"Kanonenfutter - Leutnant Bolithos Handstreich in Rio" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)

II Bruch mit der Vergangenheit

Bolitho kletterte das Fallreep an der Bordwand der Destiny hoch und lüpfte seinen Hut kurz zum Achterdeck[4] hin. Die dicken Wolken und der Nebel waren verschwunden, und die Häuser von Plymouth jenseits des Homoaze schienen sich im warmen Mittagslicht zu sonnen.

Er war müde und steif von dem langen Marsch, außerdem verschmutzt vom Nachtquartier in Scheunen oder bescheidenen Gasthöfen. Der Anblick seiner sechs Rekruten, die vom Wachtmeister gemustert und dann nach vorn gebracht wurden, trug wenig dazu bei, seine Stimmung zu heben. Der sechste Freiwillige war erst vor knapp einer Stunde zu ihnen gestoßen, kurz ehe sie ihr Boot erreichten: ein sauber gekleideter, keineswegs wie ein Matrose aussehender Mann von etwa dreißig, der angab, Apothekergehilfe zu sein. Er wolle eine lange Seereise machen, um Lebenserfahrung zu sammeln und zu sich selber zu kommen, behauptete er. Seine Geschichte klang ebenso unwahrscheinlich wie die der beiden Knechte, aber Bolitho war zu müde, um sich lange Gedanken darüber zu machen.

«Ah, Sie sind also zurück, Mr. Bolitho!»

Der Erste Offizier stand an der Querreling des Achterdecks, seine schlanke Gestalt hob sich nur als Silhouette vom blassen Winterhimmel ab. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und hatte die Neuankömmlinge offenbar schon die ganze Zeit, seit die Barkasse längsseit gekommen war, beobachtet. Knapp fügte er hinzu:»Kommen Sie bitte gleich nach achtern.»

Bolitho stieg zur Backbord-Laufbrücke hinauf und begab sich zum Achterdeck. Sein Gefährte der letzten Tage, Stückmeistersmaat Little, strebte einem Niedergang zu, wahrscheinlich, um sich mit seinen Freunden einen» kräftigen Schluck «zu genehmigen. Im Nu war er unter Deck verschwunden und damit in seiner eigenen Welt. Bolitho fühlte sich plötzlich fast so fremd wie vor drei Tagen, als er das Deck zum erstenmal betreten hatte.

Er stand vor dem Ersten Offizier und legte grüßend die Hand an den Hut. Palliser sah ausgeruht und gepflegt aus, wogegen sich Bolitho noch mehr wie ein Landstreicher vorkam.

Bolitho meldete:»Sechs Rekruten, Sir. Der große Bursche war Boxer und könnte ein wertvoller Zuwachs werden. Der als letzter an Bord kam, hat für einen Apotheker in Plymouth gearbeitet. «Sein Bericht klang ihm selbst schwerfällig. Palliser hatte sich nicht gerührt, und auf dem Achterdeck war es ungewöhnlich still. Bolitho schloß:»Ich habe mein Bestes getan, Sir.»

Palliser zog seine Uhr heraus.»Gut. Während Sie weg waren, ist der Kommandant an Bord gekommen. Er wollte Sie sehen, sobald Sie zurück sind.»

Bolitho starrte ihn an. Er hatte ein Donnerwetter erwartet. Sechs statt zwanzig, und darunter einer, der nie ein Seemann werden würde!

Palliser ließ seinen Uhrdeckel zuschnappen und sah Bolitho kühl an.»Hat der lange Landaufenthalt Ihr Gehör beeinträchtigt? Der Kommandant will Sie sehen. Das heißt an Bord dieses Schiffes nicht gt;nachherlt; oder gt;gleichlt;, sondern in dem Augenblick, in dem der Kommandant diesen Gedanken ausgesprochen hat.»

Bolitho blickte entschuldigend auf seine schmutzigen Strümpfe und Schuhe.»Tut mir leid, Sir, aber ich dachte, Sie hätten befohlen…»

Palliser schaute schon woanders hin; er beobachtete einige Leute, die auf dem Vorschiff arbeiteten.»Ich hatte Ihnen befohlen, zwanzig Mann zu bringen. Hätte ich sechs Mann verlangt, wie viele hätten Sie dann wohl gebracht? Zwei? Überhaupt keinen?«Überraschenderweise lächelte er plötzlich.»Sechs, das ist schon ausgezeichnet. Nun aber ab zum Kommandanten. Es gibt Schweinepastete zu Mittag, also beeilen Sie sich, sonst ist nachher nichts übrig. «Er wandte sich energisch um und rief:»Mr. Slade, was machen diese Faulpelze da eigentlich? Verdammt noch mal!»

Bolitho eilte leicht benommen den Niedergang hinunter und durchs Achterschiff. Gesichter wurden im Halblicht zwischen den Decks undeutlich sichtbar, Gespräche verstummten, als er vorbeihastete. Der neue Offizier geht zum Kommandanten. Wie mag er sein?

Zu lasch — oder zu hart?

Ein Seesoldat stand, Muskete bei Fuß, als Ehrenposten vor der Kajüte. Sein Oberkörper schwankte leicht im Rhythmus des an seiner Ankertrosse zerrenden Schiffes. Seine Augen funkelten im Lichtschein der Laterne, die an einem Decksbalken über ihm hin und her schaukelte. Sie brannte Tag und Nacht, wenn der Kommandant an Bord war.

Bolitho bemühte sich, wenigstens sein Halstuch etwas zurechtzu-zupfen und die rebellische Haartolle aus dem Gesicht zu streichen. Der Posten gab ihm dazu genau fünf Sekunden Zeit, dann stieß er kurz mit der Muskete aufs Deck.»Der Dritte Offizier, Sir!»

Der Türvorhang öffnete sich, und ein struppiger Mann in schwarzer Jacke, wahrscheinlich der Schreiber des Kommandanten, warf einen ungeduldigen, auffordernden Blick heraus: wie ein Lehrer, der einen zu spät kommenden Schüler hereinruft.

