"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)

Studienjahre

Josef Knecht war nun etwa vierundzwanzig Jahre alt. Mit der Entlassung aus Waldzell war seine Schülerzeit abgeschlossen, und es begannen die Jahre des freien Studierens; mit Ausnahme der harmlosen Eschholzer Knabenjahre sind sie wohl die heitersten und glücklichsten seines Lebens gewesen. Es ist ja auch immer aufs neue etwas Wunderbares und rührend Schönes um die schweifende Entdeckungs- und Eroberungslust eines Jünglings, der zum erstenmal frei vom Schulzwang sich den unendlichen Horizonten des Geistigen entgegen bewegt, dem noch keine Illusion zerflattert, kein Zweifel weder an der eigenen Fähigkeit zu unendlicher Hingabe, noch an der Unbegrenztheit der geistigen Welt gekommen ist. Gerade für Begabungen von Josef Knechts Art, welche nicht von einem Einzeltalent schon früh zur Konzentration auf ein Spezialfach gedrängt werden, sondern ihrem Wesen nach auf Ganzheit, auf Synthese und Universalität zielen, ist dieser Frühling der Studienfreiheit nicht selten eine Zeit intensiven Glückes, ja beinahe Rausches; ohne die vorangegangene Zucht der Eliteschule, ohne die seelische Hygiene der Meditationsübungen und ohne die mild geübte Kontrolle der Erziehungsbehörde wäre diese Freiheit für solche Begabungen eine schwere Gefahr und müßte vielen zum Verhängnis werden, wie sie es in den Zeiten vor unsrer heutigen Ordnung, in den vorkastalischen Jahrhunderten, unzähligen hohen Begabungen gewesen ist. An den Hochschulen jener Vorzeit hat es zu gewissen Zeiten von jungen faustischen Naturen geradezu gewimmelt, welche mit vollen Segeln aufs hohe Meer der Wissenschaften und der akademischen Freiheit fuhren und alle Schiffbrüche eines ungezügelten Dilettantismus erleiden mußten; Faust selber ist ja der Prototyp des genialen Dilettantismus und seiner Tragik. In Kastalien nun ist die geistige Freiheit der Studierenden noch unendlich viel größer, als sie es je an den Universitäten früherer Epochen war, denn die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu Studien sind viel reichhaltiger, außerdem fehlt in Kastalien völlig die Beeinflussung und Beschränkung durch materielle Rücksichten, durch Ehrgeiz, Ängstlichkeit, Armut der Eltern, Aussichten auf Brot und Karriere und so weiter. In den Akademien, Seminaren, Bibliotheken, Archiven, Laboratorien der pädagogischen Provinz ist jeder Studierende, was seine Herkunft und was seine Aussichten betrifft, vollkommen gleichgestellt; die Hierarchie stuft sich lediglich aus den intellektuellen und charakterlichen Anlagen und Qualitäten der Schüler. In materieller und geistiger Hinsicht dagegen sind von den Freiheiten, Verlockungen und Gefahren, welchen an weltlichen Hochschulen viele Begabte zum Opfer fallen, in Kastalien die meisten nicht vorhanden; es besteht auch hier noch Gefahr, Dämonie und Verblendung genug – wo wäre das Menschendasein von ihnen frei? – aber der kastalische Student ist immerhin manchen Möglichkeiten der Entgleisung, der Enttäuschung und des Untergangs entzogen. Weder kann es ihm geschehen, daß er der Trunksucht verfällt, noch kann er seine Jugendjahre an die renommistischen oder geheimbündlerischen Gepflogenheiten gewisser Studentengenerationen der älteren Zeit verlieren, noch auch kann er eines Tages die Entdeckung machen, daß sein studentisches Reifezeugnis ein Irrtum war, daß er erst im Lauf seiner Studienzeit auf nicht wieder auszufüllende Lücken in seiner Vorbildung stößt; vor diesen Mißständen schützt ihn die kastalische Ordnung. Auch die Gefahr, sich an Frauen oder an sportliche Exzesse zu verschwenden, ist nicht eben groß. Was die Frauen betrifft, so kennt der kastalische Student weder die Ehe mit ihren Verlockungen und Gefahren, noch kennt er die Prüderie mancher vergangenen Epoche, welche den Studenten entweder zu geschlechtlicher Askese zwang oder ihn auf mehr oder weniger käufliche und dirnenhafte Weiber anwies. Da es für die Kastalier keine Ehe gibt, gibt es auch keine auf die Ehe hin gerichtete Liebesmoral. Da es für den Kastalier kein Geld und so gut wie kein Eigentum gibt, existiert auch die Käuflichkeit der Liebe nicht. Es ist in der Provinz Sitte, daß die Bürgertöchter nicht allzu früh heiraten, und in den Jahren vor der Ehe scheint ihnen der Student und Gelehrte als Geliebter ganz besonders begehrenswert; er fragt nicht nach Herkunft und Vermögen, ist gewohnt, geistige Fähigkeiten den vitalen mindestens gleichzustellen, hat meistens Phantasie und Humor und muß, da er kein Geld hat, mehr als andre mit dem Einsatz seiner selbst bezahlen. Die Studentenliebste in Kastalien kennt die Frage nicht: wird er mich heiraten? Nein, er wird sie nicht heiraten. Zwar ist tatsächlich auch dies schon geschehen; es hat sich je und je der seltene Fall ereignet, daß ein Elitestudent auf dem Weg der Heirat in die bürgerliche Welt zurückkehrte, unter Verzicht auf Kastalien und die Zugehörigkeit zum Orden. Doch spielen diese paar Fälle von Abtrünnigwerden in der Geschichte der Schulen und des Ordens kaum eine andre Rolle als die einer Kuriosität.

Der Grad an Freiheit und Selbstbestimmung, mit welchem der Eliteschüler nach der Entlassung aus den vorbereitenden Schulen sich allen Wissens- und Forschungsgebieten gegenübergestellt findet, ist in der Tat ein sehr hoher. Eingeschränkt wird diese Freiheit, soweit nicht die Begabungen und Interessen von Anfang an engere sind, lediglich durch die Verpflichtung jedes frei Studierenden zur Vorlage eines Studienplanes jeweils für ein Halbjahr, dessen Durchführung von den Behörden milde überwacht wird. Für die vielseitig Begabten und Interessierten – und zu ihnen gehörte Knecht – haben die paar ersten Studienjahre durch diese sehr weitgehende Freiheit etwas wunderbar Verlockendes und Entzückendes. Gerade diesen vielseitig Interessierten läßt die Behörde, wenn sie nicht etwa geradezu ins Bummeln geraten, eine beinahe paradiesische Freiheit; der Schüler mag nach Belieben sich in allen Wissenschaften umsehen, die verschiedensten Studiengebiete miteinander vermischen, sich in sechs oder acht Wissenschaften gleichzeitig verlieben oder von Anfang an sich an eine engere Auswahl halten; außer der Innehaltung der allgemeinen, für Provinz und Orden geltenden moralischen Lebensregeln wird nichts von ihm verlangt als jährlich einmal der Ausweis über die von ihm gehörten Vorlesungen, über seine Lektüre und seine Arbeit in Instituten. Die genauere Kontrolle und Prüfung seiner Leistungen beginnt erst dort, wo er fachwissenschaftliche Kurse und Seminare besucht, zu welchen auch die des Glasperlenspiels und der Musikhochschule gehören; hier freilich hat jeder Studierende sich den offiziellen Prüfungen zu stellen und die vom Seminarleiter verlangten Arbeiten zu leisten, wie es sich von selbst versteht. Aber niemand zwingt ihn in diese Kurse, er kann semesterlang und jahrelang nach Belieben auch nur in den Bibliotheken sitzen und Vorlesungen hören. Diese Studenten, die mit der Bindung an ein einzelnes Wissensgebiet sich lange Zeit lassen, zögern zwar damit ihre Aufnahme in den Orden hinaus, werden aber mit großer Duldung auf ihren Streifzügen durch alle möglichen Wissenschaften und Studienarten belassen, ja gefördert. Es wird von ihnen, außer dem moralischen Wohlverhalten, nichts an Leistung verlangt als jedes Jahr die Abfassung eines »Lebenslaufes.« Diese alte und oft bespöttelte Sitte ist es, der wir die drei während seiner Studienjahre geschriebenen Lebensläufe Knechts verdanken. Es handelt sich bei ihnen also nicht, wie bei den in Waldzell entstandenen Gedichten, um eine rein freiwillige und inoffizielle, ja heimliche und mehr oder weniger verbotene Art von literarischer Tätigkeit, sondern um eine normale und offizielle. Schon in den frühesten Zeiten der pädagogischen Provinz war die Sitte aufgekommen, die jungem Studierenden, das heißt die noch nicht in den Orden Aufgenommenen, je und je zur Abfassung einer besonderen Art von Aufsatz oder Stilübung anzuhalten, nämlich eines sogenannten »Lebenslaufes,« das heißt einer fiktiven, in eine beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie. Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner frühern Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken; je nach Zeit und Mode war das kaiserliche Rom, das Frankreich des siebzehnten oder das Italien des fünfzehnten Jahrhunderts, das perikleische Athen oder das Österreich der Mozartzeit bevorzugt, und bei den Philologen war es Sitte geworden, daß sie ihre Lebensromane in der Sprache und im Stil des Landes und der Zeit abfaßten, in welchen sie spielten; es gab zuzeiten höchst virtuose Lebensläufe im Kurialstil des päpstlichen Rom um das Jahr 1200, im Mönchslatein, im Italienisch der »Hundert Novellen,« im Französisch Montaignes, im Barockdeutsch des Schwans von Boberfeld. Es lebte ein Rest des alten asiatischen Wiedergeburts- und Seelenwanderungsglaubens in dieser freien und spielerischen Form hier fort; allen Lehrern und Schülern war die Vorstellung geläufig, daß ihrer jetzigen Existenz frühere vorangegangen sein könnten, in anderen Körpern, zu andern Zeiten, unter andern Bedingungen. Dies war nun freilich nicht etwa ein Glaube im strengen Sinn, noch viel weniger war es eine Lehre; es war eine Übung, ein Spiel der Imaginationskräfte, sich das eigene Ich in veränderten Lagen und Umgebungen vorzustellen. Man übte sich dabei, so wie man es in vielen stilkritischen Seminaren und so oft auch im Glasperlenspiele tat, im behutsamen Eindringen in vergangene Kulturen, Zeiten und Länder, lernte seine eigene Person als Maske, als vergängliches Kleid einer Entelechie betrachten. Die Sitte, solche Lebensläufe zu schreiben, hatte ihren Reiz und hatte manche Vorzüge, sie hätte sich sonst wohl auch nicht so lange erhalten. Übrigens war die Zahl der Studierenden gar nicht so sehr klein, welche nicht nur an die Idee der Reinkarnation mehr oder weniger glaubten, sondern auch an die Wahrheit ihrer eigenen erfundenen Lebensläufe. Denn natürlich waren die meisten dieser imaginierten Vorexistenzen nicht nur Stilübungen und historische Studien, sondern auch Wunschbilder und gesteigerte Selbstbildnisse: die Verfasser der meisten Lebensläufe schilderten sich in demjenigen Kostüm und als denjenigen Charakter, als welcher zu erscheinen und sich zu verwirklichen ihr Wunsch und Ideal war. Des weiteren waren die Lebensläufe, pädagogisch kein schlechter Gedanke, ein legitimer Kanal für das dichterische Bedürfnis des jugendlichen Alters. War auch seit Generationen das eigentliche, ernsthafte Dichten verpönt und teils durch die Wissenschaften, teils durch das Glasperlenspiel ersetzt, so war doch der Künstler- und Gestaltungstrieb des Jugendalters nicht erledigt; er fand in den Lebensläufen, welche sich oft bis zu kleinen Romanen erweiterten, ein erlaubtes Feld der Betätigung. Auch mochte mancher Verfasser dabei die ersten Schritte ins Land der Selbsterkenntnis tun. Übrigens kam es auch des öfteren vor und stieß bei den Lehrern meistens auf wohlwollendes Verständnis, daß Studierende ihre Lebensläufe zu kritischen und revolutionären Auslassungen über die heutige Welt und über Kastalien benutzten. Außerdem aber waren diese Aufsätze für die Lehrer gerade während der Zeit, in welcher die Studierenden die größte Freiheit genossen und keiner genauen Kontrolle unterlagen, sehr aufschlußreich und gaben ihnen über das geistige und moralische Leben und Befinden der Verfasser oft überraschend deutliche Auskunft.

