"Die Morgenlandfahrt" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)

V


Anderntags, als ich, nach mehrmaligem Erwachen und Wiedereinschlummern, mit Kopfschmerzen, aber ausgeruht wieder zu mir kam, fand ich im Wohnzimmer zu meiner unendlichen Überraschung, Freude und auch Verlegenheit Leo sitzen. Auf der Kante eines Stuhles saß er und sah aus, als warte er schon recht lange.

„Leo“, rief ich, „sind Sie gekommen?“

„Man hat mich nach Ihnen geschickt“, sagte er.

„Es ist vom Bunde. Sie haben mir ja einen Brief deswegen geschrieben, ich habe ihn den Oberen gegeben.

Sie werden vom Hohen Stuhl erwartet.

Können wir gehen?“

Bestürzt beeilte ich mich, meine Schuhe anzuzie — hen. Der unaufgeräumte Schreibtisch hatte von der Nacht her noch etwas Verstörtes und Wüstes, im Augenblick wußte ich kaum mehr, was ich vor Stunden dort so angstvoll und heftig hingeschrie — ben hatte. Immerhin, es schien nicht umsonst gewesen zu sein. Es war etwas geschehen, Leo war gekommen.

Und plötzlich begriff ich erst den Inhalt seiner Worte. Also es gab noch einen „Bund“, von dem ich nichts mehr wußte, der ohne mich existierte und mich nicht mehr als zugehörig betrachtet hatte! Es gab noch den Bund, den Hohen Stuhl, es gab die Oberen, sie hatten nach mir geschickt!

Heiß und kalt überlief es mich bei der Nachricht.

Da hatte ich Monate und Wochen in dieser Stadt gelebt, beschäftigt mit meinen Aufzeichnungen über den Bund und unsre Fahrt, hatte nicht gewußt, ob und wo etwa noch Reste dieses Bundes bestünden, ob nicht vielleicht ich sein letztes Überbleibsel sei; ja, offen gestanden war ich zu gewissen Stunden nicht einmal dessen sicher gewesen, ob der Bund und meine Zugehörigkeit zu ihm je — mals Wirklichkeit gewesen seien. Und jetzt stand da Leo, abgesandt vom Bund, um mich zu holen.

Man erinnerte sich meiner, man rief mich, man wollte mich anhören, mich vielleicht zur Rechenschaft ziehen. Gut, ich war bereit. Ich war bereit zu zeigen, daß ich dem Bunde nicht untreu geworden sei, ich war bereit zu gehorchen. Mochten die Oberen mich nun strafen oder mir verzeihen, ich war im voraus bereit, alles anzunehmen, ihnen in allem recht zu geben und Gehorsam zu leisten.

Wir brachen auf, Leo ging voran, und wieder wie vor Jahren mußte ich, wenn ich ihn und seinen Gang betrachtete, bewundern, was für ein guter, was für ein vollkommener Diener er doch sei. Ela — stisch und geduldig lief er durch die Gassen, mir voraus, mir den Weg zeigend, ganz Führer, ganz Diener seines Auftrages, ganz Funktion. Aber dennoch stellte er meine Geduld auf keine geringe Probe. Der Bund hatte gerufen, der Hohe Stuhl erwartete mich, alles stand für mich auf dem Spiel, mein ganzes künftiges Leben würde sich entscheiden, mein ganzes gewesenes Leben würde jetzt seinen Sinn erhalten oder vollends verlieren — ich bebte vor Erwartung, vor Freude, vor Angst, vor erstickender Bangigkeit. Und so schien denn der Weg, den Leo mir voranging, meiner Ungeduld beinahe unerträglich lang, denn mehr als zwei Stunden mußte ich hinter meinem Führer gehen, auf den wunderlichsten und, wie mir schien, launischsten Umwegen. Zweimal ließ mich Leo vor einer Kirche, in welcher er betete, lange warten, betrachtend blieb er und versunken eine Zeit, die mir endlos schien, vor dem alten Rathause stehen und erzählte mir von dessen Gründung im fünfzehnten Jahrhundert durch ein berühmtes Mitglied des Bundes, und so sehr sein Gang beflissen, diensteifrig und zielbewußt zu sein schien, mir wurde doch ganz wirr vor den Umwegen, Einkreisungen und Zic kzackgängen, mit denen er sich seinem Ziel näherte. Man hätte den Weg, der uns den ganzen Vormittag kostete, recht wohl in einer Viertelstunde zurücklegen können.

Endlich führte er mich in eine verschlafene Vorstadtgasse und in ein sehr großes stilles Gebäude, von außen sah es wie ein ausgedehntes Amtsgebäude oder Museum aus. Da war zunächst weit und breit kein Mensch, Korridore und Treppenhäuser gähnten leer und dröhnten von unsern Schritten. Leo begann in den Gängen, Treppen und Vorsälen zu suchen. Einmal öffnete er behutsam eine hohe Tür, durch die blickte man in ein vollgestopftes Maleratelier hinein, vor einer Staffelei stand in Hemdärmeln der Maler Klingsör — o wie viele Jahre hatte ich dies geliebte Gesicht nicht mehr gesehen! Aber ich wagte ihn nicht zu begrüßen, dazu war noch nicht die Zeit, ich war erwartet, ich war vorgeladen. Klingsör achtete nicht eben sehr auf uns; er nickte Leo zu, mich sah oder erkannte er nicht, und wies uns freundlich, aber entschieden hinaus, schweigend, keine Führung seiner Arbeit ertragend.

Schließlich zuoberst in dem unendlichen Gebäude kamen wir in ein Dachgeschoß, wo es nach Papier und Karton roch und wo die Wände entlang, viele Hunderte von Metern, Schranktüren, Bücherrücken und Aktenbündel starrten: ein riesiges Archiv, eine gewaltige Kanzlei. Niemand kümmerte sich um uns, alles war lautlos beschäftigt; mir kam es vor, als werde von hier aus die ganze Welt samt dem Sternhimmel regiert oder doch registriert und bewacht. Lange standen wir und warteten, um uns her eilten lautlos, mit Katalogzetteln und Nummern in den Händen, viele Archiv- und Bibliotheksbeamte, Leitern wurden angelegt und bestiegen, Aufzüge und kleine Rollwagen bewegten sich zart und leise. Endlich fing Leo zu singen an.

