"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)

Waldzell

»Waldzell aber bringt das kunstreiche Völkchen der Glasperlenspieler hervor,« heißt der alte Spruch über diese berühmte Schule. Unter den kastalischen Schulen der zweiten und dritten Stufe war es die am meisten musische, das heißt wenn an andren Schulen ganz ausgesprochen eine bestimmte Wissenschaft dominierte, wie etwa in Keuperheim die Altphilologie, in Porta die aristotelische und scholastische Denklehre, in Planvaste die Mathematik, so wurde umgekehrt in Waldzell traditionell eine Tendenz zur Universalität und zur Verschwisterung zwischen Wissenschaft und Künsten gepflegt, und oberstes Sinnbild dieser Tendenzen war das Glasperlenspiel. Dieses wurde zwar auch hier, wie in allen Schulen, keineswegs offiziell und als obligatorisches Fach gelehrt; dafür aber galten ihm die privaten Studien der Waldzeller Schüler fast ausschließlich, und dann war das Städtchen Waldzell ja auch der Sitz des offiziellen Glasperlenspiels und seiner Einrichtungen: hier war die berühmte Spielhalle für die feierlichen Spiele, hier das riesige Spielarchiv mit seinen Beamten und Bibliotheken, hier der Sitz des Ludi Magister. Und wenn auch diese Anstalten völlig für sich bestanden und die Schule ihnen in keiner Weise angegliedert war, so herrschte hier eben doch der Geist dieser Anstalten und hing etwas von der Weihe der großen öffentlichen Spiele in der Luft des Ortes. Das Städtchen selbst war sehr stolz darauf, nicht nur eine Schule, sondern auch das Spiel zu beherbergen; bei der Bevölkerung hießen die Schüler »Studenten,« die Studierenden und Gäste der Spielschule aber »Luser,« verdorben aus Lusores. Übrigens war die Waldzeller Schule die kleinste von allen kastalischen Schulen, die Schülerzahl war kaum jemals höher als etwa sechzig, und gewiß gab ihr auch dieser Umstand etwas Besonderes und Aristokratisches, ließ sie als etwas Ausgezeichnetes, als eine engste Elite innerhalb der Elite erscheinen; es waren denn auch aus dieser ehrwürdigen Schule in den letzten Jahrzehnten viele Magister und sämtliche Glasperlenspielmeister hervorgegangen. Allerdings war dieser glänzende Ruf von Waldzell keineswegs unumstritten: da und dort war man auch der Meinung, die Waldzeller seien eingebildete Schöngeister und verwöhnte Prinzen, und außer zum Glasperlenspiel zu nichts zu brauchen; zuzeiten waren an mehreren andern Schulen über die Waldzeller recht böse und bittere Worte in Mode, aber eben die Schärfe dieser Witze und Kritiken zeigt ja an, daß Gründe zu Eifersucht und Neid vorhanden waren. Alles in allem bedeutete die Versetzung nach Waldzell eine gewisse Auszeichnung; auch Josef Knecht wußte das, und obwohl er nicht ehrgeizig im vulgären Sinn war, nahm er die Auszeichnung doch mit einem freudigen Stolz entgegen.

Mit mehreren Kameraden zusammen kam er in Waldzell als Fußwanderer an; voll hoher Erwartung und Bereitschaft schritt er durch das Südtor und war sofort gewonnen und bezaubert von dem uralten braunen Städtchen und dem gewaltig ausgedehnten einstigen Zisterzienserkloster, welches die Schule beherbergte. Noch ehe er neu eingekleidet war, sofort nach dem Empfangsimbiß in der Pförtnerhalle der Schule, machte er sich allein auf den Weg, um seine neue Heimat zu entdecken, fand den Fußpfad, der auf den Resten der einstigen Stadtmauer über dem Flusse hinführt, blieb auf der gewölbten Brücke stehen und horchte auf das Rauschen des Mühlwehrs, ging am Friedhof vorbei die Lindenallee hinab, sah und erkannte hinter den hohen Hecken den Vicus Lusorum, die kleine Extrastadt der Glasperlenspieler: Festhalle, Archiv, Lehrsäle, Gäste- und Lehrerhäuser. Aus einem dieser Häuser sah er einen Mann kommen, in der Tracht der Glasperlenspieler, und dachte bei sich, daß dies nun einer der sagenhaften Lusores sei, möglicherweise der Magister Ludi selbst. Mächtig spürte er den Zauber dieser Atmosphäre, alles schien hier alt, ehrwürdig, geheiligt, von Tradition beladen, man war hier dem Zentrum um ein Stück näher als in Eschholz. Und aus dem Bezirk des Glasperlenspiels zurückkehrend, spürte er nun auch noch andere Zauber, minder ehrwürdige vielleicht, doch nicht minder erregende. Es war die kleine Stadt, das Stückchen profaner Welt mit Wandel und Handel, mit Hunden und Kindern, mit Gerüchen nach Kaufläden und Handwerken, mit bärtigen Bürgern und dicken Frauen hinter den Ladentüren, spielenden und johlenden Kindern, spöttisch blickenden Mädchen. Vieles erinnerte ihn an ferne Vorwelten, an Berolfingen, er hatte geglaubt, das alles ganz vergessen zu haben. Nun gaben tiefe Schichten seiner Seele Antwort auf dies alles, auf die Bilder, auf die Laute, die Gerüche. Eine weniger stille, aber buntere und reichere Welt schien hier auf ihn zu warten, als die von Eschholz gewesen war.

Die Schule freilich war vorerst die genaue Fortsetzung der vorigen, wenn auch einige neue Fächer hinzukamen. Wirklich neu war hier nichts als die Meditationsübungen, und auch von diesen hatte ihm ja der Musikmeister schon einen Vorgeschmack gegeben. Er ging auf das Meditieren willig ein, ohne vorerst mehr als ein angenehm entspannendes Spiel darin zu sehen. Erst etwas später – wir werden dessen gedenken – sollte er seinen eigentlichen und hohen Wert erlebend erkennen. Schulvorstand von Waldzell war ein origineller und etwas gefürchteter Mann, Otto Zbinden, damals schon gegen sechzig Jahre alt; von seiner schönen und leidenschaftlichen Handschrift sind manche der Eintragungen über den Schüler Josef Knecht, die wir eingesehen haben. Doch waren es weniger die Lehrer als die Mitschüler, welche zunächst des Jünglings Neugierde erweckten. Er hat namentlich mit zweien von ihnen einen lebhaften und mannigfach bezeugten Verkehr und Austausch gehabt. Der eine, dem er sich schon gleich in den ersten Monaten anschloß, Carlo Ferromonte (er brachte es später, als Stellvertreter des Musikmeisters, zum zweithöchsten Rang in der Behörde), war mit Knecht gleichaltrig; wir verdanken ihm unter andrem eine Stilgeschichte der Lautenmusik im sechzehnten Jahrhundert. In der Schule nannte man ihn den »Reisesser« und schätzte ihn als angenehmen Spielkameraden; seine Freundschaft mit Josef begann mit Gesprächen über Musik und führte zu mehrjährigen gemeinsamen Studien und Übungen, über welche wir zum Teil durch Knechts seltene, aber inhaltsreiche Briefe an den Musikmeister unterrichtet sind. Knecht nennt Ferromonte im ersten dieser Briefe einen »Spezialisten und Kenner in der Musik der reichen Ornamentik, der Verzierungen, Triller etc.,« er spielte Couperin, Purcell und andre Meister der Zeit um 1700 mit ihm. In einem dieser Briefe spricht Knecht eingehend über diese Übungen und diese Musik, »wo in manchen Stücken fast über jeder Note eine Verzierung steht.« »Wenn man so ein paar Stunden lang,« fährt er fort, »nichts als Doppelschläge, Pralltriller und Mordente geschlagen hat, so sind die Finger wie mit Elektrizität geladen.«

