"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)Die Beiden PoleDas Jahresspiel, als »Chinesenhausspiel« noch heute bekannt und nicht selten zitiert, brachte Knecht und seinem Freunde die Früchte ihrer Arbeit und brachte Kastalien und der Behörde die Bestätigung, daß mit Knechts Berufung in das höchste Amt das Richtige geschehen sei. Wieder einmal erlebte Waldzell, das Spielerdorf und die Elite, die Genugtuung einer glänzenden und hochgestimmten Festzeit, ja das Jahresspiel war seit langem nicht mehr ein solches Ereignis gewesen wie diesmal, wo der jüngste und meistbesprochene Magister sich zum erstenmal vor aller Öffentlichkeit zeigen und bewähren und wo außerdem Waldzell den im vergangenen Jahre erlittenen Verlust und Mißerfolg wettmachen sollte. Diesmal lag niemand krank, und es stand kein eingeschüchterter Stellvertreter ängstlich der großen Zeremonie vor, vom wachsamen Übelwollen und Mißtrauen der Elite eisig umlauert, von nervös gewordenen Beamten treu, aber schwunglos unterstützt. Lautlos, unnahbar, ganz Hohepriester, weiß und golden gekleidete Leitfigur auf dem feierlichen Schachbrett der Symbole, zelebrierte der Magister sein und seines Freundes Werk; Ruhe, Kraft und Würde ausstrahlend, keinem profanen Anruf erreichbar, erschien er im Festsaal inmitten seiner vielen Ministranten, eröffnete Akt um Akt seines Spiels mit den rituellen Gebärden, schrieb zierlich mit leuchtendem Goldgriffel Zeichen um Zeichen auf die kleine Tafel, vor welcher er stand, und alsbald erschienen dieselben Zeichen in der Spiel-Chiffernschrift, hundertmal vergrößert, auf der Riesentafel der hinteren Saalwand, wurden von tausend flüsternden Stimmen nachbuchstabiert, von den Sprechern laut ausgerufen, von den Fernmeldern ins Land und in die Welt hinaus entsendet, und als er am Ende des ersten Aktes die den Akt resümierende Formel auf die Tafel beschwor, mit anmutvoller und eindrücklicher Haltung die Meditationsvorschriften gab, den Griffel niederlegte und sich, niedersitzend, mit beispielhafter Haltung in die Versenkungsstellung begab, da setzten sich nicht nur im Saale, im Spielerdorf und in Kastalien, sondern auch draußen in manchem Lande der Erde die Gläubigen des Glasperlenspiels andächtig zu derselben Meditation nieder und verharrten in ihr bis zum Augenblick, da im Saale der Magister sich wieder erhob. Es war alles, wie es viele Male gewesen war, und war doch alles herzbewegend und neu. Die abstrakte und scheinbar zeitlose Welt des Spieles war elastisch genug, in hundert Nuancen auf Geist, Stimme, Temperament und Handschrift einer Persönlichkeit zu reagieren, die Persönlichkeit groß und kultiviert genug, ihre Einfälle nicht für wichtiger zu halten als die unantastbare Eigengesetzlichkeit des Spieles, die Helfer und Mitspieler, die Elite, gehorchten wie gut gedrillte Soldaten, und doch schien jeder einzelne von ihnen, auch wenn er nur die Verneigungen mit ausführte oder den Vorhang um den meditierenden Meister bedienen half, sein eigenes, aus seiner eigenen Inspiration lebendes Spiel zu begehen. Aus der Menge aber, aus der großen, den Saal und ganz Waldzell überfüllenden Gemeinde, aus den tausend Seelen, welche auf des Meisters Spur den phantastisch-hieratischen Gang durch die unendlichen, vieldimensionalen Vorstellungsräume des Spieles schritten, kam der Feier der Grundakkord und tief bebende Glockenbaß, der für die kindlicheren Glieder der Gemeinde das beste und beinahe einzige Erlebnis beim Feste ist, der aber auch von den durchtriebenen Spielvirtuosen und Kritikern der Elite, von den Ministranten und Beamten bis hinauf zum Leiter und Meister mit ehrfürchtigem Schauer empfunden wird. Es war eine hohe Feier, auch die Abgesandten von draußen spürten und bekundeten es, und mancher Neuling wurde in diesen Tagen auf immer für das Glasperlenspiel gewonnen. Merkwürdig aber klingen die Worte, in welche Josef Knecht nach Beendigung des zehntägigen Festes seinem Freunde Tegularius gegenüber sein Erlebnis zusammenfaßte. »Wir können zufrieden sein,« sagte er. »Ja, Kastalien und das Glasperlenspiel sind wunderbare Dinge, etwas nahezu Vollkommenes sind sie. Nur sind sie es vielleicht allzu sehr, sind allzu schön; sie sind so schön, daß man sie kaum betrachten kann, ohne für sie zu fürchten. Man denkt nicht gerne daran, daß sie wie alles einmal wieder vergehen sollen. Und doch muß man daran denken.« Dieses uns überlieferte Wort nötigt den Biographen, sich dem heikelsten und geheimnisvollsten Teil seiner Aufgabe zu nähern, dem er wohl gerne noch sich eine Weile ferngehalten hätte, um erst mit der Ruhe und dem Behagen, welches klare und eindeutige Zustände ihrem Schilderer gönnen, seinen Bericht von Knechts Erfolgen, seiner vorbildlichen Amtsführung und glänzenden Lebenshöhe zu Ende zu führen. Allein es schiene uns verfehlt und unserem Gegenstande nicht angemessen, die Zweiheit oder Polarität in des verehrten Meisters Wesen und Leben nicht auch schon dort zu erkennen und aufzuzeigen, wo sie noch niemandem, Tegularius ausgenommen, sichtbar gewesen ist. Vielmehr wird es unsere Aufgabe sein, von jetzt an diese Spaltung oder besser diese unaufhörlich pulsierende Polarität in Knechts Seele recht als das Eigentliche und Kennzeichnende im Wesen des Verehrten anzunehmen und zu bejahen. Es wäre nämlich einem Autor, der die Lebensbeschreibung eines kastalischen Magisters ganz nur im Sinne eines Heiligenlebens ad maiorem gloriam Castaliae zu schreiben für erlaubt hielte, durchaus nicht schwer gemacht, den Bericht von Josef Knechts Magisterjahren, mit einziger Ausnahme ihrer letzten Augenblicke, ganz als eine glorifizierende Aufzählung von Verdiensten, Pflichterfüllungen und Erfolgen zu gestalten. Leben und Amtsführung jedes beliebigen Glasperlenspielmeisters, auch etwa jenen Magister Ludwig Wassermaler der spielfreudigsten Epoche Waldzells nicht ausgenommen, kann dem Blick des Historikers, der sich nur an die dokumentierten Tatsachen hält, nicht einwandfreier und lobenswerter erscheinen als Leben und Amtsführung des Magisters Knecht. Dennoch hat diese Amtsführung ein ganz ungewöhnliches und Aufsehen erregendes, ja für das Empfinden mancher Beurteiler skandalisierendes Ende genommen, und dieses Ende war nicht etwa ein Zufall oder Unglücksfall, sondern ergab sich völlig folgerichtig, und es gehört mit zu unserer Aufgabe, zu zeigen, daß es mit den glänzenden und rühmenswerten Leistungen und Erfolgen des Ehrwürdigen keineswegs im Widerspruch steht. Knecht ist ein großer und vorbildlicher Verwalter und Repräsentant seines hohen Amtes gewesen, ein Glasperlenspielmeister ohne Tadel. Aber er sah und fühlte den Glanz Kastaliens, dem er diente, als eine gefährdete und schwindende Größe, er lebte in ihm nicht ahnungslos und bedenkenlos