"Arc de Triomphe" - читать интересную книгу автора (Remarque Erich Maria)3Er wachte auf. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau war angezogen und saß auf dem Sofa. Aber sie sah ihn nicht an; sie blickte aus dem Fenster. Er hatte erwartet, sie würde längst fort sein. Es war ihm unbequem, daß sie noch da war. Er konnte morgens keine Menschen um sich leiden. Er überlegte, ob er versuchen sollte, weiterzuschlafen; aber es störte ihn, daß sie ihn beobachten konnte. Er beschloß, sie rasch loszuwerden. Wenn sie auf Geld wartete, war es sehr einfach. Es würde auch sonst einfach sein. Er richtete sich auf. »Sind Sie schon lange auf?« Die Frau erschrak und drehte sich um. »Ich konnte nicht mehr schlafen. Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe.« »Sie haben mich nicht geweckt.« Sie stand auf. »Ich wollte fortgehen. Ich weiß nicht, weshalb ich hier noch gesessen habe.« »Warten Sie. Ich bin gleich fertig. Sie bekommen noch Ihr Frühstück. Den berühmten Kaffee des Hotels. So lange werden wir beide noch Zeit haben.« Er stand auf und klingelte. Dann ging er ins Badezimmer. Er sah, daß die Frau es benutzt hatte; aber alles war wieder ordentlich gerichtet worden, sogar die gebrauchten Frotteetücher. Während er sich die Zähne putzte, hörte er das Mädchen mit dem Frühstück kommen. Er beeilte sich. »War es unangenehm?« fragte er, als er herauskam. »Was?« »Daß das Zimmermädchen Sie sah. Ich habe nicht daran gedacht.« »Nein. Es war auch nicht überrascht.« Die Frau blickte auf das Tablett. Es war für zwei Personen, ohne daß Ravic etwas gesagt hätte. »Sicher nicht. Dafür sind wir in Paris. Hier ist Ihr Kaffee. Haben Sie Kopfschmerzen?« »Nein.« »Gut. Ich habe welche. Aber das ist in einer Stunde vorbei. Hier sind Brioches.« »Ich kann nichts essen.« »Doch, Sie können. Sie glauben bloß, Sie könnten nicht. Versuchen Sie es nur.« Sie nahm ein Brioche. Dann legte sie es wieder hin. »Ich kann wirklich nicht.« »Dann trinken Sie den Kaffee und rauchen eine Zigarette. Das ist das Frühstück der Soldaten.« »Ja.« Ravic aß. »Sind Sie immer noch nicht hungrig?« fragte er nach einer Weile. »Nein.« Die Frau drückte ihre Zigarette aus. »Ich glaube...«, sagte sie und verstummte. »Was glauben Sie?« fragte Ravic ohne Neugier. »Ich sollte jetzt gehen.« »Wissen Sie den Weg? Sie sind hier nahe der Avenue Wagram.« »Nein.« »Wo wohnen Sie?« »Im Hotel Verdun.« »Das ist wenige Minuten von hier. Ich kann es Ihnen zeigen, draußen. Ich werde Sie ohnehin am Portier vorbeibringen.« »Ja... aber das ist es nicht...« Sie schwieg wieder. Geld, dachte Ravic. Geld, wie immer. »Ich kann Ihnen leicht aushelfen, wenn Sie in Verlegenheit sind. « Er zog seine Brieftasche hervor. »Lassen Sie das! Was soll das?« sagte die Frau schroff . »Nichts.« Ravic steckte die Brieftasche wieder ein. »Entschuldigen Sie...« Sie stand auf. »Sie waren... ich muß Ihnen danken... es wäre... die Nacht... ich hätte allein nicht gewußt...« Ravic fiel ein, was geschehen war. Er hätte es lächerlich gefunden, wenn sie eine Angelegenheit daraus gemacht hätte — aber daß sie ihm dankte, hatte er nicht erwartet, und es war ihm viel unangenehmer. »Ich hätte wirklich nicht gewußt«, sagte die Frau. Sie stand noch immer unschlüssig vor ihm. Weshalb geht sie nicht? dachte er. »Aber jetzt wissen Sie...«, sagte er, um etwas zu sagen. »Nein.« Sie sah ihn offen an. »Ich weiß es noch immer nicht. Ich weiß nur, daß ich etwas tun muß. Ich weiß, daß ich nicht weglaufen kann.« »Das ist schon viel.« Ravic nahm seinen Mantel. »Ich werde Sie jetzt herunterbringen.« »Das ist nicht nötig. Sagen Sie mir nur...« Sie zögerte und suchte nach Worten. »Vielleicht wissen Sie... was man tun muß... wenn...