Ergriffen hörte ich die Töne, einst waren sie mir so vertraut gewesen, es war die Melodie eines unsrer Bundeslieder.

Auf den Gesang hin kam alsbald alles in Bewegung.

Die Beamten zogen sich zurück, der Saal verlängerte sich in verdämmernde Fernen, klein und unwirklich in den riesigen Archivlandschaften der Hintergründe arbeiteten die fleißigen Menschen, die Nähe aber wurde weit und leer, feierlich dehnte sich der Saal, in seiner Mitte streng geordnet standen viele Sessel, und es kamen teils aus den Hintergründen, teils aus den zahlreichen Türen des Raumes viele Obere, welche lässig auf die Sessel zugingen und allmählich auf ihnen Platz nahmen. Eine Sesselreihe um die andere füllte sich langsam, in allmählicher Steigung erhob sich der Aufbau und gipfelte in einem hohen Throne, welcher noch nicht besetzt war. Bis zum Throne hin füllte sich das feierliche Synedrion. Leo sah mich an, mit einem Blick der Mahnung zu Geduld, zu Schweigen und Ehrfurcht, und verschwand zwischen den vielen, unversehens war er weg, und ich konnte ihn nicht mehr entdecken. Wohl aber sah ich da und dort zwischen den Oberen, die sich zum Hohen Stuhl versammelten, bekannte Gestalten ernst oder lächelnd erscheinen, sah die Gestalt des Albertus Magnus, des Fährmanns Vasudeva, des Malers Klingsor und andre.

Endlich war es still geworden, und es trat der Sprecher vor. Allein und klein stand ich dem Hohen Stuhle gegenüber, auf alles gefaßt, voll tiefer Angst, aber ebenso voll tiefen Einverständnisses mit dem, was hier geschehen und beschlossen werden würde.

Hell und ruhig klang die Stimme des Sprechers durch den Saal. „Selbstanklage eines entlaufenen Bundesbruders“, hörte ich ihn ankündigen. Mir zitterten die Knie. Es ging mir ans Leben. Aber es war gut so, es mußte nun alles in Ordnung kommen.

Der Sprecher fuhr fort.

„Sie heißen H. H.? Waren mit beim Marsch durch Oberschwaben, beim Fest in Bremgarten? Haben kurz nach Morbio Inferiore Fahnenflucht begangen?

Sind geständig, eine Geschichte der Morgenlandfahrt schreiben zu wollen? Halten sich darin für gehindert durch Ihr Gelübde des Schweigens über Bundesgeheimnisse?“

Frage um Frage beantwortete ich mit Ja, auch die mir unverständlichen und entsetzlichen.

Eine kleine Weile verständigten sich die Oberen durch Flüstern und Gebärden untereinander, dann trat aufs neue der Sprecher vor und verkündete:

„Selbstankläger wird hiermit ermächtigt, jedes ihm bekannte Bundesgesetz und Bundesgeheimnis öffentlich mitzuteilen. Es wird ihm außerdem das gesamte Bundesarchiv für seine Arbeit zur Verfügung gestellt.“

Zurück trat der Sprecher, auseinander traten die Oberen und verloren sich wieder langsam teils im tiefen Räume, teils durch die Ausgänge, ganz still wurde es in dem ungeheuren Räume. Ich blickte mich ängstlich um, da sah ich vor mir auf einem der Kanzleitische Papierblätter liegen, die erschie — nen mir bekannt, und indem ich sie anfaßte, erkannte ich in ihnen meine Arbeit, mein Sorgenkind, mein begonnenes Manuskript. „Geschichte der Morgenlandfahrt, aufgezeichnet durch H. H.“

stand auf dem blauen Umschlag. Ich stürzte mich darauf, durchlas seine spärlichen, engbeschriebenen, vielfach durchstrichenen und korrigierten Textseiten, voll Hast, voll Arbeitsgier, voll vom Gefühl, jetzt endlich, mit höherer Billigung, ja Unterstützung, meine Aufgabe beenden zu dürfen.

Wenn ich bedachte, daß kein Gelübde mir mehr die Zunge band, wenn ich bedachte, daß ich über das Archiv verfügen konnte, über diese unergründliche Schatzkammer, so schien die Aufgabe mir größer und ehrenvoller als je.

Je mehr ich jedoch in den Seiten meiner Handschrift las, desto weniger gefiel mir das Manuskript, ja es war mir auch in den verzweifeltsten Stunden bisher noch nie so unnütz und verkehrt erschienen wie jetzt. Alles schien so konfus und kopflos, die klarsten Zusammenhänge entstellt, das Selbstverständlichste vergessen, lauter Nebensächliches und Belangloses in den Vordergrund gedrängt!

Da mußte ganz von vorn begonnen werden.

Wie ich das Manuskript so durchlas, mußte ich Satz um Satz durchstreichen, und indem ich ihn durchstrich, verkrümelte er sich auf dem Papier, und die klaren spitzen Buchstaben fielen auseinander zu spielerischen Formfragmenten, zu Strichen und Punkten, zu Kreisen, Blümchen, Sternchen, und die Seiten bedeckten sich wie Tapeten mit anmutig sinnlosem Ornamentgewirke.

Bald war nichts mehr da von meinem Text, dagegen blieb viel unbeschriebenes Papier für meine Arbeit übrig. Ich nahm mich zusammen. Ich machte mir klar: Natürlich war mir früher eine unbefangene und klare Darstellung nicht möglich gewesen, weil doch alles von Geheimnissen handelte, deren Mitteilung mir durch den Bundeseid verboten war. Wohl hatte ich den Ausweg gesucht, von einer objektiven Geschichtsdarstellung abzusehen und ohne Rücksicht auf die höheren Zusammenhänge, Ziele und Absichten mich einfach auf das von mir persönlich Erlebte zu beschränken.

Aber man hatte ja gesehen, wohin das führte.

Jetzt hingegen gab es keine Schweigepflicht und keine Beschränkungen mehr, ich war ganz offiziell ermächtigt, und dazu stand das unerschöpfliche Archiv mir offen.