Von Josef Knecht sind drei solche Lebensläufe erhalten, wir werden sie wortgetreu mitteilen und halten sie für den vielleicht wertvollsten Teil unseres Buches. Ob er nur diese drei Lebensläufe geschrieben habe, ob nicht einer oder der andere verlorengegangen sei, darüber sind mancherlei Vermutungen möglich. Mit Bestimmtheit wissen wir nur, daß es Knecht nach der Überreichung seines dritten, des »indischen« Lebenslaufes von der Kanzlei der Erziehungsbehörde nahegelegt wurde, er möge einen etwaigen noch folgenden Lebenslauf in eine historisch näherliegende und reicher dokumentierte Epoche verlegen und sich mehr um das historische Detail bekümmern. Wir wissen aus Erzählungen und Briefen, daß er daraufhin in der Tat Vorstudien zu einem Lebenslauf aus dem achtzehnten Jahrhundert gemacht hat. Er wollte darin als schwäbischer Theologe auftreten, der den Kirchendienst später mit der Musik vertauscht, der ein Schüler Johann Albrecht Bengels, ein Freund Oetingers und eine Weile Gast der Gemeinde Zinzendorfs war. Wir wissen, daß er damals eine Menge alter, zum Teil entlegener Literatur über Kirchenverfassung, über Pietismus und Zinzendorf, über Liturgie und Kirchenmusik jener Zeit gelesen und exzerpiert hat. Wir wissen auch, daß er für die Gestalt des magischen Prälaten Oetinger eine richtige Verliebtheit, für die des Magisters Bengel eine echte Liebe und tiefe Verehrung empfand – sein Bildnis ließ er sich eigens photographieren und hatte es eine Weile auf dem Schreibtisch stehen – und sich um die Würdigung Zinzendorfs, der ihn ebenso interessierte wie abstieß, ehrlich bemüht hat. Am Ende ließ er diese Arbeit liegen, zufrieden mit dem, was er bei ihr gelernt hatte, erklärte sich aber für unfähig, daraus einen Lebenslauf zu machen, denn er habe viel zuviel Einzelstudien getrieben und Details gesammelt. Diese Aussage berechtigt uns vollends, in jenen ausgeführten drei Lebensläufen mehr die Schöpfungen und Bekenntnisse eines dichterischen Menschen und eines edlen Charakters als die Arbeiten eines Gelehrten zu sehen, womit wir ihnen nicht Unrecht zu tun meinen.

Für Knecht kam nun aber zu der Freiheit des in die selbstgewählten Studien entlassenen Schülers noch eine andere Freiheit und Entspannung hinzu. Er war ja nicht nur ein Zögling wie alle gewesen, hatte nicht nur die Ordnung der strengen Schulung, der genauen Tageseinteilung, der sorgfältigen Kontrolle und Beobachtung durch die Lehrer über sich gehabt und war allen Anstrengungen eines Eliteschülers ausgesetzt gewesen. Er war, neben diesem allem und weit darüber hinaus, durch sein Verhältnis zu Plinio zum Träger einer Rolle und einer Verantwortung geworden, die ihn geistig und seelisch bis an die Grenzen des Möglichen teils anspornte, teils belastete, einer aktiven sowohl wie repräsentativen Rolle, einer Verantwortung, welche eigentlich über seine Jahre und Kräfte ging und welche er, oft gefährdet genug, nur aus einem Überschuß an Willenskraft und Begabung bewältigt hatte und ohne den mächtigen Beistand aus der Ferne, den Musikmeister, überhaupt nicht hätte zu Ende führen können. Wir finden ihn, den etwa Vierundzwanzigjährigen, am Ende seiner ungewöhnlichen Waldzeller Schuljahre zwar über sein Alter gereift und etwas überanstrengt, erstaunlicherweise aber nicht erkennbar geschädigt. Wie tief dennoch sein ganzes Wesen durch jene Rolle und Last in Anspruch genommen, ja der Erschöpfung nahegebracht worden war, darüber fehlt es zwar an unmittelbaren Zeugnissen, wir erkennen es aber, sobald wir die Art betrachten, auf welche der den Schulen Entwachsene in den ersten Jahren von der errungenen und gewiß oft tief ersehnten Freiheit Gebrauch gemacht hat. Knecht, der während seiner letzten Schülerjahre an so sichtbarer Stelle gestanden und gewissermaßen schon der Öffentlichkeit angehört hatte, hat sich aus ihr sofort und vollkommen zurückgezogen; ja wenn man die Spuren seines damaligen Lebens aufsucht, hat man den Eindruck: am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, keine Umgebung und Gesellschaft konnte ihm harmlos genug, keine Existenzform privat genug sein. So hat er auch auf einige lange und stürmische Briefe Designoris erst kurz und unlustig, dann gar nicht mehr geantwortet. Der berühmte Schüler Knecht verschwand und war nicht mehr aufzufinden; nur in Waldzell blühte sein Ruhm weiter und wurde mit der Zeit beinah zur Legende.

So hat er im Beginn seiner Studienjahre aus den genannten Gründen Waldzell gemieden, daraus ergab sich denn auch der vorläufige Verzicht auf die höheren und höchsten Kurse im Glasperlenspiel. Trotzdem aber, das heißt obwohl ein oberflächlicher Beobachter damals eine auffallende Vernachlässigung des Glasperlenspiels bei Knecht hätte feststellen können, wissen wir, daß im Gegenteil der ganze, scheinbar launische und zusammenhanglose, jedenfalls recht ungewöhnliche Gang seiner freien Studien vom Glasperlenspiel beeinflußt war und zu ihm und dem Dienst am Spiel zurückführte. Wir gehen darauf etwas ausführlicher ein, denn dieser Zug ist charakteristisch; Josef Knecht hat auf die wunderlichste, eigensinnigste Weise sich seiner Studierfreiheit bedient, auf eine verblüffende, jugendlich geniale Weise. Während seiner Waldzeller Jahre hatte er wie üblich die offizielle Einführung ins Glasperlenspiel und den Wiederholungskurs durchgemacht; dann war er, im Lauf des letzten Schuljahres und im Freundeskreis schon damals im Ruf eines guten Spielers stehend, von der Anziehungskraft des Spiels der Spiele mit solcher Heftigkeit ergriffen worden, daß er, nach Absolvierung eines weiteren Kurses, noch als Eliteschüler unter die Spieler der zweiten Stufe aufgenommen wurde, was eine recht seltene Auszeichnung bedeutet.

