"Arc de Triomphe" - читать интересную книгу автора (Remarque Erich Maria)2Der kleine Operationsraum war taghell erleuchtet. Er sah aus wie eine hygienische Metzgerei. Eimer mit blutgetränkter Watte standen herum, Verbände und Tupfer lagen zerstreut, und das Rot schrie festlich gegen das viele Weiß. Veber saß im Vorraum an einem lackierten Stahltisch und machte Notizen; eine Schwester kochte die Instrumente aus; das Wasser brodelte, das Licht schien zu zischen, und nur der Körper auf dem Tisch lag ganz für sich selbst da — ihn ging das alles nichts mehr an. Ravic ließ die flüssige Seife über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen. Er wusch sich mit ärgerlicher Verbissenheit, als wolle er sich die Haut herunterscheuem. »Scheiße!« murmelte er vor sich hin. »Verdammte, verfluchte Scheiße!« Die Operationsschwester sah ihn angewidert an. Veber blickte auf. »Ruhig, Eugenie! Alle Chirurgen fluchen. Besonders, wenn etwas schiefgegangen ist. Sie sollten daran gewöhnt sein.« Die Schwester warf eine Handvoll Instrumente in das kochende Wasser. »Professor Perrier fluchte nie«, erklärte sie beleidigt. »Und er rettete trotzdem viele Menschen.« »Professor Perrier war ein Spezialist für Gehirnoperationen. Subtilste Feinmechanik, Eugenie. Wir schneiden in Bäuchen herum. Das ist etwas anderes.« Veber klappte seine Eintragungen zu und stand auf. »Sie haben gut gearbeitet, Ravic. Aber gegen Pfuscher kann man schließlich nichts machen.« »Doch — manchmal kann man.« Ravic trocknete sich die Hände ab und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwester öffnete in schweigender Mißbilligung ein Fenster. — »Bravo, Eugenie«, lobte Veber. »Immer nach der Vorschrift .« »Ich habe Pflichten im Leben. Ich möchte nicht gern in die Luft fliegen.« »Das ist schön, Eugenie. Und beruhigend.« »Manche haben eben keine. Und wollen keine haben.« »Das geht auf Sie, Ravic!« Veber lachte. »Besser, wir verschwinden. Eugenie ist morgens sehr aggressiv. Hier ist sowieso nichts mehr zu tun.« Ravic sah sich um. Er sah die Schwester mit den Pflichten an. Sie erwiderte furchtlos seinen Blick. Die Brille mit dem Nickelrand gab ihrem kahlen Gesicht etwas Unantastbares. Sie war ein Mensch wie er, aber sie war ihm fremder als ein Baum. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben recht.« Auf dem weißen Tisch lag das, was vor ein paar Stunden noch Hoffnung, Atem, Schmerz und zitterndes Leben gewesen war. Jetzt war es nur noch ein sinnloser Kadaver — und der menschliche Automat, Schwester Eugenie genannt, der stolz darauf war, nie einen Fehltritt begangen zu haben, deckte es zu und karrte es fort. Sie sind die ewig Überlebenden, dachte Ravic, das Licht liebt sie nicht, diese Holzseelen, deshalb vergißt es sie und läßt sie lange leben. »Auf Wiedersehen, Eugenie«, sagte Veber. »Schlafen Sie sich aus heute.« »Auf Wiedersehen, Doktor Veber. Danke, Herr Doktor.« »Auf Wiedersehen«, sagte Ravic. — »Entschuldigen Sie mein Fluchen.« »Guten Morgen«, erwiderte Eugenie eisig. Veber schmunzelte. »Ein Charakter aus Gußeisen.« Es war grauer Morgen draußen. Die Müllabfuhrwagen ratterten durch die Straßen. Veber schlug seinen Kragen hoch. »Ekelhaftes Wetter! Soll ich Sie mitnehmen, Ravic?« »Nein, danke. Ich will gehen.« »Bei dem Wetter? Ich kann Sie vorbeifahren. Es ist kaum ein Umweg.« Ravic schüttelte den Kopf. »Danke, Veber.« Veber sah ihn prüfend an. »Sonderbar, daß Sie sich immer noch aufregen, wenn Ihnen jemand unter dem Messer bleibt. Sie sind doch schon fünfzehn Jahre in der Kiste drin und kennen das.« »Ja, ich kenne das. Ich rege mich auch nicht auf.