Es war klar: Auch wenn meine bisherige Arbeit sich nicht in Ornamentik aufgelöst hätte, mußte ich das Ganze völlig neu beginnen, neu begründen, neu aufbauen. Ich beschloß, es mit einer kurzgefaßten Geschichte des Bundes, seiner Gründung und Verfassung zu eröffnen. Die kilometerlangen, endlosen, riesigen Zettelkataloge auf allen Tischen, die sich hinten weit in Ferne und Dämmerung verloren, mußten mir ja auf jede Frage Antwort geben.

Vorerst beschloß ich, das Archiv durch einige Stichproben zu befragen, ich mußte ja mit diesem ungeheuren Apparat arbeiten lernen. Natürlich suchte ich vor allem ändern nach dem Bundesbrief.

„Bundesbrief“, sagte der Zettelkatalog, „siehe Fach Chrysostomos, Zyklus V, Strophe 39, 8.“ — Richtig, ich fand das Fach, den Zyklus, die Strophe wie von selber, das Archiv war ganz wunderbar geordnet. Und nun hielt ich den Bundesbrief in Händen! Daß ich ihn wohl nicht würde lesen können, darauf mußte ich gefaßt sein. In der Tat, ich konnte ihn nicht lesen. Er war mit griechischen Buchstaben geschrieben, wie mir schien, und Grie — chisch verstand ich einigermaßen; aber teils war es eine höchst altertümliche, fremdartige Schrift, deren Zeichen trotz scheinbarer Deutlichkeit mir großenteils unlesbar blieben, teils schien der Text in einem Dialekt oder in einer geheimen Adeptensprache abgefaßt, von der ich nur selten ein Wort wie von ferne her, nach Anklängen und Analogien, verstand. Aber noch war ich nicht entmutigt.

Blieb auch der Brief unlesbar, so stiegen mir doch aus seinen Zeichen starke Erinnerungsbilder von damals auf, namentlich sah ich wieder zum Greifen deutlich meinen Freund Longus, wie er im nächtlichen Garten griechische und hebräische Zeichen schrieb, und die Zeichen verloren sich als Vögel, Drachen und Schlangen in die Nacht.

Im Kataloge blätternd, schauerte ich vor der Fülle dessen, was hier auf mich wartete. Ich stieß auf manches vertraute Wort, auf manchen wohlbekannten Namen. Ich stie ß, zusammenzuckend, auch auf meinen eigenen Namen, aber ich wagte es nicht, über ihn das Archiv zu befragen — wer würde es ertragen, den Spruch eines allwissenden Gerichtshofes über sich selbst zu vernehmen? Dagegen fand ich zum Beispiel den Namen des Malers Paul Klee, den ich von der Fahrt her kannte und der mit Klingsor befreundet war. Ich suchte seine Nummer im Archive auf. Dort fand ich ein Plättchen emailliertes Gold, anscheinend uralt, darauf war gemalt oder eingebrannt ein Klee, von dessen drei Blättern stellte das eine ein blaues Schiffchen mit Segel dar, das zweite einen buntgeschuppten Fisch, das dritte aber sah aus wie ein Telegrammformular, darauf stand geschrieben:

So blau wie Schnee, So Paul wie Klee.

Es machte mir eine wehmütige Freude, auch über Klingsor, über Longus, über Max und Tilli nachzulesen, auch widerstand ich dem Gelüste nicht, Näheres über Leo zu erfahren. Auf Leos Katalogzettel stand:

Cave!

Archiepisc. XIX. Diacon. D. VII.

cornu Ammon. 6 Cave!

Die zweimalige Warnung „Cave“ machte mir Eindruck, ich brachte es nicht über mich, in dies Geheimnis zu dringen. Mit jedem neuen Versuche aber begann ich mehr und mehr einzusehen, welche unerhörte Fülle an Material, an Wissen, an magischen Formulierungen dieses Archiv enthalte. Es enthielt, so schien mir, schlechthin die ganze Welt.

Nach beglückenden oder verwirrenden Ausflügen in viele Wissensgebiete kehrte ich mehrmals zu dem Katalogzettel „Leo“ zurück, mit einer immer heftiger wachsenden Neugierde. Jedesmal schreckte das doppelte „Cave“ mich zurück. Dafür fiel mir, beim Herumfingern in einem anderen Zettelkasten, das Wort „Fatme“ in die Augen, mit dem Hinweis princ. Orient.2 noct. mill. 983 hort, delic. 07 Ich suchte und fand die Stelle im Archiv. Es lag dort ein winziges Medaillon, das sich öffnen ließ und ein Miniaturbildnis enthielt, ein entzückend schönes Prinzessinnenbildnis, das mich im Augenblick an alle tausendundeine Nächte, an alle Märchen meiner Jünglingszeit, an alle Träume und Wünsche jener großen Zeit erinnerte, als ich, um zu Fatme in den Orient zu fahren, mein Noviziat abgedient und mich zur Aufnahme in den Bund gemeldet hatte. Eingehüllt war das Medaillon in ein spinnwebfeines violettes Seidentüchlein, ich roch daran, es duftete unsäglich fern und zart traumhaft nach Prinzessin und Morgenland. Und indem ich diesen fernen dünnen Zauberduft einatmete, überfiel mich plötzlich und übermächtig die Einsicht in welchen holden Zauber gehüllt ich damals die Pilgerschaft nach dem Osten angetreten, wie die Pilgerschaft an heimtückischen und im Grunde unbekannten Hindernissen gescheitert, wie der Zauber dann mehr und mehr verflogen und welche Öde, Nüchternheit und kahle Verzweiflung sei thermeine Atemluft, mein Brot, mein Trank gewesen war!

Ich konnte weder Tuch noch Bild mehr sehen, so dicht war der Schleier der Tränen, die aus meinen Augen rannen. Ach, heute, das fühlte ich, würde das Bild der arabischen Prinzessin nicht mehr genügen, mich gegen Welt und Hölle zu feien und zum Ritter und Kreuzfahrer zu machen, es würde heute andrer, stärkerer Zauber bedürfen. Aber wie süß, wie unschuldig, wie heilig war jener Traum gewesen, dem meine Jugend nachgezogen war, der mich zum Märchenleser, zum Musikanten, zum Novizen gemacht und bis nach Morbio geführt hatte!