In der Musik machte er in der Tat große Fortschritte, im zweiten oder dritten Waldzeller Jahr las und spielte er die Notenschriften, Schlüssel, Abkürzungen, Baßbezifferungen aller Jahrhunderte und Stile leidlich geläufig und machte sich im Reich der abendländischen Musik, soweit sie uns erhalten ist, auf jene besondere Art heimisch, welche vom Handwerk ausgeht und eine sorgfältige Beachtung und Pflege des Sinnlichen und Technischen nicht verschmäht, um in den Geist einzudringen. Gerade sein Eifer im Erfassen des Sinnlichen, sein Bemühen, aus dem Sinnlichen, Klanglichen, aus den Sensationen des Ohres in den verschiedenen Musikstilen ihren Geist abzulesen, hielt ihn auffallend lang davon ab, sich mit der Vorschule zum Glasperlenspiel abzugeben. Er hat später einmal in seinen Vorlesungen das Wort gesagt: »Wer die Musik nur in den Extrakten kennt, welche das Glasperlenspiel aus ihr destilliert hat, mag ein guter Glasperlenspieler sein, ist aber noch lange kein Musiker, und vermutlich ist er auch kein Historiker. Die Musik besteht nicht nur aus jenen rein geistigen Schwingungen und Figurationen, die wir aus ihr abstrahiert haben, sie bestand durch alle Jahrhunderte in erster Linie aus der Freude am Sinnlichen, am Ausströmen des Atems, am Schlagen des Taktes, an den Färbungen, Reibungen und Reizen, welche beim Mischen von Stimmen, beim Zusammenspiel von Instrumenten entstehen. Gewiß ist der Geist die Hauptsache, und gewiß ist die Erfindung neuer Instrumente und die Änderung alter, ist die Einführung neuer Tonarten und neuer konstruktiver und harmonischer Regeln oder Verbote immer nur eine Gebärde und Äußerlichkeit, so wie die Trachten und Moden der Völker eine Äußerlichkeit sind; aber man muß diese äußerlichen und sinnlichen Kennzeichen sinnlich und intensiv erfaßt und geschmeckt haben, um die Epochen und Stile aus ihnen heraus zu verstehen. Man macht Musik mit den Händen und Fingern, mit dem Munde, mit der Lunge, nicht mit dem Gehirn allein, und wer zwar Noten lesen, aber kein Instrument vollkommen spielen kann, der soll über Musik nicht mitreden. Und so ist auch die Geschichte der Musik keineswegs allein von einer abstrakten Stilgeschichte aus zu verstehen, und es würden zum Beispiel die Verfallszeiten der Musik ganz unverständlich bleiben, wenn wir in ihnen nicht jedesmal das Überwiegen des Sinnlichen und Quantitativen über das Geistige erkennen würden.«

Es hatte eine Weile den Anschein, als habe Knecht sich entschlossen, nichts als Musiker zu werden; alle im Belieben des Schülers stehenden Lehrfächer, darunter die erste Einführung ins Glasperlenspiel, versäumte er zugunsten der Musik so sehr, daß gegen Ende des ersten Semesters der Schulvorstand ihn darüber zur Rede stellte. Der Schüler Knecht ließ sich nicht einschüchtern, er stellte sich hartnäckig auf den Standpunkt der Schülerrechte. Er soll zum Vorstand gesagt haben: »Wenn ich in einem offiziellen Unterrichtsfach versage, so sind Sie im Recht, wenn Sie mich tadeln; ich habe Ihnen dazu aber keinen Anlaß gegeben. Ich dagegen bin im Recht, wenn ich von der Zeit, über die ich verfügen darf, drei Viertel oder auch vier Viertel der Musik widme. Ich berufe mich auf die Statuten.« Der Vorstand Zbinden war klug genug, nicht zu insistieren, merkte sich aber natürlich diesen Schüler und soll ihn lange Zeit mit kühler Strenge behandelt haben.

Länger als ein Jahr, vermutlich etwa anderthalb Jahre dauerte diese eigentümliche Periode in Knechts Schülerleben: normale, aber nicht glänzende Zeugnisse und stilles und – wie es nach dem Vorfall mit dem Vorstande scheint – etwas trotziges Sichzurückziehen, keine irgend auffallenden Freundschaften, dafür aber dieser ungewöhnlich leidenschaftliche Eifer im Musizieren, Enthaltung von fast allen Privatfächern, auch dem Glasperlenspiel. Einige Züge in diesem Jünglingsbild sind ohne Zweifel Merkmale der Pubertät; wahrscheinlich ist er in dieser Periode dem andern Geschlecht nur zufällig und mißtrauisch begegnet, vermutlich war er – gleich vielen Eschholzern, wenn sie nicht Schwestern zu Hause hatten – recht schüchtern. Gelesen hat er viel und besonders deutsche Philosophen: Leibniz, Kant und die Romantiker, von denen ihn Hegel weitaus am stärksten anzog.

Wir müssen nun etwas eingehender jenes anderen Mitschülers gedenken, der in Knechts Waldzeller Leben eine bestimmende Rolle gespielt hat, des Hospitanten Plinio Designori. Er war Hospitant, das heißt er durchlief die Eliteschulen gastweise, nämlich ohne die Absicht, dauernd in der pädagogischen Provinz zu verweilen und dem Orden beizutreten. Solche Hospitanten gab es je und je, freilich recht selten, denn die Erziehungsbehörde hat natürlich niemals Wert auf die Ausbildung von Schülern gelegt, welche nach Ablauf der Eliteschulzeit wieder ins Elternhaus und in die Welt zurückzukehren gedachten. Indessen gab es einige alte, um Kastalien in den Zeiten seiner Gründung hochverdiente patrizische Familien im Lande, in welchen die auch heute noch nicht völlig ausgestorbene Sitte bestand, jeweilen einen Sohn, falls seine Begabung dafür ausreichte, gastweise in den Eliteschulen erziehen zu lassen; das Recht dazu war in jenen paar Familien traditionell geworden. Diese Hospitanten nun, obwohl sie in jeder Hinsicht denselben Regeln wie alle Eliteschüler unterstanden, bildeten innerhalb der Schülerschaft schon dadurch eine Ausnahme, daß sie nicht gleich den andern von Jahr zu Jahr mehr ihrer Heimat und Familie sich entfremdeten, sondern alle Ferienzeiten dort verbrachten und inmitten ihrer Mitschüler stets Gäste und Fremdlinge blieben, da sie die Sitte und Denkart der Heimat beibehielten. Auf sie wartete Elternhaus, weltliche Laufbahn, Beruf und Heirat, und nur sehr wenige Male ist es geschehen, daß ein solcher Gastschüler, vom Geiste der Provinz ergriffen, mit Einwilligung seiner Familie am Ende doch in Kastalien verblieb und dem Orden beitrat. Dagegen sind mehrere in der Geschichte unsres Landes bekannte Staatsmänner in ihrer Jugend Gastschüler gewesen und sind in Zeiten, da die öffentliche Meinung aus diesen oder jenen Gründen den Eliteschulen und dem Orden kritisch gegenüberstand, kräftig für sie eingetreten.

