"Kanonenfutter - Leutnant Bolithos Handstreich in Rio" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)

VII Im Zwiespalt

Zwei weitere Tage vergingen ohne ein Anzeichen, daß der portugiesische Vizekönig zurückgekehrt war oder beabsichtigte, Dumaresq zu empfangen.

Unter der unbarmherzigen Sonne fast zerfließend, erledigten die Seeleute ihre tägliche Arbeit recht unlustig. Die Stimmung war allgemein gereizt, Streitigkeiten flammten leicht auf, und bei verschiedenen Anlässen wurden Leute nach achtern zur Bestrafung gebracht.

Wenn Dumaresq an Deck kam, schien er mit jedem von der Schiffsglocke angezeigten Wachwechsel ärgerlicher und unduldsamer zu werden. Ein Matrose bekam Strafarbeiten allein deshalb, weil er ihn angestarrt hatte, und Midshipman Ingrave, der als sein Schreiber eingesprungen war, wurde mit der Bemerkung:»Zu dämlich, um eine Feder zu halten«, die noch lange in seinen Ohren nachklang, zurück zu seinem normalen Dienst an Deck geschickt.

Selbst Bolitho, der wenig Erfahrung mit den Gepflogenheiten in ausländischen Häfen hatte, fiel die der Destiny auf gezwungene Isolierung auf. Ein paar Boote mit allerlei Handelswaren lungerten zwar voller Hoffnung auf Geschäfte um das Schiff herum, wurden aber von den aufmerksamen Wachbooten am Herankommen gehindert. Und ganz gewiß war, daß keine Nachricht von dem Mann namens Egmont kam.

Samuel Codd, der Zahlmeister, war nach achtern marschiert, um sich darüber zu beklagen, daß es ihm unmöglich sei, seine Vorräte an frischem Obst zu ergänzen. Das halbe Schiff mußte mit angehört haben, wie Dumaresqs Zorn sich sturzbachartig über ihn ergoß.

«Für was halten Sie mich eigentlich, Sie Geizkragen? Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun als zu kaufen und zu verkaufen wie ein ambulanter Gemüsehändler? Nehmen Sie ein Boot und gehen Sie selber an Land, aber sagen Sie dem Kaufmann diesmal, die Vorräte seien für mich bestimmt!«Seine mächtige Stimme folgte Codd noch, als der längst die Kajüte verlassen hatte:»Und kommen Sie mir nicht mit leeren Händen zurück!»

Nur in der Offiziersmesse war die Stimmung kaum verändert. Es gab den üblichen Klatsch und aufgebauschte Berichte über die Ereignisse während der Tagesarbeit. Nur wenn Palliser erschien, wurde das Klima förmlich, fast frostig.

Bolitho hatte sich Murray kommen lassen und ihm die Beschuldigung, ein Dieb zu sein, eindringlich vor Augen gehalten. Murray hatte entschlossen verneint, irgend etwas mit der Angelegenheit zu tun zu haben, und Bolitho gebeten, für ihn einzutreten. Bolitho war von dem Ernst des Mannes beeindruckt. Murray war über die Aussicht auf eine zu unrecht erlassene Prügelstrafe weniger verängstigt als empört. Aber die Strafe war nicht mehr abzuwenden, wenn der wahre Dieb nicht gefunden werden konnte.

Poynter, der Oberwachtmeister, blieb unerbittlich. Er hatte die Uhr in Murrays Utensilienkasten bei einer kurzen Durchsuchung entdeckt. Jeder konnte sie da versteckt haben, aber aus welchem Grund? Es hatte festgestanden, daß etwas unternommen werden würde, um die verschwundene Uhr wiederzufinden. Ein vorsichtiger Dieb hätte hundert Möglichkeiten gehabt, sie an einem sicheren Ort zu verstecken. Aber so? Die Sache ergab keinen Sinn.

Am Abend des zweiten Tages kam die Heloise in Sicht. Sie näherte sich langsam der Küste. Ihre Segel schimmerten im scheidenden Sonnenlicht, als sie einen letzten Schlag in Richtung Hafeneinfahrt machte.

Dumaresq beobachtete sie durch sein Teleskop und brummte:»Braucht ja endlos! Da muß er sich schon etwas mehr anstrengen, wenn er befördert werden will!»

Rhodes sagte:»Haben Sie es bemerkt, Dick? Die Trinkwasserprähme sind nicht wie versprochen gekommen. Unser Vorrat muß ziemlich zu Ende sein. Kein Wunder, daß unser gt;Herr und Meisterlt; vor Zorn rot anläuft.»

Bolitho erinnerte sich an Dumaresqs Worte, daß die Destiny am Tag nach ihrer Ankunft Frischwasser übernehmen wolle. Das hatte er über all dem, was seine Gedanken inzwischen gefangennahm, vergessen.

«Mr. Rhodes!«Dumaresq trat an die Querreling des Achterdecks.»Signalisieren Sie der Heloise, daß sie auf der äußeren Reede ankern soll. Mr. Slade soll nicht versuchen, bei Dunkelheit näher ans Land heranzusegeln. Um ganz sicherzugehen, schicken Sie ihm ein Boot mit dem Befehl, daß er frei von der Landzunge vor Anker gehen soll.»

Das Trillern der Bootsmannsmaatenpfeife brachte die Bootscrew im Laufschritt nach achtern. Einige stöhnten, als sie sahen, wie weit die Brigantine entfernt war. Das gab eine lange Strecke zu pullen, und zwar hin und zurück.

Rhodes suchte den Midshipman der Wache.»Mr. Lovelace, Sie fahren mit!«Er ließ sich nichts anmerken, als er Bolitho zuzwinkerte.»Verdammte Kadetten, was, Dick? Müssen ein bißchen beschäftigt werden.»

«Mr. Bolitho!«Dumaresq hatte ihn beobachtet.»Kommen Sie bitte zu mir.»

Bolitho eilte nach achtern, bis sie beide außer Hörweite der anderen an der Heckreling standen.