Geräusch weckte mich aus der Versunkenheit, unheimlich blickte von allen Seiten die unendliche Raumtiefe des Archivs mich an. Ein neuer Gedanke, ein neuer Schmerz zuckte durch mich hin wie ein Blitzstrahl: Die Geschichte dieses Bundes hatte ich Einfältiger schreiben wollen, ich, der ich von diesen Millionen Schriften, Büchern, Bildern, Zeichen des Archivs kein Tausendstel zu entziffern oder gar zu begreifen vermochte! Vernichtet, namenlos töricht, namenlos lächerlich, mich selber nicht begreifend, zu einem Stäubchen eingedorrt, sah ich mich inmitten dieser Dinge stehen, mit welchen man mir ein wenig zu spielen erlaubt hatte, um mich fühlen zu lassen, was der Bund sei, und was ich selbst.

Herein kamen durch die vielen Türen die Oberen in unendlicher Zahl; manche konnte ich, noch durch Tränen hindurch, erkennen. Ich erkannte Jup den Magier, erkannte den Archivar Lindhorst, den als Pablo verkleideten Mozart. In den vielen Sesselreihen baute sich die erlauchte Versammlung auf, in Sesselreihen, welche nach hinten anstiegen und immer schmäler wurden; über dem hohen Thron, der die Spitze bildete, sah ich einen goldenen Baldachin funkeln.

Der Sprecher trat vor und verkündete: „DerBund ist bereit, durch seine Oberen Recht zu sprechen über den Selbstankläger H., der sich berufen fühlte, Bundesgeheimnisse zu verschweigen, und der nun eingesehen hat, wie wunderlich und blasphemisch seine Absicht war, die Geschichte einer Fahrt zu schreiben, der er nicht gewachsen war, und die Geschichte eines Bundes, an dessen Dasein er nicht mehr glaubte, und dem er untreu geworden war.“

Er wandte sich an mich und rief mit seiner klaren Heroldstimme: „Bist du, Selbstankläger H., damit einverstanden, den Gerichtshof anzuerkennen und dich seinem Urteil zu unterwerfen?“

„Ja“, gab ich zur Antwort.

„Bist du, Selbstankläger H.“, fuhr er fort, „damit einverstanden, daß der Gerichtshof der Oberen ohne den Vorsitz des Obersten der Obern über dich urteile, oder verlangst du, daß der Oberste der Obern selbst über dich urteile?“

„Ich bin einverstanden“, sagte ich, „mit dem Urteil der Oberen, ob es mit oder ohne den Vorsitz des Obersten der Obern erfolge.“

Der Sprecher wollte erwidern. Da klang aus der hintersten Tiefe des Saales eine sanfte Stimme: ’ „Der Oberste ist bereit, das Urteil selbst zu sprechen.“

Wunderliche Schauer weckte der Klang dieser sanften Stimme in mir. Tief aus der Ferne des Raumes her, aus den Wüstenhorizonten des Archivs, kam ein Mann geschritten, le ise und friedlich war sein Gang, sein Kleid funkelte von Gold, und er kam unterm Schweigen der Versammlung näher, und ich erkannte seinen Gang, erkannte seine Bewegungen, erkannte zuletzt auch sein Gesicht. Es war Leo. In einem feierlichen und prachtvollen Ornat wie ein Papst stieg er durch die Reihen der Oberen zum Hohen Stuhl hinan. Wie eine prächtige fremde Blume trug er den Glanz seines Schmuckes die Stufen empor, grüßend erhob sich jede Reihe von Oberen, an der er vorüberkam.

Sorgfältig, demütig, dienend trug er seine strahlende Würde, demütig, wie ein frommer Papst oder Patriarch Insignien trägt.

Ich war tief gebannt und durchdrungen von der Erwartung meines Urteils, das ich demütig hinzunehmen bereit war, ob es nun Strafe oder Begnadigung bringe; ich war nicht minder tief davon gerührt und ergriffen, daß es Leo war, der einstige Gepäckträger und Diener, der nun an der Spitze des ganzen Bundes stand und bereit war, über mich zu urteilen. Aber noch viel mehr ergriffen, betroffen, bestürzt und beglückt war ich von der großen Entdeckung dieses Tages: daß der Bund vollkommen unerschüttert und mächtig wie je bestehe, daß nicht Leo und nicht der Bund es war, die mich verlassen und enttäuscht hatten, sondern daß nur ich so schwach und so töricht gewesen war, meine eigenen Erlebnisse mißdeutend, am Bund zu zweifeln, die Fahrt ins Morgenland als mißglückt zu betrachten und mich für den Überlebenden und Chronisten einer erledigten und im Sande verronnenen Geschichte zu halten, während ich nichts war als ein Davongelaufener, untreu Gewordener, ein Deserteur. Entsetzen und Beglückung lagen in dieser Erkenntnis. Klein stand ich und demütig zu Füßen des Hohen Stuhles, von dem ich einst als Bruder in den Bund aufgenommen worden war, von dem ich einst die Novizenweihe und den Bundesring erhalten hatte und gleich dem Diener Leo auf die Fahrt geschickt worden war. Und mitten in dem allem fiel eine neue Sünde, ein neues unerklärliches Versäumnis, eine neue Schande mir aufs Herz: ich besaß den Bundesring nicht mehr, ich hatte ihn verloren, und ich wußte nicht einmal, wann und wo, hatte ihn bis heute nicht einmal vermißt!

Mittlerweile begann der Oberste der Obern, begann der golden geschmückte Leo mit schöner, sanfter Stimme zu sprechen, sanft und beglückend flössen seine Worte zu mir herab, sanft und beglückend wie Sonnenschein.