Ein solcher Hospitant also war Plinio Designori, mit welchem der etwas jüngere Josef Knecht in Waldzell zusammentraf. Er war ein Jüngling von hohen Gaben, glänzend namentlich in Rede und Debatte, ein feuriger und etwas unruhiger Mensch, der dem Schulvorstand Zbinden viele Sorgen machte, denn er hielt sich als Schüler zwar gut und ließ sich nicht tadeln, war aber keineswegs darum bemüht, seine Ausnahmestellung als Hospitant zu vergessen und sich möglichst unauffällig einzureihen, sondern bekannte sich freimütig und kampflustig zu einer nichtkastalischen und weltlichen Gesinnung. Es konnte nicht ausbleiben, daß zwischen den beiden Schülern ein besonderes Verhältnis entstand: beide waren sie Hochbegabte und Berufene, das machte sie zu Brüdern, während sie in allem andern Gegensätze waren. Es hätte eines Lehrers von ungewöhnlich hoher Einsicht und Kunst bedurft, um aus der hier entstehenden Aufgabe die Quintessenz zu ziehen und nach den Regeln der Dialektik zwischen und über den Gegensätzen immer wieder die Synthese zu ermöglichen. Dem Vorstand Zbinden hätte es dazu an Gaben und an Willen nicht gefehlt, er gehörte nicht zu jenen Lehrern, welchen die Genies unbequem sind, aber es fehlte ihm für diesen Fall die wichtigste Voraussetzung: das Vertrauen der beiden Schüler. Plinio, der sich in der Rolle des Outsiders und Revolutionärs gefiel, blieb dem Vorstand gegenüber stets sehr auf der Hut; und mit Josef Knecht hatte es leider jene Verstimmung wegen seiner Privatstudien gegeben, auch er hätte sich nicht um Rat an Zbinden gewandt. Zum Glück gab es aber den Musikmeister. An ihn gelangte Knecht mit der Bitte um Beistand und Rat, und dieser weise alte Musikant nahm sich der Sache ernstlich an und hat das Spiel meisterhaft gelenkt, wie wir sehen werden. Unter den Händen dieses Meisters wurde die größte Gefahr und Versuchung im Leben des jungen Knecht zu einer auszeichnenden Aufgabe, und dieser zeigte sich ihr gewachsen. Die innere Geschichte der Freund-Feindschaft zwischen Josef und Plinio, oder dieser Musik über zwei Themata, oder dieses dialektischen Spieles zwischen zwei Geistern war etwa die folgende.

Zunächst war es natürlich Designori, der dem Gegenspieler auffiel und ihn anzog. Er war nicht nur der ältere, war nicht nur ein hübscher, feuriger und beredter Jüngling, vor allem andern war er einer »von draußen,« ein Nichtkastalier, einer aus der Welt, ein Mensch mit Vater und Mutter, Onkeln, Tanten, Geschwistern, einer, für den Kastalien samt allen seinen Gesetzen, Traditionen und Idealen nur eine Etappe, eine Wegstrecke, einen befristeten Aufenthalt bedeutete. Für diesen weißen Raben war Kastalien nicht die Welt, für ihn war Waldzell eine Schule wie andre, für ihn war die Rückkehr in die »Welt« keine Schmach und Strafe, auf ihn wartete nicht der Orden, sondern die Karriere, die Ehe, die Politik, kurz jenes »reale Leben,« von welchem mehr zu wissen jeder Kastalier ein heimliches Gelüste empfand, denn die »Welt« war für den Kastalier dasselbe, was sie einst für den Büßer und Mönch gewesen war: das Minderwertige und Verbotene zwar, aber nicht minder das Geheimnisvolle, Verführerische, Faszinierende. Und Plinio nun machte wirklich aus seiner Zugehörigkeit zur Welt kein Geheimnis, er schämte sich ihrer keineswegs, er war stolz auf sie. Mit einem halb noch knabenhaften und schauspielerischen, halb auch schon bewußten und als Programm empfundenen Eifer betonte er seine andere Art und benutzte jeden Anlaß, um seine weltlichen Auffassungen und Normen den kastalischen gegenüberzustellen und sie als besser, richtiger, natürlicher, menschlicher auszugeben. Er operierte dabei viel mit der »Natur« und mit dem »gesunden Menschenverstand,« den er dem verbildeten, lebensfremden Schulgeist gegenüberstellte, und war mit Schlagworten und großen Tönen nicht sparsam, doch war er klug und hatte Geschmack genug, sich nicht mit groben Provokationen zu begnügen, sondern die in Waldzell gebräuchlichen Formen des Disputierens so ziemlich anzuerkennen. Er wollte die »Welt« und das naive Leben gegen die »hochmütig scholastische Geistigkeit« Kastaliens verteidigen, aber er wollte zeigen, daß er imstande sei, dies mit den Waffen der Gegner zu tun; keineswegs wollte er der Kulturlose sein, der blind im Blumengarten der geistigen Bildung herumtrampelt.

Je und je schon hatte Josef Knecht als schweigsamer, aber aufmerksamer Zuhörer sich im Hintergrund irgendeiner kleinen Schülergruppe aufgehalten, deren Mittelpunkt und Redner Designori war. Mit Neugierde, mit Erstaunen und Bangigkeit hatte er von diesem Redner Sätze sprechen hören, in welchen alles vernichtend kritisiert wurde, was in Kastalien Autorität und heilig war, in welchen alles bezweifelt, ins Fragwürdige gezogen oder lächerlich gemacht wurde, woran er selbst glaubte. Er bemerkte zwar, daß längst nicht alle Zuhörer diese Reden ernst nahmen, manche hörten sichtlich nur spaßeshalber zu, wie man einem Jahrmarktredner zuhört, auch hörte er häufig Erwiderungen, in denen Plinios Angriffe ironisiert oder ernsthaft zurückgewiesen wurden. Immer aber waren einige Kameraden um diesen Plinio versammelt, immer war er Mittelpunkt, und ob sich nun gerade ein Opponent fand oder nicht, immerzu übte er Anziehungskraft und etwas wie Verführung aus. Und so, wie es den andern erging, die um den lebhaften Redner Gruppen bildeten und seine Tiraden mit Staunen oder mit Gelächter anhörten, so ging es auch Josef; trotz jenes Gefühls von Bangigkeit, ja von Angst, das er bei solchen Reden empfand, fühlte er sich von ihnen auf eine unheimliche Art angezogen, und nicht nur, weil sie amüsant waren, nein, sie schienen ihn auch im Ernst etwas anzugehen. Nicht daß er innerlich dem kühnen Redner zugestimmt hätte, aber es gab Zweifel, von deren Existenz oder Möglichkeit man nur zu wissen brauchte, um an ihnen zu leiden. Es war vorerst kein schlimmes Leiden, es war nur ein Angerührtsein und eine Unruhe, ein Gefühl, gemischt aus heftigem Drang und schlechtem Gewissen.