mit wie die große Mehrzahl seiner Mitkastalier, sondern wußte um seine Herkunft und seine Geschichte, empfand ihn als ein geschichtliches Wesen, der Zeit unterworfen und von ihrer mitleidlosen Gewalt umspült und erschüttert. Dieses Erwachtsein zum lebendigen Gefühl geschichtlichen Ablaufes und dies Empfinden der eigenen Person und Tätigkeit als einer im Strom des Werdens und Sichwandelns mittreibenden und mittätigen Zelle waren in ihm reif geworden und zum Bewußtsein gelangt durch seine historischen Studien und unter dem Einfluß des großen Paters Jakobus, aber die Anlagen und Keime dazu waren längst vorher dagewesen, und wem wirklich die Persönlichkeit Josef Knechts lebendig geworden, wer wirklich der Eigenart und dem Sinn dieses Lebens auf der Spur ist, wird diese Anlagen und Keime leicht auffinden. Der Mann, der an einem der strahlendsten Tage seines Lebens, am Ende seines ersten Festspieles, nach einer ungewöhnlich geglückten und eindrucksvollen Kundgebung des kastalischen Geistes gesagt hat: »Man denkt nicht gerne daran, daß Kastalien und das Glasperlenspiel einmal wieder vergehen sollen – und doch muß man daran denken,« dieser Mann hat von früh an, auch als er längst noch kein Eingeweihter der Historie war, ein Weltgefühl in sich getragen, dem die Vergänglichkeit alles Gewordenen und die Problematik alles vom Menschengeist Geschaffenen vertraut war. Gehen wir in seine Knaben- und Schülerjahre zurück, so stoßen wir auf die Nachricht, daß er jedesmal, wenn in Eschholz ein Mitschüler verschwand, weil er die Lehrer enttäuscht hatte und wieder aus der Elite in die gewöhnlichen Schulen zurückgeschickt worden war, eine tiefe Beklommenheit und Beunruhigung empfand. Von keinem dieser Ausgeschiedenen ist überliefert, daß er persönlich dem jungen Knecht befreundet gewesen sei; es war nicht der Verlust, es war nicht das Ausscheiden und Verschwinden der Personen, was ihn erregte und mit angstvollem Weh bedrückte. Es war vielmehr die leise Erschütterung seines kindlichen Glaubens an den Bestand der kastalischen Ordnung und der kastalischen Vollkommenheit, welche ihm dieses Weh bereitete. Daß es Knaben und Jünglinge gab, denen das Glück und die Gnade der Aufnahme in die Eliteschulen der Provinz begegnet war und welche diese Gnade wieder verscherzten und wegwarfen, darin lag für ihn, der seine Berufung so heilig ernst nahm, etwas Erschütterndes, ein Zeugnis von der Macht der nichtkastalischen Welt. Vielleicht auch – beweisen läßt es sich nicht – riefen solche Vorkommnisse in dem Knaben erste Zweifel an der bis dahin angenommenen Unfehlbarkeit der Erziehungsbehörde wach, da diese Behörde je und je auch Schüler nach Kastalien brachte, deren sie sich nach einer Weile wieder entledigen mußte. Ob nun nebenher auch dieser Gedanke, die frühste Regung einer Kritik an der Autorität also, mitgespielt habe oder nicht, jedesmal wurde von dem Knaben die Entgleisung und Rücksendung eines Eliteschülers als ein Unglück nicht nur, sondern als eine Ungehörigkeit empfunden, als ein häßlicher Fleck, der einen anstarrte und dessen Vorhandensein an sich schon ein Vorwurf war und ganz Kastalien mitverantwortlich machte. Hierin, glauben wir, ist das Gefühl von Erschütterung und Verstörung begründet, dessen der Schüler Knecht bei solchen Anlässen fähig war. Es gab draußen hinter den Grenzen der Provinz eine Welt und ein Menschenleben, welche zu Kastalien und seinen Gesetzen im Widerspruch standen, welche nicht in der hiesigen Ordnung und Rechnung aufgingen und von ihr nicht zu bändigen und zu sublimieren waren. Und natürlich kannte er das Vorhandensein dieser Welt auch in seinem eigenen Herzen. Auch er hatte Triebe, Phantasien und Gelüste, welche den Gesetzen widersprachen, unter denen er stand, Triebe, deren Zähmung nur allmählich gelang und harte Mühe kostete. Diese Triebe also konnten in manchen Schülern so stark werden, daß sie über alles Mahnen und Strafen hinweg sich durchsetzten und die ihnen Verfallenen aus der Elitewelt Kastaliens in jene andere Welt zurückführten, welche nicht von Zucht und Geistespflege, sondern eben von Naturtrieben beherrscht wurde und welche dem um kastalische Tugend Bemühten bald wie eine böse Unterwelt, bald wie ein verführerischer Spiel- und Tummelplatz erscheinen mußte. Viele junge Gewissen seit Generationen haben den Begriff der Sünde in dieser kastalischen Form erfahren. Und viele Jahre später, als Erwachsener und Liebhaber der Geschichte, sollte er ja des genauern erkennen, daß Geschichte nicht ohne den Stoff und die Dynamik dieser Sündenwelt des Egoismus und des Trieblebens entstehen kann und daß auch so sublime Gebilde wie das des Ordens aus dieser trüben Flut geboren und irgendeinmal von ihr wieder verschlungen werden. Das Problem Kastaliens also war es, das allen starken Bewegungen, Strebungen und Erschütterungen in Knechts Leben zugrunde lag, und niemals ist dies für ihn nur ein denkerisches Problem gewesen, sondern eines, das ihn wie kein anderes im Innersten anging und für das er sich mitverantwortlich wußte. Er gehörte zu jenen Naturen, welche daran krank werden, hinsiechen und sterben können, daß sie die von ihnen geliebte und geglaubte Idee, das von ihnen geliebte Vaterland und Gemeinwesen erkranken und Not leiden sehen. Wir verfolgen den Faden weiter und stoßen auf die erste Waldzeller Zeit Knechts, seine letzten Schülerjahre und sein bedeutungsvolles Zusammentreffen mit dem Gastschüler Designori, das wir ja an seiner Stelle eingehend geschildert haben. Diese Begegnung zwischen dem glühenden Anhänger des kastalischen Ideals und dem Weltkind Plinio war nicht nur ein heftiges und lange nachwirkendes, sie war auch ein tief wichtiges und gleichnishaftes Erlebnis für den Schüler Knecht. Denn es wurde ihm damals jene so bedeutende wie anstrengende Rolle aufgezwungen, welche, scheinbar vom Zufall ihm zugeworfen, seinem ganzen Wesen so sehr entsprach, daß man beinahe sagen möchte, sein späteres Leben sei nichts als ein Wiederaufnehmen dieser Rolle und ein immer vollkommeneres Hineinwachsen in sie gewesen, in die Rolle nämlich des Verteidigers und Repräsentanten Kastaliens, wie er sie dann etwa zehn Jahre später gegen den Pater Jakobus aufs neue zu spielen hatte und als Glasperlenspielmeister bis zu Ende gespielt hat, eines Verteidigers und Repräsentanten des Ordens und seiner Gesetze, der aber immerzu innig bereit und bemüht war, vom Gegenspieler zu lernen und nicht die Abkapselung und starre Isolierung Kastaliens, sondern sein lebendiges Zusammenspiel und seine Auseinandersetzung mit der Außenwelt zu fördern. Was im geistigen und rednerischen Wettkampf mit Designori zum Teil noch Spiel gewesen war, wurde später, dem so gewichtigen Gegner und Freund Jakobus gegenüber, tiefer Ernst, und gegen beide Gegenspieler hat er sich bewährt, ist an ihnen gewachsen, hat von ihnen gelernt, hat im Kampf und Austausch nicht weniger gegeben als genommen und hat beide Male den Gegner zwar nicht besiegt, was ja von Anfang an nicht das Kampfziel war, aber ihn zur ehrenvollen Anerkennung seiner Person wie des von ihm vertretenen Prinzips und Ideals zu zwingen vermocht. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem gelehrten Benediktiner nicht unmittelbar zu jenem praktischen Ergebnis, der Errichtung einer halb-offiziellen Vertretung Kastaliens beim Heiligen Stuhl geführt hätte, wäre sie von höherem Wert gewesen, als die Mehrzahl der Kastalier ahnte. Sowohl durch die wettkämpferische Freundschaft mit Plinio Designori wie durch jene mit dem weisen alten Pater hatte Knecht, der sonst mit der außerkastalischen Welt in keinerlei nähere Beziehung gekommen war, eine Kenntnis oder eher Ahnung jener Welt erworben, wie sie in Kastalien gewiß wenige besaßen. Mit Ausnahme des Mariafelser Aufenthaltes, der ihm ja ein Bekanntwerden mit dem eigentlichen Weltleben auch nicht bringen konnte, hatte er dies Weltleben nie gesehen und mitgelebt außer in früher Kindheit, aber er hatte durch Designori, durch Jakobus und das Geschichtsstudium eine wache Ahnung von der Wirklichkeit gewonnen, eine zum großen Teil intuitiv entstandene und von sehr geringer Erfahrung begleitete Ahnung, welche ihn aber wissender und weltoffener gemacht hat als die Mehrzahl seiner kastalischen Mitbürger, die Behörden kaum ausgenommen. Immer ist er ein echter und treuer Kastalier gewesen und geblieben, aber nie hat er vergessen, daß Kastalien nur ein Teil, ein kleiner Teil der Welt ist, sei es auch der wertvollste und geliebteste. Und wie stand es nun um seine Freundschaft mit Fritz Tegularius, dem schwierigen und problematischen Charakter, dem sublimen Artisten des Glasperlenspiels, dem verwöhnten und ängstlichen Nurkastalier, welchem es damals bei seinem kurzen Besuche in Mariafels zwischen den derben Benediktinern so unheimlich und elend geworden war, daß er es dort keine Woche aushalten zu können beteuerte und seinen Freund, der es zwei Jahre dort recht wohl aushielt, darum unendlich bewunderte? Wir haben uns über diese Freundschaft vielerlei Gedanken gemacht, manche mußten wieder verworfen werden, einige schienen standzuhalten; diese Gedanken galten alle der Frage, was denn nun die Wurzel und was der Sinn dieser vieljährigen Freundschaft gewesen sei. Vor allem dürfen wir nicht vergessen, daß bei allen Freundschaften Knechts, höchstens die mit dem Benediktiner ausgenommen, er nicht der suchende, werbende und bedürftige Teil gewesen ist. Er zog an, er wurde bewundert, beneidet und geliebt, einfach um seines adligen Wesens willen, und von einer gewissen Stufe seines »Erwachens« an war er sich dieser Gabe auch bewußt. So war er auch, schon in den ersten Studentenjahren, von Tegularius bewundert und umworben worden, hatte ihn aber stets in einer gewissen Distanz gehalten. Immerhin zeigen uns manche Merkmale, daß er dem Freunde wirklich zugetan war. Wir sind nun der Meinung, daß es nicht bloß dessen außergewöhnliche Begabung, seine rastlose und namentlich allen Problemen des Glasperlenspiels offenstehende Genialität war, welche für Knecht etwas Anziehendes hatte. Sondern dessen starkes und dauerndes Interesse galt nicht nur der großen Begabung des Freundes, es galt ebensosehr dessen Fehlern, seiner Kränklichkeit, es galt gerade dem, was den andern Waldzellern an Tegularius störend und oft unleidlich war. Dieser wunderliche Mensch war so sehr Kastalier, seine ganze Art zu existieren wäre außerhalb der Provinz undenkbar gewesen und hatte deren Atmosphäre und Bildungshöhe so sehr zur Voraussetzung, daß man, wäre nur eben seine Schwierigkeit und Wunderlichkeit nicht gewesen, ihn geradezu als einen Erzkastalier hätte bezeichnen können. Und dennoch paßte dieser Erzkastalier schlecht zu seinen Kameraden, war so wenig bei ihnen wie bei den Vorgesetzten und Beamten beliebt, störte beständig, gab immerzu Anstoß und wäre ohne den Schutz und die Führung durch seinen tapfern und klugen Freund wahrscheinlich früh zugrunde gegangen. Was man seine Krankheit nannte, war schließlich vorwiegend ein Laster, eine Unbotmäßigkeit, ein Charakterfehler, nämlich eine im tiefsten unhierarchische, völlig individualistische Gesinnung und Lebensführung; er fügte sich gerade nur soweit in die bestehende Ordnung ein, als notwendig war, um im Orden überhaupt geduldet zu werden. Er war insofern ein guter, ja glänzender Kastalier, als er ein vielseitiger, in der Gelehrsamkeit ebenso wie in der Glasperlenspielkunst unermüdlich und unersättlich fleißiger Geist war; aber ein sehr mittelmäßiger, ja schlechter Kastalier war er im Charakter, in der Einstellung zur Hierarchie und zur Ordensmoral. Das größte seiner Laster war ein dauerndes Leichtnehmen und Vernachlässigen der Meditation, deren Sinn ja die Einordnung des Individuums ist und deren gewissenhafte Pflege ihn sehr wohl von seiner Nervenkrankheit hätte heilen können, denn im kleinen und einzelnen tat sie es jedesmal, wenn er nach einer Periode schlechter Führung und aufgeregten oder melancholischen Wesens von den Oberen strafweise zu strengen Meditationsübungen unter Aufsicht gezwungen wurde, ein Mittel, zu welchen auch der wohlwollende und schonende Knecht des öftern hat greifen müssen. Nein, Tegularius war ein eigenwilliger, launischer, zur ernstlichen Einordnung nicht gewillter Charakter, immer wieder zwar von lebendiger Geistigkeit und in angeregten Stunden bezaubernd, wo sein pessimistischer Witz sprühte und keiner sich der Kühnheit und oft düstern Pracht seiner Einfälle entziehen konnte, aber er war im Grunde unheilbar, denn er wollte gar nicht geheilt sein, er gab nichts auf Harmonie und Einordnung, er liebte nichts als seine Freiheit, sein ewiges Studententum, und zog es vor, lebenslänglich der Leidende, der Unberechenbare und störrische Einzelgänger zu sein, der geniale Narr und Nihilist, statt den Weg der Einordnung in die Hierarchie zu gehen und zum Frieden zu gelangen. Er hielt nichts vom Frieden, er gab nichts auf die Hierarchie, er machte sich wenig aus Tadel und Vereinsamung. Ein höchst unbequemer und unverdaulicher Bestand also in einer Gemeinschaft, deren Ideal Harmonie und Ordnung ist! Aber eben in dieser Schwierigkeit und Unverdaulichkeit war er inmitten einer so geklärten und geordneten kleinen Welt eine beständige lebendige Unruhe, ein Vorwurf, eine Mahnung und Warnung, ein Anreger zu neuen, kühnen, verbotenen, vermessenen Gedanken, ein bockiges, unartiges Schaf in der Herde. Und dies, meinen wir, war es, wodurch er trotz allem diesen Freund gewann. Gewiß hat in Knechts Verhältnis zu ihm stets auch