« Veber stand breit und behäbig vor Ravic. Sein großes, rundes Gesicht leuchtete wie ein normannischer Apfel. Der schwarze, gestutzte Schnurrbart war naß vom Regen und glitzerte. Am Bordrand stand ein Buick und glitzerte ebenfalls. Darin würde Veber behaglich nach Hause fahren — in ein rosafarbenes Puppenhaus in der Vorstadt, mit einer sauberen, blitzenden Frau darin und zwei sauberen, blitzenden Kindern, mit einem sauberen, blitzenden Dasein. Wie konnte man ihm etwas erklären von dieser atemlosen Spannung, wenn das Messer zum ersten Schnitt ansetzte, wenn die schmale, rote Spur Blutes dem leisen Druck folgte, wenn der Körper sich unter den Nadeln und Klammern wie ein vielfacher Vorhang auseinanderfaltete, wenn Organe frei wurden, die nie Licht gesehen hatten, wenn man wie ein Jäger im Dschungel einer Fährte folgte und plötzlich in zerstörten Geweben, in Knollen, in Wucherungen, in Rissen ihm gegenüberstand, dem großen Raubtier Tod — und den Kampf, in dem man nichts anderes brauchen konnte als eine dünne Klinge und eine Nadel und eine unendlich sichere Hand — wie sollte man ihm erklären, was es bedeutete, wenn dann durch all das blendende Weiß höchster Konzentration auf einmal ein dunkler Schatten in das Blut schlug, ein majestätischer Hohn, der das Messer stumpf zu machen schien, die Nadel brüchig und die Hand schwer — und wenn dieses Unsichtbare, Rätselhafte, Pulsierende: Leben, plötzlich fortebbte unter den machtlosen Händen, zerfiel, angezogen von einem geisterhaften, schwarzen Strudel, den man nicht erreichen und nicht bannen konnte, wenn aus einem Gesicht, das eben noch atmete und Ich war und einen Namen trug, eine namenlose, starre Maske wurde — diese sinnlose, rebellische Ohnmacht — wie konnte man sie erklären — und was war daran zu erklären? Ravic zündete sich eine neue Zigarette an. »Einundzwanzig Jahre war das alt«, sagte er. Veber strich sich mit einem Taschentuch die blanken Tropfen vom Schnurrbart. »Sie haben großartig gearbeitet. Ich könnte das nicht. Daß Sie nicht retten konnten, was ein Pfuscher versaut hat, das ist etwas, was Sie nichts angeht. Wo kämen wir hin, wenn wir anders dächten?« »Ja«, sagte Ravic. »Wo kämen wir hin?« Veber steckte sein Taschentuch ein. »Nach allem, was Sie mitgemacht haben, müßten Sie doch verdammt abgehärtet sein.« Ravic sah ihn mit einer Spur von Ironie an. »Abgehärtet ist man nie. Man kann sich nur an vieles gewöhnen.« »Das meine ich.« »Ja, und an manches nie. Aber das ist schwer herauszufinden. Nehmen wir an, es war der Kaffee. Vielleicht war es wirklich der Kaffee, der mich so wach gemacht hat. Und wir verwechseln das mit Aufregung.« »Der Kaffee war gut, was?« »Sehr.« »Kaffeemachen verstehe ich. Ich hatte so eine Ahnung, daß Sie ihn brauchten, deshalb habe ich ihn selbst gemacht. War was anderes als die schwarze Brühe, die Eugenie gewöhnlich produziert, wie?« »Nicht zu vergleichen. Im Kaffeemachen sind Sie ein Meister.« Veber stieg in seinen Wagen. Er startete und beugte sich aus dem Fenster. »Soll ich Sie nicht doch rasch absetzen? Sie müssen verflucht müde sein.« Wie ein Seehund, dachte Ravic abwesend. Er gleicht einem gesunden Seehund. Aber was soll das schon? Wozu fällt mir das ein? Wozu immer dieses Doppeldenken? »Ich bin nicht müde«, sagte er. »Der Kaffee hat mich aufgeweckt. Schlafen Sie gut, Veber.« Veber lachte. Seine Zähne blitzten unter dem schwarzen Schnurrbart. »Ich gehe nicht mehr schlafen. Ich gehe in meinen Garten arbeiten. Tulpen und Narzissen setzen.« Tulpen und Narzissen, dachte Ravic. In abgezirkelten Beeten mit sauberen Kieswegen dazwischen. Tulpen und Narzissen — der pfirsichfarbene und goldene Sturm des Frühlings. »Auf Wiedersehen, Veber«, sagte er. »Sie sorgen ja wohl für alles andere.« »Natürlich. Ich rufe Sie abends noch an. Das Honorar wird niedrig sein, leider. Kaum nennenswert. Das Mädchen war arm und hatte anscheinend keine Verwandten. Wir werden das noch sehen.« Ravic machte eine abwehrende Bewegung. »Hundert Frank hat sie Eugenie übergeben. Scheint alles zu sein, was sie hatte. Das waren fünfundzwanzig für Sie.« »Gut, gut«, sagte Ravic ungeduldig. »Auf Wiedersehen, Veber.