"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)

Ein Gespräch

Wir sind in unserem Versuche an den Punkt gelangt, wo unser Augenmerk ganz von jener Entwicklung gefesselt wird, die des Meisters Leben in seinen letzten Jahren nahm und die zu seinem Abschied von Amt und Provinz, seinem Hinüberschreiten in einen andern Lebenskreis und seinem Ende geführt hat. Obwohl er bis zum Augenblick dieses Abschiedes sein Amt mit beispielhafter Treue verwaltet hat und bis zum letzten Tage die Liebe und das Vertrauen seiner Schüler und Mitarbeiter genoß, verzichten wir auf eine Fortführung unsrer Schilderung seiner Amtsführung nun, da wir ihn im Innersten dieses Amtes müde geworden und anderen Zielen zugewendet sehen. Er hatte den Kreis der Möglichkeiten, welche dies Amt der Entfaltung seiner Kräfte gab, durchschritten und war an die Stelle gelangt, an welcher große Naturen den Weg der Tradition und gehorsamen Einordnung verlassen und im Vertrauen auf oberste, nicht nennbare Mächte das Neue, noch nicht Vorgezeichnete und Vorgelebte versuchen und verantworten müssen.

Als er sich dessen bewußt geworden war, prüfte er seine Lage und die Möglichkeiten, diese Lage zu ändern, sorgfältig und nüchtern. Er war in ungewöhnlich frühem Alter auf der Höhe dessen angelangt, was ein begabter und ehrgeiziger Kastalier sich als wünschens- und erstrebenswert vorzustellen vermag, und er war dahin gelangt nicht durch Ehrgeiz und Mühe, sondern ohne Streben und gewollte Anpassung, beinahe wider seinen Willen, denn ein unbeachtetes, selbständiges, keinen Amtspflichten unterworfenes Gelehrtenleben hätte seinen eigenen Wünschen mehr entsprochen. Von den edlen Gütern und Befugnissen, welche ihm mit seiner Würde zugefallen waren, schätzte er nicht alle gleich hoch, und einige dieser Auszeichnungen und Machtbefugnisse schienen ihm schon nach kurzer Amtszeit beinahe entleidet zu sein. Namentlich hat er die politische und administratorische Mitarbeit in der obersten Behörde stets als eine Last empfunden, ohne sich ihr darum freilich mit geringerer Gewissenhaftigkeit zu widmen. Und auch die eigentlichste, charakteristische und singuläre Aufgabe seiner Stellung, das Heranziehen einer Auslese vollkommener Glasperlenspieler, soviel Freude sie ihm zuzeiten bereitete und sosehr diese Auslese auf ihren Meister stolz war, war ihm auf die Dauer vielleicht mehr Last als Vergnügen. Was ihm Freude und Befriedigung schuf, war das Lehren und Erziehen, und dabei hatte er die Erfahrung gemacht, daß Freude wie Erfolg desto größer, je jünger seine Schüler waren, so daß er es als Entbehrung und Opfer empfand, daß sein Amt ihm nicht schon Kinder und Knaben, sondern nur Jünglinge und Erwachsene zuführte. Es gab jedoch auch noch andere Erwägungen, Erfahrungen und Einsichten, welche im Lauf seiner Magistratsjahre dazu führten, ihn kritisch gegen seine eigene Tätigkeit und gegen manche Waldzeller Zustände zu stimmen oder doch sein Amt als eine große Behinderung in der Entfaltung seiner besten und fruchtbarsten Fähigkeiten zu empfinden. Manches davon ist jedem von uns bekannt, manches vermuten wir nur. Auch die Frage, ob Magister Knecht mit seinem Streben nach Befreiung von der Last seines Amtes, mit seinem Wunsch nach unscheinbarerer, aber intensiverer Arbeit, mit seiner Kritik am Zustande Kastaliens eigentlich recht gehabt habe, ob er als ein Förderer und kühner Kämpfer oder als eine Art von Rebell oder gar Fahnenflüchtiger zu betrachten sei, auch diese Frage wollen wir ruhen lassen, sie ist mehr als genug diskutiert worden; der Streit darüber hat eine Zeitlang Waldzell, ja die ganze Provinz in zwei Lager geteilt und ist noch immer nicht ganz verstummt. Obwohl wir uns als dankbare Verehrer des großen Magisters bekennen, wollen wir dazu nicht Stellung nehmen; die Synthese aus jenem Streit der Meinungen und Urteile über Josef Knechts Person und Leben ist ja längst in der Bildung begriffen. Wir möchten nicht urteilen oder bekehren, sondern möglichst wahrhaftig die Geschichte vom Ende unseres verehrten Meisters erzählen. Nur ist es eben nicht so ganz eigentlich eine Geschichte, wir möchten es eher eine Legende nennen, einen Bericht, gemischt aus echten Nachrichten und bloßen Gerüchten, wie sie eben, aus klaren und dunkeln Quellen zusammengeronnen, unter uns Jüngeren in der Provinz im Umlauf sind.

Zu einer Zeit, in welcher Josef Knechts Gedanken schon begonnen hatten, sich mit dem Suchen nach einem Weg ins Freie zu beschäftigen, sah er unerwartet eine einst vertraute, seither halbvergessene Gestalt aus seiner Jugendzeit wieder, Plinio Designori. Dieser einstige Gastschüler, Sohn einer alten, um die Provinz verdienten Familie, als Abgeordneter wie als politischer Schriftsteller ein Mann von Einfluß, tauchte unerwartet eines Tages in amtlicher Eigenschaft bei der obersten Behörde der Provinz auf. Es hatte nämlich, wie alle paar Jahre, eine Neuwahl der Regierungskommission zur Kontrolle des kastalischen Haushaltes stattgefunden, und Designori war eines der Mitglieder dieser Kommission geworden. Als er zum erstenmal in dieser Eigenschaft auftrat, es war bei einer Sitzung im Hause der Ordensleitung in Hirsland, war auch der Glasperlenspielmeister zugegen; die Begegnung hat ihm einen starken Eindruck gemacht und blieb nicht ohne Folgen, wir wissen manches darüber durch Tegularius und dann durch Designori selbst, der in dieser für uns nicht ganz erhellbaren Zeit seines Lebens bald wieder sein Freund, ja sein Vertrauter wurde. Bei jener ersten Wiederbegegnung nach Jahrzehnten des Vergessens stellte wie üblich der Sprecher die Herren der neu gebildeten Staatskommission den Magistern vor. Als unser Meister den Namen Designori hörte, war er überrascht, ja beschämt, denn er hatte den seit langen Jahren nicht mehr gesehenen Kameraden seiner Jugend nicht auf den ersten Blick wiedererkannt. Während er ihm nun, auf die offizielle Verbeugung und Grußformel verzichtend, freundlich die Hand entgegenstreckte, blickte er ihm aufmerksam ins Gesicht und versuchte zu ergründen, kraft welcher Veränderungen es sich dem Erkanntwerden durch einen alten Freund hatte entziehen können. Auch während der Sitzung ruhte sein Blick des öftern auf dem einst so vertrauten Gesicht. Übrigens hatte ihn Designori mit Ihr und dem Magistertitel angeredet, und er hatte ihn zweimal bitten müssen, ehe jener sich entschließen konnte, sich der alten Anrede zu bedienen und ihn wieder du zu nennen.

Knecht hatte Plinio als einen stürmischen und heiteren, mitteilsamen und glänzenden Jüngling gekannt, als einen guten Schüler und zugleich einen jungen Weltmann, der sich den weltfremden jungen Kastaliern überlegen fühlte und dem es oft Spaß machte, sie herauszufordern. Nicht frei von Eitelkeit war er vielleicht gewesen, aber offenen Wesens, ohne Kleinlichkeit und für die meisten Altersgenossen interessant, anziehend und liebenswürdig, ja für manche blendend durch seine hübsche Erscheinung, sein sicheres Auftreten und das Aroma von Fremdheit, das ihn als Hospitanten und Weltkind umgab. Jahre später, gegen Ende seiner Studentenzeit, hatte Knecht ihn wiedergesehen, da war er ihm verflacht, vergröbert und seines frühern Zaubers ganz beraubt erschienen und hatte ihn enttäuscht. Man war verlegen und kühl auseinandergegangen. Jetzt schien er wieder ein ganz anderer. Vor allem schien er seine Jugend und Munterkeit, seine Freude am Mitteilen, Streiten, Austauschen, sein aktives, werbendes, nach außen gekehrtes Wesen völlig abgelegt oder verloren zu haben. So, wie er bei der Begegnung den einstigen Freund nicht auf sich aufmerksam gemacht und nicht als erster begrüßt, so, wie er noch nach der Nennung ihrer Namen den Magister nicht mit du angeredet hatte und auf die herzliche Aufforderung dazu nur widerstrebend eingegangen war, so war auch in seiner Haltung, seinem Blick, seiner Sprechweise, seinen Gesichtszügen und Bewegungen an die Stelle der früheren Angriffslust, Offenheit und Beschwingtheit eine Verhaltenheit oder Gedrücktheit getreten, ein Sichsparen und Sichzurückhalten, eine Art Bann oder Krampf, oder auch vielleicht nur Müdigkeit. Darin war der Jugendzauber ertrunken und erloschen, aber nicht minder die Züge von Oberflächlichkeit und allzu derber Weltlichkeit, auch sie waren nicht mehr da. Der ganze Mann, vor allem aber sein Gesicht, schien jetzt gezeichnet, zum Teil zerstört, zum Teil geadelt, durch den Ausdruck des Leidens. Und während der Glasperlenspielmeister den Verhandlungen folgte, blieb ein Teil seiner Aufmerksamkeit stets bei dieser Erscheinung und zwang ihn, darüber zu sinnen, was für eine Art von Leiden es wohl sein möge, das diesen lebhaften, schönen und lebensfrohen Mann so beherrschte und so gezeichnet hatte. Es schien ein fremdes, ein ihm unbekanntes Leiden zu sein, und je mehr sich Knecht diesem suchenden Sinnen hingab, desto mehr fühlte er sich in Sympathie und Teilnahme zu diesem Leidenden hingezogen, ja es sprach bei diesem Mitleid und dieser Liebe leise ein Gefühl mit, als sei er diesem so traurig aussehenden Freund seiner Jugend etwas schuldig geblieben, als habe er etwas an ihm gutzumachen. Nachdem er über die Ursache von Plinios Traurigkeit manche Vermutung gefaßt und wieder aufgegeben hatte, kam ihm der Gedanke: das Leid in diesem Gesicht sei nicht gemeiner Herkunft, es sei ein edles, vielleicht tragisches Leid, und sein Ausdruck sei von einer in Kastalien unbekannten Art, er erinnerte sich, einen ähnlichen Ausdruck zuweilen auf nichtkastalischen, auf Weltmenschengesichtern gesehen zu haben, freilich niemals so stark und fesselnd. Auch auf Bildnissen von Menschen der Vergangenheit kannte er Ähnliches, auf Bildnissen von manchen Gelehrten oder Künstlern, von welchen eine rührende, halb krankhafte, halb schicksalhafte Trauer, Vereinsamung und Hilflosigkeit abzulesen war. Für den Magister, der ein so zartes Künstlergefühl für die Geheimnisse des Ausdrucks und ein so waches Erziehergefühl für Charaktere besaß, gab es schon längst gewisse physiognomische Kennzeichen, welchen er, ohne ein System daraus zu machen, instinktiv vertraute; so gab es für ihn zum Beispiel eine speziell kastalische und eine speziell weltliche Art von Lachen, Lächeln und Heiterkeit, und ebenso eine speziell weltliche Art von Leiden und Traurigkeit. Diese Welttraurigkeit nun glaubte er auf Designoris Gesicht zu erkennen, und zwar so stark und rein ausgedrückt, als habe dies Gesicht die Bestimmung, Stellvertreter von vielen zu sein und das geheime Leiden und Kranksein vieler sichtbar zu machen.