Einem Kameraden beim offiziellen Wiederholungskurs, seinem Freunde und spätem Gehilfen Fritz Tegularius, hat er einige Jahre später ein Erlebnis berichtet, das nicht nur seine Bestimmung zum Glasperlenspieler entschied, sondern auch auf den Gang seiner Studien von größtem Einfluß war. Der Brief ist erhalten, die Stelle lautet: »Laß mich dich aus jener Zeit, wo wir beide, derselben Gruppe zugeteilt, so eifrig an unsern ersten Dispositionen zu Glasperlenspielen arbeiteten, an einen bestimmten Tag und ein bestimmtes Spiel erinnern. Unser Gruppenleiter hatte uns verschiedene Anregungen gegeben und allerlei Themata zur Wahl gestellt; wir waren gerade bei dem heiklen Übergang von der Astronomie, Mathematik und Physik zu den Sprach- und Geschichtswissenschaften, und der Leiter war ein Virtuose in der Kunst, uns begierigen Anfängern Fallen zu stellen und uns auf das Glatteis unzulässiger Abstraktionen und Analogien zu locken, er schmuggelte uns verlockende etymologische und sprachvergleichende Spielereien in die Hände und hatte seinen Spaß daran, wenn einer von uns darauf hereinfiel. Wir zählten griechische Silbenlängen bis zur Ermüdung, um dann plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen, indem wir vor die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines akzentuierenden, statt des metrischen Skandierens gestellt wurden, und dergleichen mehr. Er machte seine Sache formal glänzend und ganz korrekt, wenn auch in einem Geist, der mir nicht angenehm war, er zeigte uns Irrgänge und verlockte uns zu Fehlspekulationen, zwar mit der guten Absicht, uns mit den Gefahren bekannt zu machen, aber ein wenig auch, um uns dumme Jungen auszulachen und gerade den Eifrigsten möglichst viel Skepsis in ihre Begeisterung zu gießen. Dennoch geschah es gerade unter ihm und bei einem seiner verzwickten Vexier-Experimente, daß ich, während wir tastend und ängstlich ein halbwegs taugliches Spielproblem zu entwerfen versuchten, plötzlich und mit einem Schlage vom Sinn und von der Größe unsres Spiels ergriffen und bis ins Innerste erschüttert wurde. Wir sezierten an einem sprachgeschichtlichen Problem herum und sahen gewissermaßen dem Höhepunkt und der Glanzzeit einer Sprache aus der Nähe zu, gingen in Minuten einen Weg mit ihr, zu dem sie einige Jahrhunderte gebraucht hatte, und mich packte das Schauspiel der Vergänglichkeit gewaltig an: wie da vor unsern Augen ein so komplizierter, alter, ehrwürdiger, in vielen Generationen langsam aufgebauter Organismus zu seiner Blüte kommt, und die Blüte schon den Keim des Verfalls enthält, und der ganze sinnvoll gegliederte Bau zu sinken, zu entarten, dem Untergang entgegenzuwanken beginnt – und zugleich durchfuhr es mich mit einem Zuck und freudigen Schrecken, daß dennoch der Verfall und Tod jener Sprache nicht ins Nichts geführt hatte, daß ihre Jugend, ihre Blüte, ihr Niedergang in unserem Gedächtnis, im Wissen um sie und ihre Geschichte, aufbewahrt und daß sie in den Zeichen und Formeln der Wissenschaft sowohl wie in den geheimen Formulierungen des Glasperlenspiels fortlebe und jederzeit wieder aufgebaut werden könne. Ich begriff plötzlich, daß in der Sprache oder doch mindestens im Geist des Glasperlenspiels tatsächlich alles allbedeutend sei, daß jedes Symbol und jede Kombination von Symbolen nicht hierhin oder dorthin, nicht zu einzelnen Beispielen, Experimenten und Beweisen führe, sondern ins Zentrum, ins Geheimnis und Innerste der Welt, in das Urwissen. Jeder Übergang von Dur zu Moll in einer Sonate, jede Wandlung eines Mythos oder eines Kultes, jede klassische, künstlerische Formulierung sei, so erkannte ich im Blitz jenes Augenblicks, bei echter meditativer Betrachtung, nichts andres als ein unmittelbarer Weg ins Innere des Weltgeheimnisses, wo im Hin und Wider zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Yin und Yang sich ewig das Heilige vollzieht. Zwar hatte ich damals schon manches gut aufgebaute und gut durchgeführte Spiel als Zuhörer miterlebt, und es war mir manche große Erhebung und manche beglückende Einsicht dabei zuteil geworden; doch war ich bis dahin über den eigentlichen Wert und Rang des Spieles an sich immer wieder zu Zweifeln geneigt gewesen. Am Ende konnte ja jede gut gelöste Mathematikaufgabe geistigen Genuß bringen, jede gute Musik konnte beim Hören, und noch weit mehr beim Spielen, die Seele erheben und ins Große dehnen, und jede andächtige Meditation konnte das Herz beruhigen und es zum Einklang mit dem All stimmen; aber eben darum war doch vielleicht das Glasperlenspiel, so sagten meine Zweifel, nur eine formale Kunst, eine geistreiche Fertigkeit, eine witzige Kombination, und dann war es besser, dies Spiel nicht zu spielen, sondern sich mit sauberer Mathematik und guter Musik zu beschäftigen. Jetzt aber hatte ich zum erstenmal die innere Stimme des Spieles selbst vernommen, seinen Sinn, sie hatte mich erreicht und durchdrungen, und seit jener Stunde bin ich des Glaubens, daß unser königliches Spiel wirklich eine lingua sacra, eine heilige und göttliche Sprache ist. Du wirst dich erinnern, denn du selbst hast damals bemerkt, daß eine Wandlung in mir vorgegangen war und ein Ruf mich erreicht hatte. Ich kann ihn nur jenem unvergeßlichen Ruf vergleichen, der einst mein Herz und mein Leben verwandelt und emporgehoben hat, da ich als kleiner Knabe vom Magister Musicae geprüft und nach Kastalien berufen worden bin. Du hast es bemerkt, das spürte ich damals wohl, wenn du auch kein Wort darüber sagtest; wir wollen auch heute nichts weiter darüber sagen. Aber nun habe ich eine Bitte an dich, und um sie dir zu erklären, muß ich dir sagen, was sonst niemand weiß und wissen soll, nämlich, daß mein derzeitiges Herumstudieren keiner Laune entspringt, daß ihm vielmehr ein ganz bestimmter Plan zugrunde liegt. Du entsinnst dich, in großen Zügen wenigstens, jener Glasperlenspielübung, die wir damals als Schüler im dritten Kurs mit Hilfe des Leiters aufbauten und in deren Verlauf ich jene Stimme vernahm und meine Berufung zum Lusor erlebte. Nun, jenes Übungsspiel, das mit einer rhythmischen Analyse des Themas zu einer Fuge begann und in dessen Mitte ein angeblicher Satz des Kungtse stand, jenes ganze Spiel von Anfang bis zu Ende studiere ich jetzt, das heißt, ich arbeite mich durch jeden seiner Sätze durch, übersetze ihn aus der Spielsprache in seine Ursprache zurück, in Mathematik, in Ornamentik, in Chinesisch, in Griechisch usw. Ich will, wenigstens dies eine Mal im Leben, den ganzen Inhalt eines Glasperlenspiels fachmäßig nachstudieren und nachkonstruieren; den ersten Teil habe ich schon hinter mir und habe zwei Jahre dazu gebraucht. Es wird natürlich noch manche Jahre kosten. Aber da wir nun einmal unsre berühmte Studienfreiheit in Kastalien haben, will ich sie eben auf diese Art benützen. Die Einwände dagegen sind mir bekannt. Die meisten unsrer Lehrer würden sagen: wir haben in einigen Jahrhunderten das Glasperlenspiel erfunden und ausgebaut, als eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrücken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen. Nun kommst du und willst nachprüfen, ob das auch stimme! Du wirst dein Leben dazu brauchen und wirst es bereuen. Nun, ich werde nicht mein Leben dazu brauchen und hoffe es auch nicht zu bereuen. Und nun meine Bitte: da du zur Zeit im Spielarchiv arbeitest und ich aus besonderen Gründen Waldzell noch für eine gute Weile meiden möchte, sollst du mir je und je eine Anzahl Fragen beantworten, das heißt, mir in der nicht gekürzten Form jeweils die offiziellen Schlüssel und Zeichen für allerlei Themata aus dem Archiv mitteilen. Ich rechne auf dich und rechne darauf, daß du, sobald ich dir irgendwelche Gegendienste leisten kann, über mich verfügst.«

Vielleicht ist hier der Ort, auch jene andre Stelle aus Knechts Briefen mitzuteilen, welche sich auf das Glasperlenspiel bezieht, wenn auch der betreffende Brief, an den Musikmeister gerichtet, mindestens ein oder zwei Jahre später geschrieben wurde. »Ich denke mir,« schreibt Knecht seinem Gönner, »daß man ein ganz guter, ja virtuoser Glasperlenspieler sein kann, ja vielleicht sogar ein recht tüchtiger Magister Ludi, ohne das eigentliche Geheimnis des Spieles und seinen letzten Sinn zu ahnen. Ja es könnte sein, daß gerade ein Ahnender und Wissender, wenn er zum Fachmann im Glasperlenspiel oder dessen Leiter würde, dem Spiel gefährlicher werden könnte als jene. Denn die Innenseite, die Esoterik des Spiels, zielt wie alle Esoterik ins Ein und All hinab, in die Tiefen, wo nur noch der ewige Atem im ewigen Ein und Aus sich selbst genügend waltet. Wer den Sinn des Spiels in sich zu Ende erlebt hätte, wäre eigentlich schon kein Spieler mehr, er stünde nicht in der Vielfalt mehr und wäre der Freude am Erfinden, Konstruieren und Kombinieren nicht mehr fähig, da er eine ganz andere Lust und Freude kennt. Da ich dem Sinn des Glasperlenspiels nahe zu sein meine, wird es für mich und für andre besser sein, wenn ich das Spiel nicht zu meinem Beruf mache, sondern mich lieber auf die Musik verlege.«

Der Musikmeister, meist sehr sparsam im Briefschreiben, war von dieser Äußerung offenbar beunruhigt und hat auf sie eine freundlich warnende Auskunft gegeben: »Es ist gut, daß du selber von einem Spielmeister nicht verlangst, er solle ein »Esoteriker« in deinem Sinne sein, denn ich hoffe, du habest das ohne Ironie gesagt. Ein Spielmeister oder Lehrer, der sich in erster Linie darum sorgte, ob er auch dem »innersten Sinn« nahe genug sei, wäre ein sehr schlechter Lehrer. Ich zum Beispiel habe, offen gestanden, meinen Schülern zeitlebens niemals ein Wort über den »Sinn« der Musik gesagt; wenn es einen gibt, so bedarf er meiner nicht. Dagegen habe ich stets großen Wert darauf gelegt, daß meine Schüler ihre Achtel und Sechzehntel hübsch genau zählten. Ob du nun Lehrer, Gelehrter oder Musikant wirst, habe die Ehrfurcht vor dem »Sinn,« aber halte ihn nicht für lehrbar. Mit dem Lehrenwollen des »Sinnes« haben einst die Geschichtsphilosophen die halbe Weltgeschichte verdorben, das feuilletonistische Zeitalter eingeleitet und eine Menge von vergossenem Blut mitverschuldet. Auch wenn ich etwa Schüler in den Homer oder die griechischen Tragiker einzuführen hätte, würde ich nicht versuchen, ihnen die Dichtung als eine Erscheinungsform des Göttlichen zu suggerieren, sondern bemüht sein, ihnen die Dichtung durch die genaue Kenntnis ihrer sprachlichen und metrischen Mittel zugänglich zu machen. Sache des Lehrers und des Gelehrten ist das Erforschen der Mittel und die Pflege der Überlieferung, das Reinhalten der Methoden, nicht das Erregen und Beschleunigen jener nicht mehr sagbaren Erlebnisse, welche den Auserwählten – oft sind sie auch Geschlagene und Opfer – vorbehalten sind.«

Im übrigen erwähnt Knechts Briefwechsel jener Jahre, der ohnehin nicht groß gewesen zu sein scheint oder zum Teil verlorengegangen ist, das Glasperlenspiel und seine »esoterische« Auffassung an keiner Stelle; die größte und besterhaltene dieser Korrespondenzen, die mit Ferromonte, handelt ohnehin nahezu ausschließlich von Problemen der Musik und der musikalischen Stilanalyse.