« »Wenn?« fragte Ravic nach einer Weile. »Wenn jemand gestorben ist«, stieß die Frau hervor und brach plötzlich zusammen. Sie weinte. Sie schluchzte nicht, sie weinte nur, fast ohne Laut. Ravic wartete, bis sie ruhiger wurde. »Ist jemand gestorben?« Sie nickte. »Gestern abend?« Sie nickte wieder. »Haben Sie ihn getötet?« Die Frau starrte ihn an. »Was? Was sagen Sie da?« »Haben Sie es getan? Wenn Sie mich fragen, was Sie tun sollen, müssen Sie es mir sagen.« »Er ist gestorben!« schrie die Frau. »Plötzlich...« Sie verbarg ihr Gesicht. »War er krank?« fragte Ravic. »Ja.« »Hatten Sie einen Arzt?« »Ja... aber er wollte nicht ins Krankenhaus...« »War der Arzt gestern da?« »Nein. Vor drei Tagen. Er hat ihn... er schimpfte auf den Arzt und wollte ihn nicht mehr haben.« »Hatten Sie keinen anderen danach?« »Wir wußten keinen. Wir sind erst drei Wochen hier. Diesen hatte der Kellner uns besorgt... und er wollte ihn nicht mehr... er sagte... er glaubte, er könne es allein besser...« »Was hat er gehabt?« »Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte Lungenentzündung... aber er glaubte es nicht... er sagte, alle Ärzte seien Betrüger... und es war auch besser gestern. Dann plötzlich...« »Warum haben Sie ihn nicht in ein Hospital gebracht?« »Er wollte nicht... er sagte... er... ich würde ihn betrügen, wenn er fort wäre... er... Sie kennen ihn nicht... es war nichts zu machen.« »Liegt er noch im Hotel?« »Ja.« »Haben Sie dem Hotelbesitzer gemeldet, was geschehen ist?« »Nein. Als er plötzlich still war... und alles so still... und seine Augen... da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fortgelaufen.« Ravic dachte an die Nacht. Er war einen Moment verlegen. Aber es war geschehen, und es war egal, für ihn und für die Frau. Besonders für die Frau. Es war alles egal für sie gewesen in dieser Nacht und nur das eine wichtig: daß sie überstand. Das Leben bestand aus mehr als aus sentimentalen Vergleichen. Die Nacht, als Lavigne gehört hatte, daß seine Frau tot war, hatte er im Hurenhaus verbracht. Die Huren hatten ihn gerettet; mit Priestern wäre er nicht durchgekommen. Wer das verstand, verstand es. Erklärungen dafür gab es nicht. Aber es gab Verpflichtungen dadurch. Er nahm seinen Mantel. »Kommen Sie! Ich werde mit Ihnen gehen. War es Ihr Mann?« »Nein«, sagte die Frau. Der Patron des Hotels Verdun war dick. Er hatte kein Haar mehr auf dem Schädel, dafür aber einen gefärbten schwarzen Schnurrbart und schwarze, dichte Augenbrauen. Er stand im Eingangsraum, hinter ihm ein Kellner, ein Zimmermädchen und eine Kassiererin ohne Busen. Es war kein Zweifel, daß er bereits alles wußte. Er tobte auch sofort los, als er die Frau hereinkommen sah. Sein Gesicht verfärbte sich, er fuchtelte mit den fetten, kleinen Händen und strudelte Wut, Entrüstung und, wie Ravic sah, Erleichterung hervor. Als er bei Polizei, Fremden,Verdacht und Gefängnis war, unterbrach Ravic ihn. »Sind Sie Provenzale?« fragte er ruhig. Der Wirt stoppte. »Nein. Was soll das?« fragte er verblüfft. »Nichts«, erwiderte Ravic. »Ich wollte Sie nur unterbrechen. Das geht am besten durch eine völlig sinnlose Frage. Sie würden sonst noch eine Stunde geredet haben.« »Herr! Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Das ist der erste vernünftige Satz, den Sie bisher gesagt haben.« Der Wirt hatte sich gefaßt. »Wer sind Sie?« fragte er ruhiger, mit der Vorsicht, unter keinen Umständen einen einflußreichen Mann zu beleidigen. »Der Arzt.« Der Wirt sah keine Gefahr mehr. »Wir brauchen hier keinen Arzt mehr«, kollerte er aufs neue los. »Hier brauchen wir die Polizei.