«Ich muß Ihnen mitteilen, daß Mr. Palliser keinen anderen Schuldigen gefunden hat. «Dumaresq musterte Bolitho eindringlich.»Das beunruhigt Sie, wie ich sehe.»

«Ja, Sir. Ich habe keinen Gegenbeweis, aber ich bin überzeugt, daß Murray unschuldig ist.»

«Ich werde warten, bis wir wieder auf See sind. Aber dann muß die Bestrafung vollzogen werden. Jedoch empfiehlt es sich nicht, Leute vor den Augen Fremder auszupeitschen.»

Bolitho wartete ab, da er ahnte, daß noch mehr kommen würde.

Dumaresq beschattete seine Augen, als er zum Wimpel an der Mastspitze emporschaute.»Eine schöne Brise. «Dann sagte er:»Ich brauche einen neuen Schreiber. Auf einem Kriegsschiff gibt es mehr Schriftstücke und Listen als Pulver und Blei. «Sein Tonfall wurde schärfer.»Oder Trinkwasser, was das betrifft!»

Bolitho straffte sich, als Palliser nach achtern kam und wie vor einer unsichtbaren Linie stehenblieb.

Dumaresq sagte:»Wir sind fertig. Was ist, Mr. Palliser?»

«Ein Boot nähert sich, Sir. «Er beachtete Bolitho nicht.»Das gleiche, welches Schweinefleisch für die Messe gebracht hat.»

Dumaresq hob die Brauen.»Wirklich? Das interessiert mich. «Er machte abrupt kehrt und sagte:»Ich bin in meinen Räumen. Und was den Schreiber betrifft, so habe ich mich entschieden, den neuen Gehilfen des Schiffsarztes, Spillane, mit der Aufgabe zu betrauen. Er scheint ein gebildeteter Mann zu sein und weiß, wie man sich Vorgesetzten gegenüber benimmt; außerdem will ich den guten Doktor nicht verwöhnen, er hat genügend andere Hilfskräfte, die sein Krankenrevier versorgen können.»

Palliser tippte an seinen Hut.»Zu Befehl, Sir.»

Bolitho ging zur Backbord-Laufbrücke, um das näherkommende Boot zu betrachten. Ohne Glas konnte er erkennen, daß niemand darin saß, den er kannte. Fast hätte er über sich selber gelacht, daß er so dumm sein konnte. Was hatte er erwartet? Daß Jonathan Egmont selbst herauskam, um den Kommandanten zu besuchen? Oder daß seine reizende Frau die unbequeme und anstrengende Fahrt unternahm, um ihm zuzuzwinkern? Er wurde offenbar schon kindisch. Vielleicht war er zu lange auf See gewesen, oder sein letzter Heimaturlaub in Falmouth, der so viel Unglück nach sich zog, hatte ihn anfällig für Phantastereien und unerfüllbare Träume gemacht?

Das Boot kam an die Großrüsten, und nach einer längeren Diskussion in Zeichensprache zwischen den Ruderern und dem Bootsmannsmaat der Wache wurde ein Briefumschlag zu Rhodes hinaufgereicht, den er sofort nach achtern zur Kajüte trug. Das Boot wartete ein paar Yards vom Schiff entfernt; seine dunkelhäutigen Insassen beobachteten die geschäftigen Matrosen und Seesoldaten und schätzten wahrscheinlich die Stärke einer Breitseite der Destiny ab.

Schließlich kam Rhodes zurück, rief das Boot heran und reichte dem Bootssteurer einen anderen Umschlag hinunter. Er sah, daß Bo-litho zuschaute, und kam zu ihm an die Hängemattsnetze.

«Ich weiß, daß Sie es nicht gern hören werden, Dick«, und dabei konnte er ein inneres Lachen nicht ganz unterdrücken,»aber wir sind heute abend zum Essen eingeladen. Ich glaube, Sie kennen das Haus bereits.»

«Wer wird hingehen?«Bolitho bemühte sich, seine plötzliche Besorgnis nicht zu zeigen.

Rhodes grinste.»Der gt;Herr und Meisten, alle Offiziere und — als höfliche Geste — der Schiffsarzt.»

«Das kann ich nicht glauben! Der Kommandant würde das Schiff doch niemals verlassen, wenn nicht wenigstens ein Offizier an Bord bliebe. «Bolitho schaute nach achtern, wo Dumaresq gerade an Deck erschien.»Bestimmt nicht!»

Dumaresq rief:»Holen Sie Macmillan und meinen neuen Schreiber Spillane!«Sein Ton war frohlockend, anders als in den letzten Tagen.»In einer halben Stunde brauche ich meine Gig.»

Rhodes eilte schon davon, als Dumaresq ihm laut nachrief:»Ich möchte, daß Sie, Mr. Bolitho und unser tapferer Rotrock bis dahin anständig angezogen sind. «Er lächelte.»Der Doktor ebenfalls. «Er ging mit langen Schritten davon, während sein Steward wie ein Ter-rier hinterhertrippelte.

Bolitho schaute auf seine Hände. Sie wirkten ruhig, aber er hatte das Gefühl, als habe er die Herrschaft über sie — genau wie über sein Herz — verloren.

In der Messe herrschte wüstes Tohuwabohu. Poad und seine Gehilfen suchten nach sauberen Hemden und gebügelten Uniformröcken, um ihre Schützlinge aus wetterharten Seeoffizieren in geschniegelte Gentlemen zu verwandeln.

Colpoys verfluchte seinen Burschen wie ein Kavallerist, während der Mann seine Stiefel auf Hochglanz brachte und er sich selber im Handspiegel betrachtete.

Bulkley, zerknittert und eulenhaft wie immer, brummte:»Er nimmt mich nur mit, um das Unrecht, das er mir mit meinem Gehilfen angetan hat, wiedergutzumachen.»

Palliser hakte ein.»Ach du lieber Himmel! Wahrscheinlich will er nur nicht riskieren, Sie allein an Bord zurückzulassen.»