Er war von diesem Gesicht beunruhigt und ergriffen. Es schien ihm nicht nur bedeutungsvoll, daß die Welt seinen verlorengegangenen Freund nun hierher geschickt habe und daß Plinio und Josef, wie einst in ihren Schüler-Redekämpfen, so jetzt wirklich und gültig der eine die Welt, der andre den Orden vertrete; noch wichtiger und symbolhafter wollte es ihm erscheinen, daß in diesem einsamen und von Trauer beschatteten Angesicht die Welt nun einmal nicht ihr Lachen, ihre Lebenslust, ihre Machtfreude, ihre Derbheit nach Kastalien entsandt habe, sondern ihre Not, ihr Leiden. Auch das gab ihm zu denken und mißfiel ihm keineswegs, daß Designori ihn eher zu meiden als zu suchen schien und sich nur langsam und unter großen Widerständen ergab und erschloß. Übrigens, und das kam Knecht natürlich zu Hilfe, war sein Schulkamerad, selber in Kastalien erzogen, kein schwieriges, verdrossenes oder gar geradezu übelvollendes Mitglied seiner für Kastalien so wichtigen Kommission, wie man sie auch schon erlebt hatte, sondern gehörte zu den Verehrern des Ordens und Gönnern der Provinz, welcher er manchen Dienst erweisen konnte. Auf das Glasperlenspiel allerdings hatte er seit langen Jahren verzichtet.

Wir könnten es nicht des genaueren berichten, auf welche Weise der Magister allmählich das Vertrauen des Freundes wiedergewann; jeder von uns, der des Meisters ruhige Heiterkeit und liebevolle Artigkeit kennt, mag es sich auf seine Weise vorstellen. Knecht ließ nicht nach, um Plinio zu werben, und wer hätte auf die Dauer widerstanden, wenn es ihm damit Ernst war?

Am Ende hatte, einige Monate nach jener ersten Wiederbegegnung, Designori seine wiederholt ergangene Einladung zu einem Besuche in Waldzell angenommen, und die beiden fuhren an einem wolkig-windigen Herbstnachmittag durch das beständig zwischen Licht und Schatten wechselnde Land den Stätten ihrer Schülerzeit und Freundschaft entgegen, Knecht in gelassener Heiterkeit, sein Begleiter und Gast still, aber unruhig, gleich den leeren Feldern zwischen Sonne und Schatten, zwischen Freuden des Wiedersehens und Trauer des Fremdgewordenseins zuckend. Nahe der Siedlung stiegen sie aus und gingen zu Fuß die alten Wege, auf denen sie als Schüler miteinander gegangen waren, erinnerten sich mancher Kameraden und Lehrer und an manches ihrer damaligen Gespräche. Designori blieb für einen Tag Knechts Gast, der ihm versprochen hatte, ihn diesen Tag hindurch als Zuschauer allen seinen Amtshandlungen und Arbeiten beiwohnen zu lassen. Am Ende dieses Tages – der Gast wollte am nächsten Morgen in aller Frühe abreisen – saßen sie in Knechts Wohnzimmer allein beisammen, beinahe schon wieder in der alten Vertraulichkeit. Der Tag, an dem er von Stunde zu Stunde des Magisters Arbeit hatte beobachten können, hatte dem Fremden großen Eindruck gemacht. An diesem Abend fand zwischen den beiden ein Gespräch statt, das Designori gleich nach seiner Heimkehr aufgezeichnet hat. Wenn es auch zum Teil Unwichtiges enthält und unsre nüchterne Darstellung vielleicht in einer manchen Leser störenden Weise unterbricht, möchten wir es doch so mitteilen, wie jener es aufgeschrieben hat.

»So sehr vieles hatte ich im Sinn dir zu zeigen,« sagte der Magister, »und nun bin ich doch nicht dazu gekommen. Zum Beispiel meinen hübschen Garten; erinnerst du dich noch des »Magistergartens« und der Pflanzungen von Meister Thomas? – ja, und so vieles andre. Ich hoffe, es werde auch dafür Tag und Stunde noch kommen. Immerhin hast du seit gestern manche Erinnerung nachprüfen können und hast auch eine Vorstellung von der Art meiner Amtspflichten und meines Alltags bekommen.«

»Ich bin dir dafür dankbar,« sagte Plinio. »Was eure Provinz eigentlich ist, und was für merkwürdige und große Geheimnisse sie hat, begann ich erst heute wieder zu ahnen, obwohl ich auch in den Jahren meines Fernbleibens viel mehr an euch dachte, als du vermutet hättest. Du hast mir heute einen Einblick in dein Amt und in dein Leben gegeben, Josef, ich hoffe, es sei nicht das letztemal gewesen, und wir werden noch des öftern über das reden, was ich hier gesehen habe und worüber ich heut noch nicht sprechen kann. Dagegen fühle ich wohl, daß dein Vertrauen auch mich verpflichtet, und weiß, daß meine bisherige Verschlossenheit dich hat befremden müssen. Nun, auch du wirst mich einmal besuchen und sehen, wo ich zu Hause bin. Für heute kann ich dir nur ein wenig davon erzählen, so viel nur, daß du wieder über mich Bescheid weißt, und mir selbst wird die Aussprache, wenn sie auch zugleich beschämend und eine Strafe für mich ist, wohl auch etwas Erleichterung bringen.

Du weißt, ich stamme aus einer alten, um das Land verdienten und mit eurer Provinz befreundeten Familie, einer konservativen Familie von Gutsbesitzern und höhern Beamten. Aber sieh, schon diese einfache Mitteilung stellt mich vor die Kluft, die dich von mir trennt! Ich sage »Familie« und glaube damit etwas Einfaches, Selbstverständliches und Eindeutiges zu sagen, aber ist es denn das? Ihr von der Provinz habet euren Orden und eure Hierarchie, aber Familie habt ihr nicht, ihr wisset nicht, was Familie, Blut und Herkunft ist, und habet keine Ahnung von den geheimen und gewaltigen Zaubern und Kräften dessen, was man Familie nennt. Nun, und so ist es wohl im Grunde mit den meisten Worten und Begriffen, in denen unser Leben sich ausdrücken läßt: die meisten, die für uns wichtig sind, sind es für euch nicht, sehr viele sind für euch einfach unverständlich, und andre bedeuten bei euch etwas ganz anderes als bei uns. Und da soll man miteinander reden! Sieh, wenn du mit mir sprichst, so ist es, als rede mich ein Ausländer an, immerhin aber ein Ausländer, dessen Sprache ich in meiner Jugend gelernt und selbst gesprochen habe, ich verstehe das meiste. Aber umgekehrt ist es nicht ebenso: wenn ich zu dir rede, so hörst du eine Sprache, deren Ausdrücke dir nur halb und deren Nuancen und Schwingungen dir gar nicht bekannt sind, du vernimmst Geschichten aus einem Menschenleben, einer Daseinsform, welche nicht die deine ist; das meiste, selbst wenn es dich interessieren sollte, bleibt dir fremd und höchstens halbverständlich. Du erinnerst dich unsrer vielen Redekämpfe und Gespräche in unsrer Schülerzeit; von meiner Seite waren sie nichts andres als ein Versuch, einer von vielen, die Welt und Sprache eurer Provinz mit der meinigen in Einklang zu bringen. Du bist der aufgeschlossenste, willigste und redlichste von allen gewesen, mit denen ich jemals solche Versuche unternahm; du standest tapfer für die Rechte Kastaliens ein, ohne doch gegen meine andere Welt und deren Rechte gleichgültig zu sein oder sie gar zu verachten. Wir kamen einander ja damals ziemlich nahe. Nun, darauf kommen wir später zurück.«

Da er einen Augenblick nachdenklich schwieg, sagte Knecht behutsam: »Es ist wohl nicht so schlimm mit dem Nichtverstehenkönnen. Gewiß, zwei Völker und zwei Sprachen werden einander nie sich so verständlich und so intim mitteilen können wie zwei einzelne, die derselben Nation und Sprache angehören. Aber das ist kein Grund, auf Verständigung und Mitteilung zu verzichten. Auch zwischen Volks- und Sprachgenossen stehen Schranken, die eine volle Mitteilung und ein volles gegenseitiges Verstehen verhindern, Schranken der Bildung, der Erziehung, der Begabung, der Individualität. Man kann behaupten, jeder Mensch auf Erden könne grundsätzlich mit jedem andern sich aussprechen, und man kann behaupten, es gebe überhaupt keine zwei Menschen in der Welt, zwischen denen eine echte, lückenlose, intime Mitteilung und Verständigung möglich sei – eins ist so wahr wie das andre. Es ist Yin und Yang, Tag und Nacht, beide haben recht, an beide muß man zuzeiten erinnert werden, und ich gebe dir insoweit recht, als auch ich natürlich nicht glaube, daß wir beide uns einander jemals ganz und gar und restlos werden verständlich machen können. Magst du ein Abendländer, ich ein Chinese sein, mögen wir verschiedene Sprachen reden, so werden wir dennoch, wenn wir guten Willens sind, einander sehr viel mitteilen und über das exakt Mitteilbare hinaus sehr viel voneinander erraten und ahnen können. Jedenfalls wollen wir es versuchen.«