« Er starrte Ravic und die Frau an. Er erwartete Angst, Protest und Bitten. »Ein guter Gedanke.Warum ist sie nicht schon hier? Sie wissen doch schon seit einigen Stunden, daß der Mann tot ist.« Der Patron erwiderte nichts. Er starrte Ravic nur weiter wütend an. »Ich will es Ihnen sagen.« Ravic trat einen Schritt näher. »Weil Sie kein Aufsehen wollen Ihrer Gäste wegen. Es gibt eine Menge Leute, die ausziehen, wenn sie so etwas hören. Aber die Polizei wird kommen, das ist das Gesetz. Es liegt nur an Ihnen, es unauffällig zu machen. Das war auch gar nicht Ihre Sorge. Sie hatten Angst, daß man Ihnen durchgegangen sei und Ihnen alles überlassen hätte. Das war unnötig. Außerdem hatten Sie Angst wegen Ihrer Rechnung. Sie werden bezahlt werden. Und jetzt möchte ich den Toten sehen. Ich werde dann für alles andere sorgen.« Ravic ging an dem Wirt vorbei. »Welche Zimmernummer?« fragte er die Frau. »Vierzehn.« »Sie brauchen nicht mitzugehen. Ich kann das allein machen.« »Nein. Ich möchte nicht hierbleiben.« »Es ist einfacher, wenn Sie nichts mehr sehen.« »Nein. Ich will nicht hierbleiben.« »Gut. Wie Sie wollen.« Das Zimmer war niedrig und lag nach der Straße. An der Tür drängten sich ein paar Zimmermädchen, Hausknechte und Kellner. Ravic schob sie beiseite. Der Raum hatte zwei Betten; in dem an der Wand lag der Mann. Er lag gelb und steif da wie eine Figur aus Kirchenwachs, mit krausen schwarzen Haaren, in einem roten Seidenpyjama. Die Hände waren zusammengelegt. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine kleine, billige, hölzerne Madonna, auf deren Gesicht Spuren von Lippenstift waren. Ravic nahm sie hoch, »made in Germany« stand auf dem Rücken eingedruckt. Ravic sah das Gesicht des Toten an; er hatte kein Lippenrouge auf den Lippen. Er sah auch nicht so aus. Die Augen waren halb offen; eines mehr als das andere — das gab dem Körper einen sehr gleichgültigen Ausdruck, als wäre er in einer ewigen Langeweile erstarrt. Ravic beugte sich über ihn. Er musterte die Flaschen auf dem Tisch neben dem Bett und untersuchte den Körper. Keine Spur irgendeiner Gewalt. Er richtete sich auf. »Wie hieß der Arzt, der hier war?« fragte er die Frau. »Wissen Sie seinen Namen?« »Nein.« Er sah sie an. Sie war sehr blaß. »Setzen Sie sich einmal da herüber. Dort drüben auf den Stuhl in der Ecke. Und bleiben Sie dort sitzen. Ist der Kellner hier, der Ihnen den Arzt besorgt hat?« Er blickte auf die Gesichter in der Tür. Auf allen lag der gleiche Ausdruck: Grauen und Gier. »François hat die Etage«, sagte die Scheuerfrau, die einen Besen wie einen Speer in der Hand hielt. »Wo ist François?« Ein Kellner drängte sich durch. »Wie hieß der Arzt, der hier war?« »Bonnet. Charles Bonnet.« »Haben Sie seine Telefonnummer?« Der Kellner kramte sie hervor. »Passy 27 43.« »Gut.« Ravic sah, daß das Gesicht des Wirtes auftauchte. »Wir wollen jetzt einmal die Tür schließen. Oder haben Sie ein Interesse daran, daß man auch noch von der Straße hereinkommt?« »Nein! ’raus! Alle ’raus! Was steht ihr überhaupt hier ’rum und stehlt die Zeit, die ich euch bezahle?« Der Wirt trieb die Angestellten hinaus und schloß die Tür. Ravic nahm das Telefon ab. Er rief Veber an und sprach eine Weile mit ihm. Dann rief er die Passy-Nummer an. Bonnet war in seinem Sprechzimmer. Er bestätigte, was die Frau gesagt hatte. »Der Mann ist gestorben«, sagte Ravic. »Können Sie herüberkommen, den Totenschein ausstellen?« »Der Mann hat mich herausgeworfen. In der beleidigendsten Weise.« »Er wird Sie jetzt nicht mehr beleidigen.« »Er hat mir mein Honorar nicht bezahlt. Dafür hat er mich einen habgierigen Kurpfuscher genannt.« »Würden Sie kommen, damit man Ihnen die Rechnung bezahlt?« »Ich kann jemand schicken.