das Mitleid eine Rolle gespielt, der Appell des Gefährdeten und meist Unglücklichen an alle ritterlichen Gefühle des Freundes. Aber dies hätte nicht genügt, auch nach Knechts Erhebung zur Meisterwürde, inmitten eines mit Arbeit, Pflichten und Verantwortung überladenen Amtslebens, dieser Freundschaft das Leben zu fristen. Wir sind der Auffassung, daß in Knechts Leben dieser Tegularius nicht minder notwendig und wichtig war, als Designori und der Pater in Mariafels es waren, und zwar war er es gleich jenen beiden als ein weckendes Element, als ein offenes Fensterchen nach neuen Ausblicken hin. In diesem so merkwürdigen Freunde hat Knecht, wie wir glauben, den Vertreter eines Typus erspürt und mit der Zeit auch bewußt erkannt, eines Typus, der noch nicht vorhanden war außer in dieser einzigen Vorläufergestalt, den Typus des Kastaliers nämlich, wie er einmal werden könnte, wenn nicht durch neue Begegnungen und Impulse das Leben Kastaliens sollte verjüngt und gekräftigt werden können. Tegularius war, wie die meisten einsamen Genies, ein Vorläufer. Er lebte tatsächlich in einem Kastalien, das noch nicht da war, aber morgen da sein konnte, in einem nach der Welt hin noch abgeschlossenem, innerlich durch Alterung und Lockerung der meditativen Ordensmoral entartenden Kastalien, einer Welt, in welcher noch immer die höchsten Geistesflüge und die versunkenste Hingabe an hohe Werte möglich waren, wo aber eine hochentwickelte und frei spielende Geistigkeit keine Ziele mehr hatte als den Selbstgenuß ihrer hochgezüchteten Fähigkeiten. Tegularius bedeutete für Knecht zugleich die Verkörperung höchster kastalischer Fähigkeiten und das mahnende Vorzeichen für deren Demoralisierung und Untergang. Es war wunderbar und köstlich, daß es diesen Fritz gab. Aber die Auflösung Kastaliens in ein von lauter Tegulariussen bevölkertes Traumreich mußte verhindert werden. Die Gefahr, daß es dazu kommen könnte, war noch fern, aber sie war vorhanden. Das Kastalien, wie Knecht es kannte, brauchte nur die Mauern seiner vornehmen Isoliertheit noch ein wenig höher zu bauen, es brauchte nur ein Verfall der Ordenszucht, ein Sinken der hierarchischen Moral hinzuzukommen, so war Tegularius kein wunderlicher Einzelner mehr, sondern der Repräsentant eines entartenden und niedergehenden Kastaliens. Daß die Möglichkeit, ja der Beginn oder eine Disponiertheit zu solchem Verfall vorhanden sei, diese wichtigste Erkenntnis und Sorge des Magisters Knecht wäre ihm vermutlich weit später oder am Ende nie gekommen, hätte nicht neben ihm, und von ihm aufs genaueste gekannt, dieser Zukunftskastalier gelebt; er war für Knechts wachen Sinn ein Symptom und Mahnruf, wie es für einen klugen Arzt der erste von einer noch unbekannten Krankheit Befallene wäre. Und Fritz war ja kein Durchschnittsmensch, er war ein Aristokrat, eine Begabung von hohen Graden. Würde die noch unbekannte, im Vorläufer Tegularius zum erstenmal sichtbar gewordene Krankheit einmal um sich greifen und das Bild des kastalischen Menschen ändern, würden Provinz und Orden einmal die entartete, kranke Gestalt annehmen, so würden diese Zukunftskastalier nicht lauter Tegulariusse sein, sie würden nicht seine köstlichen Gaben, seine melancholische Genialität, seine flackernde Artistenleidenschaft besitzen, sondern die Mehrzahl von ihnen würde nur seine Unzuverlässigkeit, seinen Hang zur Verspieltheit, seinen Mangel an Zucht und Gemeinsinn haben. In sorgenvollen Stunden mag Knecht solche düstern Visionen und Vorahnungen gehabt haben, deren Bewältigung teils durch Versenkung, teils durch erhöhte Tätigkeit ihn gewiß viel Kraft gekostet hat. Gerade der Fall Tegularius zeigt uns auch ein besonders schönes und lehrreiches Beispiel für die Art, wie Knecht das ihm begegnende Problematische, Schwierige und Krankhafte, ohne ihm auszuweichen, zu bewältigen bemüht war. Ohne seine Wachsamkeit, Fürsorge und erzieherische Leitung wäre nicht nur sein gefährdeter Freund wahrscheinlich früh zugrunde gegangen, es wäre außerdem ohne Zweifel durch ihn zu endlosen Störungen und Unzuträglichkeiten in der Spielersiedlung gekommen, an welchen es schon seit dessen Zugehörigkeit zur Spielerelite keineswegs gefehlt hatte. Die Kunst, mit welcher der Magister nicht nur seinen Freund leidlich im Geleise zu halten, sondern auch seine Gaben im Dienst des Glasperlenspiels zu verwenden und zu edlen Leistungen zu steigern wußte, die Behutsamkeit und Geduld, mit welcher er dessen Launen und Wunderlichkeiten ertrug und mit dem unermüdlichen Appell an das Wertvolle in seinem Wesen überwand, müssen wir als ein Meisterstück der Menschenbehandlung bewundern. Es wäre übrigens eine schöne und vielleicht zu überraschenden Einsichten führende Aufgabe – und wir möchten sie einem unsrer Historiker des Glasperlenspiels ernstlich ans Herz legen –, einmal die Jahresspiele der Amtszeit Knechts in ihrer stilistischen Eigenheit genau zu studieren und ihre Analyse zu geben, diese würdevollen und dabei von köstlichen Einfällen und Formulierungen funkelnden, diese glänzenden, rhythmisch so originellen und doch allem selbstgefälligen Virtuosentum so fernen Spiele, deren Grundplan und Aufbau ebenso wie die Führung der Meditationsfolge ausschließlich Knechts geistiges Eigentum war, während die Ziselierung und spieltechnische Kleinarbeit größtenteils von seinem Mitarbeiter Tegularius stammte. Diese Spiele könnten verlorengegangen und vergessen sein, ohne daß das Leben und die Tätigkeit Knechts darum für die Nachlebenden allzuviel von ihrer Anziehungs- und Beispielkraft verlieren würde. Sie sind jedoch nicht verloren, zu unsrem Glück, sie sind aufgezeichnet und aufbewahrt wie alle offiziellen Spiele, und sie liegen nicht nur tot im Archiv, sondern leben noch heute in der Überlieferung fort, werden von jungen Studenten studiert, liefern beliebte Beispiele für manchen Spielkurs und manches Seminar. Und in ihnen lebt auch jener Mitarbeiter fort, der sonst vergessen wäre oder doch nichts wäre als eine seltsame, in manchen Anekdoten noch spukhaft umgehende Figur der Vergangenheit. So hat Knecht, indem er seinem so schwer einzureihenden Freunde Fritz dennoch einen Platz und ein Wirkungsfeld anzuweisen verstand, das Geistesgut und die Geschichte Waldzells um etwas Wertvolles bereichert und hat zugleich der Gestalt und dem Andenken dieses Freundes eine gewisse Dauer gesichert. Wir erinnern nebenbei daran, daß bei seinen Bemühungen um den Freund der große Erzieher sich des wichtigsten Mittels solcher erzieherischen Beeinflussung durchaus bewußt war. Dies Mittel war des Freundes Liebe und Bewunderung. Diese Bewunderung und Liebe, diese Schwärmerei für Knechts starke und harmonische Persönlichkeit, für sein Herrentum, hat der Magister bei Fritz nicht nur, sondern