Gulliver war offensichtlich entzückt, daß er als zeitweilig Verantwortlicher für das Schiff fungieren sollte. Auf der langen Überfahrt von Funchal hierher hatte er sichtlich an Selbstvertrauen gewonnen, und außerdem haßte er die Gepflogenheiten der vornehmen Gesellschaft, wie er Codd einmal anvertraut hatte.

Bolitho war als erster am Fallreep. Er sah, daß Jury gerade die Wache auf dem Achterdeck übernahm. Ihre Blicke trafen sich und wanderten dann weiter. Es würde anders werden, wenn das Schiff erst wieder in See war. Dann konnten gemeinsame Aufgaben die Spannung zwischen ihnen beseitigen, nur: Murrays Schicksal war auch dann noch nicht entschieden.

Dumaresq erschien an Deck und musterte seine Offiziere.»Gut!

Recht gut!«Er musterte die längsseits liegende Gig unten, die Mannschaft in den karierten Hemden und mit den geteerten Hüten und den Bootssteurer, der zum Ablegen bereit wartete.»Gut gemacht, Johns!»

Bolitho dachte daran, wie er das letztemal mit Dumaresq an Land gefahren war, der so nebenbei zu Johns gesagt hatte, er solle sich um die Angelegenheit mit Jurys verschwundender Uhr kümmern. Johns war als Bootssteurer des Kommandanten bei den Unteroffizieren und dienstälteren Leuten sehr angesehen. Ein Wort zur rechten Zeit, ein Wink an den Wachtmeister, der keines großen Anstoßes bedurfte, wenn es darauf ankam, die Leute unter Druck zu setzen, und eine schnelle Durchsuchung hätten das übrige getan.

«Ins Boot!»

In genauer Beachtung des Dienstalters und von einigen wachfreien Leuten auf der Laufbrücke beobachtet, kletterten die Offiziere der Destiny in die Gig hinunter. Als letzter nahm Dumaresq in seinem goldbetreßten Rock mit den weißen Aufschlägen auf dem Hecksitz Platz. Als das Boot vorsichtig von der Bordwand absetzte, sagte Rho-des:»Erlauben Sie mir zu sagen, Sir, daß wir Ihnen sehr dankbar für diese Einladung sind.»

Dumaresqs Zähne leuchteten sehr weiß in der Dunkelheit.»Ich habe alle meine Offiziere gebeten, mitzukommen, Mr. Rhodes, weil wir eines Geistes sind. «Sein Lächeln breitete sich über das ganze Gesicht aus.»Außerdem möchte ich die Leute an Land wissen lassen, daß wir alle anwesend sind.»

Rhodes erwiderte etwas lahm:»Verstehe, Sir«, aber es war klar, daß er nichts verstanden hatte.

Trotz seiner kürzlichen Mißerfolge und Sorgen hatte Bolitho sich wieder beruhigt. Er beobachtete die Lichter an Land und war entschlossen, sich gut zu amüsieren. Schließlich waren sie in einem fremden, exotischen Land, von dem er zu Hause in Falmouth nach seiner Rückkehr erzählen wollte.

Kein anderer Gedanke sollte ihm heute abend dazwischenkommen. Dann fiel ihm ein, wie sie ihn angeschaut hatte, als er das Haus verließ, und er fühlte seinen festen Vorsatz dahinschwinden. Es war lächerlich, aber mit diesem Blick hatte sie bewirkt, daß er sich wie ein erwachsener Mann vorkam.

Bolitho musterte die übervolle Tafel und fragte sich, wie er es schaffen sollte, all diesen Köstlichkeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Schon wünschte er, Pallisers knappen Ratschlag beachtet zu haben, den dieser seinen jungen Kameraden kurz vor dem Verlassen der Gig gegeben hatte:»Man wird versuchen, Sie betrunken zu machen. Passen Sie also auf!«Das war vor fast zwei Stunden gewesen, aber es schien Bolitho viel länger her.

Sie saßen in einem Saal mit gewölbter Decke, an den Wänden hingen farbenfrohe Gobelins, deren Pracht noch verstärkt wurde durch Hunderte von Kerzen in den glitzernden Kristall-Lüstern über ihnen und auf den mehrarmigen Leuchtern, die in regelmäßigen Abständen auf der Tafel standen und aus purem Gold sein mußten.

Die Offiziere der Destiny waren sorgsam am Tisch verteilt und bildeten blau-weiße Flecken zwischen den prächtiger gekleideten übrigen Gästen, alles Portugiesen. Die meisten sprachen kaum englisch und riefen einander mit erhöhter Lautstärke zu, wenn sie sich etwas übersetzen lassen oder ihrem Tischnachbarn etwas erklären wollten. Der Kommandeur der Küstenbatterien, ein Faß von einem Mann, wurde an Lautstärke und Appetit nur von Dumaresq übertroffen. Gelegentlich neigte er sich einer der Damen zu, brüllte vor Lachen oder schlug mit der Faust auf den Tisch, um seine Bemerkungen zu unterstreichen.

Eine kleine Armee von Dienern trug eine nicht endenwollende Folge von Gerichten auf: von gekochtem, köstlich schmeckendem Fisch bis zu riesigen Platten mit geschmortem Rindfleisch. Und während der ganzen Zeit floß der Wein immer wieder wie von selbst in ihre Gläser, roter Wein aus Portugal oder Spanien, herber Weißwein aus Deutschland und milde Sorten aus Frankreich. Egmont war sehr großzügig. Bolitho hatte den Eindruck, daß er selber wenig trank und seine Gäste mit einem ironischen Lächeln beobachtete.

Es tat fast weh, Egmonts Frau am gegenüberliegenden Ende der Tafel anzuschauen. Sie hatte Bolitho kurz zugenickt, als er ankam, weiter nichts. Und jetzt fühlte er sich zwischen einem portugiesischen Schiffshändler und einer runzligen Dame, die unaufhörlich aß, unbeachtet und irgendwie verloren.