Bolitho preßte seinen Hut fester unter den Arm und betrat die Kajüte. Im Vergleich zum übrigen Schiff war sie geräumig. Ein zweiter Vorhang trennte den hintersten Teil vom Speiseraum und der danebenliegenden Schlafkammer. Die schrägen Heckfenster, welche die ganze Breite des Achterschiffs einnahmen, leuchteten warm in der Sonne, während Decksbalken und Möbelstücke in dem vom Wasser reflektierten Licht schimmerten.

Kapitän Henry Vere Dumaresq hatte offenbar an einem Fenster gestanden und aufs Wasser hinuntergeschaut: er drehte sich ungewöhnlich behende um, als Bolitho den Raum betrat.

Bolitho bemühte sich, ruhig und entspannt zu wirken, aber es gelang ihm nicht. Solch einen Menschen wie den Kommandanten hatte er noch nie gesehen. Sein Körper war breit und untersetzt, und der Kopf saß so dicht auf den Schultern, als hätte er keinen Hals; er wirkte genau wie der übrige Mann: mächtig. Alles an Dumaresq machte den Eindruck ungewöhnlicher Kraft. Little hatte gesagt, der Kommandant sei erst achtundzwanzig, aber er sah so alterslos aus, als ob er sich nie verändert hätte und nie verändern würde.

Er ging Bolitho entgegen, um ihn zu begrüßen, und setzte dabei die Füße wie mit bewußt gebändigter Kraft auf. Bolithos Blick fiel auf seine Beine, die durch teure weiße Strümpfe auffielen. Die Waden schienen so dick zu sein wie anderer Leute Oberschenkel.

«Sie sehen etwas ramponiert aus, Mr. Bolitho. «Dumaresq hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme, mit der er bei Sturm an Deck sicher gut durchdrang; doch Bolitho vermutete, daß sie auch Wärme und Sympathie ausdrücken konnte.

Er sagte verlegen:»Aye, Sir. Ich habe. Ich war mit dem Rekrutierungskommando unterwegs.»

Dumaresq wies mit dem Kopf auf einen Stuhl.»Setzen Sie sich. «Er hob die Stimme:»Rotwein!»

Fast augenblicklich erschien ein Steward und goß Wein in zwei schön geschliffene Gläser. Danach zog er sich genauso unauffällig zurück.

Dumaresq setzte sich — kaum einen Meter entfernt — Bolitho gegenüber. Sein Auftreten und seine Energie wirkten einschüchternd. Bo-litho verglich ihn mit seinem letzten Kommandanten. Auf dem riesigen Vierundsiebzig-Kanonen-Schiff war der Kommandant immer ungeheuer weit weg gewesen, fern vom Geschehen in Offiziersmesse und Kadettenlogis. Nur in kritischen Lagen oder bei zeremoniellen Anlässen hatte er seine Anwesenheit spüren lassen, blieb aber auch dann immer auf Distanz.

Dumaresq sagte:»Mein Vater hatte die Ehre, vor einigen Jahren unter dem Ihren dienen zu dürfen. Wie geht es ihm?»

Bolitho dachte an Mutter und Schwester in dem alten Haus in Fal-mouth: wie sie auf die Heimkehr von Kapitän James Bolitho warteten; wie seine Mutter die Tage zählte und vielleicht auch davor bangte, daß er sich sehr verändert hatte. James Bolitho hatte in Indien einen Arm verloren, und als sein Schiff außer Dienst gestellt wurde, hatte man ihn auf unbestimmte Zeit auf die Reserveliste gesetzt.

Bolitho sagte:»Er müßte jetzt wieder zu Hause sein, Sir. Aber da er einen Arm verloren hat und damit die Aussicht, im Dienst des Königs zu bleiben, weiß ich nicht, wie es mit ihm weitergehen wird. «Er brach ab, erschrocken darüber, daß er seine Gedanken offen ausgesprochen hatte.

Aber Dumaresq deutete nur auf das Glas.»Trinken Sie, Mr. Bolitho, und sprechen Sie sich aus. Mir ist wichtiger, daß ich erfahre, was Sie denken, als daß Sie über meine Reaktion nachdenken. «Der Satz schien ihn selber zu belustigen.»Es geht uns allen ähnlich. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, daß wir dies hier haben. «Sein großer Kopf drehte sich nach links und rechts, als er die Blicke durch die Kajüte schweifen ließ. Er sprach vom Schiff, von seinem Schiff, das er offenbar mehr als alles andere liebte.

Bolitho sagte:»Ein schönes Schiff, Sir. Es ist eine Auszeichnung für mich, hierher kommandiert worden zu sein.»

«Ja.»

Dumaresq beugte sich vor, um die Gläser neu zu füllen. Wieder bewegte er sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und setzte seine Kräfte wie seine Stimme nur sparsam ein.

Er sagte:»Ich habe von Ihrem großen Kummer gehört. «Er hob eine Hand.»Nein, nicht von jemandem an Bord. Ich habe eigene Quellen, denn ich will meine Offiziere ebensogut kennen wie mein Schiff. Wir werden in Kürze auf eine Reise gehen, die eine Menge einbringen, aber auch nutzlos ausgehen kann. Auf jeden Fall wird sie nicht leicht. Wir müssen alle traurigen Erinnerungen hinter uns lassen, ohne sie deswegen zu vergessen. Dies ist ein kleines Schiff, jeder Mann an Bord muß seinen Platz voll ausfüllen. Sie haben unter einigen hervorragenden Kommandanten gedient und dabei sicherlich viel gelernt. Doch auf einer Fregatte ist manches anders. Hier gibt es nur wenige Leute, die sich nicht voll einsetzen müssen, und ein Offizier gehört bestimmt nicht zu ihnen. Sie werden anfangs vielleicht Fehler machen, die werde ich milde beurteilen; aber wenn Sie Ihre Autorität mißbrauchen, werde ich gnadenlos dazwischenfahren. Vermeiden Sie es, bestimmte Leute zu bevorzugen, denn die würden Sie eines Tages ausnutzen.»