„DerSelbstankläger“, sprach esvom hohen Throne, „hat Gelegenheit gehabt, sich von einigen seiner Irrtümer zu befreien. Vieles spricht gegen ihn. Es mag begreiflich und sehr entschuldbar sein, daß er dem Bunde untreu wurde, daß er seine eigene Schuld und Torheit dem Bunde vorwarf, daß er an dessen Fortbestand zweifelte, daß er den wunderlichen Ehrgeiz besaß, zum Geschichtschreiber des Bundes werden zu wollen. Dies alles wiegt ja nicht schwer. Es sind, der Selbstankläger gestatte mir das Wort, lediglich Novizendummheiten. Sie erledigen sich dadurch, daß wir über sie lächeln.“

Hoch atmete ich auf, und die ganze erhabene Versammlung überflog ein leichtes Lächeln. Daß die schwersten meiner Sünden, sogar mein Wahn, daß der Bund nicht mehr bestehe und daß ich der einzige Treugebliebene sei,vom Obersten der Obern nur als „Dummheiten“, als Kindereien betrachtet wurden, war eine ungeheure Erleichterung und wies mich zugleich aufs strengste in meine Schranken zurück.

„Aber“, fuhr Leo fort, und jetzt wurde seine sanfte Stimme betrübt und ernst — , „aber es sind dem Angeklagten noch andere, viel ernstere Sünden nachgewiesen, und das Schlimmste daran ist, daß er für diese Sünden nicht als Selbstankläger dasteht, sondern von diesen Sünden gar nichts zu wissen scheint. Er bedauert tief, dem Bunde in Gedanken Unrecht getan zu haben, er kann sich nicht verzeihen, daß er in dem Diener Leo nicht den obersten Stuhlherrn Leo zu sehen vermocht hat, und ist nahe daran, den Umfang seiner Untreue am Bunde einzusehen. Aber während er diese Gedankensünden und Torheiten allzu ernst nahm und in diesem Augenblick erst erleichtert einsieht, daß sie durch Lächeln abgetan werden können, vergißt er hartnäckig seine tatsächlichen Verschuldungen, deren Zahl Legion und deren jede einzelne schwer genug ist, um hohe Strafe zu verdienen.“

Angstvoll flatterte das Herz in meiner Brust. Leo wandte sich mir zu: „Angeklagter H., Sie werden später Einblick in Ihre Verfehlungen bekommen, und es wird Ihnen auch der Weg gezeigt werden, sie künftig zu vermeiden. Nur um Ihnen zu zeigen, wie wenig Verständnis Sie noch für Ihre Lage haben,frage ich Sie nun: Erinnern Sie sich an Ihren Gang durch die Stadt in Begleitung des Dieners Leo, der Sie als Bote vor den Hohen Stuhl zu bringen hatte? — Ja, Sie erinnern sich. Und erinnern Sie sich, wie wir am Rathause, an der Paulskirche, am Dom vorüberkamen, und wie der Diener Leo in den Dom eintrat, um ein wenig zu knien und Andacht zu üben, und wie Sie selbst nicht bloß darauf verzichteten, mit einzutreten und Andacht zu verrichten, entgegen dem vierten Satz Ihres Bundesgelübdes, sondern wie Sie ungeduldig und gelangweilt draußen stehenblieben, um die lästige Zeremonie abzuwarten, die Ihnen so entbehrlich schien, die für Sie nichts war als eine widerwärtige Prüfung Ihrer egoistischen Ungeduld? — Ja, Sie erinnern sich. Sie haben, allein schon durch Ihr Verhalten vor dem Tor des Domes, alle grundlegenden Forderungen und Sitten des Bundes mit Füßen getreten, Sie haben die Religion mißachtet, haben einen Bundesbruder verachtet, haben der Gelegenheit und Aufforderung zu Andacht und Versenkung sich unwillig entzogen. Die Sünde wäre unverzeihlich, sprächen nicht besondre mildernde Umstände für Sie.“

Jetzt hatte er mich getroffen. Jetzt kam alles zur Sprache, nicht mehr die Nebensachen, nicht mehr die bloßen Dummheiten. Er hatte mehr als recht.

Er traf mich ins Herz.

„Wir wollen“, fuhr der Oberste der Obern fort, „die Verfehlungen des Angeklagten nicht alle aufzählen, er soll ja nicht nach dem Buchstaben gerichtet werden, und wir wissen wohl, daß es nur unsrer Mahnung bedarf, um das Gewissen des Angeklagten zu wecken und ihn zum reuigen Selbstankläger zu machen.

Immerhin, Selbstankläger H., muß ich Ihnen raten, auch noch einige andre Ihrer Taten vor das Gericht Ihres Gewissens zu ziehen. Muß ich Sie an den Abend erinnern, an dem Sie den Diener Leo aufsuchten und von ihm als Bundesbruder wiedererkannt zu werden wünschten, obwohl dies unmöglich war, da Sie selbst sich als Bundesbruder so unkenntlich gemacht hatten? Muß ich Sie an Dinge erinnern, die Sie selbst dem Diener Leo erzählt haben? An den Verkauf Ihrer Violine? An Ihr verzweifeltes, dummes, engstirniges, selbstmörderisches Leben, das Sie seit Jahren geführt haben?

Und noch eines, Bundesbruder H., darf ich nicht verschweigen. Es ist ja recht wohl möglich, daß an jenem Abend der Diener Leo Ihnen in seinen Gedanken Unrecht getan hat. Nehmen wir an, es sei so. Der Diener Leo war vielleicht etwas zu streng, etwas zu vernünftiger hatte vielleicht nicht genug Nachsicht und Humor für Sie und Ihren Zustand. Aber es gibt höhere Instanzen und untrüglichere Richter als den Diener Leo. Wie lautete das Urteil der Kreatur über Sie, Angeklagter?

Erinnern Sie sich des Hundes Necker? Erinnern Sie sich der Ablehnung und Verurteilung, die er über Sie verhängte? Er ist unbestechlich, er ist nicht Partei, er ist nicht Bundesbruder.“

Er machte eine Pause. Ja, der Wolfshund Necker!

Gewiß, der hatte mich abgelehnt und verurteilt.

Ich sagte ja. Das Urteil war mir gesprochen, schon vom Wolfshund, schon von mir selber.

„Selbstankläger H.“, hob Leo wieder an, und jetzt klang aus dem Goldglanz seines Ornates und seines Baldachins hervor seine Stimme so kühl und hell und durchdringend wie die Stimme des Komturs, wenn er im letzten Akt vor Don Jüans Tür erscheint.

