"Die Morgenlandfahrt" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)IIIIch habe, seit ich das vorige schrieb, mein Vorhaben nochmals und abermals in Gedanken umkreist und ihm beizukommen versucht. Eine Lösung habe ich nicht gefunden, ich stehe noch immer dem Chaos gegenüber. Aber ich habe mir das Wort gegeben, nicht nachzulassen, und im Augenblick, da ich dies Gelübde ablegte, überflog mich wie ein Sonnenstrahl eine glückliche Erinnerung. Ähnlich nämlich, so fiel mir ein, ganz ähnlich wie jetzt empfand ich damals in meinem Herzen, als wir unsere Heerfahrt angetreten haben: auch da unternahmen wir etwas anscheinend Unmögliches, auch da gingen wir scheinbar im Dunkel und richtungslos und hatten nicht die mindeste Aussicht, und doch strahlte in unsern Herzen, stärker als jede Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit, der Glaube an den Sinn und die Notwendigkeit unsres Tuns. Wie ein Schauer lief mir der Nachklang jener Empfindung übers Herz, und für den Augenblick dieses seligen Schauers war alles erhellt, schien alles wieder möglich. Mag es nun gehen, wie es wolle: ich habe beschlossen, meinen Willen durchzusetzen. Auch wenn ich meine unerzählbare Geschichte zehnmal, hundertmal von vorn beginnen muß und immer an denselben Abgrund gerate, ich werde eben hundertmal neu beginnen; ich werde, wenn ich schon die Bilder nicht wieder in ein sinnvolles Ganze bringe, jedes einzelne Bildbruchstück so treu wie möglich festhalten. Und ich werde, soweit dies heute noch irgend möglich ist, dabei des ersten Grundsatzes unsrer großen Zeit eingedenk sein niemals zu rechnen, niemals mich durch Vernunftgründe verblüffen zu lassen, stets den Glauben stärker zu wissen als die sogenannte Wirklichkeit. Einen Versuch, das muß ich freilich bekennen, habe ich inzwischen gemacht, meinem Ziel auf praktische und vernünftige Art näherzukommen. Ich habe einen Jugendfreund aufgesucht, der hie r in der Stadt lebt und eine Zeitung redigiert, er heißt Lukas; er hat den Weltkrieg mitgemacht und ein Buch darüber verfaßt, das viel gelesen wird. Lukas empfing mich freundlich, ja er hatte sichtlich einp Freude daran, einen einstigen Schulkameraden wiederzusehen. Ich habe zwei längere Unterredungen mit ihm gehabt. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, um was es mir gehe. Ich verschmähte dabei alle Umwege. Offen sagte ich ihm, ich sei einer der Teilnehmer an jener großen Unternehmung, von welcher ja auch er gehört haben müsse, an der sogenannten „Morgenlandfahrt“ oder dem Bundesheerzug, oder wie immer die große Sache damals in der Öffentlichkeit bezeichnet werden mochte. O ja, lächelte er mit freundlicher Ironie, gewiß erinnere er sich dieser Sache, in seinem Freundeskreise nenne man jene eigentümliche Episode, vielleicht ein wenig allzu respektlos, meistens den „Kinderkreuzzug “. Man habe in seinen Kreisen diese Bewegung nicht ganz ernst genommen, man habe sie etwa einer theosophischen Bewegung oder irgendeiner Völkerverbrüderungsunternehmung gleichgestellt, immerhin sei man über einzelne Erfolge unsrer Unternehmung sehr erstaunt gewesen, man habe mit Ergriffenheit von der todesmutigen Durchquerung Oberschwabens, von dem Triumph in Bremgarten, von der Übergabe des Tessiner Montags-Dorfes gelesen und habe zeitweise den Gedanken erwogen, ob die