« »Es ist besser, Sie kommen selbst. Sonst bekommen Sie Ihr Geld nie.« »Gut«, sagte Bonnet nach einigem Zögern. »Aber ich unterschreibe nichts, ehe ich nicht bezahlt bin. Dreihundert Frank macht es.« »Schön. Dreihundert Frank. Sie werden sie bekommen.« Ravic hängte ab. »Tut mir leid, daß Sie das mit anhören mußten«, sagte er zu der Frau. »Es war nicht anders zu machen.Wir brauchen den Mann.« Die Frau holte bereits einige Scheine hervor. »Es macht nichts«, erwiderte sie. »So etwas ist nichts Neues für mich. Hier ist das Geld.« »Warten Sie noch damit. Er kommt gleich. Sie können es ihm dann geben.« »Können Sie den Totenschein nicht selbst ausstellen?« fragte die Frau. »Nein«, sagte Ravic. »Dazu brauchen wir einen französischen Arzt. Am einfachsten den, der ihn behandelt hat.« Als Bonnet die Tür hinter sich schloß, wurde es plötzlich still. Viel stiller, als wenn nur ein einzelner Mensch das Zimmer verlassen hätte. Der Autolärm von der Straße bekam etwas Blechernes, als pralle er gegen eine Wand schwerer Luft, durch die er nur mühsam sickerte. Nach dem Hin und Her der Stunde vorher begann der Tote jetzt zum ersten Male dazusein. Sein mächtiges Schweigen füllte den billigen Raum, und es war gleichgültig, ob er glänzend rote Seidenpyjamas trug — er herrschte, wie selbst ein toter Clown herrscht — weil er sich nicht mehr bewegte. Was lebte, bewegte sich — und was sich bewegte, konnte Kraft haben und Grazie und Lächerlichkeit — aber nicht die fremde Majestät dessen, das sich nie mehr bewegen, sondern nur noch zerfallen konnte. Das Vollendete allein hatte es — und der Mensch war nur im Tode vollendet — und nur für kurze Zeit. »Sie waren nicht verheiratet?« fragte Ravic. »Nein. Warum?« »Das Gesetz. Die Hinterlassenschaft. Die Polizei wird eine Aufstellung darüber machen, was Ihnen und was ihm gehört. Was Ihnen gehört, behalten Sie. Was ihm gehört, wird von der Polizei festgehalten. Für Angehörige, die sich melden sollten. Hat er welche?« »Nicht in Frankreich.« »Sie haben mit ihm gelebt?« Die Frau antwortete nicht. »Lange?« »Zwei Jahre.« Ravic sah sich um. Haben Sie keine Koff er?« »Doch... sie waren hier... dort, drüben an der Wand. Gestern abend noch.« »Aha, der Wirt.« Ravic öffnete die Tür. Die Putzfrau mit dem Besen prallte zurück. »Mutter«, sagte er, »für Ihr Alter sind Sie zu neugierig. Rufen Sie den Wirt.« Die Putzfrau wollte protestieren. »Sie haben recht«, unterbrach Ravic. »In Ihrem Alter hat man nur noch die Neugier. Aber rufen Sie den Wirt.« Die Alte muffelte etwas, schob den Besen vor sich her und entschwand. »Es tut mir leid«, sagte Ravic. »Doch es hilft nichts. Es mag roh aussehen, aber wir müssen es besser jetzt gleich machen. Es ist einfacher, wenn Sie es im Augenblick vielleicht auch nicht verstehen.« »Ich verstehe es«, sagte die Frau. Ravic sah sie an. »Sie verstehen es?« »Ja.« Der Wirt kam herein, einen Zettel in der Hand. Er klopfte nicht an. »Wo sind die Koffer?« fragte Ravic. »Zuerst einmal die Rechnung. Hier. Erst wird die Rechnung bezahlt.« »Zuerst einmal die Koffer. Niemand hat sich bis jetzt geweigert, die Rechnung zu bezahlen. Das Zimmer ist noch immer vermietet. Das nächste Mal klopfen Sie an, wenn Sie hereinkommen. Geben Sie die Rechnung her, und lassen Sie die Koffer bringen.« Der Wirt starrte ihn wütend an. »Sie werden Ihr Geld bekommen«, sagte Ravic. Der Patron zog ab. Er warf die Tür hinter sich zu. »Ist Geld in den Koffern?« fragte Ravic die Frau. »Ich... nein, ich glaube nicht.« »Wissen Sie, wo es ist? In seinem Anzug? Oder war keins da?« »Er hatte Geld in seiner Brieftasche.« »Wo ist sie?« »Unter...« Die Frau zögerte. »Unter seinem Kopfkissen hatte er sie meistens.