Mrs. Egmonts Anblick war atemberaubend. Sie hatte sich wieder in Weiß gekleidet, das ihre Haut golden schimmern ließ. Das Kleid war vorne tief ausgeschnitten, und um den Hals trug sie ein Geschmeide, das einen doppelköpfigen aztekischen Vogel darstellte, dessen lange Schwanzfedern mit Rubinen besetzt waren, wie Rhodes sachkundig festgestellt hatte.

Wenn sie den Kopf wandte, um mit einem Gast zu sprechen, tanzten die rubinbesetzten Schwanzfedern zwischen ihren Brüsten, und Bo-litho stürzte ein weiteres Glas Rotwein hinunter, ohne zu bemerken, was er tat.

Colpoys war bereits halb betrunken und schilderte seiner Tischnachbarin ausführlich, wie er einmal im Schlafzimmer einer Dame von ihrem Ehemann überrascht worden war.

Palliser hingegen schien unverändert. Er aß bedächtig und hielt sein Glas immer halb gefüllt, während Rhodes seiner selbst nicht mehr ganz sicher schien. Seine Zunge war schwer, seine Bewegungen wirkten fahriger als zu Beginn des Mahls. Nur der Schiffsarzt genoß Essen und Trinken, ohne daß es ihm etwas antat.

Dumaresq war unglaublich in Form. Er wies kein Gericht zurück und schien völlig gelöst. Seine starke Stimme reichte über den ganzen Tisch, hielt hier eine einschlafende Konversation in Gang oder rief dort einen seiner Offiziere zur Ordnung.

Einmal rutschten Bolithos Ellenbogen vom Tisch, so daß er beinahe nach vorn zwischen die Teller gefallen wäre. Der Schock half ihm, sich zusammenzureißen und zu erkennen, wie stark die Getränke wirkten. Nie wieder!

Er hörte Egmont sagen:»Ich glaube, meine Herren, wenn die Damen sich jetzt zurückziehen, sollten wir in einen kühleren Raum überwechseln.»

Irgendwie schaffte es Bolitho, rechtzeitig auf die Füße zu kommen und der runzligen Dame aus ihrem Stuhl zu helfen. Als sie den anderen Damen zur Tür folgte, welche die Männer sich selber überließen, kaute sie immer noch.

Ein Diener öffnete eine andere Tür und wartete, daß Egmont seine Gäste in einen Raum mit Ausblick zur See führte. Dankbar trat Bo-litho hinaus auf die Terrasse und lehnte sich an die Steinbrüstung. Nach der Hitze der Kerzen und dem vielen Wein wirkte die Luft hier rein wie ein Bergquell.

Er schaute zum Mond auf und dann hinüber zum Ankerplatz der

Destiny, aus deren offenen Stückpforten Licht fiel und sich im Wasser spiegelte, als ob das Schiff brenne.

Der Schiffsarzt trat zu Bolitho an die Brüstung und holte tief Luft.»Das war ein richtiges Gastmahl, mein Junge!«Er stieß kräftig auf.»Es hätte ausgereicht, ein ganzes Dorf einen Monat lang zu sättigen. Stellen Sie sich vor: Das alles muß aus Frankreich und Spanien herübergebracht werden — ohne Rücksicht auf die Kosten. Wenn man bedenkt, daß viele Menschen froh wären, wenn sie nur einen Laib Brot hätten, wird man ziemlich nachdenklich.»

Bolitho sah ihn an. Auch er hatte schon daran gedacht, allerdings nicht in Zusammenhang mit der Ungerechtigkeit. Er fragte sich, wie Egmont, ein Fremder in diesem Land, so reich hatte werden können. Reich genug, um sich alle Wünsche zu erfüllen, sogar den nach einer schönen Frau, die halb so alt war wie er. Der doppelköpfige Vogel an Mrs. Egmonts Hals war aus purem Gold gewesen und ein Vermögen wert. Gehörte er zum Schatz der Asturias? Egmont hatte Dumaresqs Vater gekannt, aber dessen Sohn offenbar bisher nicht kennengelernt. Die beiden hatten- soweit Bolitho beobachten konnte — kaum miteinander gesprochen oder höchstens in Gegenwart anderer und im üblichen leichten Plauderton.

Bulkley lehnte sich vor und rückte seine Brille zurecht.»Da fährt ein übereifriger Kapitän, der nicht bis zur Morgentide warten kann.»

Bolitho wandte sich um und schaute seewärts. Sein geübtes Auge entdeckte schnell ein Schiff, das gerade die Reede verließ.

Bulkley sagte beiläufig:»Muß ein Einheimischer sein. Jeder Fremde würde hier auf Grund laufen.»

Palliser rief aus der offenen Tür:»Kommen Sie herein, und leisten Sie uns Gesellschaft!»

Bulkley lachte in sich hinein.»Immer großzügig, wenn's nicht auf seine Kosten geht.»

Aber Bolitho blieb, wo er war. Aus dem Raum drang schon Lärm genug, Gelächter und Geklirr von Gläsern, dazu Colpoys' Stimme, die sich immer höher über die anderen erhob. Bolithos Abwesenheit schien gar nicht aufzufallen.

Er spazierte auf der mondbeschienenen Terrasse auf und ab und ließ den Seewind sein Gesicht kühlen. Als er an einem abgelegenen Raum vorbeikam, hörte er Dumaresq Stimme, sehr nahe, sehr eindringlich:

«Ich bin nicht so weit hergekommen, um mich mit Ausreden abspeisen zu lassen. Sie steckten von Anfang an bis zum Hals in der Sache drin. So viel hat mir mein Vater immerhin erzählt, bevor er starb. «Die Verachtung in seiner Stimme war schneidend wie ein Peitschenhieb.»Meines Vaters gt;tapfererlt; Erster Offizier, der sich zurückzog, als er dringend gebraucht wurde!»