Die Stunde mußte kommen, und sie kam, in der Designori bemerkte, daß er unter seinen Zuhörern einen hatte, dem seine Worte mehr bedeuteten als anregende oder auch anstößige Unterhaltungen und Befriedigungen der Disputierlust, einen schweigsamen blonden Knaben, der hübsch und fein, aber etwas schüchtern aussah und der denn auch rot wurde und verlegene, knappe Antworten gab, als er ihn freundlich ansprach. Offenbar war dieser Junge ihm schon länger nachgegangen, dachte Plinio, und dachte ihn nun mit einer freundschaftlichen Gebärde zu belohnen und vollends zu gewinnen: er lud ihn für den Nachmittag zu einem Besuch auf seiner Stube ein. So leicht war dieser schüchterne und spröde Knabe nicht zu haben. Plinio mußte zu seiner Verwunderung erleben, daß er ihm auswich und nicht Rede stehen wollte, auch die Einladung nahm er nicht an; dies wieder reizte den Älteren, und er begann von dem Tag an um den schweigsamen Josef zu werben, anfangs wohl nur aus Eigenliebe, später im Ernst, denn er spürte hier einen Gegenspieler, vielleicht einen künftigen Freund, vielleicht das Gegenteil. Immer wieder sah er Josef in seiner Nähe erscheinen und spürte sein intensives Zuhören, und immer wieder zog der Scheue sich zurück, sobald er ihm nähertreten wollte.

Dieses Verhalten hatte seine Ursachen. Längst hatte Josef gespürt, daß ihn bei diesem andern etwas Wichtiges erwarte, vielleicht etwas Schönes, eine Erweiterung seines Horizontes, eine Erkenntnis, eine Aufklärung, vielleicht auch eine Versuchung und Gefahr, jedenfalls etwas, was es zu bestehen galt. Er hatte die ersten Regungen von Zweifel und Kritiklust, die Plinios Reden in ihm geweckt hatten, seinem Freunde Ferromonte mitgeteilt, aber dieser hatte wenig darauf geachtet, er hatte Plinio für einen eingebildeten und wichtigtuerischen Kerl erklärt, auf den man nicht zu hören brauche, und sich alsbald wieder in seine musikalischen Übungen vertieft. Ein Gefühl sagte Josef, daß der Vorstand die Instanz wäre, vor welche er seine Zweifel und Beunruhigungen hätte bringen müssen; nun hatte er aber seit jener kleinen Auseinandersetzung kein herzliches und offenes Verhältnis mehr zu ihm: er fürchtete, von ihm nicht verstanden zu werden, und noch mehr fürchtete er, eine Aussprache über den Rebellen Plinio würde vom Vorstand am Ende als eine Art von Denunziation aufgefaßt werden. In dieser Verlegenheit, die durch Plinios Versuche zu freundschaftlicher Annäherung immer peinlicher wurde, wandte er sich nun an seinen Gönner und guten Geist, den Musikmeister, in einem sehr langen Brief, der uns erhalten ist. Er schrieb darin unter andrem: »Es ist mir noch nicht klar, ob Plinio in mir einen Gesinnungsgenossen zu gewinnen hofft oder nur einen Gesprächspartner. Ich hoffe das letztere, denn mich zu seinen Auffassungen bekehren, hieße ja mich zur Untreue verführen und mein Leben zerstören, das nun einmal in Kastalien verwurzelt ist; ich habe keine Eltern und Freunde draußen, zu denen ich zurückkehren könnte, wenn ich wirklich einmal diesen Wunsch haben sollte. Aber auch wenn Plinios respektlose Reden gar keine Bekehrung und Beeinflussung bezwecken, bin ich ihnen gegenüber in Verlegenheit. Denn um Ihnen gegenüber, verehrter Meister, ganz aufrichtig zu sein: es tritt mir in Plinios Denkart etwas entgegen, dem ich nicht einfach mit einem Nein antworten kann, er appelliert an eine Stimme in mir, die zuweilen sehr dazu neigt, ihm recht zu geben. Vermutlich ist es die Stimme der Natur, und sie steht zu meiner Erziehung und der uns geläufigen Anschauungsweise in grellem Widerspruch. Wenn Plinio unsre Lehrer und Meister als Priesterkaste bezeichnet und uns Schüler als gegängelte und kastrierte Herde, so sind das natürlich derbe und übertreibende Worte, aber irgend etwas Wahres enthalten sie vielleicht doch, sonst könnten sie mich ja auch nicht so beunruhigen. Plinio kann so erstaunliche und entmutigende Sachen sagen. Etwa: das Glasperlenspiel sei ein Rückfall in die feuilletonistische Epoche, ein bloßes verantwortungsloses Spielen mit den Buchstaben, in welche wir die Sprachen der verschiedenen Künste und Wissenschaften aufgelöst hätten; es bestehe aus lauter Assoziationen und spiele mit lauter Analogien. Oder: beweisend für den Unwert unsrer ganzen geistigen Bildung und Haltung sei unsre resignierte Unfruchtbarkeit. Wir analysieren zum Beispiel, sagt er, die Gesetze und Techniken aller Stilarten und Zeiten der Musik und bringen selber keine neue Musik hervor. Wir lesen und erläutern, sagt er, den Pindar oder den Goethe und schämen uns, selber Verse zu machen. Das sind Vorwürfe, über die ich nicht lachen kann. Und sie sind noch nicht die schlimmsten, nicht die, die mich am meisten verwunden. Schlimm ist es, wenn er etwa sagt, wir Kastalier führten das Leben von künstlich gezüchteten Singvögeln, ohne unser Brot selber zu verdienen, ohne die Not und den Kampf des Lebens zu kennen, ohne von dem Teil der Menschheit etwas zu wissen und wissen zu wollen, dessen Arbeit und Armut die Grundlage für unsere Luxusexistenz sei.« Und der Brief schloß mit den Worten: »Ich habe vielleicht Ihre Freundlichkeit und Güte mißbraucht, Reverendissime, und ich bin darauf gefaßt, von Ihnen ausgescholten zu werden. Schelten Sie mich nur, und erlegen Sie mir Bußen auf, ich werde Ihnen dafür danken. Aber eines Rates bin ich äußerst bedürftig. Ich kann den jetzigen Zustand noch eine kleine Weile so hinhalten. Ihm zu einer wirklichen und fruchtbaren Entwicklung verhelfen kann ich nicht, dazu bin ich zu schwach und unerfahren, und was vielleicht das schlimmste ist, unsrem Herrn Schulvorstand kann ich mich nicht anvertrauen, es sei denn, daß Sie es mir ausdrücklich beföhlen. Darum habe ich Sie mit der Sache, die für mich eine große Not zu werden beginnt, belästigt.«

Es wäre uns überaus wertvoll, die Antwort des Meisters auf diesen Hilferuf ebenfalls schwarz auf weiß zu besitzen. Diese Antwort ist aber mündlich erfolgt. Kurze Zeit nach Knechts Brief traf der Magister Musicae selbst in Waldzell ein, um eine Musikprüfung zu leiten, und hat sich während der Tage seines dortigen Aufenthaltes seines kleinen Freundes aufs beste angenommen. Wir wissen davon aus späteren Erzählungen Knechts. Leicht hat er es ihm nicht gemacht. Er begann damit, daß er Knechts Schulzeugnisse sowie namentlich seine Privatstudien einer genauen Prüfung unterzog und diese Studien allzu einseitig fand, hierin gab er dem Waldzeller Vorstand recht und bestand auch darauf, daß Knecht dies dem Vorstand gegenüber zugab. Für Knechts Verhalten gegen Designori gab er genaue Richtlinien und reiste nicht ab, ehe auch diese Frage mit dem Vorstand Zbinden besprochen war. Die Folge war nicht nur das merkwürdige und allen Miterlebenden unvergeßliche Kampfspiel zwischen Designori und Knecht, sondern auch ein ganz neues Verhältnis zwischen diesem und dem Vorstand. Dies Verhältnis war nach wie vor kein herzliches und geheimnisvolles, wie etwa das zum Musikmeister, aber ein geklärtes und entspanntes.