„Selbstankläger H., Sie haben mich angehört, Sie haben ja gesagt. Sie haben, so vermuten wir, sich selbst schon das Urteil gesprochen.“

„Ja“, sagte ich mit leiser Stimme, „ja.“

„Es ist, so vermuten wir, ein verdammendes Urteil, das Sie über sich selbst gesprochen haben?“

„Ja“, flüsterte ich.

Nun erhob sich Leo auf dem Throne und breitete sanft die Arme aus.

„Ich wende mich nun an euch, ihr Oberen. Ihr habet gehört. Ihr wisset, wie es dem Bundesbruder H.

gegangen ist. Es ist ein Schicksal, das euch nicht fremd ist, mancher von euch hat es an sich selbst erleben müssen. Der Angeklagte wußte bis zur Stunde noch nicht, oder vermochte doch nicht recht daran zu glauben, daß sein Abfall und seine Verirrung eine Prüfung war. Er hat lange nicht nachgegeben.

Er hat es jahrelang ertragen, nichts mehr vom Bund zu wissen, allein zu bleiben und alles zerstört zu sehen, woran er geglaubt hatte. Endlich vermochte er sich aber doch nicht länger zu verbergen und zu drücken, sein Leid wurde zu groß, und ihr wisset, sobald das Leid groß genug ist, geht es vorwärts. Bruder H. ist durch seine Prüfung bis in die Verzweiflung geführt worden, und Verzweiflung ist das Ergebnis jedes ernstlichen Versuches, das Menschenleben zu begreifen und zu rechtfertigen.

Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Leben mit der Tugend, mit der Gerechtigkeit, mit der Vernunft zu bestehen und seine Forderungen zu erfüllen. Diesseits dieser Verzweiflung leben die Kinder, jenseits die Erwachten. Angeklagter H. ist nicht mehr Kind und ist noch nicht ganz erwacht. Er ist noch mitten in der Verzweiflung. Er wird sie durchschreiten und wird damit sein zweites Noviziat leisten. Wir heißen ihn aufs neue im Bund willkommen, dessen Sinn zu verstehen er sich jetzt nicht mehr anmaßt.

Wir geben ihm seinen verlorenen Ring zurück, den der Diener Leo für ihn aufbewahrt hat.“

Schon brachte der Sprecher den Ring, küßte mich auf die Wange und steckte mir den Ring an den Finger. Kaum hatte ich den Ring erblickt, kaum seine metallne Kühle an meinem Finger verspürt, so fielen mir tausend Dinge, tausend unbegreifliche Versäumnisse ein. Es fiel mir vor allem ein, daß der Ring in gleichen Abständen vier Steine trägt und daß es Bundesgesetz ist und zum Gelübde gehört, mindestens einmal an jedem Tage den Ring langsam am Finger zu drehen und sich bei jedem der vier Steine eine der vier grundlegenden Vorschriften des Gelübdes zu vergegenwärtigen. Ich hatte nicht nur den Ring verloren und ihn nicht einmal vermißt, ich hatte auch alle diese schrecklichen Jahre hindurch niemals mehr die vier Grundvorschriften hergesagt und mich ihrer erinnert. Alsbald suchte ich sie mir innerlich wieder vorzusagen. Ich ahnte sie, sie lagen noch in mir, sie gehörten mir so, wie einem ein Name gehört, auf den man sich im nächsten Moment besinnen wird, der aber im Augenblick sich nicht finden lassen will. Nein, es blieb still in mir, ich konnte die Regeln nicht hersagen, ich hatte den Wortlaut vergessen. Ich hatte sie vergessen, hatte viele Jahre sie nicht mehr repetiert, hatte viele Jahre sie nicht mehr befolgt und heilig gehalten — und hatte mich dennoch für einen treuen Bundesbruder halten können!

Beruhigend klopfte mir der Sprecher auf den Arm, als er meine Bestürzung und tiefe Beschämung sah.

Und schon hörte ich auch den Obersten der Obern wieder sprechen.

„Angeklagter und Selbstankläger H., Sie sind freigesprochen.

Es muß Ihnen noch mitgeteilt werden, daß der in einem solchen Prozeß freigesprochene Bruder die Pflicht hat, in die Schar der Oberen einzutreten und einen ihrer Sitze einzunehmen, sobald er ein Probestück seines Glaubens und Gehorsams abgelegt hat. Die Wahl des Probestücks ist ihm freigestellt. Antworte mir nun, Bruder H., auf meine Fragen:

Bist du bereit, zur Erprobung deines Glaubens einen wilden Hund zahm zu machen?“

Ich schauderte zurück. „Nein, ich könnte es nicht“, rief ich abwehrend.

„Bist du bereit und willens, auf unsern Befehl unverzüglich das Archiv des Bundes zu verbrennen, so wie jetzt der Sprecher einen Teil davon vor deinen Augen verbrennt?“

Es trat der Sprecher vor, griff in die wohlgeordneten Zettelkästen, langte beide Hände voll Zettel heraus, viele Hunderte von Zetteln, und verbrannte sie zu meinem Entsetzen über einem Kohlenbecken.

„Nein“, wehrte ich ab, „auch das könnte ich nicht.“

„Cave, frater“, rief der Oberste der Obern mir zu, „sei gewarnt, stürmischerBruder! Ich habe mit den leichtesten Aufgaben begonnen, zu welchen es den kleinsten Glauben braucht. Jede folgende Aufgabe wird schwerer und schwerer sein. Antworte: Bist du bereit und willens, den Bescheid unsresArchives über dich selbst zu erfragen?“

Mir wurde es kalt, und der Atem wollte mir stocken.

Aber ich hatte begriffen: Frage um Frage würde schwerer und schwerer werden, es gab kein Entrinnen als in das noch Schlimmere. Tiefatmend stand ich und sagte ja.