Bolitho wußte, daß er hätte weitergehen sollen, aber er konnte sich nicht bewegen. Dumaresqs Ton schien seine Beine zu lähmen. Es lag etwas darin, das sich in Jahren aufgestaut hatte und nicht länger zurückhalten ließ.

Egmont protestierte lahm:»Ich habe es nicht gewußt. Sie müssen mir glauben. Ich mochte Ihren Vater. Ich habe ihm treu gedient und ihn immer bewundert.»

Dumaresqs Stimme klang jetzt gedämpft. Er mußte sich ungeduldig abgewandt haben.

«Aber mein Vater, den Sie so bewundert haben, starb als armer Mann — das übliche Schicksal eines abgehalfterten Schiffskommandanten, der nur noch einen Arm und ein Bein besaß. Dennoch bewahrte er Ihr Geheimnis, Egmont, er zumindest hielt sich an das, was wir Loyalität nennen! Jetzt könnte das Ende für alles gekommen sein, was Ihnen lieb ist.»

«Wollen Sie mir drohen, Sir, in meinem eigenen Haus? Der Vizekönig schätzt mich. Er wird sich sehr schnell äußern, wenn ich mich bei ihm beschwere.»

«Wirklich?«Dumaresqs Stimme wurde gefährlich ruhig.»Piers Garrick war ein Pirat, vielleicht von vornehmer Herkunft, aber seinem Wesen nach ein verdammter Pirat. Wenn die Wahrheit über die Astu-rias herausgekommen wäre, hätte ihn selbst sein Kaperbrief nicht vor dem Galgen retten können. Das Schatzschiff hat sich tapfer gewehrt, und Garricks Kaperschiff wurde schwer beschädigt. Der Don strich die Flagge, weil er wahrscheinlich nicht erkannt hatte, daß Garricks Schiff völlig durchlöchert war. Das war das Dümmste, was er tun konnte.»

Bolitho wartete mit angehaltenem Atem und fürchtete, die plötzliche Stille könnte bedeuten, daß seine Anwesenheit bemerkt worden war.

Doch Dumaresq sagte unvermittelt:»Garrick versenkte sein eigenes

Schiff und übernahm die Asturias. Wahrscheinlich tötete er die meisten Spanier oder ließ sie da, wo niemand sie finden konnte, verhungern. Es war ja alles so einfach für ihn. Unter irgendeinem Vorwand führte er das Schatzschiff in diesen Hafen. England und Spanien lagen im Krieg miteinander, so durfte die Asturias kurze Zeit bleiben, um — offiziell — Reparaturen auszuführen; in Wirklichkeit aber, um zu beweisen, daß sie nach dem Gefecht mit Garrick noch schwamm. «Egmont sagte unsicher:»Das ist eine Vermutung.«»Wirklich? Lassen Sie mich fortfahren, dann können Sie entscheiden, ob Sie immer noch den Vizekönig um Hilfe bitten wollen. «Seine Stimme war so schneidend, daß Bolitho fast Mitleid für Egmont empfand.

Dumaresq fuhr fort:»Ein englisches Kriegsschiff wurde ausgesandt, um den Verlust von Garricks Schiff und das Verschwinden des Schatzes, der eine rechtmäßige Prise des Königs gewesen wäre, zu untersuchen. Dieses Schiff wurde von meinem Vater geführt. Sie, sein Erster Offizier, wurden losgeschickt, um eine Erklärung von Garrick einzuholen; er muß erkannt haben, daß er reif für den Galgen war, wenn er Sie nicht auf seine Seite zog. Mit Ihrer Hilfe wurde er rehabilitiert. Und während er sein Gold aus dem Versteck holte, wo er es nach Versenkung der Asturias verborgen hatte, quittierten Sie den Dienst in der Marine und tauchten seltsamerweise ausgerechnet hier in Rio auf, wo alles begonnen hatte. Aber diesmal als reicher Mann, als sehr reicher Mann. Mein Vater hingegen diente weiter. Dann, im Jahr 1762, als er mit Admiral Rodney von Martinique aus die Franzosen von den Karibischen Inseln vertrieb, wurde er schwer verwundet, was ihm den Lebensnerv zerschnitt. Welche Folgerungen sind aus dieser Geschichte zu ziehen?»

«Was wünschen Sie von mir?«Egmont wirkte benommen, überwältigt von Dumaresqs totalem Sieg.

«Ich verlange eine beschworene Erklärung, die bestätigt, was ich soeben gesagt habe. Notfalls werde ich die Hilfe des Vizekönigs in Anspruch nehmen, sobald der Haftbefehl aus England eintrifft. Den Rest können Sie sich denken. Mit Ihrer Erklärung und der Vollmacht, die Seine Majestät und die Lords der Admiralität mir erteilt haben, beabsichtige ich, Sir Piers Garrick festzunehmen und nach England vor Gericht zu bringen. Außerdem will ich den Goldschatz oder vielmehr das, was noch davon übrig ist. Aber in erster Linie will ich Garrick!»

«Warum behandeln Sie mich dann so schlecht? Ich hatte nichts mit dem zu tun, was Ihrem Vater bei Martinique passierte. Damals war ich nicht mehr in der Marine, das wissen Sie doch!»

«Piers Garrick lieferte Waffen und sonstiges militärisches Material an die französischen Garnisonen in Martinique und Guadeloupe. Ohne ihn — und Sie — wäre mein Vater vielleicht unverwundet geblieben. Und Garrick hätte nicht ein zweites Mal Gelegenheit gehabt, sein Vaterland zu verraten.«»Ich — weiß… Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.«»Ihre Zeit ist abgelaufen, Egmont. Sie hatten volle dreißig Jahre Frist. Ich verlange, daß Sie mir Garricks Schlupfwinkel nennen, mir sagen, was er tut, und alles, was Sie über den Goldschatz wissen. Alles! Wenn Sie meine Forderung erfüllen, segle ich weiter, und Sie sehen mich nicht wieder. Wenn nicht. «Dumaresq ließ den Rest ungesagt.