Designori nickte und fuhr fort: »Ich will vorerst das wenige erzählen, was du wissen mußt, um etwa eine Ahnung von meiner Situation zu bekommen. Also da ist zunächst die Familie, die oberste Macht im Leben eines jungen Menschen, er mag sie anerkennen oder nicht. Ich bin mit ihr gut ausgekommen, solange ich Hospitant eurer Eliteschulen war. Das Jahr hindurch war ich bei euch gut aufgehoben, in den Ferien wurde ich zu Hause gefeiert und verwöhnt, ich war der einzige Sohn. An meiner Mutter hing ich mit einer zärtlichen, ja leidenschaftlichen Liebe, die Trennung von ihr war der einzige Schmerz, den ich bei jeder Abreise empfand. Mit dem Vater stand ich in einem kühleren, aber freundlichen Verhältnis, wenigstens während all der Knaben- und Jünglingsjahre, die ich bei euch verbrachte; er war ein alter Kastalienverehrer und stolz darauf, mich in den Eliteschulen erzogen und in so sublime Dinge wie das Glasperlenspiel eingeweiht zu sehen. Diese heimatlichen Ferienaufenthalte waren oft wahrhaft hochgestimmt und festlich, die Familie und ich kannten einander gewissermaßen nur noch in Festkleidern. Manchmal, wenn ich so in die Ferien reiste, habe ich euch Zurückbleibende bedauert, die von solchem Glück nichts wußten. Ich brauche von damals nicht viel zu sagen, du hast mich ja gekannt, besser als irgendein anderer. Ich war beinah ein Kastalier, ein bißchen weltfroher, derber und oberflächlicher vielleicht, aber voll glücklichen Übermuts, beschwingt und enthusiastisch. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, was ich damals freilich nicht ahnte, denn in jenen Waldzeller Jahren erwartete ich das Glück und die Höhe meines Lebens von der Zeit, da ich aus euren Schulen entlassen heimkehren und mir mit Hilfe meiner bei euch erworbenen Überlegenheit die dortige Welt erobern würde. Statt dessen begann nach meinem Abschied von dir für mich eine Auseinandersetzung, die bis heute dauert, und ein Kampf, in dem ich nicht Sieger geblieben bin. Denn die Heimat, in die ich zurückkam, bestand diesmal nicht mehr nur aus meinem Vaterhause und hatte keineswegs darauf gewartet, mich umarmen und meine Waldzeller Vornehmheit anerkennen zu dürfen, und auch im Vaterhause selbst gab es bald Enttäuschungen, Schwierigkeiten und Mißtöne. Es dauerte eine Weile, bis ich es merkte, ich war durch mein naives Vertrauen, meinen knabenhaften Glauben an mich und mein Glück geschützt und geschützt auch durch die von euch mitgebrachte Ordensmoral, durch die Gewohnheit der Meditation. Aber welche Enttäuschung und Ernüchterung brachte die Hochschule, an der ich die politischen Fächer studieren wollte! Der Umgangston unter den Studenten, das Niveau ihrer allgemeinen Bildung und ihrer Geselligkeit, die Persönlichkeiten mancher Lehrer, wie stachen sie ab von dem, woran ich mich bei euch gewöhnt hatte! Du erinnerst dich, wie ich einst unsere Welt gegen die eure verteidigt und dabei im Lob des ungebrochenen, naiven Lebens den Mund oft recht voll genommen habe. Wenn das eine Strafe verdiente, Freund, dann bin ich schwer dafür bestraft worden. Denn dieses naive, unschuldige Triebleben, diese Kindlichkeit und undressierte Genialität des Naiven, sie mochte wohl irgendwo vorhanden sein, bei den Bauern vielleicht oder den Handwerkern oder wo sonst, aber es gelang mir nicht, sie zu Gesicht zu bekommen oder gar an ihr teilzuhaben. Du erinnerst dich auch, nicht wahr, wie ich in meinen Reden die Überheblichkeit und Gespreiztheit der Kastalier kritisierte, dieser eingebildeten und verweichlichten Kaste mit ihrem Kastengeist und ihrem Elitehochmut. Nun, die Weltleute waren auf ihre schlechten Manieren, ihre geringe Bildung, ihren derben lauten Humor, ihre dummschlaue Beschränkung auf praktische, selbstsüchtige Ziele nicht weniger stolz, sie kamen sich nicht weniger kostbar, gottgefällig und auserwählt vor in ihrer engstirnigen Natürlichkeit, als der affektierteste Waldzeller Musterschüler es jemals tun konnte. Sie lachten mich aus oder klopften mir auf die Schulter, manche aber reagierten auf das Fremde, Kastalische in mir mit dem offenen, blanken Haß, den das Gemeine gegen alles Vornehme hat und den ich wie eine Auszeichnung auf mich zu nehmen entschlossen war.«

Designori machte eine kurze Pause und warf einen Blick auf Knecht, ungewiß, ob er ihn nicht ermüde. Sein Blick begegnete dem des Freundes und fand in ihm einen Ausdruck tiefer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit, der ihm wohltat und ihn beruhigte. Er sah, der andre war ganz seiner Eröffnung hingegeben, er hörte nicht zu, wie man einem Geplauder zuhört oder auch einer interessanten Erzählung, sondern mit der Ausschließlichkeit und Hingabe, mit der man sich in einer Meditation konzentriert, und dabei mit einem reinen, herzlichen Wohlwollen, dessen Ausdruck in Knechts Blick ihn rührte, so herzlich und beinahe kindlich schien er ihm, und es ergriff ihn eine Art von Staunen darüber, diesen Ausdruck im Gesicht desselben Mannes zu sehen, dessen vielfältiges Tagewerk, dessen amtliche Weisheit und Autorität er diesen ganzen Tag hindurch bewundert hatte. Erleichtert fuhr er fort:

»Ich weiß nicht, ob mein Leben nutzlos und bloß ein Mißverständnis war oder ob es einen Sinn hat. Sollte es einen Sinn haben, so wäre es etwa der, daß ein einzelner, konkreter Mensch unserer Zeit einmal auf das deutlichste und schmerzlichste erkannt und erlebt hat, wie weit Kastalien sich von seinem Mutterlande entfernt hat, oder meinetwegen auch umgekehrt: wie sehr unser Land seiner edelsten Provinz und deren Geist fremd und untreu geworden ist, wie weit in unsrem Lande Leib und Seele, Ideal und Wirklichkeit auseinanderklaffen, wie wenig sie voneinander wissen und wissen wollen. Wenn ich im Leben eine Aufgabe und ein Ideal hatte, so war es das, aus meiner Person eine Synthese der beiden Prinzipien zu machen, zwischen beiden zum Vermittler, Dolmetsch und Versöhner zu werden. Ich habe es versucht und bin gescheitert. Und da ich dir ja doch nicht mein ganzes Leben erzählen kann und du auch nicht alles verstehen könntest, will ich dir nur eine von den Situationen vorführen, die für mein Scheitern bezeichnend sind. Die Schwierigkeit damals nach dem Beginn meines Studiums an der Hochschule bestand nicht sosehr darin, mit den Hänseleien oder Anfeindungen fertig zu werden, die mir als einem Kastalier, einem Musterknaben zuteil wurden. Die paar unter meinen neuen Kameraden, welchen meine Herkunft aus den Eliteschulen eine Auszeichnung und Sensation bedeutete, machten mir sogar mehr zu schaffen und brachten mich in größere Verlegenheit. Nein, das Schwierige und vielleicht Unmögliche war, inmitten der Weltlichkeit ein Leben im kastalischen Sinn weiterzuführen. Anfangs merkte ich es kaum, ich hielt mich an die Regeln, wie ich sie bei euch gelernt hatte, und längere Zeit schienen sie sich auch hier zu bewähren, sie schienen mich zu stärken und zu schützen, schienen mir Munterkeit und innere Gesundheit zu erhalten und mich in meinem Vorsatz zu bestärken, in dem Vorsatz nämlich, allein und selbständig meine Studienjahre möglichst auf kastalische Art hinzubringen, einzig meinem Wissensdurst nachzugehen und mich nicht in einen Studiengang zwingen zu lassen, der nichts wollte, als den Studenten in möglichst kurzer Zeit möglichst gründlich für einen Brotberuf zu spezialisieren und jede Ahnung von Freiheit und Universalität in ihm abzutöten. Aber der Schutz, den Kastalien mir mitgegeben hatte, erwies sich als gefährlich und zweifelhaft, denn ich wollte ja nicht resignierend und eremitenhaft meinen Seelenfrieden und meine meditative Geistesruhe bewahren, ich wollte ja die Welt erobern, sie verstehen, sie zwingen, auch mich zu verstehen, ich wollte sie bejahen und womöglich erneuern und verbessern, ich wollte ja in meiner Person Kastalien und die Welt zusammenbringen und versöhnen. Wenn ich nach einer Enttäuschung, einem Streit, einer Aufregung mich in die Meditation zurückzog, so war dies anfangs jedesmal eine Wohltat, eine Entspannung, ein Tiefatmen, eine Rückkehr zu guten, freundlichen Mächten. Mit der Zeit aber merkte ich, daß es gerade die Versenkung, die Pflege und Übung der Seele sei, die mich dort isolierte, die mich den andern so unangenehm fremd erscheinen ließ und mich selbst unfähig machte, sie wirklich zu verstehen. Die andern, die Weltleute, wirklich verstehen, sah ich, konnte ich nur dann, wenn ich wieder wurde wie sie, wenn ich nichts vor ihnen voraushatte, auch nicht diese Zuflucht in die Versenkung. Natürlich ist es aber auch wohl möglich, daß ich den Vorgang beschönige, wenn ich ihn so darstelle. Vielleicht, oder wahrscheinlich, war es einfach so, daß ich ohne gleichgeschulte und gleichgestimmte Kameraden, ohne Kontrolle durch Lehrer, ohne die bewahrende und heilsame Atmosphäre Waldzells allmählich die Disziplin verlor, daß ich trag und unaufmerksam wurde und in Schlendrian verfiel und dies dann in Augenblicken des schlechten Gewissens damit entschuldigte, Schlendrian sei nun einmal eines der Attribute dieser Welt, und indem ich mich ihm überlasse, komme ich dem Verständnis meiner Umgebung näher. Es liegt mir dir gegenüber nichts am Beschönigen, aber ich möchte auch nicht leugnen und verhehlen, daß ich mir Mühe gegeben, gestrebt und gekämpft habe, auch dort, wo ich irrte. Es war mir Ernst. Aber ob nun mein Versuch, mich verstehend und sinnvoll einzuordnen, nur eine Einbildung von mir war oder nicht, jedenfalls geschah das Natürliche, die Welt war stärker als ich und hat mich langsam überwältigt und eingeschluckt; es war genau so, als sollte ich vom Leben beim Wort genommen und völlig der Welt angeglichen werden, deren Richtigkeit, Naivität, Stärke und ontische Überlegenheit ich in unseren Waldzeller Disputationen so sehr gepriesen und gegen deine Logik verteidigt hatte. Du erinnerst dich.