Die Rolle, welche Knecht nun zugefallen war, bestimmte sein Leben für längere Zeit. Es war ihm erlaubt, Designoris Freundschaft anzunehmen, sich seinem Einfluß und seinen Angriffen zu stellen, ohne Einmischung oder Überwachung von selten der Lehrer. Die ihm vom Mentor gestellte Aufgabe aber war, Kastalien gegen seinen Kritiker zu verteidigen und die Auseinandersetzung der Anschauungen auf das höchste Niveau zu bringen; das bedeutete unter andrem, daß Josef sich die Grundlagen der Ordnung, die in Kastalien und im Orden herrschte, intensiv zu eigen machen und immer wieder vergegenwärtigen mußte. Die Redekämpfe zwischen den beiden befreundeten Gegnern wurden bald berühmt, man drängte sich, sie zu hören. Designoris aggressiver und ironischer Ton wurde feiner, seine Formulierungen strenger und verantwortlicher, seine Kritik sachlicher. Bisher war Plinio der Bevorzugte in diesem Kampf gewesen; er kam aus der »Welt,« er hatte ihre Erfahrung, ihre Methoden, ihre Angriffsmittel und auch etwas von ihrer Unbedenklichkeit, er kannte aus den Gesprächen mit den Erwachsenen zu Hause alles, was die Welt gegen Kastalien einzuwenden hatte. Jetzt zwangen ihn Knechts Repliken einzusehen, daß er zwar die Welt recht gut kenne, besser als jeder Kastalier, daß er aber keineswegs Kastalien und seinen Geist ebenso gut kenne wie die, die hier zu Hause waren und deren Heimat und Schicksal Kastalien war. Er lernte einsehen und lernte allmählich auch zugeben, daß er hier ein Gast sei, kein Einheimischer, und daß es nicht nur draußen, sondern auch hier in der pädagogischen Provinz jahrhundertealte Erfahrungen und Selbstverständlichkeiten gebe, auch hier eine Tradition, ja eine »Natur,« die er nur zum Teil kannte und die ihren Anspruch auf Achtung nun durch ihren Sprecher Josef Knecht kundgab. Knecht hingegen, um seiner Rolle als Apologet zu genügen, war genötigt, mit Hilfe von Studium, Meditation und Selbstzucht sich das, was zu verteidigen er dastand, immer deutlicher und inniger zu eigen und bewußt zu machen. Im Rhetorischen blieb Designori der Überlegene, außer dem Feuer und Ehrgeiz seiner Natur kam ihm da eine gewisse Weltschulung und Gewitztheit zu Hilfe, er verstand namentlich auch im Unterliegen noch an die Zuhörer zu denken und sich einen würdigen oder doch witzigen Abgang zu sichern, während Knecht, wenn ihn der Gegner in die Enge getrieben hatte, etwa sagen konnte: »Darüber muß ich erst noch nachdenken, Plinio. Warte ein paar Tage, ich werde dich wieder daran erinnern.«

Wenn nun dies Verhältnis auch in eine würdige Form gebracht war, ja für die Teilnehmer und Zuhörer der Dispute ein unentbehrliches Element des damaligen Wald-zeller Schullebens wurde, so war doch für Knecht die Not und der Konflikt kaum leichter geworden. Kraft des hohen Maßes von Vertrauen und Verantwortlichkeit, die ihm damit auferlegt waren, bewältigte er die Aufgabe, und es ist ein Beweis für die Kraft und Wohlbeschaffenheit seiner Natur, daß er sie ohne sichtbare Schädigung durchgeführt hat. Im stillen aber hatte er viel zu leiden. Wenn er für Plinio Freundschaft empfand, so empfand er sie ja nicht nur für den gewinnenden und witzigen Kameraden, für den weit- und redegewandten Plinio, sondern nicht minder für jene fremde Welt, welche sein Freund und Gegner vertrat, die er in seiner Gestalt und in seinen Worten und Gebärden kennen oder ahnen lernte, jene sogenannte »reale« Welt, in der es zärtliche Mütter und Kinder, Hungernde und Armenhäuser, Zeitungen und Wahlkämpfe gab, jene primitive und zugleich raffinierte Welt, in welche Plinio zu allen Ferienzeiten zurückkehrte, um Eltern und Geschwister zu besuchen, Mädchen den Hof zu machen, Arbeiterversammlungen beizuwohnen oder Gast in vornehmen Klubs zu sein, während Knecht in Kastalien blieb, mit Kameraden wanderte und schwamm, Frobergersche Ricercari übte oder Hegel las.

Es war keine Frage für Josef, daß er nach Kastalien gehöre und zu Recht das kastalische Leben führe, ein Leben ohne Familie, ohne mancherlei sagenhafte Zerstreuungen, ein Leben ohne Zeitungen, ein Leben auch ohne Not und Hunger – übrigens hatte ja auch Plinio, der den Eliteschülern ihr Drohnendasein so eindringlich vorhalten konnte, niemals bisher gehungert oder sich sein Brot selber verdient. Nein, jene Plinio-Welt war nicht die bessere und richtigere. Aber sie war da, es gab sie, und sie war, wie er aus der Weltgeschichte wußte, immer dagewesen und immer ähnlich gewesen wie heute, und viele Völker hatten keine andre Welt gekannt als sie, wußten nichts von Eliteschulen und pädagogischer Provinz, von Orden, Meistern und Glasperlenspiel. Die große Mehrzahl aller Menschen auf der ganzen Erde lebte anders, als man in Kastalien lebte, einfacher, primitiver, gefährlicher, unbehüteter, ungeordneter. Und diese primitive Welt war jedem Menschen eingeboren, man spürte etwas von ihr im eigenen Herzen, etwas von Neugierde nach ihr, von Heimweh nach ihr, von Mitleid mit ihr. Ihr gerecht zu werden, ihr ein gewisses Heimatrecht im eigenen Herzen zu bewahren, aber dennoch nicht an sie zurückzufallen, war die Aufgabe. Denn es gab neben und über ihr die zweite Welt, die kastalische, die geistige, eine künstliche, eine geordnetere, geschütztere, aber der beständigen Aufsicht und Übung bedürftige Welt, die Hierarchie. Ihr zu dienen, ohne doch jener andern Welt unrecht zu tun oder sie gar zu verachten, auch ohne mit irgendeinem unklaren Verlangen oder Heimweh nach ihr zu schielen, müßte das Richtige sein. Denn die kleine kastalische diente ja der großen anderen Welt, sie gab ihr Lehrer, Bücher, Methoden, sie sorgte für die Reinhaltung der geistigen Funktionen und Moral, und sie stand als Schule und Zuflucht jener kleinen Zahl von Menschen offen, deren Bestimmung es schien, ihr Leben dem Geist und der Wahrheit zu widmen. Warum nur lebten die beiden Welten anscheinend nicht harmonisch und brüderlich neben- und ineinander, warum konnte man sie nicht beide in sich hegen und vereinen?