« Ravic stand auf. Er hob vorsichtig das Kopfkissen mit dem Kopf des Toten und holte darunter eine lederne schwarze Brieftasche hervor. Er gab sie der Frau. »Nehmen Sie das Geld heraus und alles, was wichtig für Sie ist. Rasch. Es ist keine Zeit für Sentimentalität. Sie müssen leben. Zu was sonst ist es nütze? Soll es bei der Polizei verschimmeln?« Er blickte eine Minute aus dem Fenster. Ein Lastwagenchauffeur beschimpfte auf der Straße einen Kutscher mit einem von zwei Pferden gezogenen Grünkramwagen. Er beschimpfte ihn mit der vollen Überlegenheit, die ein schwerer Motor verleiht. Ravic wandte sich um. »Fertig?« »Ja.« »Geben Sie mir die Brieftasche wieder zurück.« Er schob sie unter das Kissen. Er fühlte, daß sie dünner war als vorher. »Packen Sie die Sachen in Ihre Handtasche«, sagte er. Sie tat es gehorsam. Ravic nahm die Rechnung und sah sie durch. »Haben Sie hier schon einmal eine Rechnung bezahlt?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube schon.« »Dies ist eine Rechnung für zwei Wochen. Bezahlte...« Ravic zögerte einen Moment. Es schien ihm sonderbar, von dem Toten als Herrn Raszinsky zu sprechen. »Wurden die Rechnungen immer pünktlich bezahlt?« »Ja, immer. Er sagte oft, daß... in seiner Lage es wichtig wäre, immer pünktlich da zu zahlen, wo man müßte.« »Dieser Halunke von Wirt! Haben Sie eine Ahnung, wo die letzte Rechnung sein kann?« Es klopfte. Ravic konnte sich nicht enthalten zu lächeln. Der Hausknecht brachte die Koffer herein. Der Wirt folgte ihm. »Sind das alle?« fragte Ravic die Frau. »Ja.« »Natürlich sind das alle«, grunzte der Wirt. »Was dachten Sie denn?« Ravic nahm einen kleinen Koffer. »Haben Sie einen Schlüssel dazu? Nein? Wo können die Schlüssel sein?« »Im Schrank. In seinem Anzug.« Ravic öffnete den Schrank. Er war leer. »Nun?« fragte er den Wirt. Der Wirt wandte sich an den Valet: »Nun?« fauchte er. »Der Anzug ist draußen«, stotterte der Valet. »Warum?« »Zum Bürsten und Reinigen.« »Das braucht er wohl nicht mehr«, sagte Ravic. »Bring ihn sofort herein, verdammter Dieb«, schnauzte der Wirt. Der Hausdiener gab ihm einen kuriosen, zwinkernden Blick und ging. Gleich darauf brachte er den Anzug herein. Ravic schüttelte das Jackett, dann die Hose. Es klirrte in der Hose. Ravic zögerte einen Moment. Sonderbar, in die Hosentasche eines toten Mannes zu greifen. Als wäre der Anzug mitgestorben. Und sonderbar, so zu denken. Ein Anzug war ein Anzug. Er nahm die Schlüssel heraus und öffnete die Koffer. Obenauf lag eine Segeltuchmappe. »Ist es diese?« fragte er die Frau. Sie nickte. Ravic fand die Rechnung sofort. Sie war quittiert. Er zeigte sie dem Wirt. »Sie haben eine Woche zuviel gerechnet.« »So?« schnappte der Patron zurück. »Und dann der Ärger? Die Schweinerei? Die Aufregung? Das ist wohl nichts, was? Daß ich meine Galle wieder fühle, das ist wohl inbegriffen, wie? Sie haben ja selbst gesagt, daß Gäste ausziehen werden! Der Schaden ist viel höher! Und das Bett? Das Zimmer, das ausgeschwefelt werden muß? Das Bettuch, das verdreckt ist?« »Das Bettuch ist auf der Rechnung. Außerdem ein Diner für fünfundzwanzig Frank, das er gestern abend noch gegessen haben soll. Haben Sie etwas gegessen gestern?« fragte er die Frau. »Nein. Aber kann ich es nicht einfach bezahlen? Es ist... ich möchte es rasch erledigen.« Rasch erledigen, dachte Ravic. Wir kennen das. Und dann — die Stille und der Tote. Die Keulenschläge des Schweigens. Besser so — wenn es auch scheußlich ist. Er nahm einen Bleistift vom Tisch und rechnete. Dann gab er die Rechnung an den Wirt zurück. »Einverstanden?« Der Patron warf einen Blick auf die Endziffer. »Ich bin doch nicht verrückt?