Und nun muß ich dich an etwas anderes erinnern, was du vermutlich längst vergessen hast, da es für dich keine Bedeutung hatte. Für mich aber hatte es sehr viel Bedeutung, für mich war es wichtig, wichtig und schrecklich. Meine Studentenjahre waren beendet, ich hatte mich angepaßt, war besiegt, aber keineswegs ganz, vielmehr hielt ich mich im Innern noch immer für euresgleichen und glaubte diese und jene Anpassungen und Abschleifungen mehr aus Lebensklugheit und freiwillig vollzogen als unterliegend erlitten zu haben. So hielt ich auch noch an manchen Gewohnheiten und Bedürfnissen der Jünglingsjahre fest, darunter am Glasperlenspiel, was vermutlich wenig Sinn hatte, denn ohne beständige Übung und beständigen Umgang mit gleichwertigen und namentlich mit überlegenen Spielgenossen kann man ja nichts lernen, das Alleinspielen kann das nur höchstens so ersetzen wie das Selbstgespräch ein wirkliches und echtes Gespräch. Ohne also so recht zu wissen, wie es um mich, um meine Spielkunst, meine Bildung, mein Eliteschülertum stehe, gab ich mir doch Mühe, diese Güter oder mindestens etwas von ihnen zu retten, und wenn ich einem meiner damaligen Freunde, die vom Glasperlenspiel zwar mitzureden versuchten, aber keine Ahnung von seinem Geist hatten, ein Spielschema vorentwarf oder einen Spielsatz analysierte, mochte es diesen völlig Unwissenden wohl wie Zauberei erscheinen. Im dritten oder vierten meiner Studentenjahre nahm ich an einem Spielkurs in Waldzell teil, das Wiedersehen der Gegend, des Städtchens, unsrer alten Schule, des Spielerdorfes war mir eine wehmütige Freude, du aber wärest nicht da, du studiertest damals irgendwo in Monteport oder Keuperheim und galtest für einen strebsamen Eigenbrötler. Mein Spielkurs war ja nur ein Ferienkurs für uns arme Weltleute und Dilettanten, trotzdem machte er mir Mühe, und ich war stolz, als ich am Schluß den üblichen »Dreier« bekam, jenes »Genügend« im Spielzeugnis, das grade noch hinreicht, um seinem Inhaber den Wiederbesuch solcher Ferienkurse zu erlauben.

Und nun, wieder einige Jahre später, raffte ich mich nochmals auf, meldete mich zu einem Ferienkurs unter deinem Vorgänger an und hatte mein Bestes getan, um mich für Waldzell einigermaßen präsentabel zu machen. Ich hatte meine alten Übungshefte wieder durchgelesen, hatte auch Versuche gemacht, mich wieder ein wenig mit der Konzentrationsübung vertraut zu machen, kurz ich hatte mich, mit meinen bescheidenen Mitteln, in ähnlicher Weise auf den Ferienkurs hin geübt, gestimmt und gesammelt, wie es etwa ein echter Glasperlenspieler auf das große Jahresspiel hin tut. So rückte ich in Waldzell ein, wo ich mich, nach der Pause von wenigen Jahren, schon wieder um ein gutes Stück mehr entfremdet, zugleich aber auch bezaubert fühlte, als kehrte ich in eine verlorene schöne Heimat zurück, deren Sprache mir aber nicht mehr recht geläufig sei. Und dieses Mal wurde mir auch mein lebhafter Wunsch, dich wiederzusehen, erfüllt. Du kannst dich daran erinnern, Josef?«

Knecht blickte ihm ernst in die Augen, nickte und lächelte ein wenig, sagte aber kein Wort.

»Gut,« fuhr Designori fort, »du erinnerst dich also. Aber was ist es, woran du dich erinnerst? Ein flüchtiges Wiedersehen mit einem Schulkameraden, eine kleine Begegnung und Enttäuschung; man geht weiter und denkt nicht mehr daran, außer wenn man etwa nach Jahrzehnten durch den andern unhöflich daran erinnert wird. Ist es nicht so? War es etwas anderes, war es mehr für dich?«

Er war, obwohl sichtlich sehr bemüht, sich zu beherrschen, in große Erregung geraten, es schien da etwas in vielen Jahren Angehäuftes, Unbewältigtes sich entladen zu wollen.

»Du greifst vor,« sagte Knecht sehr behutsam. »Was es für mich war, davon werden wir sprechen, wenn ich an der Reihe sein und Rechenschaft ablegen werde. Jetzt hast du das Wort, Plinio. Ich sehe, daß jene Begegnung nicht angenehm für dich war. Sie war es damals auch für mich nicht. Und nun erzähle weiter, wie es damals war. Sprich rückhaltlos!«

»Ich will es versuchen,« meinte Plinio. »Vorwürfe will ich dir ja nicht etwa machen. Ich muß dir auch zugestehen, daß du dich damals vollkommen korrekt gegen mich benommen hast, ja mehr als das. Als ich deiner jetzigen Einladung hierher nach Waldzell folgte, das ich seit jenem zweiten Ferienkurs nie mehr wiedergesehen hatte, ja schon als ich die Wahl zum Mitglied der Kommission für Kastalien annahm, war es meine Absicht, mich dir und dem damaligen Erlebnis zu stellen, einerlei ob es uns beiden angenehm sein möchte oder nicht. Und nun will ich fortfahren. Ich war zum Ferienkurs gekommen und im Gästehaus einquartiert worden. Die Teilnehmer am Kurs waren beinahe alle ungefähr in meinem Alter, einige sogar bedeutend älter; wir waren höchstens zwanzig Leute, größtenteils Kastalier, aber entweder schlechte, gleichgültige, verwahrloste Glasperlenspieler oder aber Anfänger, denen es erst so spät eingefallen war, sich auch ein wenig mit dem Spiel bekannt zu machen; es war mir eine Erleichterung, daß keiner von ihnen mit mir bekannt war. Obwohl unser Kursleiter, einer der Gehilfen des Archivs, sich brav Mühe gab und auch sehr freundlich gegen uns war, hatte die Sache doch beinah von Anfang an etwas vom Charakter einer zweitrangigen und nutzlosen Schule, eines Strafkurses etwa, dessen zufällig zusammengewürfelte Teilnehmer an einen wirklichen Sinn und Erfolg ebensowenig glauben wie der Lehrer, wenn auch keiner das zugibt. Man konnte sich verwundert fragen, warum denn diese Handvoll Leute sich da zusammengetan habe, um freiwillig etwas zu betreiben, wofür ihre Kraft nicht ausreichte, ihr Interesse nicht stark genug war, um sie zu Ausdauer und Opfern zu befähigen, und warum ein gelehrter Fachmann sich dazu hergab, ihnen einen Unterricht zu geben und sie mit Übungen zu beschäftigen, von welchen er sich selber kaum viel Erfolg versprechen konnte. Ich wußte es damals nicht, erfuhr es erst viel später durch Erfahrenere, daß ich mit diesem Kurs ausgesprochen Pech hatte, daß eine etwas andere Zusammensetzung der Teilnehmer ihn hätte anregend und fördernd, ja begeisternd machen können. Es genügen oft, so sagte man mir später, zwei Teilnehmer, die sich aneinander entzünden oder die sich schon vorher kannten und nahestanden, um einem solchen Kurs samt allen seinen Teilnehmern und seinem Lehrer einen Schwung nach oben zu geben. Du bist Glasperlenspielmeister, du mußt das ja kennen. Nun, ich hatte also Pech, es fehlte die kleine belebende Zelle in unsrer Zufallsgemeinschaft, es kam nicht zu einer Erwärmung, nicht zu einem Aufschwung, es war und blieb ein matter Repetierkurs für erwachsene Schulknaben. Die Tage gingen hin, die Enttäuschung wuchs mit jedem. Nun war aber außer dem Glasperlenspiel ja auch noch Waldzell da, für mich ein Ort heiliger und wohlgehüteter Erinnerungen, und wenn der Spielkurs versagte, so blieb mir doch die Feier einer Heimkehr, die Berührung mit Kameraden von einst, vielleicht auch ein Wiedersehen mit jenem Kameraden, an den ich die meisten und stärksten Erinnerungen bewahrte und der für mich mehr als irgendeine andere Gestalt unser Kastalien repräsentierte: mit dir, Josef. Wenn ich ein paar von meinen Jugend- und Schulgenossen wiedersah, wenn ich auf meinen Gängen durch die schöne, so sehr geliebte Gegend den guten Geistern meiner Jünglingsjahre wieder begegnete, wenn auch du etwa mir wieder nahekommen solltest und sich in Gesprächen wie einst eine Auseinandersetzung ergäbe, weniger zwischen dir und mir als zwischen meinem Kastalienproblem und mir selbst, dann war es um diese Ferien nicht schade, dann mochte der Kurs und alles andre dreingegeben werden.