« »Auf Wiedersehen. Bis morgen früh um acht.« Ravic ging langsam die Rue Lauriston entlang. Wenn es Sommer gewesen wäre, hätte er sich im Bois irgendwo auf eine Bank in die Morgensonne gesetzt und gedankenlos in das Wasser und auf den grünen Wald gestarrt, bis die Spannung nachgelassen hätte. Dann wäre er ins Hotel gefahren und hätte sich schlafen gelegt. Er trat in ein Bistro an der Ecke der Rue La Boissiere. Ein paar Arbeiter und Lastwagenchauffeure standen an der Theke. Sie tranken heißen, schwarzen Kaffee und tunkten Brioches hinein. Ravic sah ihnen eine Weile zu. Da war sicheres, einfaches Leben, ein Dasein, mit Fäusten anzupacken, auszuarbeiten, Müdigkeit abends, Essen, eine Frau und ein schwerer, traumloser Schlaf. »Einen Kirsch«, sagte er. Eine schmale, billige Kette aus Golddoublée hatte das sterbende Mädchen um den rechten Fuß getragen — eine dieser Albernheiten, zu denen man nur fähig war, wenn man jung, sentimental und ohne Geschmack war. Eine Kette mit einer kleinen Platte und der Inschrift »Toujours Charles« um den Fuß geschmiedet, so daß man sie nicht abnehmen konnte; eine Kette, die eine Geschichte erzählte von Sonntagen in den Wäldern an der Seine, von Verliebtheit und dummer Jugend, von einem kleinen Juwelier irgendwo in Neuilly, von Nächten im September in einer Dachstube — und dann kam plötzlich das Ausbleiben, das Warten, die Angst — toujours Charles, der nichts mehr von sich hören ließ, die Freundin, die eine Adresse wußte, die Hebamme irgendwo, ein Wachstuchtisch, reißender Schmerz und Blut, Blut, ein verstörtes altes Weibergesicht, Arme, die einen rasch in ein Taxi drängten, um einen loszuwerden, Tage der Qual und des Verkrochenseins und schließlich der Transport, das Hospital, die letzten hundert Frank zerknüllt in der heißen, nassen Hand, und das: zu spät. Das Radio begann zu plärren. Einen Tango, zu dem eine nasale Stimme blödsinnige Verse sang. Ravic ertappte sich, wie er die Operation noch einmal durchging. Er kontrollierte jeden Handgriff. Ein paar Stunden vorher wäre vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen. Veber hatte telefonieren lassen. Er war nicht im Hotel gewesen. So hatte das Mädchen sterben müssen, weil er am Pont de l’Alma herumstand. Veber konnte solche Operationen nicht selber machen. Der Irrsinn des Zufalls. Der Fuß mit der Goldkette, schlaff einwärts gedreht. »Komm in mein Boot, der Vollmond scheint«, quäkte der Quetschtenor im Falsett. — Ravic zahlte und ging. Draußen hielt er ein Taxi an. »Fahren Sie zum ›Osiris‹.« Die »Osiris« war ein großes, bürgerliches Bordell mit einer riesigen Bar in ägyptischem Stil. »Wir schließen gerade«, sagte der Portier. »Niemand mehr da.« »Niemand?« »Nur Madame Rolande. Die Damen sind alle fort.« »Gut.« Der Portier stampfte mißmutig mit seinen Galoschen das Pflaster. »Wollen Sie das Taxi nicht behalten? Sie kriegen später nicht so leicht eines mehr. Hier ist Schluß.« »Das haben Sie mir bereits einmal gesagt. Ich werde schon noch ein Taxi bekommen.« Ravic steckte dem Portier ein Paket Zigaretten in die Brusttasche und ging durch die schmale Tür an der Garderobe vorbei in den großen Raum. Die Bar war leer; sie wirkte wie üblich nach einem kleinbürgerlichen Symposion — Lachen von vergossenem Wein, ein paar umgeworfene Stühle, Zigarettenreste auf dem Boden und der Geruch nach Tabak, süßem Parfüm und Haut. »Rolande«, sagte Ravic. Sie stand vor einem Tisch, auf dem ein Haufen rosa Seidenwäsche lag. »Ravic«, sagte sie ohne Erstaunen. »Spät. Was willst du — ein Mädchen oder etwas zu trinken? Oder beides?« »Wodka. Den Polnischen.« Rolande brachte die Flasche und ein Glas. »Schenk dir selbst ein. Ich muß noch die Wäsche sortieren und aufschreiben. Das Auto der Wäscherei kommt gleich. Wenn man nicht alles notiert, stiehlt die Bande wie eine Schar Elstern. Die Chauffeure, verstehst du? Als Geschenke für ihre Mädchen.