Er lachte in sich hinein, als er Bolithos ernstes Gesicht sah.»Leutnant zu sein ist schwerer, als es zu werden. Denken Sie immer daran: Die Leute schauen auf Sie, wenn Schwierigkeiten auftreten; Sie müssen dann so handeln, wie es Ihnen richtig scheint. Ihr bisheriges Leben hat in dem Augenblick aufgehört, als Sie das Kadettenlogis verließen. Auf einem kleinen Schiff ist kein Platz für Einzelgänger mit Anpassungsschwierigkeiten. Sie müssen ein Teil des Ganzen werden, verstehen Sie?»

Bolitho saß wie gebannt auf seiner Stuhlkante. Dieser seltsame Mann hielt ihn mit dem zwingenden Blick seiner weit auseinanderstehenden Augen wie in einem Schraubstock gefangen.

Bolitho nickte.»Ja, Sir, ich verstehe.»

Dumaresqs Blick entspannte sich, als vorn im Schiff die Glocke zweimal angeschlagen wurde.

«Gehen Sie jetzt zum Essen. Ich bin sicher, daß Sie Hunger haben. Mr. Pallisers schlaue Methoden, zu neuen Leuten zu kommen, produzieren gewöhnlich Appetit, wenn schon nicht mehr.»

Als Bolitho aufstand, fügte Dumaresq ruhig hinzu:»Diese Reise ist für viele Leute sehr wichtig. Unsere Kadetten haben meist einflußreiche Eltern, die wünschen, daß ihre Sprößlinge sich auszeichnen und vorwärtskommen — in einer Zeit, da der größte Teil der Flotte aufgelegt ist und langsam vermodert. Unsere Fachkräfte, die Deckoffiziere, sind ausgezeichnet, und wir haben einen guten Stamm erstklassiger Seeleute. Die Neuen müssen sich anstrengen, da mitzuhalten. Ein letzter Punkt, Mr. Bolitho, und ich hoffe, mich hierin nicht wiederholen zu müssen: Auf der Destiny steht Loyalität obenan. Loyalität mir gegenüber, Treue zum Schiff und zu Seiner Britischen Majestät. In dieser Reihenfolge!»

Bolitho fand sich — noch immer verwirrt von dem kurzen Gespräch — außerhalb des Türvorhangs wieder. Poad tauchte auf und fragte aufgeregt:»Alles erledigt, Sir? Ich habe Ihre Sachen an einem sicheren Platz verstaut, wie befohlen. «Er lief ihm zur Offiziersmesse voran.»Den Beginn der Mahlzeit habe ich so lange hinausgeschoben, bis Sie fertig waren, Sir. «Bolitho betrat die Messe, die — im Gegensatz zum letztenmal — voller Männner war, die sich laut unterhielten.

Palliser stand auf und sagte in den Lärm hinein:»Meine Herren, unser neuer Kamerad.»

Bolitho sah, daß Rhodes ihn anlächelte, und war froh über dieses freundliche Gesicht. Er schüttelte Hände und murmelte etwas, das ihm angebracht schien. Obersteuermann Julius Gulliver war genauso, wie ihn Rhodes beschrieben hatte: unfrei, gezwungen, irgendwie hinterhältig. Leutnant John Colpoys, der die Seesoldaten an Bord befehligte, errötete leicht, als er Bolitho die Hand schüttelte und etwas affektiert sagte:»Sehr erfreut, mein Lieber.»

Der Schiffsarzt wirkte rund und gemütlich wie eine aufgeplusterte Eule und roch nach Schnaps und Tabak. Und da war noch Samuel Codd, der Zahlmeister, ein — wie Bolitho schien — ungewöhnlich heiterer Vertreter seines Berufsstandes. Schönheit zeichnete ihn nicht aus, denn er hatte sehr große Schneidezähne im Oberkiefer und ein so kleines, fliehendes Kinn, daß die obere Hälfte seines Gesichts ständig die untere zu vertilgen schien.

Colpoys sagte:»Hoffentlich können Sie Karten spielen.»

Rhodes lächelte.»Probieren Sie's doch mal mit ihm. «Zu Bolitho sagte er:»Er wird Ihnen das Fell über die Ohren ziehen, wenn Sie sich mit ihm einlassen.»

Bolitho setzte sich neben dem Arzt an den Tisch. Dieser holte einen goldgefaßten Kneifer heraus, der zu seinen roten Pausbacken wenig paßte, und stellte fest:»Pastete vom Schwein. Ein sicheres Zeichen dafür, daß wir bald auslaufen. Danach«, er warf dem Zahlmeister einen Blick zu,»sind wir wieder auf Samuels Vorräte angewiesen, von denen die meisten schon vor zwanzig Jahren als ungenießbar erklärt wurden.»

Gläser klirrten, und die Luft wurde schwer von Dampf und Essensdüften. Bolitho musterte die Tischrunde. So also sahen Offiziere aus, wenn sie sich außer Sichtweite ihrer Untergebenen befanden.

Rhodes flüsterte:»Was halten Sie von ihm?»

«Vom Kommandanten?«Bolitho versuchte, seine Gedanken zu ordnen.»Ich bin beeindruckt. Er ist so, so.»

Rhodes winkte Poad, ihm die Karaffe mit Wein zu bringen.»Gefährlich?«Bolitho lächelte.»Anders. Aber etwas Angst macht er einem schon.»

Palliser unterbrach ihre Unterhaltung.»Wenn Sie gegessen haben, machen Sie sich mit dem Schiff vertraut, Richard. Vom Kiel bis zum Flaggenknopf, vom Klüverbaum bis zur Hecklaterne. Wenn Ihnen etwas unklar ist, fragen Sie mich. Machen Sie sich möglichst schon mit den Deckoffizieren und den jungen Unteroffizieren bekannt, und prägen Sie sich die Namen Ihrer eigenen Division ein. «Er zwinkerte dem Leutnant der Seesoldaten zu, aber nicht schnell genug, so daß Bolitho es noch bemerkte.»Ich bin sicher, Mr. Bolitho wird alles daransetzen, daß seine Leute es bald mit denen aufnehmen können, die er uns heute so erfolgreich an Bord gebracht hat.»