Die zwei Kameraden aus meiner Schulzeit, die mir zuerst über den Weg liefen, waren harmlos, sie klopften mir erfreut auf die Schulter und stellten Kinderfragen nach meinem sagenhaften Weltleben. Die paar andern aber waren nicht so harmlos, sie gehörten zum Spielerdorf und zur jüngeren Elite, und sie stellten keine naiven Fragen, sondern grüßten mich, wenn man sich in einem der Räume deines Heiligtums begegnete und man mir nicht ausweichen konnte, mit einer spitzen, etwas überanstrengten Höflichkeit, vielmehr Leutseligkeit, und konnten ihr Beschäftigtsein mit Wichtigem und mir Unzugänglichem, ihren Mangel an Zeit, an Neugierde, an Teilnahme, an Willen zur Erneuerung der alten Bekanntschaft gar nicht genug betonen. Nun, ich habe mich ihnen nicht aufgedrängt, ich ließ sie in Ruhe, in ihrer olympischen, heiteren, spöttischen, kastalischen Ruhe. Ich blickte zu ihnen und ihrem geschäftig heiteren Tag hinüber wie ein Gefangener durchs Gitter, oder wie Arme, Hungernde und Unterdrückte zu den Aristokraten und Reichen hinüberblicken, den Heiteren, Hübschen, Gebildeten, Wohlerzogenen, Wohlausgeruhten mit den gepflegten Gesichtern und Händen.

Und nun erschienest du, Josef, und Freude und neue Hoffnung erhoben sich in mir, als ich dich sah. Du gingest über den Hof, ich erkannte dich von hinten am Gang und rief dich gleich mit Namen an. Endlich ein Mensch! dachte ich, endlich ein Freund, vielleicht auch ein Gegner, aber einer, mit dem man reden kann, ein Urkastalier zwar, aber einer, bei dem das Kastalische nicht zu Maske und Panzer erstarrt war, ein Mensch, ein Verstehender! Du mußtest es merken, wie froh ich war und wieviel ich von dir erwartete, und in der Tat bist du mir ja auch mit der größten Artigkeit entgegengekommen. Du kanntest mich noch, ich bedeutete dir noch etwas, es machte dir Freude, mein Gesicht wiederzusehen. Und so blieb es denn auch nicht bei der kurzen frohen Begrüßung auf dem Hof, sondern du hast mich eingeladen und hast mir einen Abend gewidmet, geopfert. Aber, lieber Knecht, was für ein Abend ist das gewesen! Wie haben wir uns darum geplagt, beide, recht aufgeräumt zu erscheinen, recht höflich und beinah kameradschaftlich miteinander zu sein, und wie schwer ist es uns geworden, das lahme Gespräch von einem Thema zum andern zu schleppen! Waren die andern gleichgültig gegen mich gewesen, dies mit dir war schlimmer, diese angestrengte und nutzlose Bemühung um eine einmal gewesene Freundschaft tat viel weher. Jener Abend machte endgültig meinen Illusionen ein Ende, es wurde mir unerbittlich klargemacht, daß ich kein Kamerad und Gleichstrebender, kein Kastalier, kein Mensch von Range sei, sondern ein lästiger, sich anbiedernder Tölpel, ein ungebildeter Ausländer, und daß es in so korrekter und schöner Form geschah und die Enttäuschung und Ungeduld so tadellos maskiert blieb, schien mir eigentlich noch das Schlimmste daran. Hättest du mich gescholten und mir Vorwürfe gemacht, hättest du mich angeklagt: »Was ist aus dir geworden, Freund, wie konntest du so verkommen?,« ich wäre glücklich und das Eis wäre gebrochen gewesen. Aber nichts von alledem. Ich sah, es war nichts mit meiner Zugehörigkeit zu Kastalien, nichts mit meiner Liebe zu euch und meinen Studien im Glasperlenspiel, nichts mit unserer Kameradschaft. Repetent Knecht hatte meinen lästigen Besuch in Waldzell entgegengenommen, er hatte sich einen Abend lang mit mir geplagt und gelangweilt und hatte mich nun in höchst einwandfreier Form wieder hinauskomplimentiert.«

Designori, mit seiner Erregung kämpfend, brach ab und blickte mit gequältem Gesicht zum Magister hinüber. Der saß, ganz aufmerksamer Hörer, hingegeben, aber selbst nicht im mindesten erregt, und sah seinen alten Freund mit einem Lächeln an, das voll freundlicher Teilnahme war. Da der andre nicht weitersprach, ließ Knecht seinen Blick auf ihm ruhen, voll Wohlwollen und mit einem Ausdruck von Befriedigung, ja von Vergnügen, dem der Freund eine Minute oder länger finster standhielt.

»Du lachst?« rief Plinio dann heftig, doch nicht böse. »Du lachst? Du findest alles in Ordnung?«

»Ich muß sagen,« lächelte Knecht, »du hast den Vorgang ausgezeichnet dargestellt, ganz ausgezeichnet, es war genau so, wie du es schilderst, und vielleicht war sogar der Rest von Beleidigtsein und Anklage in deiner Stimme nötig, um es so herauszubringen und mir die Szene so vollkommen wieder gegenwärtig zu machen. Auch hast du, obwohl du leider sichtlich die Sache noch immer etwas mit den Augen von damals ansiehst und etwas an ihr nicht verwunden hast, deine Geschichte objektiv richtig erzählt, die Geschichte von zwei jungen Menschen in einer etwas peinlichen Situation, die sich beide etwas verstellen müssen und von denen einer, nämlich du, den Fehler beging, sein wirkliches und ernstliches Leiden unter der Situation ebenfalls hinter flottem Auftreten zu verbergen, statt das Maskenspiel zu durchbrechen. Es scheint sogar ein wenig so, als rechnest du noch heute die Ergebnislosigkeit jener Begegnung mehr mir als dir zu, obwohl es ja durchaus an dir gewesen wäre, die Situation zu ändern. Hast du das wirklich nicht gesehen? Aber geschildert hast du es sehr gut, das muß ich sagen. Ich habe in der Tat die ganze Bedrücktheit und Verlegenheit jener wunderlichen Abendstunde wieder empfunden, ich habe wieder für Augenblicke um die Haltung kämpfen zu müssen geglaubt und mich für uns beide ein wenig geschämt. Nein, deine Erzählung stimmt genau. Es ist ein Vergnügen, so erzählen zu hören.«

»Nun,« begann Plinio etwas verwundert, und noch klang etwas Kränkung und Mißtrauen in seiner Stimme mit, »es ist ja erfreulich, wenn wenigstens einem von uns meine Erzählung Spaß gemacht hat. Mir, mußt du wissen, war es gar nicht um Spaß zu tun.«

»Aber jetzt,« sagte Knecht, »jetzt siehst du doch, wie heiter wir diese Geschichte, die ja für uns beide nicht eben ruhmvoll ist, betrachten können? Lachen können wir über sie.«

»Lachen? »Warum denn?«

»Weil diese Geschichte von dem Exkastalier Plinio, der sich um das Glasperlenspiel bemüht und um die Anerkennung der einstigen Kameraden, vergangen und gründlich abgetan ist, ebenso wie die von dem höflichen Repetenten Knecht, der trotz aller kastalischen Formen seine Verlegenheit vor dem hereingeschneiten Plinio so wenig zu verbergen wußte, daß sie ihm heut nach so vielen Jahren wie im Spiegel wieder vorgehalten werden konnte. Nochmals, Plinio, du hast ein gutes Gedächtnis, gut hast du erzählt, ich hätte es nicht so gekonnt. Ein Glück für uns, daß die Geschichte so ganz abgetan ist und wir über sie lachen können.«

Designori war verwirrt. Wohl spürte er die gute Laune des Magisters als etwas Angenehmes und Herzliches, von allem Spotte weit entfernt, und spürte auch, daß hinter der Heiterkeit ein großer Ernst liege, doch hatte er beim Erzählen allzu schmerzlich die Bitterkeit jenes Erlebnisses wieder gefühlt, und seine Erzählung hatte zu sehr den Charakter einer Beichte gehabt, als daß er ohne weiteres die Tonart hätte wechseln können.

»Du vergissest vielleicht doch,« sagte er zögernd, wenn auch schon halb umgestimmt, »daß das, was ich erzählte, für mich nicht dasselbe war wie für dich. Für dich war es eine Unannehmlichkeit, höchstens, für mich eine Niederlage und ein Zusammenbruch, und übrigens auch der Beginn wichtiger Änderungen in meinem Leben. Als ich damals, kaum war der Kurs zu Ende, Waldzell verließ, beschloß ich, nie hierher wiederzukehren, und war nahe daran, Kastalien und euch alle zu hassen. Ich hatte meine Illusionen verloren und eingesehen, daß ich nicht mehr zu euch gehöre, vielleicht auch früher schon nicht so ganz zu euch gehört hatte, wie ich mir einbildete, und es fehlte gar nicht viel, so wäre ich zu einem Renegaten und zu eurem ausgesprochenen Feind geworden.«

Heiter und zugleich durchdringend blickte der Freund ihn an.

»Gewiß,« sagte er, »und dies alles wirst du mir ja, so hoffe ich, nächstens auch noch erzählen. Aber für heute ist unsre Lage, so scheint mir, doch diese: wir waren in früher Jugend Freunde, wurden getrennt und gingen sehr verschiedene Wege; dann trafen wir uns wieder, das war damals bei deinem unglücklichen Ferienkurs, du warst ein halber oder ganzer Weltmensch geworden, ich ein etwas dünkelhafter und auf kastalische Formen bedachter Waldzeller, und dieses enttäuschenden und beschämenden Wiedersehens haben wir heute uns erinnert. Wir sahen uns selber und unsere damalige Verlegenheit wieder, und wir konnten den Anblick ertragen und können dazu lachen, denn es ist ja heute alles völlig anders. Ich will auch nicht verhehlen, daß der Eindruck, den du mir damals machtest, mich in der Tat in große Verlegenheit brachte, es war ein durchaus unangenehmer, negativer Eindruck, ich wußte nichts mit dir anzufangen, du erschienest mir auf eine unerwartete, bestürzende und aufreizende Weise unfertig, grob, weltlich. Ich war ein junger Kastalier, der die Welt nicht kannte und eigentlich auch nicht kennen wollte, und du, nun du warst ein junger Fremdling, von dem ich nicht recht begriff, wozu er uns aufsuchte und warum er einen Spielkurs mitmachte, denn du schienest vom Eliteschüler kaum mehr etwas an dir zu haben. Du reiztest damals meine Nerven wie ich die deinen. Ich mußte dir natürlich als hochmütiger Waldzeller ohne Verdienste erscheinen, der zwischen sich und einem Nichtkastalier und Spieldilettanten die Distanz sorgfältig zu wahren suchte. Und du wärest für mich eine Art Barbar oder Halbgebildeter, der lästige und unbegründete, sentimentale Ansprüche an mein Interesse und meine Freundschaft zu machen schien. Wir wehrten uns gegeneinander, wir waren nahe daran, einander zu hassen. Wir konnten nichts tun als auseinandergehen, weil keiner dem andern etwas zu geben hatte und keiner dem andern gerecht zu werden imstande war.