« Ravic nickte. »Laß die Musik spielen, Rolande. Laut.« »Gut.« Rolande schaltete den Kontakt ein. Die Musik donnerte mit Pauken und Schlagzeug durch den hohen, leeren Raum wie ein Sturm. »Zu laut, Ravic?« »Nein.« Zu laut? Was war zu laut? Nur die Stille. Die Stille, in der man zersprang wie in einem luftleeren Raum. »Fertig.« Rolande kam zu Ravic an den Tisch. Sie hatte eine feste Figur, ein klares Gesicht und ruhige, schwarze Augen. Das schwarze, puritanische Kleid, das sie trug, kennzeichnete sie als Aufseherin; es unterschied sie von den fast nackten Huren. »Trink etwas mit mir, Rolande.« »Gut.« Ravic holte ein Glas von der Bar und schenkte ein. Rolande hielt die Flasche zurück, als das Glas halb voll war. »Genug! Ich trinke nicht mehr.« »Halbleere Gläser sind scheußlich. Laß stehen, was du nicht trinkst.« »Warum? Das wäre doch Verschwendung.« Ravic blickte auf. Er sah das verläßliche, vernünftige Gesicht und lächelte. »Verschwendung! Die alte französische Angst. Wozu sparen? Mit dir wird auch nicht gespart.« »Dies hier ist Geschäft. Das ist etwas anderes.« Ravic lachte. »Laß uns ein Glas darauf trinken! Was wäre die Welt ohne die Moral des Geschäftes! Ein Haufen Verbrecher, Idealisten und Faulenzer.« »Du brauchst ein Mädchen«, sagte Rolande. »Ich kann Kiki telefonieren. Sie ist sehr gut. Einundzwanzig Jahre alt.« »So. Auch einundzwanzig Jahre alt. Das ist heute nichts für mich.« Ravic goß sein Glas wieder voll. »Woran denkst du eigentlich, Rolande, bevor du einschläfst?« »Meistens an gar nichts. Ich bin zu müde.« »Und wenn du nicht zu müde bist?« »An Tours.« »Warum?« »Eine Tante von mir hat da ein Haus mit einem Laden drin. Ich habe zwei Hypotheken darauf gegeben.Wenn sie stirbt — sie ist sechsundsiebzig —, bekomme ich das Haus. Ich will dann aus dem Laden ein Café machen. Helle Wände mit Blumenmustern, eine Kapelle, drei Mann: Klavier, Geige, Cello; im Hintergrund eine Bar. Klein und gut. Das Haus liegt in einem guten Viertel. Ich glaube, daß ich es mit neuntausendfünfhundert Franks einrichten kann, mit den Vorhängen und Lampen sogar. Dann will ich noch fünftausend Franks in Reserve haben für die erste Zeit. Und natürlich die Mieten aus der ersten und zweiten Etage. Daran denke ich.« »Bist du in Tours geboren?« »Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.« »Nicht alles. Aber vieles.« Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme langsamer machte. »Ich glaube, ich habe genug«, sagte er und zog ein paar Scheine aus der Tasche. »Wirst du in Tours heiraten, Rolande?« »Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen Freund da.« »Fährst du ab und zu hin?« »Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital. Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die Ärzte. Dann ist er frei.« Ravic stand auf. »Gott segne dich, Rolande. Du hast einen gesunden Menschenverstand.« Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine Geheimnisse für sie. Draußen war es heller Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Pissoirs standen wie kleine Panzertürme an den Straßenecken. Der Portier war verschwunden, die Nacht fortgewischt, der Tag hatte begonnen, und Scharen eiliger Menschen drängten sich an den Eingängen der Untergrundbahnen — als wären es Erdlöcher, in die sie hineinstürzten, um sich einer finsteren Gottheit zu opfern. Die Frau fuhr vom Sofa hoch. Sie schrie nicht — sie fuhr nur mit einem leichten, unterdrückten Laut auf, stützte sich auf die Ellbogen und erstarrte. »Ruhig, ruhig«, sagte Ravic. »Ich bin es. Derselbe, der Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.« Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich; die brennenden elektrischen Birnen mischten sich mit dem Morgen, der durch das Fenster kroch, zu einem gelblich bleichen, kranken Licht. »Ich glaube, wir können das jetzt ausmachen«, sagte er und drehte den Schalter um. Er fühlte wieder die weichen Hämmer der Trunkenheit hinter der Stirn. »Wollen Sie frühstücken?