Bolitho sah auf den Teller nieder, den ein Steward vor ihn hingestellt hatte. Das heißt: Von dem Teller war wenig zu sehen, da er bis zum Rand mit Essen überhäuft war. Palliser hatte ihn also mit seinem Vornamen angesprochen und sogar einen Witz über seine Freiwilligen gemacht. Demnach waren das die wirklichen Menschen hinter der starren Haltung und den Fesseln der Rangordnung draußen an Deck. Er hob den Blick und ließ ihn über den Tisch wandern. Wenn man ihm Zeit ließ, würde er sich unter ihnen wohlfühlen, dachte er.

Rhodes sagte zwischen zwei Bissen:»Ich habe gehört, daß wir mit der Montagstide auslaufen. Ein Bursche der Admiralität war gestern an Bord. Er weiß gewöhnlich Bescheid.»

Bolitho versuchte sich zu erinnern, was der Kommandant gesagt hatte: Loyalität steht obenan. Dumaresq hatte fast die letzten Worte seiner Mutter wiederholt: Die See ist kein Ort für Träumer.

Füße trappelten über ihren Köpfen. Bolitho hörte, wie weitere schwere Netze mit Vorräten zum Gezwitscher einer Bootsmannsmaatenpfeife an Bord gehievt wurden.

Bald würden sie weit weg vom Land sein, weg von den schmerzlichen Erinnerungen, den Gedanken an das, was er verloren hatte. Ja, es war gut, wieder unterwegs zu sein.

Wie Leutnant Rhodes vorausgesagt hatte, machte Seiner Majestät Fregatte Destiny am Morgen des nächsten Montag klar zum Ankerlichten. Die letzten Tage waren für Bolitho so schnell vergangen, daß er hoffte, auf See würde es an Bord etwas ruhiger zugehen als zuletzt im Hafen. Palliser hatte ihn jede Wache in Trab gehalten. Der Erste Offizier gab sich nie mit dem äußeren Schein zufrieden, sondern legte Wert darauf, daß Bolitho ihm den Sinn seiner Arbeit erklärte, seine Meinung äußerte und Vorschläge — zum Beispiel über den Austausch von Leuten seiner Wache — machte. So schnell er mit sarkastischen Bemerkungen zur Hand war, so flink war Palliser auch darin, die Gedanken eines Untergebenen in die Tat umzusetzen.

Bolitho dachte oft daran, was Rhodes über den Ersten Offizier gesagt hatte:»Hinter einem eigenen Kommando her. «Palliser würde bestimmt sein Bestes für das Schiff geben und ebenso entschieden jedes Versagen bekämpfen, dessen Folgen ihm angelastet werden könnten.

Bolitho hatte sich eifrig bemüht, die Männer, mit denen er direkt zusammenarbeiten mußte, kennenzulernen. Anders als auf den gewaltigen Linienschiffen, hing das Überleben einer Fregatte nicht von der Dicke ihrer hölzernen Bordwände, sondern von ihrer Beweglichkeit ab. Die Besatzung war in Divisionen eingeteilt, weil sie so am besten eingesetzt werden konnte.

Der Fockmast mit seinen Rahsegeln — zuunterst Fock, darüber Mars, Bram und Royal; dazu die Stagsegel: Klüver und Außenklüver — war entscheidend für schnelle Halsemanöver, aber auch bei der Wende, wenn das Schiff mit dem Bug durch den Wind ging. Wichtig war er auch im Gefecht, wenn der Kommandant plötzlich abfallen wollte, um das empfindliche Heck des Gegners mit einer Breitseite zu beharken.

Am achteren Ende des Schiffes standen Steuermann und Rudergänger und nutzten jeden Mast, jeden Zoll Segel, um das Schiff mit den sparsamsten Kommandos auf Kurs zu halten.

Bolitho hatte die Aufsicht am Großmast. Als höchster der drei Masten war er in Abschnitte unterteilt, ebenso die Männer, die an ihm auf enterten, ohne Rücksicht darauf, was sie bei schlechtem Wetter dort oben erwartete.

Diese flinken Toppsgasten waren die Elite der Mannschaft, während an Deck zur Bedienung der Fallen, Schoten, Halsen und Brassen die weniger gewandten Leute abgestellt waren, die neu rekrutierten oder älteren Matrosen, denen man die Arbeit mit der vom Salzwasser steifen Leinwand, einhundert Fuß und mehr über Deck, noch nicht oder nicht mehr zumuten konnte.

Rhodes befehligte am Fockmast, während ein Steuermannsmaat den Besanmast unter sich hatte, der wegen seiner geringeren Segelzahl am leichtesten zu bedienen war und zur Handhabung seines Gaffelsegels vor allem Körperkräfte brauchte. Die Wache der Seesoldaten auf dem Achterdeck und eine Handvoll Matrosen genügten, um mit dem Besan fertig zu werden.

Bolitho gab sich große Mühe, mit dem Oberbootsmann, einem furchterregenden Mann namens Timbrell, gut auszukommen. Tim-brell hatte ein von Wind und Wetter gezeichnetes Gesicht und war wie ein antiker Krieger über und über mit Narben bedeckt. Er war der Erste unter den Seeleuten. Sobald sie frei von Land waren, trat Tim-brell nach Anweisung des Ersten Offiziers in Aktion. Er beseitigte Sturmschäden, besserte Stengen und Rahen aus, erneuerte — wo es erforderlich war — den Farbanstrich und sorgte dafür, daß alle Fugen dicht, das stehende und laufende Gut in Ordnung waren, und hatte noch ein Auge auf die Fachleute, die sich mit diesen verschiedenen Arbeiten beschäftigten: Schiffszimmermann, Segelmacher und viele andere. Timbrell war Seemann bis in die Fingerspitzen und konnte für einen jungen Offizier ein guter Freund sein, aber auch ein schlimmer Feind, wenn er falsch behandelt wurde.