Heute aber, Plinio, durften wir die schamhaft begrabene Erinnerung daran wieder erneuern und dürfen über jene Szene und uns beide lachen, denn heut sind wir als andre und mit ganz andern Absichten und Möglichkeiten zueinander gekommen, ohne Rührseligkeiten, ohne unterdrückte Eifersuchts- und Haßgefühle, ohne Selbstdünkel, wir sind ja beide längst Männer geworden.«

Designori lächelte befreit. Doch fragte er noch: »Sind wir aber dessen auch sicher? Guten Willen haben wir ja schließlich auch damals gehabt.«

»Das will ich meinen,« lachte Knecht. »Und haben uns mit unsrem guten Willen bis zum Unerträglichen gequält und überanstrengt. Wir haben einander damals nicht leiden können, instinktiv, jedem von uns war der andre unvertraut, störend, fremd und widerlich, und nur die Einbildung einer Verpflichtung, einer Zusammengehörigkeit hat uns gezwungen, einen Abend lang diese mühsame Komödie zu spielen. Das wurde mir damals schon bald nach deinem Besuche klar. Die gewesene Freundschaft sowohl wie die gewesene Gegnerschaft war von uns beiden noch nicht recht überwunden. Statt sie sterben zu lassen, glaubten wir sie ausgraben und irgendwie fortsetzen zu müssen. Wir fühlten uns ihr verschuldet und wußten nicht, womit die Schuld zu bezahlen sei. Ist es nicht so?«

»Ich glaube,« sagte Plinio nachdenklich, »du bist auch heute noch etwas allzu höflich. Du sagst »wir beide,« aber es waren ja nicht wir beide, die einander suchten und nicht finden konnten. Das Suchen, die Liebe war ganz auf meiner Seite, und so auch die Enttäuschung und das Leid. Was hat sich denn, ich frage dich, in deinem Leben geändert nach unsrer Begegnung? Nichts! Bei mir dagegen bedeutete sie einen tiefen und schmerzlichen Einschnitt, und ich kann darum nicht in das Lachen mit einstimmen, mit dem du sie abtust.«

»Verzeih,« begütigte Knecht freundlich, »ich bin wohl voreilig gewesen. Aber ich hoffe dich mit der Zeit doch dahin zu bringen, daß du in mein Lachen einstimmst. Du hast recht, du bist damals verwundet worden, nicht durch mich zwar, wie du meintest und auch noch immer zu meinen scheinst, wohl aber durch die zwischen euch und Kastalien liegende Kluft und Entfremdung, die wir beide während unsrer Schülerfreundschaft überwunden zu haben schienen und die nun plötzlich so schrecklich breit und tief vor uns klaffte. Soweit du mir persönlich schuld gibst, bitte ich dich, deine Anklage freimütig auszusprechen.«

»Ach, eine Anklage war es nie. Wohl aber eine Klage. Du hast sie damals nicht gehört, und willst sie auch heute, wie es scheint, nicht hören. Du hast sie damals mit Lächeln und guter Haltung beantwortet und tust es heute wieder.«

Obwohl er Freundschaft und tiefes Wohlwollen im Blick des Meisters spürte, konnte er nicht aufhören, dies zu betonen; ihm war, dies lang und schmerzlich Getragene müsse nun einmal abgeworfen werden.

Knecht änderte den Ausdruck seiner Züge nicht. Er sann ein wenig, schließlich sagte er behutsam: »Ich beginne dich wohl erst jetzt zu verstehen, Freund. Vielleicht hast du recht, und es muß auch hierüber gesprochen werden. Ich möchte vorerst dich nur daran erinnern, daß du doch eigentlich nur dann das Recht hättest, ein Eingehen von mir auf das, was du deine Klage nennst, zu erwarten, wenn du diese Klage auch wirklich ausgesprochen hättest. Es war aber so, daß du bei jenem Abendgespräch im Gästehaus keineswegs Klagen äußertest, sondern du tratest, ganz wie auch ich, so forsch und tapfer wie möglich auf, du spieltest gleich mir den Tadellosen und den, der gar nichts zu klagen hat. Heimlich aber erwartetest du, wie ich jetzt höre, daß ich dennoch die heimliche Klage vernehme und hinter deiner Maske dein wahres Gesicht erkenne. Nun, etwas davon habe ich damals wohl bemerken können, wenn auch längst nicht alles. Aber wie sollte ich, ohne deinen Stolz zu verletzen, dir zu verstehen geben, daß ich Sorge um dich habe, daß ich dich bemitleide? Und was hätte es genutzt, dir die Hand hinzustrecken, da doch meine Hand leer war und ich dir nichts zu geben hatte, keinen Rat, keinen Trost, keine Freundschaft, da doch unsre Wege so völlig getrennte waren? Ja, damals war mir das verborgene Unbehagen und Unglück, das du hinter flottem Auftreten verbargst, lästig und störend, es war mir, offen gestanden, widerlich, es enthielt einen Anspruch auf Teilnahme und Mitgefühl, dem dein Auftreten nicht entsprach, es hatte etwas sich Aufdrängendes und Kindisches, so schien mir, und half meine Gefühle nur erkälten. Du erhobest Anspruch auf meine Kameradschaft, du wolltest ein Kastalier, ein Glasperlenspieler sein, und schienest dabei so unbeherrscht, so wunderlich, so an egoistische Gefühle verloren! So etwa war damals mein Urteil; denn ich sah wohl, daß von Kastallertum bei dir beinahe nichts übriggeblieben war, du hattest offenbar sogar die Grundregeln vergessen. Gut, das war nicht meine Sache. Aber warum kämest du nun nach Waldzell und wolltest uns als Kameraden begrüßen? Das war mir, wie gesagt, ärgerlich und widerlich, und du hast damals vollkommen recht gehabt, wenn du meine beflissene Höflichkeit als Ablehnung gedeutet hast. Ja, ich lehnte dich instinktiv ab, und nicht, weil du ein Weltkind warst, sondern weil du Anspruch darauf machtest, als Kastalier zu gelten. Als du dann nach so vielen Jahren neulich wieder auftauchtest, war nichts mehr davon an dir zu spüren, du sahest weltlich aus und sprachest wie einer von draußen, und besonders fremd berührte mich der Ausdruck von Trauer, Kummer oder Unglück in deinem Gesicht; aber alles, deine Haltung, deine Worte, sogar noch deine Traurigkeit, gefiel mir, war schön, paßte zu dir, war deiner würdig, nichts daran störte mich, ich konnte dich annehmen und bejahen ohne jeden inneren Widerspruch, es bedurfte dieses Mal keines Übermaßes an Höflichkeit und Haltung, und so bin ich dir denn sogleich als Freund entgegengekommen und habe mich bestrebt, dir meine Liebe und Teilnahme zu zeigen. Diesmal war es ja eher umgekehrt als einstmals, diesmal war es eher so, daß ich mich um dich bemühte und um dich warb, während du dich sehr zurückhieltest, nur nahm ich freilich stillschweigend dein Erscheinen in unsrer Provinz und dein Interesse für deren Geschicke als eine Art von Bekenntnis der Anhänglichkeit und Treue. Nun, und schließlich gingest du ja auch auf mein Werben ein, und wir sind so weit, daß wir uns einer dem andern eröffnen und, so hoffe ich, unsre alte Freundschaft erneuern können.

Du sagtest eben, jene Jugendbegegnung sei für dich etwas Schmerzliches, für mich aber bedeutungslos gewesen. Wir wollen darüber nicht streiten, magst du recht haben. Unsre jetzige Begegnung aber, Amice, ist mir keineswegs bedeutungslos, sie bedeutet mir viel mehr, als ich dir heute sagen und als du irgend vermuten kannst. Sie bedeutet mir, um es kurz anzudeuten, nicht bloß die Wiederkehr eines verlorengewesenen Freundes und damit die Auferstehung einer vergangenen Zeit zu neuer Kraft und Wandlung. Vor allem bedeutet sie mir einen Anruf, ein Entgegenkommen, sie öffnet mir einen Weg zu eurer Welt, sie stellt mich von neuem vor das alte Problem einer Synthese zwischen euch und uns, und das geschieht, sage ich dir, zur rechten Stunde. Der Ruf findet mich diesmal nicht taub, er findet mich wacher, als ich es jemals war, denn er überrascht mich eigentlich nicht, er erscheint mir nicht als Fremdes und von außen Kommendes, dem man sich öffnen oder auch verschließen kann, sondern er kommt wie aus mir selber, er ist die Antwort auf ein sehr stark und drängend gewordenes Verlangen, auf eine Not und Sehnsucht in mir selbst. Aber davon ein andermal, es ist schon spät, wir brauchen beide Ruhe.