So sehen wir denn in dem eigentümlichen Zickzack, den Knechts Studiengang beschrieb und der nichts anderes war als die genaue Nachzeichnung und jahrelange Durcharbeitung eines einzigen Spielschemas, einen sehr bestimmten Sinn und Willen sich durchsetzen. Um sich die Inhalte dieses einzigen Spielschemas anzueignen, welches sie einst als Schüler zu Übungszwecken in wenigen Tagen komponiert hatten und das, in der Sprache des Glasperlenspiels, in einer Viertelstunde abzulesen gewesen war, verwendete er Jahr um Jahr, saß in Lehrsälen und Bibliotheken, studierte Froberger und Alessandro Scarlatti, Fugen und Sonatenbau, repetierte Mathematik, lernte Chinesisch, arbeitete ein System der Klangfiguren und die Feustelsche Theorie von der Entsprechung zwischen der Farbenskala und den musikalischen Tonarten durch. Man fragt sich, warum er diesen mühsamen, eigensinnigen und vor allem einsamen Weg gewählt habe, denn sein Endziel (außerhalb Kastaliens würde man sagen: seine Berufswahl) war ohne Zweifel das Glasperlenspiel. Wäre er, als Hospitant und unverbindlich zunächst, in eines der Institute des Vicus Lusorum, der Glasperlenspieler-Siedlung in Waldzell, eingetreten, so wären ihm alle auf das Spiel bezüglichen Spezialstudien erleichtert gewesen, es hätten ihm Rat und Auskunft in allen Einzelfragen zu jeder Stunde offen gestanden, und außerdem hätte er seinen Studien unter Kameraden und Mitstrebenden obliegen können, statt sich allein und gewiß oft wie in freiwilliger Verbannung abzuquälen. Nun, er ging seinen Weg. Er vermied, so vermuten wir, Waldzell nicht nur, um seine dortige Schülerrolle und die Erinnerung an sie möglichst auszulöschen, bei den andern wie bei sich selbst, sondern ebenso, um nicht inmitten der Gemeinschaft der Glasperlenspieler in eine neue, ähnliche Rolle hineinzugeraten. Denn etwas wie Schicksal, etwas wie Vorbestimmung zu Führerschaft und Repräsentation mochte er seit damals in sich spüren, und er tat das Mögliche, dies ihm sich aufdrängende Schicksal zu überlisten. Er spürte die Schwere der Verantwortung voraus, er spürte sie schon jetzt den Waldzeller Mitschülern gegenüber, die für ihn begeistert waren und denen er sich entzog, und spürte sie besonders gegenüber jenem Tegularius, von dem er instinktiv wußte, daß er für ihn durchs Feuer gehen würde. So suchte er die Verborgenheit und Beschaulichkeit, während jenes Schicksal ihn nach vorn und ins öffentliche drängen wollte. So etwa denken wir uns seine innere Lage damals. Aber es war noch ein wichtiger Grund oder Antrieb mehr vorhanden, ihn vom üblichen Lehrgang der höheren Glasperlenspielschulen abzuschrecken und zum Outsider zu machen, nämlich ein nicht zu beschwichtigender Forschungstrieb, auf dessen Grund die einstigen Zweifel gegen das Glasperlenspiel ruhten. Gewiß, er hatte es erlebt und geschmeckt, daß das Spiel wirklich in einem höchsten und heiligen Sinn gespielt werden könne, aber er hatte auch gesehen, daß die Mehrzahl der Spieler und Schüler, ja auch ein Teil der Leiter und Lehrer keineswegs in jenem hohen und heiligen Sinn Spieler waren und in der Spielsprache nicht eine lingua sacra sahen, sondern eben eine geistvolle Art von Stenographie, und daß sie das Spiel als eine interessante oder amüsante Spezialität, als einen intellektuellen Sport oder als einen Wettkampf des Ehrgeizes betrieben. Ja, er hatte, wie sein Brief an den Musikmeister zeigt, auch schon eine Ahnung davon, daß möglicherweise nicht immer das Suchen nach dem letzten Sinn die Qualität des Spielers bestimmt, daß das Spiel auch einer Exoterik bedürfe, daß es auch Technik, Wissenschaft und gesellschaftliche Institution sei. Kurz, es waren Zweifel und Zwiespälte da, das Spiel war eine Lebensfrage, war vorläufig das große Hauptproblem seines Lebens geworden, und er war keineswegs gesonnen, sich seine Kämpfe durch wohlwollende Seelenhirten erleichtern oder durch freundlich ablenkendes Lehrerlächeln bagatellisieren zu lassen.

Natürlich hätte er unter den Zehntausenden der schon gespielten und den Millionen der möglichen Glasperlenspiele jedes beliebige zur Grundlage seiner Studien machen können. Er wußte dies und ging von jenem zufälligen, in jenem Schülerkurs von ihm und seinen Kameraden kombinierten Spielplane aus. Es war das Spiel, bei dem er zum erstenmal vom Sinn aller Glasperlenspiele erfaßt worden war und seine Berufung zum Spieler erfahren hatte. Ein von ihm in der üblichen Kurzschrift aufgezeichnetes Schema jenes Spieles begleitete ihn in diesen Jahren beständig. In den Bezeichnungen, Schlüsseln, Signaturen und Abbreviaturen der Spielsprache war hier eine Formel der astronomischen Mathematik, das Formprinzip einer alten Sonate, ein Ausspruch des Kungfutse und so weiter aufgezeichnet. Ein Leser, welcher etwa das Glasperlenspiel nicht kennen sollte, möge sich ein solches Spielschema etwa ähnlich vorstellen wie das Schema einer Schachpartie, nur daß die Bedeutungen der Figuren und die Möglichkeiten ihrer Beziehungen zueinander und ihrer Einwirkung aufeinander vervielfacht gedacht und jeder Figur, jeder Konstellation, jedem Schachzuge ein tatsächlicher, durch eben diesen Zug, diese Konfiguration und so weiter symbolisch bezeichneter Inhalt zuzuschreiben wäre. Knechts Studienjahre nun galten nicht nur der Aufgabe, die im Spielplan enthaltenen Inhalte, Prinzipien, Werke und Systeme des genauesten kennenzulernen, im Lernen einen Weg durch verschiedene Kulturen, Wissenschaften, Sprachen, Künste, Jahrhunderte zurückzulegen; nicht minder hatte er sich die keinem seiner Lehrer bekannte Aufgabe gestellt, an diesen Objekten die Systeme und Ausdrucksmöglichkeiten der Glasperlenspielkunst auf das genaueste nachzuprüfen.

Um das Resultat im voraus mitzuteilen: er fand hier und dort eine Lücke, ein Ungenügen, im ganzen aber muß unser Glasperlenspiel seiner zähen Prüfung standgehalten haben, sonst wäre er nicht am Ende zu ihm zurückgekehrt.

Schrieben wir hier eine kulturgeschichtliche Studie, so wäre gewiß mancher Ort und manche Szene aus Knechts Studentenzeit der Beschreibung würdig. Er bevorzugte, soweit dies irgend möglich war, solche Orte, an welchen er allein oder nur mit ganz wenigen zusammen arbeiten konnte, und einigen dieser Orte hat er eine dankbare Anhänglichkeit bewahrt. Häufig weilte er in Monteport, manchmal als Gast des Musikmeisters, manchmal als Teilnehmer an einem musikgeschichtlichen Seminar. Zweimal finden wir ihn in Hirsland, dem Sitz der Ordensleitung, als Teilnehmer an der »großen Übung,« dem zwölftägigen Fasten und Meditieren. Mit besonderer Freude, ja Zärtlichkeit erzählte er später seinen Nächsten vom »Bambusgehölz,« der lieblichen Eremitage, dem Schauplatz seiner I-Ging-Studien. Hier hat er nicht nur Entscheidendes gelernt und erlebt, er fand hier auch, von einer wunderbaren Ahnung oder Führung geleitet, eine einzigartige Umgebung und einen ungewöhnlichen Menschen, nämlich den sogenannten »Älteren Bruder,« den Schöpfer und Bewohner der chinesischen Eremitage Bambusgehölz. Es scheint uns angezeigt, diese merkwürdigste Episode seiner Studienzeit etwas eingehender zu schildern.

Knecht hatte das Studium der chinesischen Sprache und der Klassiker in dem berühmten ostasiatischen Lehrhaus begonnen, das seit Generationen der Schulsiedlung der Altphilologen, Sankt Urban, angegliedert war. Er hatte daselbst rasche Fortschritte im Lesen und Schreiben gemacht, sich auch mit einigen dort arbeitenden Chinesen befreundet und eine Anzahl der Lieder des Schi King auswendig gelernt, als er im zweiten Jahr seines Aufenthaltes sich immer intensiver für das I Ging, das Buch der Wandlungen, zu interessieren anfing. Die Chinesen gaben ihm auf sein Drängen zwar allerlei Auskünfte, doch keine Einführung, ein Lehrer dafür war im Lehrhaus nicht vorhanden, und als Knecht immer wieder sein Anliegen vorbrachte, man möge ihm einen Lehrer für eine gründliche Beschäftigung mit dem I Ging verschaffen, erzählte man ihm vom »Älteren Bruder« und seiner Einsiedelei. Knecht hatte schon seit einer Weile wohl bemerkt, daß er mit seinem Interesse für das Buch der Wandlungen in ein Gebiet ziele, von dem man im Lehrhaus wenig wissen wollte, er wurde vorsichtiger in seinen Erkundigungen, und wie er sich nun des weiteren um Auskünfte über den sagenhaften Älteren Bruder bemühte, blieb ihm nicht verborgen, daß dieser Eremit zwar eine gewisse Achtung, ja einen Ruhm genoß, jedoch mehr den eines kauzigen Outsiders als den eines Gelehrten. Er spürte, daß er sich hier selbst helfen müsse, brachte eine begonnene Seminararbeit so bald wie möglich zum Abschluß und empfahl sich. Zu Fuß machte er sich auf den Weg nach der Gegend, in welcher jener Geheimnisvolle einst sein Bambusgehölz angelegt hatte, vielleicht ein Weiser und Meister, vielleicht ein Narr. Er hatte über ihn etwa so viel in Erfahrung gebracht: der Mann war vor etwa fünfundzwanzig Jahren der hoffnungsvollste Student der chinesischen Abteilung gewesen, er schien für diese Studien geboren und berufen zu sein, übertraf die besten Lehrer, seien sie nun Chinesen von Geburt oder Abendländer, in der Technik des Pinselschreibens und des Entzifferns alter Schriften, fiel jedoch ein wenig auf durch den Eifer, mit dem er sich auch äußerlich zum Chinesen zu machen suchte. So redete er alle Vorgesetzten, vom Leiter eines Seminars bis zu den Meistern hinauf, hartnäckig nicht mit ihren Titeln und dem vorschriftsmäßigen Ihr an, wie alle Studenten es taten, sondern mit der Anrede »Mein älterer Bruder,« welche Bezeichnung schließlich für immer als Spottname an ihm selbst hängenblieb. Besondere Sorgfalt widmete er dem Orakelspiel des I Ging, dessen Handhabung mit Hilfe der traditionellen Schafgarbenstengel er meisterhaft übte. Nächst den alten Kommentaren zum Orakelbuch war sein Lieblingsbuch das des Dschuang Dsie. Offenbar war der rationalistische und eher antimystische, streng konfuzianisch sich gebende Geist in der chinesischen Abteilung des Lehrhauses, wie Knecht ihn kennengelernt hatte, schon damals zu spüren gewesen, denn der Ältere Bruder verließ eines Tages das Institut, das ihn als Fachlehrer gern behalten hätte, und begab sich auf Wanderung, ausgerüstet mit Pinsel, Tuscheschale und zwei, drei Büchern. Er suchte den Süden des Landes auf, war bald da, bald dort bei Ordensbrüdern zu Gast, suchte und fand den geeigneten Ort für die von ihm geplante Einsiedelei, erwarb in hartnäckigen Eingaben und mündlichen Vorstellungen von den weltlichen Behörden sowohl wie vom Orden das Recht, diesen Ort als Siedler zu bepflanzen, und lebte seither dort in einer streng altchinesisch eingerichteten Idylle, bald als Kauz belächelt, bald als eine Art Heiliger verehrt, mit sich und der Welt im Frieden, seine Tage mit Meditation und dem Abschreiben alter Schriftrollen hinbringend, soweit nicht die Arbeit an seinem Bambusgehölz, das einen sorgfältig angelegten chinesischen Kleingarten vor dem Nordwind schützte, ihn in Anspruch nahm.