noch bei vielen seiner Mitstrebenden und Schüler recht wohl gekannt und hat stets mehr auf ihr als auf seiner hohen Amtswürde die Autorität und Macht aufgebaut, die er trotz seines gütigen und konzilianten Wesens auf so viele ausgeübt hat. Er fühlte genau, was ein freundliches Wort der Ansprache oder der Anerkennung, und was ein Sichentziehen, ein Nichtbeachten wirken könne. Einer seiner eifrigsten Schüler hat viel später einmal erzählt, Knecht habe einst eine Woche lang im Kurs und im Seminar kein Wort mit ihm gesprochen, ihn scheinbar nicht gesehen, ihn als Luft behandelt, und das sei in allen den Jahren seiner Schülerschaft die bitterste und wirksamste Strafe gewesen, die er erlebt habe. Wir haben diese Betrachtungen und Rückblicke für notwendig gehalten, um den Leser unsres biographischen Versuchs an dieser Stelle zum Verständnis der beiden polar wirkenden Grundtendenzen in Knechts Persönlichkeit zu führen und ihn, nachdem er unsrer Beschreibung bis auf dessen Lebenshöhe gefolgt ist, auf die letzten Phasen dieses reichen Lebenslaufes vorzubereiten. Die beiden Grundtendenzen oder Pole dieses Lebens, sein Yin und Yang, waren die Tendenz zum Bewahren, zur Treue, zum selbstlosen Dienst an der Hierarchie, und andrerseits die Tendenz zum »Erwachen,« zum Vordringen, zum Greifen und Begreifen der Wirklichkeit. Für den gläubigen und dienstbereiten Josef Knecht war der Orden, war Kastalien und das Glasperlenspiel etwas Heiliges und unbedingt Wertvolles; für den erwachenden, hellsichtigen, vorwärtsdringenden waren sie, ihres Wertes ungeachtet, gewordene, erkämpfte, in ihren Lebensformen wandelbare, der Gefahr der Alterung, des Sterilwerdens und Verfalls ausgesetzte Gestaltungen, deren Idee ihm stets unantastbar heilig blieb, deren jeweilige Zustände er jedoch als vergänglich und der Kritik bedürftig erkannt hatte. Er diente einer geistigen Gemeinschaft, deren Kraft und Sinn er bewunderte, deren Gefahr aber er in ihrer Neigung sah, sich als reinen Selbstzweck zu betrachten, ihrer Aufgabe und Mitarbeit am Ganzen des Landes und der Welt zu vergessen und schließlich in einer glänzenden, aber mehr und mehr zur Unfruchtbarkeit verurteilten Abspaltung vom Ganzen des Lebens zu verkommen. Diese Gefahr hätte er in jenen frühen Jahren vorgeahnt, da er immer wieder gezögert und davor gebangt hatte, sich ganz dem Glasperlenspiel zu verschreiben, sie war ihm in den Diskussionen mit den Mönchen und namentlich mit dem Pater Jakobus, so tapfer er Kastalien gegen sie verteidigte, immer eindringlicher zum Bewußtsein gekommen und, seit er wieder in Waldzell lebte und Magister Ludi geworden war, beständig in handgreiflichen Symptomen bemerkbar geworden, in der treuen, aber weitabgewandten und rein formalen Arbeitsweise vieler Amtsstellen und seiner eigenen Beamten, in dem geistreichen, aber hochmütigen Spezialistentum seiner Waldzeller Repetentenschaft und nicht zuletzt in der ebenso rührenden wie erschreckenden Gestalt seines Tegularius. Nach Absolvierung seines schweren ersten Amtsjahres, dem er nichts an Zeit und Privatleben abzugewinnen vermochte, kehrte er nun auch zu geschichtlichen Studien zurück, er versenkte sich zum ersten Male offenen Auges in die Geschichte Kastaliens und gewann dabei die Überzeugung, daß es mit ihm nicht so stehe, wie das Selbstbewußtsein der Provinz meinte, daß namentlich ihre Beziehungen zur Außenwelt, die Wechselwirkung zwischen ihr und dem Leben, der Politik, der Bildung des Landes seit Jahrzehnten im Rückgang begriffen seien. Zwar sprach die Erziehungsbehörde in Angelegenheiten des Schul- und Bildungswesens noch ihr Wort im Bundesrate mit, zwar versorgte die Provinz das Land noch immer mit guten Lehrern und übte in allen Fragen der Gelehrsamkeit ihre Autorität; doch hatte dies alles den Charakter der Gewohnheit und des Mechanismus angenommen. Seltener und weniger eifrig meldeten sich junge Männer aus den verschiedenen Eliten Kastaliens freiwillig zum Schuldienst extra muros, selten mehr wandten sich Behörden und einzelne im Lande ratsuchend an Kastalien, dessen Stimme in früheren Zeiten zum Beispiel auch bei wichtigen Gerichtsverhandlungen gern zugezogen und gehört worden war. Verglich man das Bildungsniveau Kastaliens mit dem des Landes, so sah man, daß sie keineswegs sich einander näherten, vielmehr in fataler Weise auseinanderstrebten: je gepflegter, differenzierter, überzüchteter die kastalische Geistigkeit wurde, desto mehr neigte die Welt dazu, die Provinz Provinz sein zu lassen und sie, statt als eine Notwendigkeit und ein tägliches Brot, als einen Fremdkörper zu betrachten, auf den man zwar ein wenig stolz war wie auf eine altertümliche Kostbarkeit, den man vorläufig auch gar nicht hätte weggeben und entbehren mögen, von dem man sich aber gern in Distanz hielt und dem man, ohne genau Bescheid zu wissen, eine Mentalität, eine Moral und ein Selbstgefühl zutraute, welche ins wirkliche und tätige Leben nicht recht mehr paßten. Das Interesse der Mitbürger für das Leben der pädagogischen Provinz, ihre Teilnahme an deren Einrichtungen und namentlich auch am Glasperlenspiel, war ebenso im Rückgang begriffen wie die Teilnahme der Kastalier am Leben und Schicksal des Landes. Daß hier der Fehler liege, war ihm längst klargeworden, und daß er als Glasperlenspielmeister in seinem Spielerdorf es ausschließlich mit Kastaliern und Spezialisten zu tun hatte, war ihm ein Kummer. Daher sein Bestreben, sich immer mehr den Anfängerkursen zu widmen, sein Wunsch, möglichst junge Schüler zu haben – je jünger sie waren, desto mehr waren sie noch mit dem Ganzen der Welt und des Lebens verbunden, desto weniger waren sie dressiert und spezialisiert. Oft spürte er ein brennendes Verlangen nach Welt, nach Menschen, nach naivem Leben – falls dies dort draußen im Unbekannten noch vorhanden war. Etwas von dieser Sehnsucht und diesem Gefühl von Leere, von Leben in allzu verdünnter Luft ist ja den meisten von uns je und je spürbar geworden, und auch der Erziehungsbehörde ist ja diese Schwierigkeit bekannt, wenigstens hat sie immer von Zeit zu Zeit nach Mitteln gesucht, ihr zu begegnen und durch vermehrte Pflege körperlicher Übungen und Spiele wie durch Versuche mit mancherlei Handwerks- und Gartenarbeiten den Mangel auszugleichen. Wenn wir richtig beobachtet haben, besteht bei der Ordensleitung in neuerer Zeit auch eine Tendenz zum Abbau mancher als überzüchtet empfundenen Spezialitäten im Wissenschaftsbetriebe, und zwar zugunsten einer Intensivierung der Meditationspraxis. Man braucht kein Skeptiker und Schwarzseher und kein schlechter Ordensbruder zu sein, um Josef Knecht recht zu geben, wenn er schon eine geraume Zeit vor uns den komplizierten und empfindlichen Apparat unsrer Republik als einen alternden