Einst fiel einer der seltenen Besuche des Musikmeisters in eine Zeit, wo Josef, von seiner Aufgabe ermüdet und zermürbt, große Mühe hatte, das Gleichgewicht zu bewahren. Der Meister konnte es aus einigen Andeutungen des Jünglings schließen, las es aber weit deutlicher aus seinem überanstrengten Aussehen, seinen unruhigen Blicken, seinem etwas fahrigen Wesen. Er stellte einige forschende Fragen, stieß auf Unlust und Hemmungen, gab das Fragen auf und nahm, dadurch ernstlich besorgt geworden, ihn mit in eine Übungskammer, unter dem Vorwand, ihm eine kleine musikalische Entdeckung mitteilen zu wollen. Er hieß ihn ein Klavichord bringen und stimmen und verwickelte ihn so lange in ein Privatissimum über die Entstehung der Sonatenform, bis der Schüler seine Nöte einigermaßen vergaß, sich hingab und entspannt und dankbar seinen Worten und seinem Spiele zuhörte. Geduldig ließ er sich Zeit, ihn in den Zustand der Bereitschaft und Empfänglichkeit zu versetzen, den er an ihm vermißt hatte. Und als es gelungen war, als er seinen Vortrag beendet und zum Schluß eine der Gabrielischen Sonaten gespielt hatte, stand er auf, ging langsam in der kleinen Stube auf und ab und erzählte:

»Diese Sonate hat mich vor langen Jahren einmal sehr beschäftigt. Es war noch in den Jahren meines freien Studiums, noch ehe ich zum Lehrer und später dann zum Musikmeister berufen wurde. Ich hatte damals den Ehrgeiz, eine Geschichte der Sonate mit neuen Gesichtspunkten auszuarbeiten, aber es kam da eine Zeit, in der ich nicht nur nicht mehr vorwärtskam, sondern mehr und mehr daran zu zweifeln anfing, ob alle diese musikalischen und historischen Forschungen denn überhaupt einen Wert hätten, ob sie wirklich mehr seien als ein leeres Spiel für müßige Leute und ein flitterhafter, geistig-künstlerischer Ersatz für echtes, gelebtes Leben. Kurz, ich hatte eine von den Krisen durchzumachen, in denen alles Studium, alle geistige Bemühung, aller Geist überhaupt uns zweifelhaft und entwertet wird und wo wir dazu neigen, jeden pflügenden Bauern und jedes abendliche Liebespaar zu beneiden oder auch jeden Vogel, der im Baume singt, und jede Zikade, die im Sommergrase zirpt, denn sie scheinen uns so natürlich, so erfüllt und glücklich zu leben, und von ihren Nöten und von den Härten, Gefahren und Leiden ihres Lebens wissen wir ja nichts. Kurz, ich hatte das Gleichgewicht so ziemlich verloren, es war kein hübscher Zustand, er war sogar recht schwer erträglich. Ich dachte mir die wunderlichsten Möglichkeiten zu Flucht und Befreiung aus, ich dachte daran, als Musikant in die Welt hinauszuziehen und tanzenden Hochzeitsgesellschaften aufzuspielen, und wäre wie in alten Romanen ein ausländischer Werber erschienen und hätte mich eingeladen, eine Uniform anzuziehen und einer beliebigen Truppe in einen beliebigen Krieg zu folgen, ich wäre mitgegangen. Und so ging es denn, wie es bei solchen Zuständen oft zu gehen pflegt: ich verlor mich so sehr, daß ich allein nicht mehr fertig wurde und eine Hilfe brauchte.«

Er blieb einen Augenblick stehen und lachte vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Natürlich hatte ich einen Studienberater, wie es Vorschrift ist, und natürlich wäre es vernünftig und richtig und meine Pflicht gewesen, mir bei ihm Rat zu holen. Aber es ist nun einmal so, Josef: gerade wenn man in Schwierigkeiten gerät und vom Weg abgekommen ist und eine Korrektur am nötigsten brauchte, gerade dann hat man die größte Abneigung dagegen, auf den normalen Weg zurückzukehren und die normale Korrektur aufzusuchen. Mein Studienberater war mit meinem letzten Quartalsbericht nicht zufrieden gewesen, er hatte mir ernstliche Einwendungen gemacht, ich aber hatte geglaubt, auf dem Weg zu neuen Entdeckungen oder Einsichten zu sein, und hatte ihm seine Einwände einigermaßen übelgenommen. Kurz, ich mochte zu ihm nicht gehen, ich mochte nicht zu Kreuze kriechen und zugeben, daß er recht gehabt habe. Auch meinen Kameraden wollte ich mich nicht anvertrauen, aber es gab da einen Sonderling in meiner Nachbarschaft, den ich nur vom Sehen und Hörensagen kannte, einen Sanskritgelehrten mit dem Spitznamen »der Yogin.« In einer Stunde, in der mein Zustand mir genügend unerträglich geworden war, ging ich zu diesem Manne hin, dessen etwas einsame und absonderliche Gestalt ich ebensooft belächelt wie heimlich bewundert hatte. Ich suchte ihn in seiner Zelle auf, wollte ihn anreden, fand ihn aber in der Versenkung, er hatte dabei die rituelle indische Haltung inne und war nicht erreichbar, er schwebte leise lächelnd in einer vollkommenen Abseitigkeit, ich konnte nichts tun, als bei der Tür stehenbleiben und warten, bis er aus der Versunkenheit zurückkehre. Dies dauerte sehr lange, es dauerte eine Stunde und zwei Stunden, ich wurde schließlich müde und ließ mich zu Boden gleiten; dort saß ich, an die Wand gelehnt, und wartete weiter. Am Ende sah ich den Mann langsam erwachen, er bewegte den Kopf ein wenig, er reckte die Schultern, er schlug langsam die gekreuzten Beine auseinander, und indem er sich zum Aufstehen anschickte, fiel sein Blick auf mich. »Was willst du?« fragte er. Ich erhob mich und sagte, ohne etwas überlegt zu haben und ohne recht zu wissen, was ich sagte: »Es sind die Sonaten von Andrea Gabrieli.« Er stand vollends auf, setzte mich in seinen einzigen Stuhl, nahm auf dem Tischrande Platz und sagte: »Gabrieli? Was hat er dir denn getan mit seinen Sonaten?« Ich fing an, ihm zu erzählen, wie es mir gegangen war, zu beichten, wie es um mich stehe. Er fragte mich mit einer Genauigkeit, die mir pedantisch schien, nach meiner Geschichte aus, nach den Studien um Gabrieli und die Sonate, er wollte wissen, wann ich aufgestanden, wie lang ich gelesen, wieviel ich musiziert, zu welchen Stunden ich gegessen und mich schlafen gelegt habe. Ich hatte mich ihm anvertraut, ja aufgedrängt, so mußte ich seine Fragen dulden und beantworten, aber sie beschämten mich, sie gingen immer unerbittlicher ins einzelne, es wurde mein geistiges und mein moralisches Leben in den letzten Wochen und Monaten analysiert. Dann schwieg er plötzlich, der Yogin, und als ich auch daraus nicht klug wurde, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Siehst du es denn nicht selber, wo der Fehler liegt?« Nein, ich konnte es nicht sehen. Und jetzt rekapitulierte er erstaunlich genau alles, was er aus mir herausgefragt hatte, bis zurück zu den ersten Anzeichen von Ermüdung, Widerwillen und geistiger Verstopfung, und wies mir nach, daß dies nur einem allzu frei drauflos Studierenden habe passieren können und daß es hohe Zeit für mich gewesen sei, die mir verlorengegangene Kontrolle über mich und meine Kräfte mit fremder Hilfe wiederzufinden. Ich hätte, so wies er mir nach, wenn ich mir schon die Freiheit genommen hatte, auf regelmäßige Meditationsübungen zu verzichten, doch wenigstens gleich bei den ersten üblen Folgen mich dieser Versäumnis erinnern und sie wiedergutmachen sollen. Und er hatte vollkommen recht. Ich hatte nicht nur eine ganze Zeit lang das Meditieren unterlassen, hatte keine Zeit gehabt, war immer zu unlustig und zerstreut oder allzu studienbeflissen und angeregt gewesen – ich hatte sogar mit der Zeit ganz das Bewußtsein meiner dauernden Unterlassungssünde verloren, und hatte mich jetzt, da ich beinah gescheitert und verzweifelt war, erst durch einen andern an sie erinnern lassen müssen. Und in der Tat hatte ich dann die größte Mühe, mich aus der Verwahrlosung herauszureißen, ich mußte zu den Schul- und Anfängerübungen im Meditieren zurückkehren, um nur die Fähigkeit zu Sammlung und Versenkung allmählich mir wieder anzueignen.«