Dorthin also wanderte Josef Knecht, mit häufigen Rasten und von der Landschaft entzückt, die ihm nach der Übersteigung der Bergpässe von Süden blau und duftig entgegenblickte, mit sonnigen Rebenterrassen, braunem Gemäuer voll Eidechsen, würdigen Kastanienhainen, eine würzige Mischung aus Südland und Hochgebirge. Es war Spätnachmittag, als er das Bambusgehölz erreichte; er trat ein und sah mit Erstaunen ein chinesisches Gartenhaus inmitten eines wunderlichen Gartens stehen, ein Brunnen plätscherte aus hölzerner Röhre, das in einem Kieselbett abfließende Wasser füllte nahebei ein gemauertes Becken, in dessen Ritzen vielerlei Grün wucherte und in dessen stillklarem Wasser ein paar Goldkarpfen schwammen. Friedlich und zart wiegten sich die Bambusfahnen über den schlanken, starken Schäften, der Rasen war von Steinplatten unterbrochen, auf welchen Inschriften im klassischen Stil zu lesen waren. Ein schmächtiger Mann, in graugelbes Leinen gekleidet, mit einer Brille über blauen abwartenden Augen, erhob sich von einem Blumenbeet, über dem er kauernd verweilt hatte, kam langsam auf den Besucher zu, nicht unfreundlich, aber mit jener etwas linkischen Scheu, wie Zurückgezogene und Alleinlebende sie manchmal an sich haben, richtete den Blick fragend auf Knecht und wartete, was er zu sagen habe. Dieser sprach nicht ohne Befangenheit die chinesischen Worte, die er sich zur Begrüßung ausgedacht hatte: »Der junge Schüler erlaubt sich, dem Älteren Bruder seine Aufwartung zu machen.«

»Der wohlerzogene Gast ist willkommen,« sagte der Ältere Bruder, »stets sei ein junger Kollege mir zu einer Schale Tee und einem kleinen erfreulichen Gespräch willkommen, und auch ein Nachtlager findet sich für ihn, wenn ihm dies erwünscht ist.«

Knecht machte Kotao und dankte, wurde in das Häuschen geführt und mit Tee bewirtet; es wurde ihm alsdann der Garten gezeigt, die Steine mit den Inschriften, der Teich, die Goldfische, deren Alter ihm genannt wurde. Bis zum Abendessen saß man unter dem wehenden Bambus, tauschte Höflichkeiten, Liederverse und Sprüche aus den Klassikern, betrachtete Blumen und genoß das rosig an den Bergzügen verblühende Abendlicht. Darauf kehrte man ins Haus zurück, der Ältere Bruder trug Brot und Früchte auf, buk auf winzigem Herde je einen vortrefflichen Pfannkuchen für sich und den Gast, und als sie gegessen hatten, wurde der Student nach dem Zweck seines Besuches gefragt, auf deutsch, und auf deutsch erzählte er, wie er hierhergekommen und was sein Anliegen sei, nämlich so lange hierzubleiben, als der Ältere Bruder erlaube, und sein Schüler zu sein.

»Wir sprechen morgen darüber,« sagte der Eremit und bot dem Gast ein Lager an. Am Morgen dann setzte sich Knecht ans Wasser zu den Goldfischen, blickte in die kleine kühle Welt von Dunkel und Licht und zauberisch spielenden Farben hinab, wo in dem dunkel Grünblauen und tintig Finstren sich die Leiber der Goldenen wiegten und dann und wann, eben wenn die ganze Welt verzaubert und für immer entschlafen und in Traumbann verfallen schien, mit einer sanft elastischen und doch erschreckenden Bewegung Blitze von Kristall und Gold durch das Schlafdunkel schickten. Er blickte hinab, mehr und mehr versinkend, mehr träumend als kontemplierend, und fühlte es nicht, als der Ältere Bruder mit leisen Schritten aus dem Hause kam, stehenblieb und seinen so versunkenen Gast lange betrachtete. Als Knecht endlich die Versunkenheit abschüttelnd sich erhob, war jener nicht mehr da, aber alsbald lud aus dem Innern seine Stimme zum Tee. Sie wechselten einen kurzen Gruß, tranken Tee, saßen und hörten durch die Morgenstille den kleinen Wasserstrahl des Brunnens klingen, Melodie der Ewigkeit. Dann stand der Eremit auf, machte sich da und dort in der unregelmäßig gebauten Stube zu schaffen, blickte zwischenein blinzelnd zu Knecht hinüber und fragte plötzlich:

»Bist du bereit, deine Schuhe anzuziehen und wieder fortzuwandern?«

Knecht zögerte, dann sagte er: »Wenn es so sein muß, bin ich bereit.«

»Und sollte es sich fügen, daß du eine kleine Weile hier bleibst, bist du dann bereit, Gehorsam zu leisten und dich so still zu halten wie ein Goldfisch?« Wieder bejahte der Student.

»Es ist gut,« sagte der Ältere Bruder. »Nun werde ich die Stäbchen legen und das Orakel befragen.«

Während Knecht saß und mit ebenso großer Ehrfurcht wie Neugierde zuschaute, sich still haltend »wie ein Goldfisch,« holte jener aus einem hölzernen Becher, einer Art von Köcher vielmehr, eine Handvoll Stäbchen; es waren Schafgarbenstengel, die zählte er aufmerksam durch, tat einen Teil des Bündels wieder in das Gefäß zurück, legte einen Stengel beiseite, teilte die andern in zwei gleich große Bündel, behielt das eine in der linken Hand, nahm mit der rechten, mit spitzen empfindsamen Fingern, winzig kleine Bündelchen aus dem andern, zählte sie, legte sie beiseite, bis einige wenige Stengel übrigblieben, die er zwischen zwei Finger der Linken klemmte. Nachdem er so das eine Bündel nach ritueller Zählung auf einige Stengel reduziert hatte, nahm er mit dem andern die gleiche Prozedur vor. Er legte die ausgezählten Stengel ab, nahm beide Bündel, eines nach dem andern, aufs neue durch, zählte, klemmte kleine Bündelreste zwischen zwei Finger, und dies alles taten die Finger mit einer sparsamen, stillen Behendigkeit, es sah aus wie ein geheimes, von strengen Regeln beherrschtes, tausendmal geübtes und zur virtuosen Fertigkeit gewordenes Geschicklichkeitsspiel. Nachdem er es mehrmals durchgespielt hatte, waren drei kleine Bündelchen übriggeblieben, aus den Zahlen ihrer Stengel las er ein Zeichen ab, das malte er mit spitzem Pinsel auf ein kleines Blatt. Nun begann der ganze komplizierte Vorgang von neuem, die Stäbchen wurden in zwei gleiche Bündel geteilt, es wurde gezählt, es wurden Stäbchen weggelegt, Stäbchen zwischen die Finger gesteckt, bis am Ende wieder drei winzige Bündelchen blieben, deren Ergebnis ein zweites Zeichen war. Tänzerisch bewegt, mit einem ganz leisen trockenen Klappern, schlugen die Stengel aneinander, wechselten ihre Plätze, bildeten Bündel, wurden getrennt, wurden neu abgezählt, rhythmisch mit gespenstischer Sicherheit bewegten sich die Stäbchen. Am Ende jedes Vorgangs schrieb der Finger ein Zeichen nieder, und zuletzt standen die positiven und negativen Zeichen in sechs Zeilen übereinander. Die Stengel wurden gesammelt und sorgfältig in ihren Behälter zurückgestellt, der Magier hockte am Boden auf schilfener Matte und hatte vor sich das Ergebnis des Orakelsuchens auf seinem Blatte stehen, das er lange still betrachtete.

»Es ist das Zeichen Mong,« sagte er. »Dies Zeichen hat den Namen: Jugendtorheit. Oben der Berg, unten das Wasser, oben Gen, unten Kan. Unten am Berge entspringt die Quelle, Gleichnis der Jugend. Das Urteil aber lautet:


Jugendtorheit hat Gelingen.

Nicht ich suche den jungen Toren,

Der junge Tor sucht mich.

Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft.

Fragt er mehrmals, ist es Belästigung.

Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft.

Fördernd ist Beharrlichkeit.«


Knecht hatte vor aufmerksamer Spannung den Atem angehalten. In der entstehenden Stille seufzte er unwillkürlich tief auf. Er wagte nicht zu fragen. Aber er glaubte verstanden zu haben: der junge Tor war angekommen, er durfte bleiben. Noch während er von dem sublimen Marionettenspiel der Finger und Stäbchen eingefangen und bezaubert war, dem er so lange zugesehen hatte, das so überzeugend sinnvoll aussah, obwohl man seinen Sinn nicht zu erraten vermochte, nahm das Ergebnis von ihm Besitz. Das Orakel hatte gesprochen, es hatte zu seinen Gunsten entschieden.

