen nicht mehr meine …« Er schwankte, und Mr Panicker ergriff seinen Arm, und diesmal vermochte der alte Mann ihn nicht abzusch#252;tteln. Wie blind starrten seine Augen auf die schweigende Fassade des Gesch#228;fts, im Gesicht nur noch ein Anflug #228;ltlicher Unruhe.

»Schon gut«, murmelte Mr Panicker und versuchte, die Schwere seiner eigenen Entt#228;uschung #252;ber ihre unerwartet fehlgeschlagene Mission zu ignorieren oder zu verbergen. Begonnen hatte er den Tag schlaflos, betrunken und mit Gr#252;beleien #252;ber das ausgebombte Geh#228;use seines Erwachsenenlebens. Seine leere Ehe, sein nichtsnutziger Sohn, die Verfinsterung seines beruflichen Ehrgeizes, das waren die geborstenen Fensterscheiben, die verbrannten Tapeten, die umgeworfenen Polstersessel seines Ruins; und #252;ber allem lag wie ein Schneefall aus Asche, #252;ber allem hing wie eine nicht zu vertreibende Rauchglocke, tief unter mehreren verkohlten Schichten bis auf den nackten Fels hinunter, lag das Wissen um seine Gottlosigkeit, um seinen Zweifel und Unglauben, um die Entfernung zwischen seinem Herzen und dem von Jesus Christus. Ein kleiner Blitzangriff, f#252;r niemanden von Bedeutung; die fallende Bombe – wie alle Bomben etwas Zuf#228;lliges, Gedankenloses –, Ankunft und Ermordung von Mr Richard Shane. Im Moment des Auftreffens war das ganze verfaulte Bauwerk zusammengebrochen, und es war, als ob die Scharen der im Mauerwerk lebenden Ratten – so hatte es Mr Panicker in Zeitungsberichten #252;ber den Blitz gelesen – in der ihnen eigenen boshaften Pose aufgeschreckt und gebannt worden seien, ehe ihre K#246;rper in einem Ekel erregenden grauen Rattenregen zu Boden fielen. Doch wie man ebenfalls hatte lesen k#246;nnen, war durch derartige Ersch#252;tterungen von Zeit zu Zeit das Schimmern eines seltenen, unerwarteten Schatzes entdeckt worden. Rares, Zerbrechliches, das immer schon da gewesen war, jedoch ungeahnt, unbemerkt. Als der alte Mann an diesem Morgen auf der Stra#223;e nach London mit seinem Umhang aus Wolle und Regen in Mr Panickers Wagen gest#252;rmt war, hatte der Pfarrer den Eindruck gehabt, als sei ihm dadurch Linus Steinman, der beraubte, freundlose Junge, offenbart worden, wie er winzig und allein inmitten eines Berges grauer Asche stand, die Augen sehns#252;chtig gen Himmel gerichtet. Mr Panicker war nicht so hoffnungsfroh oder so n#228;rrisch, als dass er sich eingebildet h#228;tte, den vermissten Papagei eines Fl#252;chtlingskindes wiederzufinden w#252;rde seinem Leben aufs Neue Sinn und Bedeutung verleihen. Aber er h#228;tte sich schon mit sehr viel weniger zufrieden gegeben.

»Vielleicht k#246;nnen wir an einem anderen Tag wiederkommen. Morgen. Wir k#246;nnten in einem Hotel #252;bernachten. Ich kenne da ein ganz anst#228;ndiges kleines Haus.«

Abrupt erwachte Mr Panickers alter Traum vom Crampton Hotel mit seinem wirklich hervorragenden Fr#252;hst#252;ck wieder zum Leben, verlockend und deutlich. Nur bestand nun anstelle von Seminaren und Vortr#228;gen, die man sich selbst bei lebhaftester Phantasie nur als unendlich #246;de Wiederholungen vorstellen konnte, an der Seite dieses verr#252;ckten alten Imkers die unwahrscheinliche M#246;glichkeit eines Abenteuers, umso wunderbarer ob seiner Unwahrscheinlichkeit. Auf eine Weise, die zu erkl#228;ren oder mit Beispielen zu belegen Mr Panicker in die Bredouille gebracht h#228;tte, schien der Alte eine solche M#246;glichkeit nicht nur zu generieren oder herauszufordern, sondern unausgesprochen einen Verb#252;ndeten f#252;r dieses Unternehmen zu ben#246;tigen. Mehr als das Gef#252;hl, auf einer uneigenn#252;tzigen Mission zu sein und durch das Auffinden eines verlorenen Haustiers erl#246;st werden zu k#246;nnen, war es diese M#246;glichkeit, f#252;r deren Erhalt Mr Panicker sich nun pl#246;tzlich vehement einsetzte. Denn was hatte ihn, einen schlaksigen, barf#252;#223;igen Landjungen aus Kerala, letztendlich f#252;r das Leben eines Dieners der Kirche von England eingenommen? Nat#252;rlich war es darum gegangen – das hatte er in den letzten vierzig Jahren unabl#228;ssig wiederholt, bis zum #220;berdruss und zur Sinnentstellung –, einem Ruf zu folgen. Jedoch kam ihm erst jetzt der Gedanke, dass der Ruf weder, wie er einst angenommen hatte, g#246;ttlicher oder mystischer Natur war noch, wie er sp#228;ter verbittert entschieden hatte, ein emotionales Trugbild. Wie viele schlichte, schuhlose junge M#228;nner, fragte er sich, machten sich auf die Suche nach dem Abenteuer und glaubten dabei von ganzem Herzen, dem Ruf Gottes zu folgen?