Du sprachst vorhin von meiner Heiterkeit und deiner Traurigkeit und meintest, so scheint mir, ich werde dem, was du deine »Klage« nennst, nicht gerecht, auch heute nicht, da ich diese Klage mit Lächeln beantworte. Hier ist etwas, was ich nicht recht verstehe. Warum soll eine Klage nicht mit Heiterkeit angehört, warum muß sie, statt mit Lächeln, wieder mit Traurigkeit beantwortet werden? Daß du, mit deinem Kummer und deiner Beladenheit, wieder nach Kastalien und zu mir gekommen bist, daraus glaube ich schließen zu dürfen, es sei dir vielleicht gerade an unsrer Heiterkeit etwas gelegen. Wenn ich nun aber deine Traurigkeit und Schwere nicht mitmachen und mich von ihr nicht anstecken lassen darf, so bedeutet das nicht, daß ich sie nicht gelten lasse und ernst nehme. Die Miene, die du trägst und die dein Leben und Schicksal in der Welt dir aufgedrückt hat, wird von mir vollkommen anerkannt, sie kommt dir zu und gehört zu dir und ist mir lieb und achtbar, obschon ich hoffe, sie sich noch ändern zu sehen. Woher sie kommt, kann ich nur ahnen, du wirst mir später davon soviel sagen oder verschweigen, als dir richtig erscheint. Sehen kann ich nur, daß du ein schweres Leben zu haben scheinst. Warum aber glaubst du, daß ich dir und deinem Schweren nicht gerecht werden wolle und könne?«

Designoris Gesicht war wieder düster geworden. »Manchmal,« sagte er resigniert, »kommt es mir so vor, als hätten wir nicht nur zwei verschiedene Ausdrucksweisen und Sprachen, von welchen jede sich nur andeutungsweise in die andre übersetzen läßt, nein, als seien wir überhaupt und grundsätzlich verschiedene Wesen, die einander niemals verstehen können. Und wer von uns eigentlich der echte und vollwertige Mensch sei, ihr oder wir, oder ob überhaupt einer von uns es sei, scheint mir immer wieder zweifelhaft. Es gab Zeiten, da habe ich zu euch Ordensleuten und Glasperlenspielern emporgeblickt mit einer Verehrung, einem Minderwertigkeitsgefühl und einem Neid wie zu ewig heiteren, ewig spielenden und ihr eigenes Dasein genießenden, keinem Leide erreichbaren Göttern oder Übermenschen. Zu andern Zeiten seid ihr mir bald beneidenswert, bald bemitleidenswert, bald verächtlich erschienen. Kastrierte, künstlich in einer ewigen Kindheit Zurückgehaltene, kindlich und kindisch in eurer leidenschaftslosen, sauber umzäunten, wohlaufgeräumten Spiel- und Kindergartenwelt, wo sorgfältig jede Nase geputzt und jede unbekömmliche Gefühls- oder Gedankenregung beschwichtigt und unterdrückt wird, wo man lebenslänglich artige, ungefährliche, unblutige Spiele spielt und jede störende Lebensregung, jedes große Gefühl, jede echte Leidenschaft, jede Herzenswallung sofort durch meditative Therapie kontrolliert, abbiegt und neutralisiert. Ist es nicht eine künstliche, sterilisierte, schulmeisterlich beschnittene Welt, eine Halb- und Scheinwelt bloß, in der ihr da feige vegetiert, eine Welt ohne Laster, ohne Leidenschaften, ohne Hunger, ohne Saft und ohne Salz, eine Welt ohne Familie, ohne Mütter, ohne Kinder, ja beinahe ohne Frauen! Das Triebleben ist meditativ gebändigt, gefährliche, waghalsige und schwer zu verantwortende Dinge, wie Wirtschaft, Rechtspflege, Politik, hat man seit Generationen andern überlassen, feig und wohlgeschützt, ohne Nahrungssorgen und ohne viel lästige Pflichten führt man sein Drohnenleben und gibt sich, damit es nicht langweilig werde, eifrig mit allen diesen gelehrten Spezialitäten ab, zählt Silben und Buchstaben, musiziert und spielt das Glasperlenspiel, während draußen im Schmutz der Welt arme gehetzte Menschen das wirkliche Leben leben und die wirkliche Arbeit tun.«

Mit unermüdeter, freundlicher Aufmerksamkeit hatte Knecht ihn angehört.

»Lieber Freund,« sagte er bedächtig, »wie sehr haben deine Worte mich an unsre Schülerzeit und an deine damalige Kritik und Angriffslust erinnert! Nur daß ich heute nicht mehr dieselbe Rolle habe wie damals; meine Aufgabe ist heute nicht die Verteidigung des Ordens und der Provinz gegen deine Angriffe, und es ist mir recht lieb, daß diese schwierige Aufgabe, an der ich mich schon einmal überanstrengt habe, mich diesmal nichts angeht. Gerade auf solche prachtvolle Attacken, wie du eben wieder eine geritten hast, ist es nämlich etwas schwer zu antworten. Du redest da zum Beispiel von Leuten, welche da draußen im Lande »das wirkliche Leben leben und die wirkliche Arbeit tun.« Das klingt so absolut und schön und treuherzig, beinahe schon wie ein Axiom, und wenn jemand dagegen ankämpfen wollte, so müßte er geradezu unartig werden und den Redner daran erinnern, daß doch dessen eigene »wirkliche Arbeit« zum Teil darin bestehe, in einer Kommission zum Wohle und zur Erhaltung Kastaliens mitzuwirken. Aber lassen wir für einen Augenblick das Spaßen! Ich sehe aus deinen Worten und höre es aus ihrem Ton, daß du noch immer das Herz voll Haß gegen uns hast, und doch zugleich voll verzweifelter Liebe zu uns, voll Neid oder Sehnsucht. Wir sind für dich Feiglinge, Drohnen oder spielende Kinder in einem Kindergarten, aber zuzeiten hast du auch ewig heitere Götter in uns gesehen. Eines jedenfalls glaube ich aus deinen Worten schließen zu dürfen: an deiner Traurigkeit, deinem Unglück, oder wie wir es nennen mögen, ist doch wohl Kastalien nicht schuldig, es muß anderswoher kommen. Wären wir Kastalier schuld, so wären gewiß deine Vorwürfe und Einwände gegen uns nicht heute noch dieselben wie in den Diskussionen unsrer Knabenzeit. In späteren Unterhaltungen wirst du mir mehr erzählen, und ich zweifle nicht daran, daß wir einen Weg finden werden, dich glücklicher und heiterer, oder zumindest dein Verhältnis zu Kastalien freier und angenehmer zu machen. Soviel ich bis jetzt sehen kann, stehst du zu uns und Kastalien, und damit zu deiner eigenen Jugend und Schulzeit, in einem falschen, gebundenen, sentimentalen Verhältnis, du hast deine eigene Seele in kastalisch und weltlich aufgespalten und plagst dich übermäßig um Dinge, für die dich keine Verantwortung trifft. Möglicherweise aber nimmst du auch andere Dinge zu leicht, deren Verantwortung bei dir selber liegt. Ich vermute, daß du schon längere Zeit keine Meditationsübungen mehr gepflegt hast. Ist es nicht so?«

Designori lachte gequält auf. »Wie scharfsinnig du bist, Domine! Längere Zeit, meinst du? Es ist viele, viele Jahre her, seit ich auf den Meditationszauber verzichtet habe. Wie besorgt du plötzlich um mich bist! Damals, als ihr mir hier in Waldzell bei meinem Ferienkurs so viel Höflichkeit und Verachtung gezeigt und meine Werbung um Kameradschaft so vornehm abgewiesen habet, damals kam ich von hier zurück mit dem Entschluß, dem Kastaliertum in mir ein Ende für immer zu machen. Ich habe von damals an auf das Glasperlenspiel verzichtet, ich habe nicht mehr meditiert, sogar die Musik war mir für längere Zeit entleidet. Statt dessen fand ich neue Kameraden, die mir in den weltlichen Vergnügungen Unterricht gaben. Wir haben getrunken und gehurt, wir haben alle erreichbaren Betäubungsmittel durchprobiert, wir haben alles Wohlanständige, Ehrwürdige, Ideale bespien und verhöhnt. In solcher Kraßheit hat das natürlich nicht gar lange gedauert, aber lange genug, um mir den letzten kastalischen Firnis vollends wegzuätzen. Und als ich dann, um Jahre später, gelegentlich wohl einsah, daß ich allzu heftig ins Zeug gegangen war und einige Meditationstechnik sehr nötig gehabt hätte, da war ich zu stolz geworden, um damit wieder anzufangen.«

»Zu stolz?« fragte Knecht leise.

»Ja, zu stolz. Ich war inzwischen in der Welt untergetaucht und ein Weltmensch geworden. Ich wollte nichts andres sein als einer von ihnen, ich wollte kein andres Leben als das ihre haben, ihr leidenschaftliches, kindliches, grausames, unbeherrschtes und zwischen Glück und Angst flackerndes Leben; ich verschmähte es, mir mit Hilfe eurer Mittel eine gewisse Erleichterung und bevorzugte Stellung zu verschaffen.«

Scharf blickte der Magister ihn an. »Und das hast du ausgehalten, viele Jahre lang? Hast du keine andern Mittel benützt, um damit fertig zu werden?«

»O ja,« gestand Plinio, »das habe ich getan und tue es auch heute noch. Es gibt Zeiten, wo ich wieder trinke, und meistens brauche ich auch, um schlafen zu können, allerlei Betäubungsmittel.«

Knecht schloß eine Sekunde lang, wie plötzlich ermüdet, die Augen, dann hielt er den Freund aufs neue mit seinem Blicke fest. Schweigend blickte er ihm ins Gesicht, prüfend erst und ernst, allmählich aber immer sanfter, freundlicher und heiterer. Designori zeichnet auf, er sei bis dahin noch niemals einem Blick aus Menschenaugen begegnet, der zugleich so forschend und so liebevoll, so unschuldig und so richtend, so strahlend freundlich und so allwissend war. Er bekennt, daß dieser Blick ihn zuerst verwirrt und gereizt, dann beruhigt und allmählich mit sanfter Gewalt bezwungen habe. Doch versuchte er, sich noch zu wehren.

»Du sagtest,« meinte er, »daß du Mittel wissest, um mich glücklicher und heiterer zu machen. Aber du fragst gar nicht, ob ich das eigentlich begehre.«

»Nun,« lachte Josef Knecht, »wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Falle tun, mag er uns darum bitten oder nicht. Und wie solltest du es denn nicht suchen und begehren? Darum bist du ja hier, darum sitzen wir ja hier wieder einander gegenüber, darum bist du ja zu uns zurückgekehrt. Du hassest Kastalien, du verachtest es, du bist viel zu stolz auf deine Weltlichkeit und deine Traurigkeit, als daß du sie durch etwas Vernunft und Meditation erleichtern möchtest – und doch hat eine heimliche und unzähmbare Sehnsucht nach uns und unsrer Heiterkeit dich alle die Jahre geführt und gezogen, bis du wiederkommen und es noch einmal mit uns probieren mußtest.