An diesem speziellen Montagmorgen ging der Betrieb auf der Destiny noch vor dem ersten Tageslicht los. Der Koch hatte eine schnelle Mahlzeit bereitet, als ob er dafür verantwortlich sei, daß sie bald in Fahrt kamen.

Listen wurden noch einmal überprüft, Namen aufgerufen, Männer auf ihre Plätze geschickt. Für eine Landratte hätte alles wie ein wildes Durcheinander ausgesehen: das viele Tauwerk, das sich an Deck schlängelte, die Männer auf den großen Rahen, welche die Segel, die über Nacht durch unerwarteten Frost hartgefroren waren, losmachten.

Bolitho hatte den Kommandanten mehrmals an Deck kommen sehen. Er redete mit Palliser oder besprach etwas mit Gulliver, dem Obersteuermann. Falls er erregt war, so zeigte er es jedenfalls nicht, sondern marschierte in seiner festen Gangart über das Achterdeck, als denke er an ganz etwas anderes als an sein Schiff.

Die Offiziere und Deckoffiziere hatten ihre schon etwas abgetragenen See-Uniformen angezogen, wogegen sich Bolitho und die meisten jungen Kadetten in ihren neuen Jacken mit den blitzenden Knöpfen ganz fremd vorkamen.

Bolitho hatte mit der Post aus Falmouth zwei Briefe von seiner Mutter bekommen. Sie stand vor seinem geistigen Auge, wie er sie zuletzt gesehen hatte: zart und liebreizend,»eine Lady, die nie alt wird«, sagten einige Leute von ihr; das Mädchen aus Schottland, das Kapitän James Bolitho seit ihrem ersten Zusammentreffen bezaubert hatte. Sie war eigentlich zu schwach, um die Last der Bewirtschaftung des großen Hauses und des Gutes allein zu tragen. Seit Richards älterer Bruder Hugh wieder an Bord einer Fregatte diente, weit weg auf See, nachdem er einige Zeit den Zollkutter Avenger in Falmouth geführt hatte,[5] und so lange sein Vater noch nicht wieder zu Hause war, würde ihr die Last doppelt schwer werden. Richards inzwischen erwachsene Schwester Felicity hatte ihr Elternhaus verlassen, um einen Armeeoffizier zu heiraten, während auch die Jüngste der Familie, Nancy, wohl bald ans Heiraten denken würde.

Bolitho ging zur Laufbrücke, wo die Männer ihre Hängematten, die sie von unten heraufgebracht hatten, in die Finknetze verstauten. Arme Nancy, sie würde Bolithos toten Freund sehr vermissen und mußte nun ganz allein mit ihren enttäuschten Hoffnungen fertig werden.

Jemand stand neben ihm: der Schiffsarzt, der zum Ufer blickte. Jedesmal, wenn sich Bolitho bisher mit dem rundlichen Doktor unterhalten hatte, war es ein Gewinn für ihn gewesen. Bulkley war ein wunderliches Mitglied ihrer Gemeinschaft. Schiffsärzte waren — soweit

Bolitho bisher erfahren hatte — geringe Vertreter ihres Berufsstandes, meist nichts anderes als Schlächter; ihre blutige Kunst mit Messer und Säge wurde von den Seeleuten mehr gefürchtet als eine Breitseite des Gegners.

Aber Henry Bulkley war eine Ausnahme. Er hatte in London ein angenehmes Leben geführt, hatte eine Praxis in einer vornehmen Gegend besessen und Patienten, die reich, aber auch anspruchsvoll waren.

Bulkley hatte es Bolitho in der Stille einer Nachtwache erklärt:»Ich begann, die Tyrannei der Kranken zu hassen, die Selbstsucht von Leuten, die nur zufrieden sind, wenn man sie verwöhnt. Ich bin zur See gegangen, um dem zu entkommen. Hier habe ich eine Aufgabe und brauche nicht Zeit an Leute zu vergeuden, die zu reich sind, um sich die Mühe zu machen, ihren Körper kennenzulernen. Hier bin ich genauso ein Spezialist wie Mr. Vallance, unser Oberstückmeister, oder wie der Zimmermeister, und leiste den gleichen Dienst wie sie. Oder wie der arme Mr. Codd, der Zahl- und Proviantmeister, der sich über jede zurückgelegte Meile grämt und errechnet, wieviel Käse, Salzfleisch, Kerzen und Leinwand sie ihn gekostet hat. «Er hatte zufrieden gelächelt.»Und ich genieße das Vergnügen, andere Länder zu sehen. Jetzt bin ich drei Jahre bei Kapitän Dumaresq, und es mögen noch zwei oder drei hinzukommen. Er selber ist natürlich niemals krank. Er würde es einfach nicht erlauben, daß so etwas passiert.»

Bolitho sagte:»Es ist ein seltsames Gefühl, so fortzusegeln zu einem Ziel, das nur der Kommandant und vielleicht zwei oder drei weitere Personen kennen. Wir haben keinen Krieg, aber trotzdem Gefechtsbereitschaft.»

Er sah den großen Menschen, der sich Stockdale nannte, mit den anderen Matrosen am Fuß des Großmastes antreten.

Der Arzt folgte seinem Blick.»Ich habe gehört, was an Land geschehen ist. Sie haben an ihm einen treuen Gefolgsmann. Mein Gott, ein Kerl wie ein Eichbaum! Ich glaube, Little muß ihm ein Bein gestellt haben, um die Guinee zu gewinnen. «Er warf einen Blick auf Bolithos Profil.»Es sei denn, er wollte von vornherein mit Ihnen kommen — um vor irgend etwas zu fliehen wie die meisten von uns.»