Wir hätten die Episode nicht so eingehend geschildert, wenn nicht Knecht selbst sie seinen Freunden und Schülern des öftern mit einem gewissen Behagen erzählt hätte. Nun kehren wir zu unserm sachlichen Bericht zurück. Knecht blieb monatelang im Bambusgehölz und hat das Manipulieren mit den Schafgarbenstengeln beinahe ebenso vollkommen gelernt wie sein Lehrer. Dieser übte jeden Tag mit ihm eine Stunde Stäbchenzählen, führte ihn in die Grammatik und Symbolik der Orakelsprache ein, ließ ihn sich im Schreiben und Auswendiglernen der vierundsechzig Zeichen üben, las ihm aus den alten Kommentaren vor, erzählte ihm je und je an besonders guten Tagen eine Geschichte von Dschuang Dsie. Im übrigen lernte der Schüler den Garten pflegen, die Pinsel waschen, die Tusche reiben, er lernte auch Suppe und Tee kochen, Reisig sammeln, auf das Wetter achten und den chinesischen Kalender handhaben. Seine seltenen Versuche jedoch, auch das Glasperlenspiel und die Musik mit in ihre sparsamen Gespräche einzubeziehen, waren vollkommen ergebnislos, sie schienen entweder an einen Schwerhörigen gerichtet oder wurden mit einem nachsichtigen Lächeln beiseitegeschoben oder mit einem Spruch beantwortet, wie etwa:

»Dichte Wolken, kein Regen« oder »Der Edle ist ohne Makel.« Als sich jedoch Knecht aus Monteport ein kleines Klavichord schicken ließ und jeden Tag eine Stunde spielte, wurde kein Einspruch erhoben. Einmal gestand Knecht seinem Lehrer, er wünsche es dahin zu bringen, daß er imstande wäre, das System des I Ging dem Glasperlenspiel einzubauen. Der Ältere Bruder lachte. »Nur zu!« rief er, »du wirst ja sehen. Einen hübschen kleinen Bambusgarten in die Welt hineinsetzen, das kann man schon. Aber ob es dem Gärtner gelingen würde, die Welt in sein Bambusgehölz einzubauen, scheint mir doch fraglich.« – Genug davon. Wir erwähnen nur noch, daß der Ältere Bruder einige Jahre später, als Knecht in Waldzell schon eine sehr geachtete Person war, von diesem eingeladen wurde, einen Lehrauftrag dort anzunehmen, worauf er aber nicht antwortete.

Nachmals hat Josef Knecht die Monate seines Lebens im Bambusgehölz nicht nur als eine besonders glückliche Zeit, sondern auch des öftern als den »Beginn seines Erwachens« bezeichnet, wie denn von jener Zeit an das Bild vom Erwachen häufiger in seinen Äußerungen vorkommt, mit einer ähnlichen, doch nicht durchaus gleichen Bedeutung, wie er sie vorher dem Bild der Berufung beigelegt hatte. Daß das »Erwachen« eine jeweilige Erkenntnis seiner selbst und des Ortes, an dem er innerhalb der kastalischen und der menschlichen Ordnung überhaupt stand, zu bedeuten hat, ist zu vermuten, doch scheint uns der Akzent mehr und mehr auf die Selbsterkenntnis sich zu verschieben, in dem Sinn, daß Knecht vom »Beginn des Erwachens« an mehr und mehr sich einem Gefühl seiner besonderen, einmaligen Position und Bestimmung näherte, während ihm die Begriffe und die Kategorien der überkommenen allgemeinen und speziell kastalischen Hierarchie immer mehr zu relativen wurden.

Die chinesischen Studien waren mit dem Aufenthalt im Bambusgehölz noch längst nicht abgeschlossen, sie dauerten fort, und namentlich war Knecht bemüht um die Kenntnis der alten chinesischen Musik. Überall bei den altern chinesischen Schriftstellern stieß er auf das Lob der Musik als einer der Urquellen aller Ordnung, Sitte, Schönheit und Gesundheit, und diese weite und sittliche Auffassung der Musik war ihm ja durch den Musikmeister, der geradezu für ihre Verkörperung gelten konnte, von jeher vertraut. Ohne je den Grundplan seiner Studien aufzugeben, den wir aus jenem Briefe an Fritz Tegularius kennen, stieß er überall, wo er Wesentliches für sich witterte, das heißt, wo der beschrittene Weg des »Erwachens« für ihn weiterzuführen schien, großzügig und energisch vor. Eines der positiven Ergebnisse seiner Lehrzeit beim Älteren Bruder bestand darin, daß er von da an seine Scheu vor der Rückkehr nach Waldzell überwand, jedes Jahr nahm er dort an irgendeinem der höheren Kurse teil und war nun schon, ohne recht zu wissen, wie es dazu gekommen war, eine im Vicus Lusorum mit Interesse und Anerkennung betrachtete Persönlichkeit, gehörte jenem innersten und sensibelsten Organe des ganzen Spielwesens an, jener anonymen Gruppe von bewährten Spielern, in deren Händen eigentlich das jeweilige Schicksal oder doch mindestens die jeweilige Richtung und Mode des Spieles liegt. Diese Gruppe von Spielern, in welcher auch Beamte der Spielanstalten nicht fehlten, aber keineswegs dominierten, war hauptsächlich in einigen abgelegenen, stillen Räumen des Spielarchivs zu treffen, beschäftigt mit spielkritischen Studien, kämpfend um die Einziehung neuer Stoffgebiete in das Spiel oder um deren Fernhaltung, debattierend für oder gegen gewisse stets wechselnde Geschmacksrichtungen in der Form, in der äußern Handhabung, im Sportlichen des Glasperlenspiels; jeder hier heimisch Gewordene war ein Virtuose des Spiels, jeder jedem in seinen Talenten und Eigenheiten sehr genau bekannt, es war wie im Umkreis eines Ministeriums oder in einem aristokratischen Klub, wo die Herrschenden und Verantwortlichen von morgen und übermorgen einander treffen und kennenlernen. Ein gedämpfter, geschliffener Ton herrschte hier, man war ehrgeizig, ohne es zu zeigen, und war aufmerksam und kritisch bis zur Übertreibung. Diese Elite des Nachwuchses aus dem Vicus Lusorum galt für viele in Kastalien, und auch für einige draußen im Lande, als letzte Blüte der kastalischen Tradition, als Creme einer exklusiv aristokratischen Geistigkeit, und mancher Jüngling hat jahrelang voll Ehrgeiz davon geträumt, ihr einst anzugehören. Für andere wieder war dieser erlesene Kreis von Prätendenten auf die höheren Würden in der Hierarchie des Glasperlenspiels etwas Verhaßtes und Verkommenes, eine Clique von hochnäsigen Nichtstuern, geistreich verspielten Genies ohne Sinn für Leben und Wirklichkeit, eine anmaßende und im Grunde schmarotzerische Gesellschaft von Elegants und Strebern, deren Beruf und Lebensinhalt eine Spielerei, ein unfruchtbarer Selbstgenuß des Geistes sei.

Knecht stand beiden Auffassungen ohne Empfindlichkeit gegenüber; es bedeutete ihm nichts, ob er vom Studentenklatsch als Wundertier gepriesen oder als Emporkömmling und Streber bespöttelt werde. Was ihm wichtig war, waren nur seine Studien, welche nun alle in den Bezirk des Spieles einbezogen waren. Was ihm wichtig war, war außerdem vielleicht nur noch jene eine Frage, ob nämlich das Spiel wirklich das Höchste von Kastalien und wert sei, sein Leben daran zu setzen. Denn mit dem Sicheinspielen in immer verborgenere Geheimnisse der Spielgesetze und Spielmöglichkeiten, mit dem Heimischwerden in den bunten Labyrinthen des Archives und der komplexen Innenwelt der Spielsymbolik waren seine Zweifel nicht unbedingt zum Schweigen gebracht, er hatte es schon in sich erfahren, daß Glaube und Zweifel zusammengehören, daß sie einander bedingen wie Ein- und Ausatmen, und mit den Fortschritten in allen Gebieten des Spiel-Mikrokosmos waren natürlich auch sein Sehvermögen und seine Empfindlichkeit für alles Problematische des Spieles gewachsen. Eine kleine Weile hatte vielleicht das Idyll im Bambusgehölz ihn beruhigt oder auch irre gemacht; das Beispiel des Älteren Bruders hatte ihm gezeigt, daß es immerhin Auswege aus all dieser Problematik gab, man konnte zum Beispiel wie jener sich zum Chinesen machen, sich hinter einer Gartenhecke abschließen und in einer genügsam schönen Art von Vollkommenheit leben. Man konnte vielleicht auch Pythagoreer werden oder Mönch und Scholastiker – aber es war ein Ausweg, ein nur wenigen möglicher und erlaubter Verzicht auf Universalität, ein Verzicht auf das Heute und Morgen zugunsten eines Vollkommenen, aber Vergangenen, es war eine sublime Art von Flucht, und Knecht hatte beizeiten gespürt, daß dies sein Weg nicht sei. Aber welches war sein Weg? Außer seiner großen Begabung für die Musik und für das Glasperlenspiel wußte er noch andere Kräfte in sich vorhanden, eine gewisse innere Unabhängigkeit, einen hohen Eigensinn, der ihm zwar keineswegs das Dienen verbot oder erschwerte, der aber von ihm verlangte, daß er nur dem höchsten Herrn diene. Und diese Kraft, diese Unabhängigkeit, dieser Eigensinn in ihm war nicht nur ein Zug in seinem Bild, er war nicht nur nach innen gerichtet und wirksam, er wirkte auch nach außen.