Der Sprecher führte mich zu den Tischen, wo die Hunderte von Zettelkästen standen, ich suchte und fand den Buchstaben H., fand meinen Namen,und zwar zuerst meinen Vorfahren Eoban, der vor vierhundert Jahren ebenfalls Mitglied des Bundes gewesen ist, dann kam mein eigener Name, mit dem Hinweise:

Chattorum r. gest. XC.

civ. Calv.infid.49

Das Blatt zitterte mir in der Hand. Indessen erhoben sich die Oberen einer um den ändern von ihren Sesseln, reichten mir die Hand, blickten mir in die Augen, danach ging jeder davon, es leerte sich der Hohe Stuhl, als letzter kam der Oberste der Obern vom Thron herab, reichte mir die Hand, blickte mir in die Augen, lächelte sein frommes dienendes Bischofslächeln und verschwand als letzter aus dem Saale. Allein blieb ich zurück, den Zettel in der Linken, an den Bescheid des Archivs verwiesen.

Ich brachte es nicht über mich, sofort den Schritt zu tun und das Archiv über mich zu befragen. Zögernd stand ich im leeren Saal und sah weithin die Kästen, Schränke, Nischen und Kabinette sich dehnen, die Aufhäufung alle s Wissenswerten, das er für mich irgend geben konnte. Aus Furcht ebensosehr vor meinem eigenen Zettel wie aus brennendem Wissensdurst erlaubte ich mir, mit meiner eigenen Angelegenheit noch ein wenig zu warten und erst noch dies oder jenes in Erfahrung zu bringen, was für mich und für meine Geschichte der Morgenlandfahrt wichtig war. Freilich wußte ich im Grunde längst, daß diese meine Geschichte schon verurteilt und begraben war und daß ich sie nie zu Ende schreiben würde. Aber neugierig war ich doch sehr.

Aus einem der Zettelkästen sah ich einen schlecht eingelegten Zettel schräg aus den ändern herausragen.

Ich ging hin, zog den Zettel heraus, er lautete:

Morbio Inferiore.

Kein anderes Schlagwort hätte den innersten Kern meiner Neugierde kürzer und genauer bezeichnen können. Mit leichtem Herzklopfen suchte ich im Archiv die Stelle auf. Es war ein Archivfach, mit ziemlich vielen Papieren angefüllt. Obenauf lag die Kopie einer Beschreibung der Schlucht von Morbio aus einem alten italienischen Buch. Dann ein Quartblatt mit kurzen Nachrichten über die Rolle, welche Morbio in der Bundesgeschichte gespielt hat. Sämtliche Nachrichten bezogen sich auf die Morgenlandfahrt, und zwar auf die Etappe und Gruppe, zu der ich gehört hatte. Unsre Gruppe, so war es hier verzeichnet, war auf ihrer Fahrt bis Morbio gekommen, dort aber einer Prüfung ausgesetzt worden, die sie nicht bestand: dem Verschwinden Leos. Obgleich uns die Bundesregeln hätten führen sollen, und obgleich sogar für den Fall, daß eine Bundesgruppe führerlos bleiben sollte, Vorschriften bestanden und uns beim Antritt der Fahrt eingeschärft worden war, hatte doch unsre ganze Gruppe vom Augenblick an, wo wir Leos Fehlen entdeckten, den Kopf und den Glauben verloren, war ins Zweifeln und unnütze Debattieren geraten, und am Ende hatte sich die ganze Gruppe, jedem Bundesgeiste zuwider, in Parteien zerspalten und war auseinander gelaufen. Diese Erklärung des Unheils von Morbio konnte mich nicht mehr so sehr überraschen. Dagegen war ich außerordentlich erstaunt über das, was ich über die Spaltung unsrer Gruppe weiter zu lesen bekam.

Es hatten nämlich nicht weniger als drei von uns Bundesbrüdern den Versuch gemach t,eineGeschichte unsrer Reise und eine Darstellung des Erlebnisses von Morbio zu geben. Einer von diesen dreien war ich, und es lag denn auch eine saubere Kopie meines Manuskriptes mit im Fache. Die beiden ändern durchlas ich mit den wunderlichsten Gefühlen. Die beiden Autoren schilderten die Vorgänge jenerTage im Grunde nicht viel anders, als ich es getan hatte, und doch, wie anders klang es für mich! Bei dem einen las ich:

„Es war das Ausbleiben des Dieners Leo, das uns plötzlich und grausam die Abgründe von Uneinigkeit und Ratlosigkeit enthüllte, welche unsern bisher anscheinend so festen Zusammenhalt zerrissen.

Einige von uns wußten oder ahnten zwar sogleich, daß Leo weder verunglückt noch davongelaufen, sondern daß er von der Bundesleitung heimlich abberufen worden sei. Wie schlecht wir aber diese Prüfung bestanden, daran kann gewiß keiner von uns ohne die tiefste Reue und Beschämung denken.

Kaum hatte Leo uns verlassen, so waren Glaube und Einmütigkeit unter uns zu Ende; es war, als liefe aus unsichtbarer Wunde das rote Blut des Lebens aus unsrer Gruppe fort. Es brachen erst Meinungsverschiedenheiten, dann offene Streitigkeiten aus um die unnützesten und lächerlichsten Fragen. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß unser so beliebter und verdienstvoller Kapellmeister, der Violinspieler H. H., plötzlich die Behauptung aufstellte, der entlaufene Leo habe in seinem Trägersack unter ändern Wertgegenständen auch den uralten heiligen Bundesbrief, die Urhandschrift des Meisters, mitgenommen! Es wurde über diese Frage allen Ernstes tagelang gestritten. Symbolisch genommen war H.s absurde Behauptung freilich merkwürdig sinnvoll: in der Tat war es, als sei mit dem Abgang Leos unsrer kleinen Heeresgruppe der Segen des Bundes, der Zusammenhang mit dem Ganzen, völlig verlorengegangen. Ein trauriges Beispiel war ebenjener Musiker H. H. Bis zum Tag von Morbio Inferiore einer der treuesten und gläubigsten Bundesbrüder, außerdem als Künstler beliebt und trotz mancher Charakterschwächen eins unsrer lebendigsten Mitglieder, verfiel er jetzt in Grübelei, Depression und Mißtrauen, wurde in seinem Amt mehr als nachlässig, begann unverträglich, nervös, streitsüchtig zu werden. Als er schließlich eines Tages auf dem Marsche zurückblieb und sich nicht wieder einfand, kam niemand auf den Gedanken, seinetwegen haltzumachen und nach ihm zu forschen, die Fahnenflucht war evident.