und der Erneuerung in mancher Hinsicht bedürftigen Organismus erkannte. Wir finden ihn, wie erwähnt, von seinem zweiten Amtsjahre an wieder geschichtlichen Studien zugewendet, und zwar war er außer mit der kastalischen Geschichte hauptsächlich mit der Lektüre aller der großen und kleinern Arbeiten beschäftigt, welche Pater Jakobus über den benediktinischen Orden verfaßt hatte. Mit Herrn Dubois und einem der Philologen von Keuperheim, welcher bei den Sitzungen der Behörde als Sekretär stets zugegen war, fand er auch Gelegenheit, diese historischen Interessen im Gespräch ausschwingen oder neu anregen zu lassen, was ihm stets eine willkommene Erfrischung und Freude war. In seiner täglichen Umgebung allerdings fehlte diese Gelegenheit, und wahrhaft verkörpert begegnete ihm die Unlust dieser Umgebung gegen alle Beschäftigung mit der Historie in der Person seines Freundes Fritz. Wir fanden unter andrem ein Notizblatt mit Aufzeichnungen über eine solche Unterhaltung, in welcher Tegularius mit Leidenschaft ausführte, daß die Geschichte für Kastalier ein des Studiums durchaus unwürdiger Gegenstand sei. Gewiß könne man auf geistreiche und amüsante, nötigenfalls auch auf hochpathetische Art Geschichtsdeutung, Geschichtsphilosophie treiben, es sei das ein Spaß wie andre Philosophien, er habe nichts dagegen, wenn sich jemand daran erlustige. Aber das Ding selber, das Objekt dieses Spaßes, die Geschichte nämlich, sei etwas so Häßliches, zugleich Banales und Teuflisches, zugleich Scheußliches und Langweiliges, daß er nicht begreife, wie man sich mit ihr befassen könne. Ihr Inhalt sei ja lediglich der menschliche Egoismus und der ewig gleiche, ewig sich selbst überschätzende und sich selbst glorifizierende Kampf um die Macht, um die materielle, brutale, viehische Macht, um ein Ding also, das in der Vorstellungswelt eines Kastaliers nicht vorkomme oder doch nicht den geringsten Wert habe. Weltgeschichte sei der endlose, geist- und spannungslose Bericht über die Vergewaltigung der Schwächern durch die Stärkern, und die eigentliche und wirkliche Geschichte, die zeitlose Geschichte des Geistes, mit dieser weltalten, dummen Prügelei der Ehrgeizigen um die Macht und der Streber um den Platz an der Sonne in Verbindung zu bringen oder gar aus ihr erklären zu wollen, sei eigentlich schon ein Verrat am Geist und erinnere ihn an eine im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert weitverbreitete Sekte, von der ihm einmal erzählt worden sei und welche allen Ernstes des Glaubens gewesen sei, die den Göttern dargebrachten Opfer der alten Völker samt diesen Göttern, ihren Tempeln und Mythen seien gleich allen andern hübschen Dingen die Folgen eines berechenbaren Zuwenig oder Zuviel an Essen und Arbeit, Resultate einer aus Arbeitslohn und Brotpreis zu errechnenden Spannung, die Künste und Religionen seien Scheinfassaden, sogenannte Ideologien über einer lediglich mit Hunger und mit Fressen beschäftigten Menschheit gewesen. Knecht, den die Unterhaltung belustigte, fragte obenhin, ob denn die Geschichte des Geistes, der Kultur, der Künste nicht auch Geschichte und mit der übrigen Geschichte immerhin in einigem Zusammenhang sei. Nein, rief sein Freund heftig, eben dies leugne er. Weltgeschichte sei ein Wettlauf in der Zeit, ein Rennen um Gewinn, um Macht, um Schätze, es komme dabei stets darauf an, wer Kraft, Glück oder Gemeinheit genug habe, den Moment nicht zu verpassen. Geistestat, Kulturtat, Kunsttat dagegen sei genau das Gegenteil, es sei jedesmal ein Ausbruch aus der Zeitknechtschaft, ein Hinüberschlüpfen des Menschen aus dem Dreck seiner Triebe und seiner Trägheit auf eine andere Ebene, ins Zeitlose, Zeitbefreite, Göttliche, ganz und gar Ungeschichtliche und Widergeschichtliche. Knecht hörte ihm mit Vergnügen zu und reizte ihn noch zu weiteren, keineswegs witzlosen Entladungen, dann schloß er das Gespräch gelassen mit der Bemerkung: »Alle Achtung vor deiner Liebe zum Geist und seinen Taten! Nur ist die geistige Schöpfung etwas, woran wir nicht so eigentlich teilnehmen können, wie mancher glaubt. Ein Gespräch von Plato oder ein Chorsatz von Heinrich Isaac und alles, was wir Geistestat oder Kunstwerk oder objektivierten Geist nennen, sind Endergebnisse, letzte Resultate eines Kampfes um Läuterung und Befreiung, sie sind meinetwegen, wie du es nennst, Ausbrüche aus der Zeit ins Zeitlose, und in den meisten Fällen sind jene Werke die vollkommensten, welche von dem Kampf und Ringen, das ihnen voranging, nichts mehr ahnen lassen. Es ist ein großes Glück, daß wir diese Werke haben, und wir Kastalier leben ja beinahe ganz von ihnen, wir sind ja nicht anders mehr schöpferisch als im Reproduzieren, wir leben dauernd in jener jenseitigen Sphäre der Zeit- und Kampflosigkeit, welche eben aus jenen Werken besteht und uns ohne sie nicht bekannt wäre. Und wir gehen im Vergeistigen oder, wenn du willst, im Abstrahieren noch immer weiter; wir legen in unsrem Glasperlenspiel jene Werke der Weisen und Künstler in ihre Teile auseinander, ziehen Stilregeln, Formschemata, sublimierte Deutungen aus ihnen und operieren mit diesen Abstraktionen, als wären sie Bausteine. Nun, dies alles ist sehr schön, das bestreitet dir niemand. Aber nicht jeder kann sein Leben lang ausschließlich Abstraktionen atmen, essen und trinken. Vor dem, was ein Waldzeller Repetent als seines Interesses würdig empfindet, hat die Historie den einen Vorzug: sie hat es mit der Wirklichkeit zu tun. Abstraktionen sind entzückend, aber ich bin dafür, daß man auch Luft atmen und Brot essen muß.« Je und je ermöglichte Knecht einen kurzen Besuch bei dem greisen Alt-Musikmeister. Der ehrwürdige Alte, dessen Kräfte jetzt sichtlich zur Neige gingen und der sich des Gebrauchs der Rede längst völlig entwöhnt hatte, verharrte in seinem Zustande heiterer Sammlung bis zuletzt. Er war nicht krank, und sein Tod war nicht eigentlich ein Sterben, es war eine fortschreitende Entstofflichung, ein Schwinden der leiblichen Substanz und der leiblichen Funktionen, während das Leben sich immer ausschließlicher im Blick der Augen und dem leisen Strahlen des einsinkenden Greisengesichtes sammelte. Den meisten Bewohnern von Monteport war dies eine wohlbekannte und mit Ehrfurcht hingenommene Erscheinung, aber nur wenigen, wie Knecht, Ferromonte und dem jungen Petrus, war eine Art von Teilnahme an diesem Abendglanz und Ausleuchten eines reinen und selbstlosen Lebens vergönnt. Diesen wenigen, wenn sie vorbereitet und gesammelt den kleinen Raum betraten, darin der Altmeister in seinem Lehnstuhle saß, gelang der Eintritt in diesen sanften Glanz des Entwerdens, das Mitfühlen der wortlos gewordenen Vollendung, wie im Bereiche unsichtbarer Strahlen weilten sie beglückende Augenblicke in der kristallnen