« »Einverstanden?« fragte Ravic noch einmal. »Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?« »Ich bin der Bruder«, sagte Ravic. »Einverstanden?« »Plus zehn Prozent Service und Steuer. Sonst nicht.« »Gut.« Ravic fügte die Zahl hinzu. »Sie haben zweihundertzweiundneunzig Frank zu zahlen«, sagte er zu der Frau. Sie nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm und sich zum Gehen wandte. »Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.« »Acht Frank zurück«, sagte Ravic. »Und der Concierge?« »Den zahlen wir selbst. Die Trinkgelder auch.« Der Wirt zahlte mürrisch acht Frank auf den Tisch. »Sales etrangers«, murmelte er und verließ das Zimmer. »Der Stolz mancher französischer Hoteliers besteht darin, daß sie die Fremden hassen, von denen sie leben.« Ravic bemerkte den Hausknecht, der mit einem Trinkgeldgesicht noch an der Tür stand. »Hier...« Der Valet besah den Schein zuerst. »Merci, Monsieur«, erklärte er dann und ging. »Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden«, sagte Ravic und sah die Frau an. Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern in der leise einfallenden Dämmerung. »Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig... wenn man lebt, kümmert sich niemand.« Er sah die Frau noch einmal an. »Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.« »Nein. Ich möchte hierbleiben.« »Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?« »Ich weiß nicht. Er... wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft... er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.« Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität. »Er weiß nichts mehr davon«, sagte Ravic. »Das ist es nicht...« »Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.« Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. »Bringen Sie zwei große Kognaks.« »Hierher?« — »Ja. Wohin sonst?« »Sehr wohl, mein Herr.« Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Er blickte in die Ecke, wo das Bett weiß in der Dämmerung schimmerte. »Soll ich Licht machen?« fragte er. »Nein. Aber Sie können die Flasche hierlassen.« Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand mit einem zweiten Blick auf das Bett, so rasch er konnte. Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. »Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.« Er erwartete, daß die Frau sich weigern würde und er ihr zureden müsse. Aber sie trank das Glas ohne Zögern aus. »Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?« »Nein.« »Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?« »Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.« »Auch nicht in dem kleinen Koffer?« »Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.« Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch; in einem Seitenfach der Segeltuchmappe, in Seidenpapier gewickelt, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht. »Hier sind hundert Dollar«, sagte er. »Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.« »Danke«, sagte die Frau. »Es ist möglich, daß Sie das alles jetzt scheußlich finden. Aber es muß getan werden. Es ist wichtig für Sie. Es gibt Ihnen ein Stück Zeit.« »Ich finde es nicht scheußlich. Ich hätte es nur nicht selbst tun können.« Ravic schenkte die Gläser voll. »Trinken Sie das noch.« Sie trank das Glas langsam aus. »Besser?« fragte er. Sie sah ihn an. »Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.« Sie saß undeutlich in der Dämmerung. Manchmal huschte der rote Schein einer Leuchtreklame über ihr Gesicht und ihre Hände. »Ich kann nichts denken«, sagte sie, »solange er da ist.