Bolitho lächelte. Bulkley kannte nur die Hälfte der Geschichte. Stockdale war für Segelmanöver dem Besanmast zugeteilt worden und für den Gefechtsfall den Sechspfündern auf dem Achterdeck. So war es schriftlich festgelegt und mit Pallisers schwungvollem Namenszug gegengezeichnet worden. Aber irgendwie hatte es Stockdale geschafft, diese Dinge zu ändern. Jetzt gehörte er zu Bolithos Division am Großmast und zu den Zwölfpfündern der Steuerbord-Batterie, die Bolithos Kommando unterstand.

Eines ihrer Beiboote näherte sich mit kräftigem Ruderschlag vom Ufer, alle anderen waren schon vor dem ersten Hahnenschrei in ihren Halterungen an Deck eingesetzt und festgelascht worden.

Das Beiboot war ihre letzte Verbindung mit dem Land und hatte Dumaresqs abschließende Briefe und Berichte zum Kurier nach London gebracht. Am Ende würden sie auf irgendeinem Schreibtisch in der Admiralität landen, eine Notiz würde dem Ersten Seelord zugehen, dort würde ein Kreuzzeichen auf einer der großen Seekarten eingezeichnet werden: Ein kleines Schiff war mit versiegelten Befehlen in See gegangen. Nichts Neues, nur die Zeiten hatten sich geändert.

Palliser schlenderte zur Querreling, das Megaphon unter dem Arm; sein Blick kreiste wie der eines Raubvogels und spähte nach einem neuen Opfer aus.

Bolitho schaute am Großmast empor und konnte gerade noch den langen roten Wimpel hoch oben erkennen, der in einer Bö achtern auswehte. Nordwestwind. Dumaresq würde ihn auch brauchen, um vom Ankerplatz freizukommen. Das war immer schwierig, aber jetzt — nach dreimonatiger Liegezeit — genügte es, daß ein unaufmerksamer Matrose oder Maat einen Befehl falsch weitergab, um ein stolzes Ablegen innerhalb von Minuten in ein Desaster zu verwandeln.

Palliser rief:»Alle Offiziere bitte nach achtern!«Es klang gereizt, er war sich der Bedeutung des Augenblicks offenbar bewußt.

Bolitho trat zu Rhodes und Colpoys auf das Achterdeck, während Steuermann und Schiffsarzt sich wie Eindringlinge im Hintergrund hielten.

Palliser sagte:»In einer halben Stunde lichten wir Anker. Gehen Sie auf Ihre Station und behalten Sie jeden Mann im Auge. Sagen Sie Ihren Bootsmannsmaaten, daß sie den Leuten Beine machen und jeden zur Bestrafung notieren sollen, der nicht richtig zufaßt. «Er warf Bo-litho einen merkwürdigen Blick zu.»Ich habe diesen Stockdale Ihnen zugeteilt. Mit ist selber nicht klar, warum, aber er meinte, da sei sein Platz. Sie müssen eine besondere Anziehungskraft haben, Mr. Bolitho, obwohl ich bei Gott nicht ahne, worin die bestehen sollte.»

Sie legten die Hand grüßend an ihre Hüte und begaben sich auf ihre verschiedenen Stationen. Pallisers Stimme folgte ihnen, durch das Megaphon hohl und eindringlich:»Mr. Timbrell! Noch zehn Männer ans Ankerspill! Wo ist der verdammte Vorsänger?«Das Sprachrohr schwenkte herum wie die Peitsche eines Kutschers.»Zum Teufel, Mr. Rhodes, ich möchte den Anker noch heute kurzstag gehievt haben, nicht erst nächste Woche.»

Klink, klink, klink — das Spill drehte sich widerwillig, als die Männer sich kräftig in die Spillspaken warfen. Kopfschläge und aufgeschossene Buchten der Fallen und Schoten wurden von ihren Belegnägeln gelöst, und während Offiziere und Kadetten in der bewegten Flut der an Deck aufgereihten Matrosen wie blau-weiße Inseln wirkten, schien es, als erwache das Schiff selber zum Leben.

Bolitho warf einen Blick hinüber zum Land. Noch immer keine Sonne; ein leichter Regenschauer malte Kräuselmuster aufs Wasser, die sich dem Schiff näherten. Die wartenden Männer zitterten vor Kälte und trampelten mit nackten Füßen aufs Deck.

Little sprach leise, aber eindringlich auf zwei neue Leute ein, wobei seine großen Hände wie Spaten durch die Luft fuhren, um seine Erklärungen zu verdeutlichen. Er bemerkte Bolitho und stöhnte:»Großer Gott, Sir, die sind wie Holzklötze!»

Bolitho beobachtete seine beiden Kadetten und überlegte, wie er die Mauer durchbrechen könne, die zwischen ihm und den beiden stand. Er hatte erst am Tag zuvor kurz mit ihnen gesprochen. Die Destiny war ihr erstes Bordkommando, was auch — mit zwei Ausnahmen — für die übrigen Kadetten galt. Peter Merrett war so klein, daß man ihn kaum zwischen den Taurollen und den hin und her eilenden Seeleuten wiederfand. Er war zwölf Jahre alt, Sohn eines prominenten Anwalts aus Exeter, der wiederum einen Admiral zum Bruder hatte: eine furchteinflößende Kombination. Eines schönen Tages — wenn er ihn erlebte — konnte der kleine Merrett sie zu seinem Vorteil nutzen, wahrscheinlich auf Kosten anderer. Aber jetzt, wie er so zitternd vor Kälte und ziemlich verängstigt dastand, sah er nur wie ein Häufchen Unglück aus. Der andere hieß Jan Jury, war vierzehn Jahre alt und kam aus Weymouth. Sein Vater, ein verdienter Seeoffizier, war bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Den Verwandten des toten Kapitäns mußte die Marine als der geeignete Platz für den jungen Jury erschienen sein. Jedenfalls waren sie damit alle Sorgen um ihn los. Bolitho nickte ihm zu.