»Kommen Sie!«, sagte Mr Panicker. »Warten Sie hier! Ich hole den Wagen. Wir nehmen uns zwei Zimmer im Crampton und leiten ein Treffen mit diesem Black in die Wege – wir werden ihm eine richtige Falle stellen!«

Langsam nickte der alte Mann, sein Gesichtsausdruck abwesend, die Augen glanzlos, er vernahm die Worte kaum. Infolge seiner kurzen Verwirrung und Best#252;rzung schien sich eine schwere Melancholie auf ihn gelegt zu haben. Sie stand im v#246;lligen Gegensatz zu dem Eifer und dem unverw#252;stlichen Tatendrang, das Spiel weiter zu verfolgen, den Mr Panicker nun an den Tag legte. Er lief bis zur Boundary Street, sprang in den Imperia und fuhr eilig zur#252;ck, um seinen Mit-Abenteurer abzuholen. Doch selbst als er sich Blacks Gesch#228;ft n#228;herte, bewegte sich der Alte nicht. Vorn#252;bergebeugt stand er da, schwankend auf den Stock gest#252;tzt, in exakt derselben Haltung, in der Mr Panicker ihn zur#252;ckgelassen hatte. Er hielt am Bordstein an und zog die Handbremse. Der alte Mann starrte auf seine riesigen Stiefel hinunter. Nach einer Weile dr#252;ckte Mr Panicker auf die Hupe, einmal, zweimal. Langsam hob der alte Mann den Kopf und sp#228;hte zum Beifahrerfenster, als habe er keine Vorstellung, wen er dahinter zu finden erwartete. Doch kurz bevor Mr Panicker sich hin#252;berlehnte, um die Scheibe herunterzukurbeln, #228;nderte sich der Gesichtsausdruck des alten Mannes. Er hob eine Braue, seine Augen verengten sich listig, und ein langes, d#252;nnes L#228;cheln verzog seine Mundwinkel.

»Nein, Sie Dummkopf!«, rief er, als Mr Panicker die Fensterscheibe senkte. »Kurbeln Sie sie wieder hoch!«

Mr Panicker gehorchte, und als er das tat, wurde das Grinsen im Gesicht des Alten auf wundervollste Weise immer breiter und gedehnter, und er sagte etwas, das Mr Panicker nicht verstand. Eine geschlagene Minute lang studierte der alte Mann die Fensterscheibe – m#246;glicherweise musterte er sein eigenes Spiegelbild, #252;berlegte Mr Panicker – und sprach l#228;chelnd geheimnisvolle Worte vor sich hin. Selbst als er neben Mr Panicker ins Auto gestiegen war und die Worte laut wiederholte, war der Geistliche ratlos.

»Leg of red!«, wiederholte der alte Mann. »Wie immer, haha, ein Fall von Spiegelung! Leg of red!«

»Ent… Entschuldigung, Sir. Ich verstehe nicht …«

»Rasch! Was ist das Hauptmerkmal, wenn der kleine Steinman etwas in sein Notizbuch kritzelt?«

»Nun, er hat die sonderbare Eigenart, die W#246;rter umzudrehen. Spiegelschrift. Wie der Doktor sagt, hat es offenbar irgendwie mit seiner Unf#228;higkeit zum Sprechen zu tun. Zweifellos irgendein Trauma. Und dann habe ich festgestellt, dass seine Rechtschreibung gr#228;sslich ist.«

»Ja! Und als er in einem j#228;mmerlichen Hilfsgesuch, wie ich nun erkenne, die W#246;rter ›leg of red‹ auf ein St#252;ck Papier schrieb, demonstrierte er vorbildlich beide Eigenschaften.«

»Leg of red«, versuchte es Mr Panicker und projizierte die Buchstaben r#252;ckw#228;rts auf eine innere Leinwand. »Der … Fo … gel.« Aha. »Der Vogel. Er hat nach dem Vogel gefragt. Nat#252;rlich.«

»Ja. Und jetzt sagen Sie mir bitte, was er auf die andere Seite des Zettels geschrieben hat.«

»Was f#252;r ein Zettel?«

Der alte Mann dr#252;ckte ihm ein St#252;ck Papier in die H#228;nde.

»Auf diesen Zettel – auf dem ein junger, erwachsener Mann mit kontinentaler Handschrift die Adresse eben jenes Unternehmens vermerkt hat, vor dem wir jetzt stehen. Und der, wie ich f#228;lschlicherweise schloss, vom Besitzer selbst fallen gelassen wurde.«

»Blak«, las Mr Panicker. Und dann, nach der R#252;ckprojektion: »G#252;tiger Gott.«