« Die beiden Ambulanzgehilfen schlugen die Decke zurück und schoben die Bahre neben das Bett. Dann hoben sie den Körper hinüber. Sie taten es rasch und geschäftsmäßig. Ravic stand dicht neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Bevor die Gehilfen den Körper zudeckten, bückte er sich und nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. »Ich glaubte, das gehört Ihnen«, sagte er. »Wollen Sie es nicht behalten?« »Nein.« Er gab ihr die Figur. Sie nahm sie nicht. Er öffnete den kleinen Koffer und legte sie hinein. Die Ambulanzgehilfen deckten ein Tuch über den Leichnam. Dann hoben sie die Bahre auf. Die Tür war schmal, und der Korridor draußen war nicht breit. Sie versuchten hindurchzukommen, aber es war unmöglich. Die Bahre stieß an. »Wir müssen ihn herunternehmen«, sagte der ältere. »Wir kommen nicht um die Ecke mit ihm.« Er sah Ravic an. »Kommen Sie«, sagte Ravic zu der Frau. »Wir können unten warten.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Gut«, sagte er zu den Gehilfen. »Tun Sie, was nötig ist.« Die beiden hoben den Körper an den Füßen und an den Schultern auf und legten ihn auf den Fußboden. Ravic wollte etwas sagen. Er sah die Frau an. Sie rührte sich nicht. Er schwieg. Die Gehilfen trugen die Bahre hinaus. Dann kamen sie in die Dämmerung zurück und holten den Körper in den trübe beleuchteten Korridor. Ravic ging ihnen nach. Sie mußten den Körper sehr hoch heben, um die Treppe zu passieren. Ihre Köpfe schwollen an und wurden rot und feucht unter dem Gewicht, und der Tote schwebte über ihnen. Ravic sah ihnen nach, bis sie unten waren. Dann ging er zurück. Die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Auf der Straße das Auto. Die Gehilfen schoben die Bahre hinein wie ein Bäcker Brot in einen Ofen. Dann kletterten sie auf die Sitze, der Motor heulte auf, als schrie jemand aus der Erde, und der Wagen schoß in einer scharfen Kurve um die Ecke. Die Frau drehte sich um. »Sie hätten vorher weggehen sollen«, sagte Ravic. »Wozu mußte sie das letzte noch sehen?« »Ich konnte nicht. Ich konnte nicht von ihm gehen. Verstehen Sie das nicht?« »Ja. Kommen Sie. Trinken Sie noch ein Glas.« »Nein.« Veber hatte den Lichtschalter angedreht, als die Polizei und die Ambulanz kamen. Der Raum erschien jetzt größer, seit der Körper fort war. Größer und sonderbar tot, als wäre der Körper fortgegangen und der Tod allein geblieben. »Wollen Sie hier im Hotel bleiben? Doch sicher nicht?« »Nein.« »Haben Sie Bekannte hier?« »Nein. Niemand.« »Wissen Sie ein Hotel, in das Sie möchten?« »Nein.« »In der Nähe ist ein kleines Hotel, ähnlich wie dieses. Sauber und ehrlich.Wir könnten dort etwas für Sie finden. Hotel Milan.« »Kann ich nicht in das Hotel gehen, wo ...? In Ihr Hotel?« »Ins International?« »Ja. Ich... es ist... ich kenne es nun schon etwas. Es ist besser als ein ganz unbekanntes.« »Das International ist kein gutes Hotel für Frauen«, sagte Ravic. Das fehlte noch, dachte er. Im selben Hotel. Ich bin kein Krankenwärter. Und dann — vielleicht dachte sie, er hätte bereits eine Verpflichtung. Es gab das. »Ich kann Ihnen nicht dazu raten«, sagte er schroffer, als er gewollt hatte. »Es ist immer überfüllt. Mit Refugiés. Besser, Sie gehen zum Hotel Milan. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie es ja immer noch wechseln.« Die Frau sah ihn an. Er hatte das Gefühl, daß sie wußte, was er dachte, und er war beschämt. Aber es war besser, einen Augenblick beschämt zu sein und dafür später Ruhe zu haben. »Gut«, sagte die Frau. »Sie haben recht.« Ravic ließ die Koffer hinunter in ein Taxi bringen. Das Hotel Milan war nur wenige Minuten entfernt. Er mietete ein Zimmer und ging mit der Frau hinauf. Es war ein Raum im zweiten Stock mit einer Tapete mit Rosengirlanden, einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit zwei Stühlen. »Ist das genug?