Jury war groß für sein Alter, hatte ein freundliches Gesicht, einen blonden Haarschopf, und konnte seine Aufregung kaum beherrschen. Er sprach auch als erster.»Wissen wir eigentlich, wohin die Fahrt geht, Sir?»

Bolitho sah ihn ernst an. Nur vier Jahre trennten sie. Jury ähnelte zwar nicht seinem toten Freund, doch er hatte die gleiche Haarfarbe.

Er tadelte sich selber für seine Gedanken und antwortete:»Das werden wir früh genug erfahren. «Seine Worte kamen schärfer heraus, als er beabsichtigt hatte, darum fügte er hinzu:»Es ist ein gut gehütetes Geheimnis, jedenfalls soweit es mich betrifft.»

Jury beobachtete ihn neugierig. Bolitho wußte, was er dachte, kannte die vielen Fragen, die er gern gestellt hätte, um diese neue, so vieles von ihm fordernde Welt zu entdecken. Genauso war er selber einmal gewesen.

Bolitho sagte:»Ich möchte, daß Sie im Großmast aufentern, Mr. Jury, und die Arbeit der Leute oben beaufsichtigen. Sie, Mr. Merrett, bleiben bei mir, um Meldungen nach vorn oder achtern zu überbringen, wenn nötig.»

Er lächelte, als ihre Blicke über die Wanten zum drohenden Gewirr der Takelage emporwanderten, zur riesigen Großrah und den kleineren Rahen darüber, die nach jeder Seite wie Bogenenden weit über Bord ragten.

Die beiden älteren Offiziersanwärter, die Fähnriche Henderson und Cowdroy, hatten ihre Posten achtern am Besanmast, während die restlichen beiden zu Rhodes am Fockmast gehörten.

Stockdale stand wie zufällig in Bolithos Nähe und schnaufte:»Guten Morgen auch, Sir!»

Bolitho läche lte ihn an.»Nichts bereut, Stockdale?»

Der riesige Mann schüttelte den Kopf.»Nein, Sir. Brauchte 'ne Veränderung. Wird mir guttun.»

Little grinste über das Rohr eines Zwölfpfünders hinweg.»Ich wette, er könnte die Großbrasse allein bedienen!»

Einige Matrosen tuschelten miteinander und zeigten, als das Tageslicht zunahm, auf Gebäude an Land.

Vom Achterdeck kam prompt die Rüge:»Mr. Bolitho, sorgen Sie bitte für Ordnung bei Ihren Leuten! Das sieht mehr nach einer Hammelherde aus als nach einer Kriegsschiffsbesatzung!»

Bolitho grinste.»Aye, aye, Sir!«Und für Little fügte er hinzu:»Schreiben Sie jeden Mann auf, der…»

Er konnte den Satz nicht beenden, denn Kapitun Dumaresqs Hut tauchte am achteren Niedergang auf und darunter seine massige Gestalt, die sich mit offensichtlichem Gleichmut auf die Luvseite des Achterdecks begab.

Bolitho gab den beiden Kadetten noch einmal leise Instruktionen.»Hört zu, ihr beiden: Geschwindigkeit ist wichtig, aber nur insoweit, als Befehle trotzdem korrekt ausgeführt werden. Hetzen Sie die Leute nicht unnötig, die meisten von ihnen sind alte Hasen und schon seit Jahren auf See. Beobachten Sie, lernen Sie, aber packen Sie zu, wenn einer der neuen Leute Mist macht.»

Beide nickten eifrig, als hätten sie eben fundamentale Weisheiten vernommen.

«Vorn alles klar, Sir!»

Das war Timbrell, der Oberbootsmann. Er schien überall zugleich zu sein. Mal war er hier, um die Finger eines Mannes richtig um eine Brasse zu legen und sie davor zu bewahren, daß sie in einen Block gerieten und zerquetscht wurden; mal war er da, um seinen Rohrstock auf die Schultern eines anderen niedersausen zu lassen, der sich blöde anstellte. Die Wirkung war meist ein kurzer Aufschrei des Betroffenen und schadenfrohes Grinsen der anderen.

Bolitho hörte den Kommandanten etwas sagen; Sekunden später stieg die rote Nationalflagge zur Mastspitze empor und stand so steif im Wind wie eine bemalte Metallplatte.

Wieder Timbrells Stimme:»Anker ist kurzstag, Sir!«Er beugte sich über die Backsreling vorn und beobachtete aufmerksam die Strömung unter dem Bugspriet.

«Am Ankerspill — Achtung!»

Bolitho warf noch einen schnellen Blick nach achtern: auf den

Kommandostand, auf Gulliver mit seinen drei Rudergängern am großen Doppelrad; auf Colpoys mit seinen Seesoldaten an den Kreuzbrassen, den Fähnrich der Wache und Henderson, den Signalfähnrich, der immer noch zur wild killenden Flagge emporschaute, weil er fürchtete, daß sie sich in ihrer Leine vertörnen könnte. Im Augenblick war ihm das wichtiger als sein Leben.

An der Querreling stand Palliser mit einem Steuermannsmaaten und — etwas abseits — der Kommandant auf fest verwurzelten, stämmigen Beinen, die Hände unter den Rockschößen, mit einem Blick seinen gesamten Befehlsbereich umfassend. Zu seinem Erstaunen sah Bo-litho, daß Dumaresq unterm Rock eine scharlachrote Weste trug.

«Vorsegel los!»

Die Männer auf der Back vorn erwachten zum Leben. Ein verträumter Neuling wäre fast von ihnen niedergetrampelt worden, als die großen Leinwandflächen der vorderen Stagsegel in plötzlicher Freiheit flatterten und schlugen.

Palliser warf dem Kommandanten einen Blick zu und erntete ein fast unmerkliches Nicken. Darauf hob der Erste Offizier das Megaphon und rief:»Enter auf! Marssegel los!»

Die Webeleinen über beiden Laufbrücken hingen plötzlich voller Matrosen, die wie Affen zu ihren Rahen aufenterten, während die fixesten Burschen noch höher hinaufkletterten, um etwas später, wenn das Schiff in Fahrt war, dort ihren Teil der Arbeit zu leisten.