Sphäre dieser Seele, unirdischer Musik teilhaftig, und kehrten dann mit geklärten und gestärkten Herzen in ihren Tag zurück wie von einem hohen Berggipfel. Es kam der Tag, an welchem Knecht die Nachricht von seinem Tode erhielt, er reiste eilig hin und fand den sanft Entschlafenen auf seinem Lager liegend, das kleine Gesicht hingeschwunden und eingesunken zu einer stillen Rune und Arabeske, einer magischen Figur, nicht mehr zu lesen und doch wie von Lächeln und vollendetem Glück erzählend. Am Grabe hat nach dem Musikmeister und Ferromonte auch Knecht gesprochen, und er sprach nicht von dem erleuchteten Weisen der Musik, nicht von dem großen Lehrer, nicht von dem gütig klugen ältesten Mitglied der obersten Behörde, er sprach nur von der Gnade seines Alters und Todes, von der unsterblichen Schönheit des Geistes, die in ihm sich den Genossen seiner letzten Tage offenbart hatte. Wir wissen aus mehreren Äußerungen, daß es sein Wunsch war, das Leben des Alt-Magisters zu beschreiben, allein zu einer solchen Arbeit ließ das Amt ihm keine Muße. Er hatte gelernt, seinen Wünschen wenig Raum mehr zu gönnen. Einem seiner Repetenten sagte er einmal: »Es ist schade, daß ihr Studenten den Überfluß und Luxus nicht so recht kennet, in dem ihr lebet. Aber es ist auch mir so gegangen, als ich noch Student war. Man studiert und arbeitet, man geht nicht müßig, man glaubt sich für fleißig halten zu dürfen – aber was alles man tun, was alles man aus dieser Freiheit machen könnte, empfindet man kaum. Dann kommt plötzlich ein Ruf der Behörde, man wird gebraucht, man bekommt einen Lehrauftrag, eine Mission, ein Amt, rückt von da in ein höheres hinauf und findet sich unversehens in einem Netz von Aufgaben und Pflichten gefangen, das immer enger und dichter wird, je mehr man sich darin rührt. Es sind lauter an sich kleine Aufgaben, aber jede will zu ihrer Stunde besorgt sein, und der Amtstag hat viel mehr Aufgaben als Stunden. Das ist gut so, es soll nicht anders sein. Aber wenn man zwischen Lehrsaal, Archiv, Kanzlei, Sprechzimmer, Sitzungen, Amtsreisen einmal einen Augenblick jener Freiheit gedenkt, die man besaß und verloren hat, der Freiheit zu unbefohlenen Arbeiten, unbeschränkten weiträumigen Studien, dann kann man sich einen Augenblick sehr nach ihr sehnen und sich einbilden: wenn man sie noch einmal wieder besäße, würde man ihre Freuden und Möglichkeiten bis zum Grunde genießen.« Für die Eignung seiner Schüler und Beamten zum Dienst in der Hierarchie hatte er ein überaus feines Gefühl; behutsam wählte er für jeden Auftrag, jede Besetzung die Leute aus, und die Zeugnisse und Charakteristiken, in denen er über sie Buch führte, zeigen eine große Sicherheit des Urteils, das immer in erster Linie dem Menschlichen, dem Charakter galt. Wo es die Beurteilung und Behandlung schwieriger Charaktere galt, holte man denn auch gerne Rat bei ihm. Da war zum Beispiel jener Student Petrus, der letzte Vorzugsschüler des Alt-Musikmeisters. Dieser junge Mann, einer von der Art der stillen Fanatiker, hatte sich in seiner eigenartigen Rolle als Gesellschafter, Pfleger und anbetender Jünger des Verehrten bis zuletzt recht gut bewährt. Als diese Rolle jedoch mit des Alt-Magisters Tode ihr natürliches Ende gefunden hatte, verfiel er zunächst einer Melancholie und Trauer, die man begriff und eine Weile duldete, deren Symptome aber dem derzeitigen Herrn von Monteport, dem Musikmeister Ludwig, bald ernstliche Sorgen bereiteten. Petrus nämlich beharrte darauf, in jenem Pavillon, dem Alterssitz des Entschlafenen, wohnen zu bleiben, er bewachte das Häuschen, hielt dessen Einrichtung und Ordnung genau wie früher peinlich im Stande, betrachtete namentlich des Verstorbenen Wohn- und Sterbezimmer mit dem Lehnstuhl, dem Sterbelager und dem Cembalo als ein unantastbares, von ihm zu behütendes Heiligtum und kannte außer der peinlichen Bewahrung dieser Reliquien nur noch eine Sorge und Pflicht, die Pflege der Grabstätte, in der sein geliebter Meister ruhte. Er sah sich dazu berufen, sein Leben einem dauernden Kult des Toten an diesen Erinnerungsstätten zu widmen, sie als geheiligte Orte wie ein Tempeldiener zu bewahren, sie vielleicht zu Wallfahrtsstätten werden zu sehen. In den ersten Tagen nach dem Begräbnis hatte er sich jeder Speise enthalten, sodann sich auf jene winzigen und seltenen Mahlzeiten beschränkt, mit welchen der Meister in seiner letzten Zeit sich begnügt hatte; es sah so aus, als habe er den Vorsatz, auf diese Weise in die Nachfolge des Verehrten einzutreten und ihm nachzusterben. Da er dies nicht lange aushielt, ging er zu jenem Verhalten über, das ihn als Haus- und Grabstättenverwalter, als ewigen Kustoden der Gedächtnisorte ausweisen sollte. Es ging aus alledem deutlich hervor, daß der junge Mensch, eigensinnig ohnehin und seit geraumer Zeit einer für ihn reizvollen Sonderstellung genießend, diese Sonderstellung auf jede Weise festhalten und keinesfalls wieder in den Dienst des Alltags zurückkehren wollte, dem er sich wohl heimlich nicht mehr gewachsen fühlte. »Jener Petrus übrigens, der dem gewesenen Altmeister beigegeben war, ist übergeschnappt,« heißt es kurz und kühl in einem Billett von Ferromonte. Nun freilich ging der Monteporter Musikstudent den Waldzeller Magister nichts an, er war für ihn nicht verantwortlich und fühlte ohne Zweifel auch kein Bedürfnis, sich in eine Monteporter Angelegenheit zu mischen und seine eigene Arbeit zu vermehren. Aber der unglückliche Petrus, den man mit Gewalt aus seinem Pavillon hatte entfernen müssen, beruhigte sich nicht und hatte sich in seiner Trauer und Verstörung in einen Zustand der Isolierung und Wirklichkeitsentfremdung hineingesteigert, in welchem er den üblichen Maßregelungen bei Verstößen gegen die Disziplin nicht wohl konnte ausgesetzt werden, und da seinen Vorgesetzten Knechts wohlwollendes Verhältnis zu ihm bekannt war, erging von der Kanzlei des Musikmeisters an Knecht die Bitte um Rat und Eingreifen, während der Unbotmäßige vorläufig als krank angesehen und in einer Zelle der Krankenabteilung unter Beobachtung gehalten wurde. Knecht hatte sich eher ungern auf diese bemühende Sache eingelassen, aber nachdem er ihr einmal sein Nachdenken gewidmet und sich zu einem Versuch der Hilfeleistung entschlossen hatte, nahm er das Ding mit kräftigem Griff in seine Hand. Er bot sich an, Petrus versuchsweise zu sich zu nehmen, unter der Bedingung, daß man ihn ganz wie einen Gesunden behandle und allein reisen lasse; eine kurze freundliche Einladung an den Jüngling legte er bei, worin er sich, falls jener abkömmlich sei, seinen Besuch für kurze Zeit erbat und andeutete, man hoffe von ihm manche Aufschlüsse über die letzten Tage des Alt-Musikmeisters zu bekommen. Zögernd willigte der Monteporter