Und ich sage dir, du bist diesmal zur rechten Zeit gekommen, zu einer Zeit, in der auch ich mich sehr nach einem Ruf aus eurer Welt, nach einer sich öffnenden Pforte gesehnt habe. Aber davon das nächste Mal! Du hast mir manches anvertraut, Freund, dafür danke ich dir, und du wirst sehen, daß auch ich dir einiges zu beichten haben werde. Es ist spät, du reisest morgen früh, und auf mich wartet wieder ein Amtstag, wir müssen bald schlafen gehen. Nur eine Viertelstunde schenke mir noch, bitte.«

Er erhob sich, ging zum Fenster und blickte nach oben, wo zwischen wehenden Wolken überall Streifen eines tiefklaren Nachthimmels zu sehen waren, voll von Sternen. Da er nicht sofort zurückkehrte, stand auch der Gast auf und trat zu ihm ans Fenster. Der Magister stand, nach oben blickend und mit rhythmischen Atemzügen die dünnkühle Luft der Herbstnacht genießend. Er wies mit der Hand zum Himmel.

»Sieh,« sagte er, »diese Wolkenlandschaft mit ihren Himmelsstreifen! Beim ersten Blick möchte man meinen, die Tiefe sei dort, wo es am dunkelsten ist, aber gleich nimmt man wahr, daß dieses Dunkle und Weiche nur die Wolken sind und daß der Weltraum mit seiner Tiefe erst an den Rändern und Fjorden dieser Wolkengebirge beginnt und ins Unendliche sinkt, darin die Sterne stehen, feierlich und für uns Menschen höchste Sinnbilder der Klarheit und Ordnung. Nicht dort ist die Tiefe der Welt und ihrer Geheimnisse, wo die Wolken und die Schwärze sind, die Tiefe ist im Klaren und Heiteren. Wenn ich dich bitten darf: blicke vor dem Schlafengehen noch eine Weile in diese Buchten und Meerengen mit den vielen Sternen und weise die Gedanken oder Träume nicht ab, die dir dabei etwa kommen.«

Eine eigentümlich zuckende Empfindung, ungewiß, ob Weh oder Glück, regte sich in Plinios Herzen. Mit ähnlichen Worten, so erinnerte er sich, war er einstmals, vor unausdenklich langer Zeit, in der schönen heitern Frühe seines Waldzeller Schülerlebens zu den ersten Meditationsübungen ermahnt worden.

»Und erlaube mir noch ein Wort,« fing der Glasperlenspielmeister wieder mit leiser Stimme an. »Ich möchte dir gerne noch etwas über die Heiterkeit sagen, über die der Sterne und die des Geistes, und auch über unsre kastalische Art von Heiterkeit. Du hast eine Abneigung gegen die Heiterkeit, vermutlich weil du einen Weg der Traurigkeit hast gehen müssen, und nun scheint dir alle Helligkeit und gute Laune, und namentlich unsre kastalische, seicht und kindlich, auch feige, eine Flucht vor den Schrecken und Abgründen der Wirklichkeit in eine klare, wohlgeordnete Welt bloßer Formen und Formeln, bloßer Abstraktionen und Abgeschliffenheiten. Aber, mein lieber Trauriger, mag es diese Flucht auch geben, mag es an feigen, furchtsamen, mit bloßen Formeln spielenden Kastaliern nicht fehlen, ja sollten sie bei uns sogar in der Mehrzahl sein – dies nimmt der echten Heiterkeit, der des Himmels und der des Geistes, nichts von ihrem Wert und Glanz. Den Leichtzufriedenen und Scheinheiteren unter uns stehen andere gegenüber, Menschen und Generationen von Menschen, deren Heiterkeit nicht Spiel und Oberfläche, sondern Ernst und Tiefe ist. Einen habe ich gekannt, es war unser ehemaliger Musikmeister, den du einst in Waldzell auch je und je gesehen hast; dieser Mann hat in seinen letzten Lebensjahren die Tugend der Heiterkeit in solchem Maße besessen, daß sie von ihm ausstrahlte wie das Licht von einer Sonne, daß sie als Wohlwollen, als Lebenslust, als gute Laune, als Vertrauen und Zuversicht auf alle überging und in allen weiterstrahlte, die ihren Glanz ernstlich aufgenommen und in sich eingelassen hatten. Auch ich bin von seinem Licht beschienen worden, auch mir hat er von seiner Helligkeit und seinem Herzensglanz ein wenig mitgeteilt, und ebenso unsrem Ferromonte, und noch manchem andern. Diese Heiterkeit zu erreichen, ist mir, und vielen mit mir, das höchste und edelste aller Ziele. Auch bei einigen Vätern der Ordensleitung findest du sie. Diese Heiterkeit ist weder Tändelei noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rand aller Tiefen und Abgründe, sie ist eine Tugend der Heiligen und der Ritter, sie ist unstörbar und nimmt mit dem Alter und der Todesnähe nur immer zu. Sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst. Der Dichter, der das Herrliche und Schreckliche des Lebens im Tanzschritt seiner Verse preist, der Musiker, der es als reine Gegenwart erklingen läßt, ist Lichtbringer, Mehrer der Freude und Helligkeit auf Erden, auch wenn er uns erst durch Tränen und schmerzliche Spannung führt. Vielleicht ist der Dichter, dessen Verse uns entzücken, ein trauriger Einsamer und der Musiker ein schwermütiger Träumer gewesen, aber auch dann hat sein Werk teil an der Heiterkeit der Götter und der Sterne. Was er uns gibt, das ist nicht mehr sein Dunkel, sein Leiden oder Bangen, es ist ein Tropfen reinen Lichtes, ewiger Heiterkeit. Auch wenn ganze Völker und Sprachen die Tiefe der Welt zu ergründen suchen, in Mythen, Kosmogonien, Religionen, ist das Letzte und Höchste, was sie erreichen können, diese Heiterkeit. Du erinnerst dich der alten Inder, unser Waldzeller Lehrer hat einst schön von ihnen erzählt: ein Volk des Leidens, des Grübelns, des Büßens, der Askese; aber die letzten großen Funde seines Geistes waren licht und heiter, heiter das Lächeln der Weltüberwinder und Buddhas, heiter die Gestalten seiner abgründigen Mythologien. Die Welt, wie diese Mythen sie darstellen, beginnt in ihrem Anfange göttlich, selig, strahlend, frühlingsschön, als goldenes Zeitalter; sie erkrankt sodann und verkommt mehr und mehr, sie verroht und verelendet, und am Ende von vier immer tiefer sinkenden Weltzeitaltern ist sie reif dafür, vom lachenden und tanzenden Schiwa zertreten und vernichtet zu werden – aber es endet damit nicht, es beginnt neu mit dem Lächeln des träumenden Vischnu, der mit spielenden Händen eine neue, junge, schöne, strahlende Welt erschafft. Es ist wunderbar: dieses Volk, einsichtig und leidensfähig wie kaum ein anderes, hat mit Grauen und Scham dem grausamen Spiel der Weltgeschichte zugesehen, dem ewig sich drehenden Rad von Gier und Leiden, es hat die Hinfälligkeit des Geschaffenen gesehen und verstanden, die Gier und Teufelei des Menschen und zugleich seine tiefe Sehnsucht nach Reinheit und Harmonie, und hat für die ganze Schönheit und Tragik der Schöpfung diese herrlichen Gleichnisse gefunden, von den Weltaltern und dem Zerfall der Schöpfung, vom gewaltigen Schiwa, der die verkommene Welt in Trümmer tanzt, und vom lächelnden Vischnu, der schlummernd liegt und aus goldenen Götterträumen spielend eine neue Welt werden läßt.

Was nun unsre eigene, kastalische Heiterkeit betrifft, so mag sie nur eine späte und kleine Abart dieser großen sein, aber sie ist eine durchaus legitime. Die Gelehrsamkeit ist nicht immer und überall heiter gewesen, obwohl sie es sein sollte. Bei uns ist sie, der Kult der Wahrheit, eng mit dem Kult des Schönen verknüpft und außerdem mit der meditativen Seelenpflege, kann also nie die Heiterkeit ganz verlieren. Unser Glasperlenspiel aber vereinigt in sich alle drei Prinzipien: Wissenschaft, Verehrung des Schönen und Meditation, und so sollte ein rechter Glasperlenspieler von Heiterkeit durchtränkt sein wie eine reife Frucht von ihrem süßen Saft, er sollte vor allem die Heiterkeit der Musik in sich haben, die ja nichts anderes ist als Tapferkeit, als ein heiteres, lächelndes Schreiten und Tanzen mitten durch die Schrecken und Flammen der Welt, festliches Darbringen eines Opfers. Um diese Art der Heiterkeit war es mir zu tun, seit ich sie als Schüler und Student ahnend zu verstehen begann, und ich werde sie nicht mehr preisgeben, auch nicht im Unglück und Leid.

Wir gehen jetzt schlafen, und morgen früh reisest du. Komm bald wieder, erzähle mir mehr von dir, und auch ich werde dir erzählen, du wirst erfahren, daß es auch in Waldzell und im Leben eines Magisters Fragwürdigkeiten, Enttäuschungen, ja Verzweiflungen und Dämonien gibt. Jetzt aber sollst du in den Schlaf noch ein Ohr voll Musik mitnehmen. Der Blick in den Sternenhimmel und ein Ohr voll Musik vor dem Zubettgehen, das ist besser als alle deine Schlafmittel.« Er setzte sich und spielte behutsam, ganz leise, einen Satz aus jener Sonate von Purcell, einem Lieblingsstück des Paters Jakobus. Wie Tropfen goldenen Lichtes fielen die Töne in die Stille, so leise, daß man dazwischen noch den Gesang des alten laufenden Brunnens im Hofe hören konnte. Sanft und streng, sparsam und süß begegneten und verschränkten sich die Stimmen der holden Musik, tapfer und heiter schritten sie ihren innigen Reigen durch das Nichts der Zeit und Vergänglichkeit, machten den Raum und die Nachtstunde für die kleine Weile ihrer Dauer weit und weltgroß, und als Josef Knecht seinen Gast verabschiedete, hatte dieser ein verändertes und erhelltes Gesicht, und zugleich Tränen in den Augen.