« fragte er. Er hatte die Frau vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken, die Kulissen seines Bewußtseins hatten sich verschoben, die klirrende Kette der Zeit war zersprungen, und stark und furchtlos umstanden ihn die Erinnerungen und die Träume. Er wollte allein sein. »Wollen Sie Kaffee?« fragte er. »Es ist das einzige, was hier gut ist.« Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. »Ist was los? War jemand hier?« »Nein.« »Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an wie ein Gespenst.« Die Frau bewegte die Lippen. »Der Geruch«, sagte sie dann. »Geruch?« wiederholte Ravic verständnislos; »Wodka riecht doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst.Was ist daran zu erschrekken?« »Das meine ich nicht...« »Was denn, Herrgott?« »Es ist derselbe... derselbe Geruch...« »Du lieber Himmel, es wird Äther sein«, sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel. »Ist es Äther?« Sie nickte. »Sind Sie einmal operiert worden?« »Nein... es ist...« Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. »Wird gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.« — Er ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben. Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Es gab Statistiken darüber. Es war nichts dabei. Aber für den einen, der starb, war es alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste. Er setzte sich auf den Rand der Wanne und zog die Schuhe aus. Das blieb immer dasselbe. Die Dinge und ihr stummer Zwang. Die Trivialität, die schmale Gewohnheit in all dem irrlichternden Vergleiten. Das blühende Ufer des Herzens an den Wassern der Liebe — aber wer man auch war, Poet, Halbgott oder Idiot — alle paar Stunden wurde man aus seinen Himmeln geholt, um zu urinieren. Dem war nicht zu entgehen! Die Ironie der Natur. Der romantische Regenbogen über Drüsenreflexen und Verdauungsgequirl. Die Organe der Verzückung diabolisch gleichzeitig zur Ausscheidung organisiert. Ravic warf die Schuhe in eine Ecke. Verhaßte Gewohnheit des Ausziehens! Sogar dem war nicht zu entkommen. Nur wer allein lebte, begriff das. Irgendeine verdammte Ergebenheit, ein Aufgehen war darin. Er hatte oft schon in seinen Kleidern geschlafen, um ihr zu entgehen; aber es war nur ein Verschieben. Es war ihr nicht zu entkommen. Er drehte die Dusche an. Das kühle Wasser strömte über seine Haut. Er atmete tief und trocknete sich ab. Der Trost der kleinen Dinge. Wasser, Atem, abendlicher Regen. Nur wer allein war, kannte auch sie. Dankbare Haut. Leichtes, in den dunklen Kanälen hinschießendes Blut. Auf einer Wiese zu liegen. Birken. Weiße Sommerwolken. Der Himmel der Jugend. Wo waren die Abenteuer des Herzens geblieben? Erschlagen von den finsteren Abenteuern des Daseins. Er ging in das Zimmer zurück. Die Frau hockte in der Ecke des Sofas, die Decke hoch um sich gezogen. »Kalt?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Angst?« Sie nickte. »Vor mir?« »Nein.« »Vor draußen?« »Ja.« Ravic schloß das Fenster. — »Danke«, sagte sie. Er sah auf den Nacken vor sich. Schultern. Etwas, das atmete. Ein bißchen fremdes Leben — aber Leben. Wärme. Kein erstarrender Körper. Was konnte man sich schon anderes geben als etwas Wärme? Und was war mehr? Die Frau bewegte sich. Sie zitterte. Sie sah Ravic an. Er spürte, wie die Welle zurückebbte. Die tiefe Kühle ohne Schwere kam. Die Spannung war vorüber. Die Weite kam. Es war, als würde er von einer Nacht auf einem fremden Planeten zurückgenommen. Alles wurde plötzlich einfach, der Morgen, die Frau — es war nichts mehr zu denken. »Komm«, sagte er. Sie starrte ihn an. »Komm«, sagte er ungeduldig. |
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