Arzt ein, man übergab dem Studenten Knechts Einladung, und wie dieser richtig vermutet hatte, dem in seine üble Situation Festgerannten werde nichts lieber und bekömmlicher sein als eine rasche Entfernung vom Ort seiner Nöte, erklärte Petrus sich alsbald mit der Reise einverstanden, nahm ohne Weigern eine richtige Mahlzeit ein, bekam einen Reiseschein und wanderte los. In Waldzell traf er in leidlichem Zustande ein, das Unlustige und Fahrige in seinem Wesen wurde hier auf Knechts Weisung ignoriert, man brachte ihn bei den Gästen des Archivs unter; er fand sich weder als strafbar noch als krank noch sonst irgendwie außerhalb der Ordnung gestellt behandelt, und war doch nicht krank genug gewesen, um diese angenehme Atmosphäre nicht zu schätzen und den sich bietenden Rückweg ins Leben zu benützen. Zwar wurde er in den mehreren Wochen seines Aufenthaltes dem Magister noch lästig genug, der ihm durch die stets kontrollierte Scheinbeschäftigung mit Aufzeichnungen über die letzten musikalischen Übungen und Studien seines Meisters eine Aufgabe zuwies und ihn daneben planmäßig im Archiv zu kleinen Handlangerdiensten anhalten ließ; man bat ihn, wenn seine Zeit es erlaube, ein wenig mit Hand anzulegen, man sei gerade stark beschäftigt und habe Mangel an Hilfskräften. Kurz, man half dem Entgleisten wieder auf den Weg; erst als er ruhig geworden und sichtlich willens war, sich einzuordnen, begann Knecht in kurzen Gesprächen ihn auch unmittelbar erzieherisch zu beeinflussen und ihm vollends den Wahn zu nehmen, es sei sein Götzenkult mit dem Verstorbenen eine heilige und eine in Kastalien mögliche Sache. Da er seine Furcht vor der Rückkehr nach Monteport aber nicht überwinden konnte, verschaffte man ihm, da er geheilt schien, den Auftrag, als Gehilfe des Musiklehrers an eine der unteren Eliteschulen zu gehen, wo er sich auch respektabel hielt. Es ließe sich noch manches Beispiel für die erzieherische und seelenärztliche Tätigkeit Knechts anführen, und an jungen Studierenden, welche durch die sanfte Gewalt seiner Persönlichkeit in ähnlicher Weise für ein Leben in echt kastalischem Geiste gewonnen wurden, wie einst Knecht selbst durch den Musikmeister, ist kein Mangel. Alle diese Beispiele zeigen uns den Magister Ludi nicht als einen irgend problematischen Charakter, sie alle sind Zeugnisse der Gesundheit und des Gleichgewichts. Nur scheint die liebevolle Bemühung des Ehrwürdigen um labile und gefährdete Charaktere wie Petrus oder Teguarius auf eine besondere Wachheit und Feinfühligkeit für solche Erkrankungen oder Anfälligkeiten des kastalischen Menschen hinzudeuten, eine vom ersten Erwachen an nie wieder beruhigte und eingeschlafene Aufmerksamkeit für die Probleme und Gefahren, welche im kastalischen Leben selbst liegen. Diese Gefahren aus Leichtsinn und Bequemlichkeit nicht sehen zu wollen, wie der wohl größere Teil unserer Mitbürger es tut, lag seinem hellen und mutigen Wesen fern, und vermutlich ist die Taktik der meisten seiner Kollegen in der Behörde, welche das Vorhandensein dieser Gefahren zwar kennen, sie aber grundsätzlich als nicht existent behandeln, niemals die seine gewesen. Er sah und kannte sie, oder doch manche von ihnen, und seine Vertrautheit mit der Frühgeschichte Kastaliens ließ ihm das Leben inmitten dieser Gefahren als einen Kampf erscheinen und ließ ihn dieses Leben in der Gefahr bejahen und lieben, während so viele Kastalier ihre Gemeinschaft und das Leben in ihr lediglich als ein Idyll auffassen. Auch aus des Paters Jakobus Werken über den Benediktinerorden war ihm die Vorstellung des Ordens als einer militanten Gemeinschaft und der Frömmigkeit als einer kämpferischen Haltung vertraut. »Es gibt,« so hat er einmal gesagt, »kein adliges und erhöhtes Leben ohne das Wissen um die Teufel und Dämonen und ohne den beständigen Kampf gegen sie.« Ausgesprochene Freundschaften zwischen den Inhabern der höchsten Ämter kommen bei uns äußerst selten vor, und so wundern wir uns nicht darüber, daß Knecht in den ersten Amtsjahren mit keinem seiner Kollegen ein solches Verhältnis gepflegt hat. Große Sympathien hatte er für den Altphilologen in Keuperheim und eine tiefe Hochachtung vor der Ordensleitung, aber in dieser Sphäre ist das Persönliche und Private so nahezu völlig ausgeschaltet und objektiviert, daß über die amtliche Zusammenarbeit hinaus kaum ernstliche Annäherungen und Befreundungen möglich sind. Und doch sollte er auch dies noch erleben. Uns steht das Geheimarchiv der Erziehungsbehörde nicht zur Verfügung; über die Haltung und Tätigkeit Knechts bei deren Sitzungen und Abstimmungen wissen wir nur, was sich aus seinen gelegentlichen Äußerungen gegen Freunde schließen läßt. Er scheint die Schweigsamkeit seiner ersten Magisterzeit in diesen Sitzungen zwar nicht immer beibehalten zu haben, aber doch nur selten rednerisch aufgetreten zu sein, außer wenn er selbst Initiant und Antragsteller war. Ausdrücklich bezeugt ist die Schnelligkeit, mit welcher er den herkömmlichen Umgangston, der am Gipfel unserer Hierarchie herrscht, sich zu eigen gemacht, und die Zierlichkeit, der Erfindungsreichtum und die Spielfreudigkeit, die er bei Übung dieser Formen zeigte. Bekanntlich verkehren die Spitzen unserer Hierarchie, die Magister und die Männer der Ordensleitung, untereinander nicht nur in einem sorgfältig eingehaltenen Zeremonialstil, sondern es herrscht unter ihnen, wir wissen nicht zu sagen seit wann, auch die Neigung oder geheime Vorschrift oder Spielregel, sich desto strengerer, desto sorgfältiger ziselierter Höflichkeit zu bedienen, je größer die Meinungsverschiedenheiten und je wichtiger die umstrittenen Fragen sind, über welche man sich ausspricht. Vermutlich hat diese von alters her überkommene Höflichkeit neben anderen Funktionen, die sie haben mag, auch und vor allem die Funktion einer Schutzmaßregel: der äußerst höfliche Ton der Debatten schützt nicht nur die debattierenden Personen vor der Hingabe an Leidenschaftlichkeit und hilft ihnen die vollkommene Haltung wahren, er schützt und behütet außerdem die Würde des Ordens und der Behörde selbst, er umhängt sie mit Talaren des Zeremoniells und mit Schleiern der Heiligkeit, und so hat wohl diese von den Studenten oft bespöttelte Komplimentierkunst ihren guten Sinn. Vor der Zeit Knechts war sein Vorgänger, Magister Thomas von der Trave, ein besonders bewunderter Meister dieser Kunst gewesen. Man kann Knecht nicht eigentlich seinen Nachfolger darin, noch weniger seinen Nachahmer nennen, er war mehr ein Schüler der Chinesen und seine Art von Courtoisie weniger zugespitzt und mit Ironie durchsetzt. Aber als ein in Höflichkeit nicht zu Besiegender hat auch er unter seinen Kollegen gegolten. |
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