« fragte er. »Ja. Sehr gut.« Ravic musterte die Tapete. Sie war schauderhaft. »Es scheint immerhin hell zu sein«, sagte er. »Hell und sauber.« »Ja.« Die Koffer wurden heraufgebracht. »So, jetzt haben Sie alles hier.« »Ja. Danke. Danke vielmals.« Die Frau saß auf dem Bett. Ihr Gesicht war sehr blaß und verwaschen. »Sie sollten schlafen gehen. Glauben Sie, daß Sie es können?« »Ich werde es versuchen.« Ravic zog eine Aluminiumröhre aus der Tasche und schüttelte ein paar Tabletten heraus. »Hier ist etwas zum Schlafen. Mit einem Glas Wasser. Wollen Sie es jetzt nehmen?« »Nein, später.« »Gut. Ich werde jetzt gehen. In den nächsten Tagen werde ich nach Ihnen fragen. Versuchen Sie, sobald wie möglich zu schlafen. Hier ist die Adresse des Beerdigungsinstituts, wenn Sie noch etwas zu tun haben. Gehen Sie nicht hin. Denken Sie an sich. Ich werde nach Ihnen fragen.« Ravic zögerte einen Moment. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Madou. Joan Madou.« »Joan Madou. Gut. Ich werde das behalten.« Er wußte, daß er es nicht behalten würde und daß er nicht nachfragen würde. Aber da er es wußte, wollte er den Schein aufrechterhalten. »Ich werde es doch lieber aufschreiben«, sagte er und zog einen Rezeptblock aus der Tasche. »Hier — wollen Sie es selbst schreiben? Es ist einfacher.« Sie nahm den Block und schrieb ihren Namen. Er blickte darauf, riß das Blatt ab und steckte es in die Seitentasche seines Mantels. »Gehen Sie gleich schlafen«, sagte er. »Morgen sieht alles anders aus. Es klingt albern und abgegriffen, aber es ist wahr; alles, was Sie jetzt brauchen, ist Schlaf und etwas Zeit. Eine gewisse Zeit, die Sie überstehen müssen. Wissen Sie das?« »Ja, ich weiß es.« »Nehmen Sie die Tabletten und schlafen Sie.« »Ja. Danke. Danke für alles — ich weiß nicht, was ich getan hätte ohne Sie. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie gab ihm die Hand. Sie war kühl, aber sie hatte einen festen Druck. Gut, dachte er. Etwas von einem Entschluß ist schon da. Ravic trat auf die Straße hinaus. Er atmete den Wind, der feucht und weich war. Automobile, Menschen, ein paar fremde Huren bereits an den Ecken, Brasserien, Bistros, der Geruch nach Tabak, Aperitifs und Benzin — schwankendes, rasches Leben. Er blickte die Hausfront hinauf. Ein paar erleuchtete Fenster. Hinter einem davon saß jetzt die Frau und starrte vor sich hin. Er zog den Zettel mit dem Namen aus der Tasche, zerriß ihn und warf ihn fort. Vergessen. Welch ein Wort. Voll von Grauen, Trost und Gespensterei! Wer konnte leben, ohne zu vergessen? Aber wer konnte genug vergessen? Die Schlacken der Erinnerung, die das Herz zerrissen. Erst wenn man nichts mehr hatte, für das man lebte, war man frei. Er ging zum Etoile. Eine große Menschenmenge füllte den Platz. Hinter dem Arc de Triomphe waren Scheinwerfer. Sie beleuchteten das Grab des Unbekannten Soldaten. Eine riesige blauweißrote Fahne wehte darüber im Winde. Es war der zwanzigste Jahrestag des Waffenstillstandes von 1918. Der Himmel war bedeckt, und die Strahlen der Scheinwerfer warfen den Schatten der Fahne matt, verwischt und zerrissen gegen die ziehenden Wolken. Es sah aus, als versinke dort ein zerfetztes Banner in der langsam tiefer werdenden Dunkelheit. Eine Militärkapelle spielte irgendwo. Es klang dünn und blechern. Niemand sang. Die Menge stand schweigend. »Waffenstillstand«, sagte eine Frau neben Ravic. »Mein Mann ist im letzten Krieg gefallen. Jetzt ist mein Sohn dran. Waffenstillstand. Wer weiß, was noch kommen wird...« |
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