Bewegung sich nicht in den Dienst einer republikanischen Politik möchte abbiegen lassen. Dann allerdings sei die Sache ja anscheinend im Sande verlaufen, mehrere der einstigen Führer hätten sie verlassen, ja sich ihrer irgendwie geschämt und nicht mehr erinnern wollen, die Nachrichten seien immer spärlicher geflossen und hätten einander immer wunderlicher widersprochen, und so sei das Ganze eben ad acta gelegt und vergessen worden wie so manche politische, religiöse oder künstlerische exzentrische Bewegung jener Nachkriegsjahre. Damals sei ja so mancher Prophet erstanden, so manche geheime Gesellschaft mit messianischen Hoffnungen und Ansprüchen erschienen und dann wieder spurlos untergesunken. Gut, sein Standpunkt war klar, es war der Standpunkt einer wohlwollenden Skepsis. Ähnlich wie Lukas mochten über den Bund und die Morgenlandfahrt alle jene denken, die zwar von seiner Geschichte gehört hatten, am Erlebnis selbst aber nicht beteiligt waren. Es lag mir nichts daran, Lukas bekehren zu wollen, doch gab ich ihm immerhin einige korrigierende Auskünfte, zum Beispiel daß unser Bund keineswegs eine Erscheinung der Nachkriegsjahre ist, sondern durch die ganze Weltgeschichte in einer zwar manchmal unterirdischen, nie aber unterbrochnen Linie läuft, daß auch gewisse Phasen des Weltkrieges nichts andres gewesen sind als Etappen unsrer Bundesgeschichte, ferner daß Zoroaster, Lao Tse, Platon, Xenophon, Pythagoras, Albertus Magnus, Don Quixote, Tristram Shandy, Novalis, Baudelaire Mitbegründer und Brüder unsres Bundes gewesen sind. Er lächelte dazu genau das Lächeln, das ich erwartet hatte. „Schön“, sagte ich, „ich bin nicht gekommen, um Sie zu belehren, sondern um bei Ihnen zu lernen. Es ist mein sehnlichstes Verlangen, nicht etwa eine Geschichte des Bundes zu schreiben (dazu wäre auch ein ganzes Heer von wohlausgerüsteten Gelehrten nicht imstande), wohl aber ganz schlicht die Geschichte unsrer Reise zu erzählen. Es will mir aber durchaus nicht gelingen, auch nur an die Sache heranzukommen. Es liegt nicht an der literarischen Fähigkeit, diese glaube ich zu besitzen, bin übrigens hierin ohne allen Ehrgeiz. Nein, es handelt sich um folgendes: Die Wirklichkeit, welche ich samt meinen Kameraden einst erlebt habe, ist nicht mehr vorhanden, und obwohl die Erinnerungen daran das Wertvollste und Lebendigste sind, was ich besitze, scheinen sie doch so fern, sind so sehr aus einem anderen Stoff, als wären sie auf anderen Sternen in anderen Jahrtausenden geschehen, oder als wären sie Fieberträume gewesen.“ „Das kenne ich!“ rief Lukas lebhaft, jetzt erst begann unser Gespräch ihn zu interessieren. „O wie gut kenne ich das! Sehen Sie, genau ebenso ist es mir mit dem Erlebnis des Krieges gegangen. Ich glaubte ihn gut und scharf erlebt zu haben, ich war zum Bersten voll von Bildern, die Filmrolle in meinem Gehirn schien tausend Kilometer lang zu sein — aber als ich am Schreibtisch saß, auf einem Stuhl, an einem Tisch, unter einem Dach, eine Feder in der Hand, da waren die wegrasierten Dörfer und Wälder, das Erdbebenzittern im Trommelfeuer, das Geknäuel von Dreck und Größe, von Angst und Heldentum, von zerfetzten Bäuchen und Köpfen, von Todesfurcht und Galgenhumor — da war das alles ganz unsäglich weit fort, war nur geträumt, hatte zu nichts Beziehung und war