Leider war er nicht der einzige, und am Ende ist von unsrer kleinen Fahrtgruppe nichts übriggeblieben…“

Bei dem ändern Historiker fand ich diese Stelle:

„Wie mit Cäsars Tode das alte Rom oder wie mit Wilsons Fahnenflucht der demokratische Weltgedanke, so brach mit dem unseligen Tag von Morbio unser Bund zusammen. Soweit hier von Schuld und Verantwortungen gesprochen werden darf, waren schuldig an diesem Zusammenbruch zwei anscheinend harmlose Mitbrüder: Der Musiker H. H. und Leo, einer der Diener. Diese beiden, bis dahin beliebte und treue Anhänger des Bundes, wennschon ohne Verständnis für dessen weltgeschichtliche Bedeutung, diese beiden waren eines Tages spurlos verschwunden, nicht ohne manche wertvolle Besitztümer und wichtige Dokumente mitlaufen zu lassen, was darauf schließen läßt, daß die beiden Elenden von mächtigen Gegnern des Bundes gekauft worden sind…“

Wenn das Gedächtnis dieses Geschichtschreibers so sehr getrübt und gefälscht war, obwohl er sichtlich in besten Treuen und im Gefühl größter Wahrhaftigkeit Bericht erstattete — wo blieb da der Wert meiner eigenen Auf Zeichnungen? Wären noch zehn andre Berichte anderer Autoren über Morbio, über Leo und mich aufgefunden worden, sie hätten vermutlich alle zehn einander widersprochen und einer den ändern verdächtigt. Nein, es war nichts mitunsern historischen Bemühungen, man brauchte sie nicht fortzusetzen, nicht zu lesen, man konnte sie ruhig in diesem Archivfach verstauben lassen.

Ich empfand ein Grausen in mir vor allem, was ich vielleicht in dieser Stunde noch erfahren würde.

Wie verschob, veränderte und verzerrte sich alles und alles in diesen Spiegeln, wie spöttisch und unerreichbar verbarg sich das Gesicht der Wahrheit hinter allen diesen Berichten, Gegenberichten, Legenden!

Was war noch Wahrheit, was war noch glaublich? Und was würde übrigbleiben, wenn ich auch noch über mich selbst, über meine eigene Person und Geschichte, die Wissenschaft dieses Archives erfahren würde?

Ich mußte auf alles gefaßt sein. Und plötzlich ertrug ich die Ungewißheit und Erwartungsangst nicht mehr, ich eilte nach der Abteilung Chattorum res gestae, suchte meine Unterabteilung und Nummer und stand vor dem mit meinem Namen bezeichneten Fach. Es war eine Nische, und sie enthielt, als ich den dünnen Vorhang vor ihr wegzog, nichts Schriftliches. Sie enthielt nichts als eine Figur, eine alt und mitgenommen aussehende Plastik aus Holz oder Wachs, mit blassen Farben, eine Art Götze oder barbarisches Idol schien sie zu sein, sie war für meinen ersten Blick vollkommen unverständlich.

Es war eine Figur, welche eigentlich aus zweien bestand, sie hatten einen gemeinsamen Rücken. Ich starrte eine Weile enttäuscht und verwundert.

Da fiel eine Kerze mir auf, die an der Nischenwand in metallenem Leuchter befestigt war. Feuerzeug lag da, ich zündete die Kerze an, hell stand nun die seltsame Doppelfigur beleuchtet.

Langsam nur enthüllte sie sich mir. Langsam und allmählich nur begann ich zu ahnen und dann zu erkennen, was sie darstellen wolle. Sie stellte eine Gestalt dar, die war ich, und dies Bildnis von mir war unangenehm schwächlich und halbwirklich, es trug verwischte Züge und hatte im ganzen Ausdruck etwas Haltloses, Schwaches, Sterbendes oder Sterbenwollendes an sich und sah etwa so aus wie eine Bildhauerarbeit mit dem Titel „Vergänglichkeit “ oder „Die Verwesung“ oder ähnlich.

Die andere Figur dagegen, die mit der meinen in eins verwachsen war, blühte kräftig in Farben und Formen, und eben als ich zu erraten begann, wem sie gleiche, nämlich dem Diener und Obersten Leo, da entdeckte ich noch eine zweite Kerze an der Wand und entzündete auch diese.

Jetzt sah ich die Doppelfigur, die mich und Leo andeutete, nicht nur etwas klarer und ähnlicher werden, sondern sah auch, daß die Oberfläche der Figuren durchsichtig war und daß man in ihr Inneres blicken konnte, wie man durchs Glas einer Flasche oder Vase blickt. Und im Innern der Figuren sah ich etwas sich bewegen, langsam, unendlich langsam sich bewegen, wie eine eingeschlafene Schlange sich bewegt. Es ging da etwas vor sich, etwas wie ein sehr langsames, sanftes, aber ununterbrochenes Fließen oder Schmelzen, und zwar schmolz oder rann es aus meinem Ebenbild in das Bild Leos hinüber, und ich erkannte, daß mein Bild im Begriffe war, sich mehr und mehr an Leo hinzugeben und zu verströmen, ihn zu nähren und zu stärken. Mit der Zeit, so schien es, würde alle Substanz aus dem einen Bilde in das andre hinüberrinnen und nur ein einziges übrigbleiben:

Leo. Er mußte wachsen, ich mußte abnehmen.

Indem ich stand und schaute und das Geschaute zu begreifen versuchte, kam ein kleines Gespräch mir wieder in den Sinn, das ich einst in den festlichen Tagen von Bremgarten mit Leo gehabt hatte. Wir hatten davon gesprochen, daß die Gestalten aus Dichtungen lebendiger und wirklicher zu sein pflegen als die Gestalten ihrer Dichter.

Die Kerzen brannten herunter und erloschen, ich fühlte mich von einer unendlichen Müdigkeit und Schlaflust ergriffen und wandte mich weg, um einen Ort zu suchen, wo ich liegen und schlafen könnte.