Egmont sagte:»Kann ich Ihnen trauen?»

«Mein Vater traute Ihnen. «Dumaresq stieß ein kurzes Lachen aus.»Wählen Sie.»

Bolitho preßte sich mit dem Rücken an die Wand und blickte zu den Sternen auf. Dumaresq wurde offenbar nicht nur von Pflichtgefühl und Tatkraft getrieben, sondern auch von Haß. Haß hatte ihn vage Informationen sammeln und nach dem Schlüssel suchen lassen, der die Tür zu dem Geheimnis um Garrick öffnen konnte. Kein Wunder, daß die Admiralität gerade ihn mit diesem Auftrag betraut hatte: Der zusätzliche Ansporn der Rachsucht gab Dumaresq einen meilenweiten Vorsprung vor jedem anderen Kommandanten.

Eine Tür flog krachend auf, und Bolitho hörte Rhodes singen und dann protestieren, als er von anderen in den Raum zurückgezogen wurde.

Er ging langsam über die Terrasse davon, verwirrt von dem eben Gehörten. Wie konnte er wieder Dienst tun, ohne sein Wissen preiszugeben? Dumaresq würde ihn in Sekunden durchschauen.

Plötzlich war Bolitho völlig nüchtern. Was würde aus Mrs. Egmont werden, wenn Dumaresq seine Drohung wahr machte? Er drehte sich heftig um und ging auf die offenen Türen zu. Als er eintrat, bemerkte er, daß einige Gäste schon gegangen waren. Der Kommandeur der Festungsbatterien verneigte sich tief und schwenkte dabei den Hut vor seinem stattlichen Bauch. Egmont stand neben seiner Frau, das Gesicht bleich, aber ausdruckslos. Dumaresq gab sich gewandt wie zu Beginn des Festes; er nickte den scheidenden Portugiesen freundlich zu und küßte behandschuhte Damenhände zum Abschied. Beide schienen von den Menschen, die Bolitho soeben ungewollt hatte streiten hören, himmelweit verschieden zu sein.

Dumaresq sagte:»Ich glaube, meine Offiziere sind mit mir einig in der Begeisterung für diese Festtafel, Mr. Egmont!«Sein Blick haftete nur einen Augenblick auf Bolitho, aber dieser spürte die Frage, als wäre sie laut hinausgeschrien worden.»Ich hoffe, wir können Ihre Freundlichkeit erwidern. Doch Dienst ist Dienst, wie Sie aus eigener Erfahrung wissen.»

Bolitho schaute in die Runde, aber niemand schien die Spannung zwischen Egmont und dem Kommandanten bemerkt zu haben.

Egmont wandte sich ab und sagte:»Wir wollen uns allen eine gute Nacht wünschen, meine Herren.»

Seine Frau trat vor, doch ihre Augen lagen im Schatten, als sie Du-maresq die Hand hinhielt.»Man könnte auch schon gt;Guten Morgenlt; sagen, nicht wahr?«Dumaresq lächelte und küßte ihre Hand.»Sie zu sehen, ist zu jeder Tageszeit ein Genuß, Madam.»

Sein Blick blieb an ihrem halb entblößten Busen haften, und Bolitho lief rot an, als ihm einfiel, was Dumaresq über das Mädchen gesagt hatte, dem sie mit ihrer Kutsche begegnet waren.

Mrs. Egmont schenkte dem Kapitän ein Lächeln, ihre Augen strahlten jetzt im Widerschein des Kerzenlichts.»Dann haben Sie für einen Tag sicher genug gesehen, Sir!»

Dumaresq lachte und nahm seinen Hut von einem Diener in Empfang, während die anderen sich verabschiedeten.

Rhodes wurde gemeinsam aus dem Hause getragen und in eine der wartenden Kutschen gelegt, wo er selig lächelnd weiterschlief.

Palliser murmelte:»Elende Schande!»

Colpoys, den nur seine Eitelkeit davor bewahrt hatte, wie Rhodes zusammenzuklappen, lallte mit schwerer Zunge:»Wunderbarer Abend, Madam. «Als er sich über Mrs. Egmonts Hand beugte, fiel er beinahe vornüber.

Egmont sagte scharf:»Du gehst besser hinein, Aurora, es wird schon feucht und kühl.»

Bolitho sah sie an. Aurora — welch wunderbarer Name. Er holte seinen Hut und machte Anstalten, den anderen zu folgen.

«Nun, Leutnant, haben Sie mir gar nichts zu sagen?»

Sie sah ihn an, wie sie es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

«Verzeihung, Madam.»

Sie streckte ihm die Hand hin.»Entschuldigen Sie sich nicht so oft. Ich wollte, wir hätten mehr Zeit gehabt, miteinander zu reden, aber es waren zu viele Leute da. «Sie warf den Kopf zurück, und die rubinen-besetzten Schwanzfedern des Schmuckvogels tanzten über ihrem Busen.»Hoffentlich haben Sie sich nicht zu sehr gelangweilt.»

Bolitho bemerkte, daß sie den langen weißen Handschuh ausgezogen hatte, bevor sie ihm die Rechte bot.

Er hielt ihre Finger und sagte:»Ich habe mich nicht gelangweilt, ich war unglücklich. Das ist ein Unterschied.»

Sie zog die Hand zurück; Bolitho fürchtete, er hätte durch seine Plumpheit alles zerstört. Aber Mrs. Egmont warf nur einen Blick auf ihren Mann, der Bulkleys Abschiedsworten zuhörte: dann sagte sie mit weicher Stimme:»Wir dürfen Sie nicht unglücklich sein lassen, Leutnant, nicht wahr?«Sie sah ihn an, und ihre Augen strahlten.»Das würde ich nie tun.»

Bolitho verbeugte sich und murmelte:»Wann darf ich Sie wiedersehen?»

Egmont rief ihm zu:»Kommen Sie, die anderen sind schon gegangen!»