Der Magister endete seinen Stubenspaziergang mit einem kleinen Seufzer und mit den Worten: »So ist es mir damals gegangen, und es beschämt mich noch heute ein wenig, davon zu sprechen. Aber es ist so, Josef: je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsre jeweilige Aufgabe von uns verlangt, desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Meditation angewiesen, auf die immer erneute Versöhnung von Geist und Seele. Und – ich wüßte noch manche Beispiele dafür – je intensiver eine Aufgabe uns in Anspruch nimmt, uns bald erregt und steigert, bald ermüdet und niederdrückt, desto leichter kann es geschehen, daß wir diese Quelle vernachlässigen, so wie man beim Verbohrtsein in eine geistige Arbeit leicht dazu neigt, den Körper und seine Pflege zu vernachlässigen. Die wirklich großen Männer der Weltgeschichte haben alle entweder zu meditieren verstanden oder doch unbewußt den Weg dorthin gekannt, wohin Meditation uns führt. Die andern, auch die begabtesten und kräftigsten, sind alle am Ende gescheitert und unterlegen, weil ihre Aufgabe, oder ihr ehrgeiziger Traum, so von ihnen Besitz ergriff, sie so besaß und zu Besessenen machte, daß sie die Fähigkeit verloren, sich immer wieder vom Aktuellen zu lösen und zu distanzieren. Nun, du weißt dies ja, man lernt es ja schon bei den ersten Übungen. Es ist unerbittlich wahr. Wie unerbittlich wahr es ist, sieht man erst, wenn man den Weg einmal verloren hat.«

Es blieb von dieser Erzählung so viel in Josef wirksam, daß er die Gefahr, in der er selber stand, witterte und sich den Übungen mit erneuter Hingabe unterzog. Einen tiefen Eindruck machte es ihm, daß der Meister ihm zum erstenmal ein Stückchen aus seinem ganz persönlichen Leben gezeigt hatte, aus seiner Jugend und Studienzeit; zum erstenmal wurde ihm klar, daß auch ein Halbgott, ein Meister, einmal jung und auf Irrwegen habe sein können. Er empfand dankbar, welches Vertrauen der Verehrte ihm mit seinem Bekenntnis gezeigt hatte. Man konnte irrgehen, ermüden, Fehler machen, gegen Vorschriften verstoßen, und konnte doch wieder damit fertig werden, zurückfinden und am Ende noch ein Meister werden. Er überwand die Krise.

In den zwei bis drei Waldzeller Jahren, während die Freundschaft zwischen Plinio und Josef bestand, erlebte die Schule das Schauspiel dieser kämpferischen Freundschaft wie ein Drama mit, an welchem jeder ein wenig teilhatte, vom Vorstand bis zum jüngsten Schüler. Die beiden Welten, die beiden Prinzipien hatten sich in Knecht und Designori verkörpert, jeder steigerte den andern, jede Disputation wurde ein feierlicher und repräsentativer Wettkampf, der alle anging. Und wie Plinio aus jedem Ferienbesuch, aus jeder Umarmung seines Mutterbodens neue Kräfte mitbrachte, so sog Josef aus jedem Nachdenken, aus jeder Lektüre, aus jeder Versenkungsübung, aus jedem Wiedersehen mit dem Magister Musicae neue Kräfte, machte sich geeigneter zum Vertreter und Anwalt Kastaliens. Einst, als Kind noch, hatte er die erste Berufung erlebt. Jetzt erfuhr er die zweite, und diese Jahre schmiedeten und prägten ihn zur Gestalt des vollkommenen Kastaliers. Längst hatte er nun auch den ersten Unterricht im Glasperlenspiel absolviert und begann damals schon, in den Ferien und unter Kontrolle eines der Spielleiter, eigene Glasperlenspiele zu entwerfen. Hier nun entdeckte er eine der ergiebigsten Quellen der Freude und innern Entspannung; seit seinen unersättlichen Cembalo- und Klavichordübungen mit Carlo Ferromonte hatte nichts ihm so wohlgetan, ihn so gekühlt, gestärkt, bestätigt und beglückt wie diese ersten Vorstöße in die Sternenwelt des Glasperlenspiels.

Aus eben diesen Jahren nun stammen jene Gedichte des jungen Josef Knecht, die in der Abschrift Ferromontes sich erhalten haben; es ist wohl möglich, daß ihrer mehr waren, als auf uns gekommen sind, und es ist anzunehmen, daß auch diese Gedichte, deren früheste noch vor Knechts Einführung ins Glasperlenspiel entstanden sind, mitgeholfen haben, ihm die Durchführung seiner Rolle und das Überstehen jener kritischen Jahre zu ermöglichen. Jeder Leser wird da und dort in diesen zum Teil kunstvollen, zum Teil sichtlich rasch hingeschriebenen Versen Spuren der tiefen Erschütterung und Krise entdecken, welche Knecht damals unter Plinios Einfluß durchgemacht hat. Es klingt in mancher Zeile eine tiefe Beunruhigung, ein grundsätzlicher Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Daseins, bis in dem Gedicht »Glasperlenspiel« die fromme Hingabe gelungen scheint. Übrigens lag ein gewisses Zugeständnis an die Welt Plinios, ein Stück Rebellion gegen gewisse kastalische Hausgesetze schon in der bloßen Tatsache, daß er diese Gedichte geschrieben und sie sogar mehreren Kameraden gelegentlich gezeigt hat. Denn wenn schon im allgemeinen Kastalien auf das Hervorbringen von Kunstwerken Verzicht geleistet hat (auch musikalisches Produzieren kennt und duldet man dort nur in der Form von stilistisch streng gebundenen Kompositionsübungen), so galt Gedichtemachen gar für das denkbar Unmöglichste, Lächerlichste, Verpönteste. Ein Spiel also, ein müßiges Schnitz- und Schnörkelwerk sind diese Gedichte nicht; es bedurfte eines hohen Drucks, um diese Produktivität in Fluß zu bringen, und es gehörte ein gewisser trotziger Mut dazu, diese Verse zu schreiben und sich zu ihnen zu bekennen.