nirgends zu fassen. Sie wissen, daß ich schließlich trotzdem mein Kriegsbuch geschrieben habe und daß es jetzt viel gelesen und besprochen wird. Aber sehen Sie: ich glaube nicht daran, daß zehn solche Bücher, jedes zehnmal besser und eindringlicher als das meine, dem wohlmeinendsten Leser irgendeine Vorstellung vom Kriege geben können, wenn der Leser den Krieg nicht selber erlebt hat. Und es sind nicht so sehr viele, die ihn erlebt haben. Auch von denen, die ihn ›mitgemacht‹ haben, haben längst nicht alle ihn erlebt. Und selbst wenn viele ihn wirklich erlebt haben sollten — sie haben ihn dann eben wieder vergessen. Vielleicht hat der Mensch nächst dem Hunger nach Erlebnis keinen stärkeren Hunger als den nach Vergessen.“ Er schwieg und sah versponnen und versunken aus, seine Worte hatten mir eigene Erfahrungen und Gedanken bestätigt. Vorsichtig fragte ich nach einer Weile: „Aber wie war es Ihnen trotzdem möglich, das Buch zu schreiben?“ Er besann sich einen Augenblick, aus Gedanken zurückkehrend. „Es war mir bloß darum möglieh “, sagte er, „weil es notwendig war. Ich mußte entweder das Buch schreiben oder verzweifeln, es war die einzige Möglichkeit meiner Rettung vor dem Nichts, vor dem Chaos, vor dem Selbstmord. Unter diesem Druck ist das Buch geschrieben, und es hat mir die erwartete Rettung gebracht, einfach weil es geschrieben ist, einerlei wie gut oder wie schlecht. Das war das eine, die Hauptsache. Und dann: beim Schreiben durfte ich nicht einen Augenblick an andere Leser denken als an mich selber oder höchstens hie und da an einen nahen Kriegskameraden, und zwar dachte ich dann nie an Überlebende, sondern immer an solche, die im Krieg umgekommen waren. Ich war während des Schreibens ein Fieberkranker oder Irrsinniger, umgeben von drei, vier Toten mit verstümmelten Leibern — so ist das Buch entstanden.“ Und plötzlich sagte er — es war der Schluß unsrer ersten Unterredung: „Entschuldigen Sie, ich kann nicht mehr darüber sagen. Nein, kein Wort, kein einziges Wort. Ich kann nicht, ich will nicht. Auf Wiedersehen!“ Er schob mich hinaus. Bei der zweiten Zusammenkunft war er wieder ruhig und kühl, hatte wieder das leicht ironische Lächeln und schien doch mein Anliegen ernst zu nehmen und recht gut zu begreifen. Er gab mir einige wenige Ratschläge, die mir auch ein klein wenig genützt haben. Und am Ende dieser zweiten und letzten Unterredung sagte er wie nebenbei: „Hören Sie, Sie kommen immer und immer wieder auf die Episode mit jenem Diener Leo zurück, das gefällt mir nicht, dort scheint eine Klippe für Sie zu liegen. Machen Sie sich frei, werfen Sie Leo über Bord, er scheint eine fixe Idee werden zu wollen.“ Ich wollte erwidern, daß man ohne fixe Ideen keine Bücher schreiben könne, aber er hörte nicht auf mich. Statt dessen erschreckte er mich mit der ganz unerwarteten Frage: „Hieß er denn wirklich Leo?“ Mir stand der Schweiß auf der Stirn. „Aber ja“, sagte ich, „gewiß hieß er Leo.“ „Mit Vornamen?“ Ich stutzte. „Nein, mit Vornamen hieß er — er hieß — ich weiß nicht mehr, ich habe es vergessen. Leo war sein Geschlechtsname, wir alle nannten ihn nie anders.