Er schüttelte Bolithos Hand.»Halten Sie Ihren Kommandanten nicht auf, das lohnt sich nicht.»

Bolitho ging zu einer der wartenden Kutschen und kletterte hinein. Aurora wußte also Bescheid und verstand ihn. Nach allem, was er mit angehört hatte, würde sie einen Freund brauchen. Er starrte blicklos in die Dunkelheit, hörte noch ihre Stimme, fühlte wieder den warmen Druck ihrer Finger.»Aurora. «Erschrocken fuhr er hoch, als er merkte, daß er ihren Namen laut ausgesprochen hatte.

Aber er brauchte sich nicht zu beunruhigen. Alle seine Gefährten waren fest eingeschlafen.

Sie wand sich in seinen Armen, lachend und zugleich aufreizend, als er sie festzuhalten, ihre nackten Schultern mit Küssen zu bedecken versuchte.

Bolitho fuhr keuchend und mit jagendem Puls in seiner Koje hoch, weil ihm eine Laterne direkt ins Gesicht leuchtete. Es war Yeames, der Steuermannsmaat, der die Verwirrung des Leutnants und sein langsames Erwachen neugierig beobachtete. Bolitho fragte:»Welche Zeit haben wir?»

Yeames grinste mitleidlos.»Es ist früher Morgen, Sir. Die Männer haben gerade die Sandsteine zum Deckschrubben geholt. «Wie nebenbei setzte er hinzu:»Der Kommandant wünscht Sie zu sehen.»

Bolitho rollte sich aus der Koje und sprang beidbeinig auf, damit er nicht etwa umfiel. Die kurze Erfrischung auf Egmonts Terrasse war vergessen; sein Kopf kam ihm vor wie ein Amboß, auf dem eifrig herumgehämmert wurde, außerdem hatte er einen scheußlichen Geschmack im Mund.

Früher Morgen, hatte Yeames gesagt. Also hatte er nur zwei Stunden in seiner Koje gelegen.

In der Nachbarkammer hörte er Rhodes ächzen und stöhnen und dann aufschreien, als ein unbekannter Matrose etwas Schweres auf das Achterdeck über seinem Kopf fallenließ. Yeames drängte Bolitho:»Sie sollten sich beeilen, Sir!«Bolitho zog die Kniehose an und griff nach seinem Hemd, das irgendwo in einer Ecke des kleinen Raumes lag.»Gibt's Ärger?»

Yeames zuckte die Schultern.»Hängt davon ab, was Sie als Ärger bezeichnen, Sir.»

Für ihn war Bolitho immer noch eine unbekannte Größe. Sein Wissen mit ihm zu teilen, nur weil Bolitho beunruhigt war, mußte ihm töricht vorkommen.

Bolitho fand seinen Hut und eilte, während er noch seinen Rock anzog, durch die Messe nach achtern zur Kapitänskajüte.

Der Posten davor rief:»Der Dritte Offizier, Sir!«Macmillan, der Kommandantensteward, riß die Lamellentür auf, als ob er dahinter schon gewartet hätte.

Bolitho ging zum achteren Teil der Kajüte durch und sah Dumaresq an den Heckfenstern stehen: das Haar wirr und seine Kleider so unordentlich, als hätte er keine Zeit gehabt, sich nach der Rückkehr aus

Egmonts Haus umzuziehen. In einer Ecke neben den Seitenfenstern kratzte Spillane, der neuernannte Schreiber, mit seiner Feder und tat, als wundere es ihn nicht, zu so früher Stunde gerufen worden zu sein. Die beiden anderen Anwesenden waren Gulliver, der Master, und Midshipman Jury.

Dumaresq warf Bolitho einen Blick zu.»Sie sollten sofort kommen. Ich verlange nicht, daß meine Offiziere sich wie für einen Ball herausputzen, wenn ich sie brauche!»

Bolitho schaute auf sein zerknautschtes Hemd und die verdrehten Strümpfe hinunter. Da er den Hut unter den Arm geklemmt trug, hingen ihm die Haare so ins Gesicht, wie sie zuvor auf dem Kopfkissen gelegen hatten. Er sah wohl kaum aus wie für einen Ball herausgeputzt.

Dumaresq sagte:»Während meiner Abwesenheit an Land ist Ihr Matrose Murray desertiert. Er war nicht in seiner Zelle, sondern auf dem Weg zum Krankenrevier, weil er über starke Magenschmerzen klagte. «Er verlagerte seinen Zorn auf den Master.»Gott verdamm-mich, Mr. Gulliver, es war doch klar, was Murray vorhatte!»

Gulliver feuchtete seine Lippen an.»Ich hatte das Kommando über das Schiff, Sir, und sah keinen Grund, Murray leiden zu lassen, zumal der Mann noch nicht schuldig befunden war.»

Midshipman Jury sagte:»Die Meldung ist von mir nach achtern gebracht worden, Sir. Es war meine Schuld.»

Dumaresq fuhr ihm brüsk über den Mund:»Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden! Sie hatten keine Schuld, denn Kadetten tragen noch keine Verantwortung. Dazu besitzen Sie weder den Verstand noch die Erfahrung. «Sein Blick kehrte zu Gulliver zurück.»Erzählen Sie Mr. Bolitho den Rest.»

Gullivers Stimme klang belegt.»Der Schiffskorporal begleitete Murray und wurde von ihm niedergeschlagen. Murray sprang über Bord und schwamm an Land, bevor Alarm geschlagen werden konnte. «Er schien beleidigt, weil er seine Erklärung für einen so jungen Leutnant wiederholen mußte.

Dumaresq sagte:»So ist das also. Ihr Vertrauen in den Mann war ungerechtfertigt. Er floh vor der Prügelstrafe. Aber wenn wir ihn jetzt fangen, muß er hängen. «Er schaute Spillane an.»Schreiben Sie ins Logbuch: gt;Desertiertlt;!»