Josef Knecht hatte schon in den Schuljahren, und namentlich während jener Periode seiner Rivalität mit Plinio Designori, des öftern die Erfahrung gemacht, daß manche Gleichaltrige, noch mehr aber Jüngere unter den Kameraden ihn nicht nur gern hatten und seine Freundschaft suchten, sondern dazu neigten, sich von ihm beherrschen zu lassen, ihn um Rat zu fragen, ihm Einfluß auf sich einzuräumen, und diese Erfahrung hatte sich seither des öftern wiederholt. Sie hatte eine höchst angenehme und schmeichelhafte Seite, diese Erfahrung, sie tat dem Ehrgeiz wohl und stärkte das Selbstbewußtsein. Aber sie hatte auch eine ganz andre Seite, eine finstre und furchtbare, denn schon die Neigung, auf jene nach Rat, Führung und Vorbild begierigen Kameraden in ihrer Schwäche, ihrem Mangel an Eigensinn und an Würde herabzusehen, ja die gelegentlich auftauchende heimliche Lust, sie (wenigstens in Gedanken) zu gefügigen Sklaven zu machen, hatte etwas Verbotenes und Häßliches an sich. Außerdem hatte er während der Zeit mit Plinio es zu schmecken bekommen, mit wieviel Verantwortung, Anstrengung und innerer Belastung jede glänzende und repräsentative Stellung bezahlt wird; er wußte auch, wie schwer der Musikmeister zuweilen an der seinen trug. Es war schön und hatte etwas Verlockendes, Macht über Menschen zu haben und vor andern hervorzuglänzen, aber es hatte auch eine Dämonie und Gefahr, und die Weltgeschichte bestand ja aus einer lückenlosen Reihe von Herrschern, Führern, Machern und Befehlshabern, welche mit unendlich seltenen Ausnahmen alle hübsch begonnen und übel geendet, welche alle, wenigstens angeblich, um des Guten willen nach der Macht gestrebt hatten, um nachher von der Macht besessen und betäubt zu werden und sie um ihrer selbst willen zu lieben. Es galt, jene ihm von Natur mitgegebene Macht dadurch zu heiligen und heilsam zu machen, daß er sie in den Dienst der Hierarchie stellte; dies war ihm stets selbstverständlich gewesen. Aber wo war die Stelle, an welcher seine Kräfte am besten dienen und Frucht tragen konnten? Die Fähigkeit, andere und namentlich Jüngere anzuziehen und mehr oder weniger zu beeinflussen, wäre für einen Offizier oder Politiker von Wert gewesen, aber hier in Kastalien war dafür kein Ort, hier waren diese Fähigkeiten eigentlich nur dem Lehrer und Erzieher dienlich, und gerade zu diesen Tätigkeiten fühlte Knecht wenig Lust in sich. Wenn es nach seinem Willen allein gegangen wäre, hätte er das Leben des unabhängigen Gelehrten jedem andern vorgezogen – oder aber das des Glasperlenspielers. Und damit stand er vor der alten, quälenden Frage: war dieses Spiel wirklich das Höchste, war es wirklich die Königin im geistigen Reich? War es nicht, trotz allem und allem, am Ende doch nur ein Spiel? War es einer vollen Hingabe, eines lebenslänglichen Dienstes wirklich wert? Dies berühmte Spiel hatte einst, vor Generationen, begonnen als eine Art von Ersatz für die Kunst, und es war, für viele wenigstens, im Begriffe, allmählich zu einer Art von Religion zu werden, einer Sammlungs-, Erhebungs- und Andachtsmöglichkeit für hochentwickelte Intelligenzen. Man sieht, es war der alte Wettstreit zwischen Ästhetisch und Ethisch, der sich in Knecht vollzog. Die nie vollkommen ausgesprochene, aber auch niemals ganz schweigende Frage war dieselbe, die da und dort in seinen Schülergedichten in Waldzell so dunkel und drohend aufgetaucht war – sie galt nicht nur dem Glasperlenspiel, sie galt Kastalien überhaupt.

Gerade zu einer Zeit, in der diese Problematik ihn stark bedrängte und er in Träumen des öftern Auseinandersetzungen mit Designori erlebte, begegnete es ihm einmal beim Gang über einen der geräumigen Höfe der Waldzeller Spielerstadt, daß hinter ihm von einer Stimme, die er nicht gleich erkannte und die ihm doch wohlbekannt scheinen wollte, laut sein Name gerufen wurde. Als er sich umwandte, sah er einen großgewachsenen jungen Mann, mit einem Bärtchen im Gesicht, der stürmisch auf ihn zulief. Es war Plinio, und in einem Andrang von Erinnerung und Zärtlichkeit begrüßte er ihn herzlich. Sie verabredeten sich auf den Abend. Plinio, der längst seine Studentenzeit an den weltlichen Hochschulen hinter sich hatte und schon Beamter war, hatte sich für eine kurze Ferienzeit als Gast zu einem Glasperlenspielkurs eingefunden, wie er auch schon vor einigen Jahren einen absolviert hatte. Das abendliche Beisammensein brachte die beiden Freunde jedoch bald in Verlegenheit. Plinio war hier ein Gastschüler, ein geduldeter Dilettant von draußen, der zwar mit großem Eifer seinem Kurse folgte, aber einem Kurse für Außenstehende und Liebhaber, die Distanz war allzu groß; er saß einem Fachmann und Eingeweihten gegenüber, der sogar noch durch seine Schonung und sein artiges Eingehen auf des Freundes Interesse für das Glasperlenspiel ihn fühlen lassen mußte, daß er hier kein Kollege, sondern ein Kind sei und an der Peripherie einer Wissenschaft sein Vergnügen fand, welche dem andern bis ins Innerste vertraut war. Knecht suchte das Gespräch vom Spiele abzulenken, er bat Plinio, ihm von seinem Amt, seiner Arbeit, seinem Leben dort draußen zu erzählen. Hier nun war Josef der Zurückgebliebene und das Kind, das ahnungslose Fragen stellte und vom andern schonend belehrt wurde. Plinio war Jurist, strebte nach politischem Einfluß, war im Begriff, sich mit der Tochter eines Parteiführers zu verloben, er sprach eine Sprache, welche Josef nur halb verstand, viele oft wiederkehrende Ausdrücke klangen ihm leer, wenigstens hatten sie für ihn keinen Inhalt. Es war immerhin zu merken, daß Plinio dort in seiner Welt etwas galt, Bescheid wußte und ehrgeizige Ziele hatte. Aber die zwei Welten, die sich einst vor zehn Jahren in den beiden Jünglingen neugierig und nicht ohne Sympathie berührt und befühlt hatten, klafften jetzt unvereinbar und fremd auseinander. Es war ja anzuerkennen, daß dieser Weltmann und Politiker eine gewisse Anhänglichkeit an Kastalien bewahrt hatte und schon zum zweitenmal eine Ferienzeit dem Glasperlenspiel opferte; aber am Ende, dachte Josef, war es doch nicht viel anders, als wenn er, Knecht, eines Tages sich in Plinios Amtsbezirk eingefunden und sich als neugieriger Gast einige Gerichtssitzungen, ein paar Fabriken oder Wohlfahrtseinrichtungen hätte zeigen lassen. Enttäuscht waren beide. Knecht fand seinen einstigen Freund vergröbert und veräußerlicht, Designori dagegen fand den Kameraden von damals recht hochmütig in seiner exklusiven Geistigkeit und Esoterik, ein richtiger von sich und seinem Sport entzückter »Nurnochgeist« schien er ihm geworden zu sein. Indessen gaben sie sich Mühe, und Designori wußte allerlei zu erzählen, von seinen Studien und Prüfungen, von Reisen nach England und in den Süden, von politischen Versammlungen, vom Parlament. Einmal äußerte er auch ein Wort, das wie Drohung oder Warnung klang, er sagte: »Du wirst sehen, es wird bald unruhige Zeiten geben, vielleicht Kriege, und es ist gar nicht unmöglich, daß eure ganze kastalische Existenz einst wieder ernstlich in Frage gestellt wird.« Josef nahm es nicht allzu ernst, er fragte nur: »Und du, Plinio? Wirst du für oder gegen Kastalien sein?«

»Ach,« meinte Plinio mit erzwungenem Lachen, »mich wird man kaum um meine Meinung fragen. Übrigens bin ich natürlich für den ungestörten Fortbestand von Kastalien, sonst wäre ich ja nicht hier. Immerhin, so bescheiden eure Ansprüche in materieller Hinsicht sind, kostet Kastalien das Land eine ganz hübsche Summe im Jahr.«

»Ja,« lachte Josef, »die Summe beträgt, wie man mir sagte, etwa den zehnten Teil von dem, was während des kriegerischen Jahrhunderts unser Land jährlich für Waffen und Munition ausgab.«

Sie trafen sich noch einige Male, und je näher das Ende von Plinios Kurs heranrückte, desto beflissener waren sie um Artigkeiten gegeneinander. Doch fühlten beide sich erleichtert, als die zwei oder drei Wochen um waren und Plinio abreiste.

Glasperlenspielmeister war damals Thomas von der Trave, ein berühmter, weitgereister und weltgewandter Mann, konziliant und vom artigsten Entgegenkommen gegen jedermann, der sich ihm näherte, in den Spielangelegenheiten aber von wachsamster und asketischer Strenge, ein großer Arbeiter, was jene nicht ahnten, die ihn nur von der repräsentativen Seite kannten, etwa im Festornat als Leiter der großen Spiele oder beim Empfang von Abordnungen aus dem Auslande. Man sagte ihm nach, er sei ein kühler, ja kalter Verstandesmensch, der zum Musischen nur in einem Höflichkeitsverhältnis stehe, und unter jungen und enthusiastischen Liebhabern des Glasperlenspiels hörte man gelegentlich eher absprechende Urteile über ihn – Fehlurteile, denn wenn er kein Enthusiast war und es in den großen öffentlichen Spielen eher vermied, große und erregende Themen anzurühren, so zeigen seine glänzend aufgebauten, formal unübertrefflichen Spiele doch für die Kenner eine nahe Vertrautheit mit den hintergründigen Problemen der Spielwelt.