Es bleibe nicht unerwähnt, daß auch Plinio Designori unter dem Einfluß seines Antagonisten erhebliche Wandlungen und Entwicklungen erfuhr, und zwar nicht nur im Sinn einer Erziehung zur Läuterung seiner Kampfmethoden. Während des kollegialen und kämpferischen Austausches jener Schuljahre sah er seinen Gegenspieler sich in stetiger Steigerung zum vorbildlichen Kastalier entwickeln, es trat ihm der Geist der Provinz in der Gestalt des Freundes immer sichtbarer und lebendiger entgegen, und ebenso wie er jenen bis zu einem gewissen Gärungsgrade mit der Atmosphäre seiner Welt infiziert hatte, atmete er selbst die kastalische Luft und erlag ihrem Reiz und Einfluß. Im letzten Jahr seiner Schulzeit, nach einer zweistündigen Disputation über die Ideale des Mönchtums und deren Gefahren, welche sie im Beisein der obersten Glasperlenspiel-Klasse ausgekämpft hatten, nahm er Josef zu einem Spaziergang mit und machte ihm auf diesem Gang ein Geständnis, das wir nach einem Brief Ferromontes zitieren: »Ich weiß natürlich längst, Josef, daß du der frommgläubige Glasperlenspieler und Provinzheilige nicht bist, dessen Rolle du so ausgezeichnet spielst. Jeder von uns beiden steht an exponierter Stelle in einem Kampf, und jeder von uns weiß ja wohl, daß das, wogegen er kämpft, zu Recht existiert und seine unbestrittenen Werte hat. Du stehst auf der Seite der Hochzucht des Geistes, ich auf der Seite des natürlichen Lebens. In unsrem Kampf hast du gelernt, die Gefahren des natürlichen Lebens auszuspüren und aufs Korn zu nehmen; dein Amt ist es, darauf hinzuweisen, wie das natürliche, naive Leben ohne geistige Zucht zum Sumpf werden und ins Tierische und noch weiter zurückführen muß. Und ich wieder muß immer wieder daran erinnern, wie gewagt, gefährlich und schließlich unfruchtbar ein Leben sei, das rein auf den Geist gestellt ist. Gut, jeder verteidigt das, an dessen Primat er glaubt, du den Geist, ich die Natur. Aber nimm es nicht übel, es will mir manchmal so vorkommen, als haltest du mich tatsächlich und naiv für so etwas wie einen Feind eures kastalischen Wesens, für einen Mann, dem eure Studien, Übungen und Spiele im Grunde nur Firlefanz bedeuten, wenn er sie auch aus diesen oder jenen Gründen eine Weile mitmacht. Ach, mein Lieber, wie sehr wärest du im Irrtum, wenn du das wirklich glauben solltest! Ich will dir bekennen, daß ich zu eurer Hierarchie eine ganz närrische Liebe habe, daß sie mich oft entzückt und verlockt wie das Glück selbst. Ich will dir auch bekennen, daß ich vor Monaten, als ich eine Weile zu Hause bei den Eltern war, eine Aussprache mit meinem Vater durchgekämpft und es erreicht habe, daß er mir erlaubt, Kastalier zu bleiben und in den Orden einzutreten für den Fall, daß am Ende meiner Schulzeit dies mein Wunsch und Entschluß sein sollte; und ich war glücklich, als er endlich seine Einwilligung dazu gab. Nun, ich werde keinen Gebrauch von ihr machen, das weiß ich seit kurzem. O nicht, daß ich die Lust dazu verloren hätte! Aber ich sehe mehr und mehr: für mich würde das Verbleiben bei euch eine Flucht bedeuten, eine anständige, eine edle Flucht vielleicht, aber eben doch eine Flucht. Ich werde zurückkehren und ein Weltmensch werden. Aber ein Weltmensch, der eurem Kastalien dankbar bleibt, einer, der manche eurer Übungen weiter üben und jedes Jahr das große Glasperlenspiel mitfeiern wird.«

Mit tiefer Bewegung teilte Knecht dies Geständnis Plinios seinem Freunde Ferromonte mit. Und dieser fügt der Erzählung in eben jenem Briefe die Worte bei: »Mir, dem Musiker, war dies Bekenntnis Plinios, dem ich nicht immer gerecht geworden war, wie ein musikalisches Erlebnis. Der Gegensatz: Welt und Geist, oder der Gegensatz: Plinio und Josef hatte sich vor meinen Augen aus dem Kampf zweier unversöhnlicher Prinzipien in ein Konzert sublimiert.«

Als Plinio seinen vierjährigen Schulkurs beendet hatte und nach Hause zurückkehren sollte, brachte er dem Vorstand einen Brief seines Vaters, der Josef Knecht für die Ferien einlud. Dies war ein ungewöhnliches Ansinnen. Urlaub zu Reisen und Aufenthalt außerhalb der pädagogischen Provinz gab es zwar, vor allem zu Studienzwecken, nicht allzu selten, doch war er allerdings eine Ausnahme und wurde nur älteren und bewährteren Studierenden, niemals aber Schülern gewährt. Schulvorstand Zbinden hielt immerhin die Einladung, da sie von einem so hochgeachteten Hause und Manne kam, für wichtig genug, um sie nicht von sich aus abzulehnen, sondern legte sie dem Ausschuß der Erziehungsbehörde vor, welche sie alsbald mit einem lakonischen Nein beantwortete. Die Freunde mußten Abschied voneinander nehmen.

»Wir werden es später wieder mit der Einladung versuchen,« sagte Plinio, »irgendeinmal wird es schon glücken. Du mußt einmal mein Vaterhaus und meine Leute kennenlernen und sehen, daß auch wir Menschen sind und nicht bloß so ein Geschmeiß von Welt- und Geschäftsleuten. Du wirst mir sehr fehlen. Und nun sieh zu, Josef, daß du in diesem komplizierten Kastalien bald nach oben kommst; du eignest dich zwar sehr zum Glied einer Hierarchie, aber nach meiner Meinung doch mehr zum Bonzen als zum Famulus, deinem Namen zum Trotz. Ich prophezeie dir eine große Zukunft, du wirst eines Tages Magister sein und zu den Erlauchten zählen.«

Josef sah ihn traurig an.

»Spotte nur!« sagte er, mit der Bewegung des Abschiednehmens kämpfend. »Ich bin nicht so ehrgeizig wie du, und wenn ich es jemals zu einem Amt bringe, so wirst du längst Präsident oder Bürgermeister, Hochschulprofessor oder Bundesrat sein. Denke freundlich an uns, Plinio, und an Kastalien, entfremde dich uns nicht ganz! Es muß doch bei euch draußen auch einige Leute geben, die von Kastalien mehr wissen als die Witze, die dort draußen über uns gemacht werden.«

Sie drückten einander die Hände, und Plinio reiste ab. Für sein letztes Waldzeller Jahr wurde es um Josef sehr still, seine exponierte und anstrengende Funktion als gewissermaßen öffentliche Persönlichkeit hatte plötzlich ein Ende, Kastalien brauchte keinen Verteidiger mehr. Seine Freizeit widmete er in diesem Jahr vorwiegend dem Glasperlenspiel, das ihn mehr und mehr anzog. Ein Heftchen Notizen aus jener Zeit über Bedeutung und Theorie des Spieles beginnt mit dem Satz: »Das Ganze des Lebens, des physischen wie des geistigen, ist ein dynamisches Phänomen, von welchem das Glasperlenspiel im Grunde nur die ästhetische Seite erfaßt, und zwar erfaßt es sie vorwiegend im Bild rhythmischer Vorgänge.«