Bolitho verbarg seine Besorgnis unter einem Lächeln, als Jury hinter den sicher zupackenden und wieselschnellen Matrosen aufenterte.

Neben ihm krächzte Merrett:»Mir wird übel, Sir.»

Slade, der älteste Steuermannsmaat, der gerade vorbeieilte, knurrte:»Dann schluck's runter! Wenn du hier spuckst, Bürschchen, lege ich dich übers Kanonenrohr und verpasse dir sechs Schläge, damit du's lernst!«Er eilte weiter, gab Befehle, schubste Männer auf ihre Station und hatte den kleinen Kadetten schon wieder vergessen.

Merrett schluchzte:»Mir ist wirklich furchtbar schlecht!»

Bolitho sagte:»Gehen Sie nach Lee hinüber.»

Er schaute nach Pallisers Megaphon aus und dann hinauf zu seinen Männern auf den Rahen und in die wogende Leinwand des Großmarssegels, in die der Wind schon hier und da hineingefaßt hatte und die sich nun vollends zu befreien suchte.

«An die Brassen! Alle Mann — Achtung!«»Anker ist los, Sir!»

Wie ein befreites Tier schüttelte sich die Destiny und trieb zunächst achteraus, bis die wild schlagenden Vorsegel dichtgeholt, die Marsegel angebraßt waren und sich mit Wind füllten. Da gehorchte das Schiff endlich dem hart gelegten Ruder und nahm Fahrt voraus auf.

Bolitho erschrak, als ein Mann auf der Großrah ausrutschte, aber seine Kameraden packten ihn und zogen ihn in Sicherheit.

Das Schiff drehte weiter, bis die Küste wie in einem wilden Reigen am Bugspriet und der grazilen Galionsfigur vorbeizutanzen schien.

«Mehr Leute an die Luv-Fockbrassen! Schreiben Sie den Mann auf, Mr. Slade! Lassen Sie den Anker festzurren — Beeilung jetzt!»

Pallisers Stimme war überall. Als der Anker tropfend unter dem Kranbalken hing und schnell beigeholt und festgezurrt wurde, damit er nicht gegen die Bordwand schlug, wurden die damit beschäftigten Leute von Pallisers alles übertönendem Sprachrohr schon wieder anderswohin kommandiert.»Setzt Fock und Großsegel!»

Die beiden größten Segel des Schiffes entfalteten sich an ihren Rahen und blähten sich in dem frischen Wind wie eiserne Brustpanzer. Bolitho machte eine kleine Pause, um Atem zu holen und seinen Hut zurechtzurücken. Die Landschaft, durch die er auf der Suche nach Freiwilligen gestreift war, lag querab in Lee, während der Bug der Destiny auf die enge Ausfahrt wies, hinter der die offene See wie ein riesiges graues Feld auf sie wartete.

Männer kämpften mit verheddertem Tauwerk, über sich das Quietschen der Blöcke, als Brassen und Schoten statt der Muskeln nun den Kampf gegen Wind, Seegang und die wachsende Pyramide aus Leinwand aufnahmen.

Dumaresq hatte sich anscheinend überhaupt nicht bewegt. Das Kinn im Halstuch vergraben, beobachtete er das Ufer, das an ihnen vorbeiglitt.

Bolitho wischte sich ein paar Wassertropfen — war es Regen oder salzige Gischt? — aus den Augen. Er war aufgeregt und freute sich plötzlich, daß er dazu noch fähig war.

Durch die enge Ausfahrt ging es in den Sund hinaus, wo Drake einmal der spanischen Armada aufgelauert hatte, wo schon hundert

Admiräle Pläne geschmiedet hatten, die über ihre nächste Zukunft entscheiden sollten. Wohin hatte das alles geführt?» Lotgast in die Luv-Rüsten, Mr. Slade!»

Bolitho merkte jetzt, daß er auf einer Fregatte war. Hier gab es kein vorsichtiges Abwägen, keine behäbigen Manöver. Dumaresq wußte, daß viele Augen an Land sie selbst zu dieser frühen Stunde beobachteten. Er würde so nahe an die Landzunge herangehen wie möglich, mit nur knapp einem Faden Wasser zwischen Kiel und Katastrophe. Er hatte den richtigen Wind und das Schiff, mit dem er dies riskieren konnte.

Hinter sich hörte Bolitho, wie Merrett sich übergab, und hoffte, Pal-liser würde es nicht bemerken.

Stockdale schoß die Leine um Handballen und Ellenbogen auf, als sei er es von jung auf nicht anders gewohnt. Gegen seine kräftigen Unterarme wirkte die dicke Leine wie Kabelgarn. Er brummte mit seiner heiseren Stimme:»Jetzt bin ich frei, so frei, wie ich's mir wünsche.»

Bolitho antwortete nicht, denn er erkannte, daß der in vielen Kämpfen ausgelaugte Boxer zu sich selber gesprochen hatte.

Pallisers Stimme weckte ihn wie ein Peitschenhieb.»Mr. Bolitho! Ich sage Ihnen schon jetzt, daß ich die Bramsegel gesetzt haben möchte, sowie wir durch die Enge sind. Damit haben Sie Zeit, Ihren Traum zu beenden und sich wieder um Ihren Dienst zu kümmern, mein Herr!»

Bolitho berührte seinen Hut und nickte seinen Unteroffizieren zu. Palliser war in Ordnung, so lange sie sich in der Messe befanden. Aber an Deck war er ein Tyrann.

Merrett hatte sich über die Kanone gebeugt und erbrach sich in den Wassergang.

«Verdammt noch mal, Mr. Merrett! Machen Sie das bloß schön sauber, bevor Sie abtreten. Und reißen Sie sich zusammen!«Bolitho wandte sich ab, aufgebracht und gleichzeitig über sich selber erstaunt. Pallisers Art war offenbar ansteckend.