Eines Tages ließ der Magister Ludi Josef Knecht zu sich laden, er empfing ihn in seiner Wohnung, in Haustracht, und fragte ihn, ob es ihm möglich und angenehm sein würde, in den nächsten Tagen immer um diese Tageszeit für eine halbe Stunde zu kommen. Knecht war noch nie allein bei ihm gewesen, er nahm den Befehl verwundert entgegen. Für heute legte ihm der Meister ein umfangreiches Schreiben vor, einen Vorschlag, der ihm von einem Organisten zugegangen war, einen der unzähligen Vorschläge, deren Prüfung zu den Arbeiten des obersten Spielamtes gehört. Es handelt sich dabei meistens um Anträge zur Aufnahme neuen Stoffes in das Archiv: einer hat zum Beispiel die Geschichte des Madrigals besonders genau durchgearbeitet und in der Stilentwicklung eine Kurve entdeckt, die er musikalisch und mathematisch aufzeichnet, damit sie in den Sprachschatz des Spieles aufgenommen werde. Einer hat das Latein des Julius Cäsar auf seine rhythmischen Eigenschaften hin untersucht und hat darin die auffallendsten Übereinstimmungen gefunden mit dem Ergebnis wohlbekannter Intervalluntersuchungen im byzantinischen Kirchengesang. Oder ein Schwärmer hat, wieder einmal, eine neue Kabbala zur Notenschrift des fünfzehnten Jahrhunderts erfunden, nicht zu reden von den stürmischen Briefen abwegiger Experimentatoren, welche etwa aus einer Vergleichung der Horoskope Goethes und Spinozas die erstaunlichsten Schlüsse zu ziehen wissen und oft sehr hübsch und einleuchtend aussehende mehrfarbige geometrische Zeichnungen beilegen. Knecht ging mit Eifer auf die heutige Vorlage ein, er selbst hatte ja Vorschläge dieser Art des öfteren schon im Kopfe gehabt, wenn auch nicht eingesandt; jeder aktive Glasperlenspieler träumt ja von einer beständigen Erweiterung der Spielgebiete, bis sie die ganze Welt umfassen, vielmehr, er vollzieht diese Erweiterungen in seiner Vorstellung und in seinen privaten Glasperlenspielübungen beständig und hegt für diejenigen, welche sich dabei zu bewähren scheinen, den Wunsch, sie mochten aus privaten auch zu offiziellen Erweiterungen werden. Die eigentliche, letzte Finesse des privaten Spielens hochentwickelter Spieler besteht ja eben darin, daß sie der ausdrückenden, namengebenden und formbildenden Kräfte der Spielgesetze so sehr Herr sind, um in ein beliebiges Spiel mit objektiven und historischen Werten auch ganz individuelle, einmalige Vorstellungen mit aufzunehmen. Ein geschätzter Botaniker hat davon einmal das drollige Wort gesagt: »Beim Glasperlenspielen muß alles möglich sein, auch daß etwa eine einzelne Pflanze sich mit Herrn Linne auf lateinisch unterhält.«

Knecht half also dem Magister bei der Analyse des vorliegenden Schemas; rasch war die halbe Stunde vergangen, andern Tages fand er sich pünktlich ein, und so kam er zwei Wochen lang täglich, um eine halbe Stunde allein mit dem Magister Ludi zu arbeiten. Schon in den ersten Tagen fiel es ihm auf, daß dieser ihn auch ganz minderwertige Eingaben, deren Unbrauchbarkeit sich dem ersten prüfenden Blick preisgab, trotzdem sorgfältig bis zu Ende kritisch durcharbeiten ließ; er wunderte sich, daß der Meister dafür Zeit habe, und allmählich begann er zu merken, daß es sich hier nicht darum handle, dem Meister Dienste zu tun und ein wenig Arbeit abzunehmen, sondern daß diese Arbeiten, obwohl an sich notwendig, doch vor allem eine Gelegenheit sein sollten, ihn selbst, den jungen Adepten, in artigster Form höchst sorgfältig zu prüfen. Es geschah etwas mit ihm, etwas Ähnliches wie einst in der Knabenzeit beim Erscheinen des Musikmeisters, er merkte es nun plötzlich auch am Verhalten seiner Kameraden, es wurde scheuer, distanzierter, manchmal ironisch-ehrerbietig; es bereitete sich etwas vor, er spürte es, nur war es weniger beglückend als damals.

Nach der letzten ihrer Sitzungen sagte der Glasperlenspielmeister mit seiner etwas hohen, höflichen Stimme in seiner sehr genau akzentuierenden Sprache ohne jede Feierlichkeit: »Es ist gut, du brauchst morgen nicht mehr zu kommen, unser Geschäft ist für den Augenblick beendet, bald werde ich dich allerdings wieder bemühen müssen. Besten Dank für deine Mitarbeit, sie ist mir von Wert gewesen. Übrigens bin ich der Meinung, du solltest jetzt deine Aufnahme in den Orden beantragen; auf Schwierigkeiten wirst du nicht stoßen, ich habe die Ordensbehörde schon verständigt. Du bist doch einverstanden?« Dann fügte er aufstehend hinzu: »Noch ein Wort nebenbei: vermutlich neigst auch du, wie die meisten guten Glasperlenspieler es in der Jugend tun, gelegentlich dazu, unser Spiel als eine Art von Instrument für das Philosophieren zu gebrauchen. Meine Worte allein werden dich davon nicht heilen, ich sage sie dennoch: Philosophieren soll man nur mit den legitimen Mitteln, denen der Philosophie. Unser Spiel aber ist weder Philosophie, noch ist es Religion, es ist eine eigene Disziplin und im Charakter am meisten der Kunst verwandt, es ist eine Kunst sui generis. Man kommt weiter, wenn man sich daran hält, als wenn man es erst nach hundert Mißerfolgen einsieht. Der Philosoph Kant – man kennt ihn wenig mehr, aber er war ein Kopf von Rang – hat vom theologischen Philosophieren gesagt, es sei »eine Zauberlaterne von Hirngespinsten.« Dazu dürfen wir unser Glasperlenspiel nicht machen.«

Josef war überrascht, und diese letzte Mahnung überhörte er beinahe vor verhaltener Erregung. Blitzschnell durchfuhr es ihn: die Worte bedeuteten das Ende seiner Freiheit, den Abschluß seiner Studienzeit, die Aufnahme in den Orden und seine baldige Einreihung in die Hierarchie. Er dankte mit tiefer Verneigung und ging alsbald zur Waldzeller Ordenskanzlei, wo er sich in der Tat schon in die Liste der neu Aufzunehmenden eingetragen fand. Er kannte, wie alle Studenten seiner Stufe, die Ordensregeln schon ziemlich genau und erinnerte sich der Bestimmung, daß jedes Ordensmitglied, das eine amtliche Stellung des höhern Ranges innehatte, zur Vollziehung der Aufnahme befugt war. So sprach er die Bitte aus, vom Musikmeister die Zeremonie vollziehen zu lassen, bekam einen Ausweis und kurzen Urlaub und reiste am nächsten Tage zu seinem Gönner und Freunde nach Monteport. Er fand den ehrwürdigen alten Herrn etwas leidend, wurde jedoch mit Freude willkommen geheißen.

»Du kommst wie gerufen,« sagte der Alte. »In Bälde hätte ich die Befugnis nicht mehr besessen, dich als jungen Bruder in den Orden aufzunehmen. Ich bin im Begriff, mein Amt niederzulegen, meine Entlassung ist schon bewilligt.«

Die Zeremonie selbst war einfach. Am folgenden Tage lud der Musikmeister, wie es die Statuten verlangten, zwei Ordensbrüder als Zeugen ein, vorher hatte Knecht einen Satz der Ordensregel als Aufgabe für eine Meditationsübung bekommen. Es war der Satz: »Beruft dich die hohe Behörde in ein Amt, so wisse: jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je höher das Amt, desto tiefer die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür.« Nun versammelte man sich in der Musikzelle des Magisters, derselben, in welcher Knecht einst seine erste Einführung in die Kunst des Meditierens erfahren hatte; der Meister forderte den Initianten auf, zur Feier der Stunde ein Choralvorspiel von Bach zu spielen, darauf las einer der Zeugen die gekürzte Fassung der Ordensregel vor, und der Musikmeister selbst stellte die rituellen Fragen und nahm dem jungen Freunde die Gelübde ab. Er schenkte ihm noch eine Stunde, sie saßen im Garten, und der Meister gab ihm freundliche Weisungen, in welchem Sinne er die Ordensregel sich zu eigen machen und nach ihr leben solle. »Es ist schön,« sagte er, »daß du in dem Augenblick, wo ich abtrete, in die Lücke trittst, es ist, als hätte ich einen Sohn, der künftig statt meiner seinen Mann stellen wird.« Und als er Josefs Gesicht traurig werden sah: »Nun, sei nicht betrübt, auch ich bin es nicht. Ich bin recht müde und freue mich auf die Muße, die ich noch genießen will und an deren Genuß du recht oft teilhaben wirst, so hoffe ich. Und wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, dann nenne mich du. Ich konnte dir das nicht anbieten, solange ich im Amt war.« Er entließ ihn mit dem herzgewinnenden Lächeln, das Josef nun schon seit zwanzig Jahren kannte.

Knecht kehrte rasch nach Waldzell zurück, er hatte nur drei Tage Urlaub von dort erhalten. Kaum war er zurück, so wurde er zum Magister Ludi gerufen, der ihn mit einer kollegialen Munterkeit empfing und zur Aufnahme in den Orden beglückwünschte. »Um uns vollends zu Kollegen und Arbeitskameraden zu machen,« fuhr er fort, »fehlt nur noch deine Einreihung an einen bestimmten Platz in unsrem Bau.« Josef erschrak ein wenig. Nun also sollte er seine Freiheit verlieren. »Ach,« sagte er schüchtern, »ich hoffe, man werde mich an irgendeinem bescheidenen Platz brauchen können. Doch hatte ich, um es Euch zu gestehen, allerdings gehofft, noch eine Weile frei studieren zu können.« Der Magister blickte ihm mit seinem klugen, leicht ironischen Lächeln fest in die Augen. »Eine Weile, sagst du, aber wie lang ist das?« Knecht lachte verlegen. »Ich weiß es wirklich nicht.« – »Das dachte ich mir,« stimmte der Meister zu, »du sprichst noch die Studentensprache und denkst noch in Studentenbegriffen, Josef Knecht, und das ist in Ordnung, aber es wird schon sehr bald nicht mehr in Ordnung sein, denn wir brauchen dich. Du weißt, daß du auch später, ja noch in den höchsten Ämtern unsrer Behörde, Urlaube zu Studienzwecken bekommen kannst, wenn du die Behörde vom Wert dieser Studien zu überzeugen vermagst; mein Vorgänger und Lehrer hat zum Beispiel noch als Magister Ludi und alter Mann ein volles Jahr Urlaub für seine Londoner Archivstudien erbeten und bekommen. Aber er bekam seinen Urlaub nicht für »eine Weile,« sondern für eine bestimmte Zahl von Monaten, Wochen, Tagen. Damit wirst du künftig rechnen müssen. Und jetzt habe ich dir einen Vorschlag zu machen; wir brauchen einen verantwortlichen Mann, den man außerhalb unsres Kreises noch nicht kennt, für eine besondere Mission.«

Es handelte sich um folgenden Auftrag: das Benediktinerkloster Mariafels, eine der ältesten Bildungsstätten des Landes, das mit Kastalien freundschaftliche Beziehungen unterhielt und namentlich seit Jahrzehnten dem Glasperlenspiel zugetan war, hatte gebeten, ihm für einige Zeit einen jungen Lehrer zur Einführung in das Spiel wie auch zur Anregung der paar fortgeschrittenern Spieler des Klosters zu überlassen, und die Wahl des Magisters war auf Josef Knecht gefallen. Darum hatte er ihn so behutsam geprüft, darum seinen Eintritt in den Orden beschleunigt.