“ Während ich noch sprach, hatte Lukas ein dickes Buch von seinem Schreibtisch gegriffen und blätterte darin. Mit fabelhafter Schnelligkeit hatte er gefunden und hielt den Finger auf eine Stelle der aufgeschlagenen Buchseite gedrückt. Es war ein Adreßbuch, und da, wo sein Finger auflag, stand der Name Leo. „Sehen Sie“, lachte er, „da haben wir schon einen Leo. Leo, Andreas, Seilergraben 69 a. Der Name ist selten, vielleicht weiß der Mann etwas über Ihren Leo. Gehen Sie zu ihm, er kann Ihnen vielleicht das sagen, was Sie brauchen. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Meine Zeit ist knapp, entschuldigen Sie, es hat mich sehr gefreut.“ Ich taumelte vor Verblüfftheit und Erregung, als ich seine Tür hinter mir zumachte. Er hatte recht, ich hatte nichts mehr bei ihm zu suchen. Noch am selben Tage ging ich in den Seilergraben, suchte das Haus und erkundigte mich nach Herrn Andreas Leo. Er bewohnte ein Zimmer im dritten Stockwerk, abends und am Sonntag sei er manchmal zu Hause, tagsüber gehe er auf Arbeit. Ich fragte nach seinem Beruf. Er treibe dies und jenes, hieß es, er verstehe sich auf Nägelschneiden, Fußpflege und Massage, mache auch Heilsalben und Kräuterkuren; in schlechten Zeiten, wo wenig zu tun sei, gebe er sich auch zuweilen damit ab, Hunde zu dressieren und zu scheren. Ich ging wie — der fort und kam zu dem Entschluß, diesen Mann lieber nicht aufzusuchen oder doch ihm nichts von meinen Absichten zu sagen. Wohl aber fühlte ich große Neugierde, ihn zu sehen. Darum beobachtete ich das Haus in den nächsten Tagen auf häufigen Spaziergängen und werde auch heute wieder hingehen, denn bisher ist es mir noch nicht geglückt, Andreas Leo zu Gesicht zu bekommen. Ach, die ganze Sache treibt mich bis zur Verzweiflung um und macht mich dabei auch glücklich, oder doch erregt, gespannt, sie macht mir mich und mein Leben wieder wichtig, und daran hatte es sehr gefehlt. Es ist möglich, daß jene Praktiker und Psychologen recht haben, die alles menschliche Tun aus egoistischen Trieben ableiten. Ich kann zwar nicht ganz einsehen, warum ein Mensch, der sein Leben lang einer Sache dient, der sein Vergnügen und Wohlergehen vernachlässigt und sich für irgend etwas opfert, damit wirklich das gleiche tun soll wie ein Mensch, der mit Sklaven oder mit Munition handelt und die Erträge mit Wohlleben durchbringt; aber ohne Zweifel würde ich im Wortgefecht mit einem solchen Psychologen sofort den kürzeren ziehen und überführt werden, denn Psychologen sind ja Menschen, welche stets den längeren ziehen. Meinetwegen, mögen sie recht haben. Dann ist eben auch alles das, was ich für gut und schön hielt und wofür ich Opfer brachte, nur ein egoistisches Wunschziel von mir gewesen. Bei meinem Plan, so etwas wie eine Geschichte der Morgenlandfahrt zu schreiben, sehe ich allerdings den Egoismus mit jedem Tage deutlicher: zuerst schien mir, als unternähme ich da eine mühevolle Arbeit im Dienst einer edlen Sache, aber mehr und mehr sehe ich, daß ich mit meiner Reisebeschreibung nichts andres anstrebe als Herr Lukas mit seinem Kriegsbuch: nämlich mir das Leben zu retten, indem ich ihm wieder einen Sinn gebe. Wenn ich nur den Weg sähe! Wenn es nur einen einzigen Schritt vorwärts ginge! „Werfen Sie Leo über Bord, befreien Sie sich von Leo!“ hat Lukas mir gesagt. Ebensogut könnte ich meinen Kopf oder meinen Magen über Bord werfen und mich von ihm befreien! Lieber Gott, hilf mir ein wenig! |
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