Bolitho bemerkte Jurys bekümmerte Miene. Es gab nur drei Möglichkeiten für einen Mann, die Marine zu verlassen: R, D oder DD im Logbuch. R bedeutete Run (desertiert), D stand für Discharged (gestrichen wegen Untauglichkeit), DD für Discharged-Dead (gestrichen — tot). Murrays nächste Eintragung würde die letzte für ihn sein: DD, also gestrichen — tot.

Und alles wegen einer Uhr. Aber trotz seiner Enttäuschung über Murray war Bolitho seltsam erleichtert. Es drohte keine Auspeitschung des Mannes mehr, den er mochte und der Jury das Leben gerettet hatte. Und auch was hinterherkam, dieses Nachspiel von Bitterkeit und Mißtrauen, war vermieden, wenn die Flucht gelang.

Dumaresq sagte langsam:»Genug davon. Mr. Bolitho, Sie bleiben bitte noch. Die anderen können weitermachen.»

Macmillan schloß die Tür hinter Jury und Gulliver. Die steifen Schultern des Masters drückten seine Empörung aus.

Dumaresq fragte:»Sie meinen, ich sei zu hart? Aber nur so kann verhängnisvolle Weichheit später vermieden werden. «Er hatte sich so schnell beruhigt, wie nur er es konnte. Ohne sichtbare Anstrengung schüttelte er den Zorn von sich ab.»Ich bin erfreut, daß Sie gestern abend eine gute Figur gemacht haben, Mr. Bolitho. Ich hoffe, Sie haben Augen und Ohren offengehalten.»

In diesem Augenblick stampfte die Muskete des Kajütpostens draußen wieder auf.»Der Erste Offizier, Sir!»

Bolitho beobachtete, wie Palliser die Kajüte betrat, den Tagesdienstplan unter dem Arm. Er sah hagerer aus als sonst, als er sagte:»Die Wasserprähme sollen heute endlich kommen, Sir. Ich werde Mr. Timbrell sagen, daß er sich entsprechend vorbereitet. Ferner stehen zwei Leute zur Beförderung an, und dann ist da noch die Frage, wie der Korporal bestraft werden soll, der Murray entkommen ließ. «Sein Blick wanderte zu Bolitho, dem er ein kurzes Nicken gönnte.

Bolitho fragte sich, ob es Zufall war, daß Palliser sich immer in der Nähe aufhielt, wenn er selbst mit dem Kommandanten sprach.

«Sehr gut, Mr. Palliser, obwohl ich erst an diese Wasserprähme glaube, wenn ich sie sehe. «Dumaresq schaute Bolitho an.»Bringen Sie Ihren Aufzug in Ordnung und fahren Sie dann an Land. Ich glaube, Mr. Egmont hat einen Brief für mich.»

Er lächelte flüchtig.

«Halten Sie sich nicht zu lange auf, denn ich weiß, daß es viele Ablenkungen in Rio gibt.»

Bolitho spürte, wie er rot anlief.»Aye, Sir. Ich werde mich sofort auf den Weg machen. «Er eilte aus der Kajüte und hörte noch Duma-resq» junger Teufel «sagen, aber ohne Bosheit in der Stimme.

Zwanzig Minuten später saß Bolitho in der Jolle und wurde an Land gepullt. Er sah, daß Stockdale als Bootssteurer fungierte, befragte ihn aber nicht deswegen. Stockdale schien schnell Freunde zu gewinnen, obwohl sicher auch seine furchterregende Erscheinung damit zu tun hatte, daß man ihm so viel Bewegungsfreiheit ließ.

Stockdale befahl plötzlich:»Auf Riemen!»

Die Riemen ruhten tropfend in den Rundsein, und Bolitho bemerkte, daß die Jolle Fahrt verlor und damit vermied, daß sie von einem anderen Schiff über den Haufen gesegelt wurde. Es war eine Brigg, ein kräftiges, aber offenbar nicht mehr neues Schiff mit geflickten Segeln und manchen Schrammen am Rumpf, die auf harte Kämpfe mit We l-len und Wind hinwiesen.

Die Brigg hatte schon Marssegel gesetzt, und Leute kletterten gerade an den Stagen herunter, um auch die Breitfock loszumachen, noch bevor sie frei waren von den vor Anker liegenden Schiffen.

Langsam glitt sie zwischen der Jolle der Destiny und einigen einlaufenden Fischerbooten hindurch, dabei fiel ihr Schatten auf die Ruderer, die vor sich hinträumten und darauf warteten, daß es weiterging.

Bolitho las den Namen über ihrem Heck: Rosario. Eines von Hunderten ähnlicher Fahrzeuge, die täglich Stürmen und anderen Gefahren trotzten, um Handel zu treiben und die Grenzen des wachsenden Kolonialreiches weiter vorzuschieben.

Stockdale befahl:»Rudert an!»

Bolitho wollte seine Aufmerksamkeit gerade auf das Ufer richten, als er eine Bewegung am Heckfenster der Rosario bemerkte. Im ersten Augenblick dachte er, es sei ein Irrtum, aber das war es nicht: Das schwarze Haar und ovale Gesicht waren unverkennbar. Sie war zu weit weg, als daß er das Violett ihrer Augen erkennen konnte, doch sah er, daß sie zu ihm herüberschaute, bevor die Brigg Kurs änderte und das Sonnenlicht die Heckfenster in feurige Spiegel verwandelte.


Mit bangem Herzen erreichte Bolitho das Haus hinter der uralten Mauer. Egmonts Diener erklärte ihm kühl, daß die Herrschaften abgereist seien. Er wüßte nicht, wohin.

Bolitho kehrte an Bord zurück, um Dumaresq zu berichten. Er erwartete einen neuerlichen Zornesausbruch wegen des abermaligen Rückschlags.

Palliser stand dabei, als Bolitho mit dem herausplatzte, was er erfahren hatte, obwohl er nicht erwähnte, daß er Egmonts Frau auf der Rosario gesehen hatte. Das war auch nicht nötig, denn Dumaresq sagte:»Das einzige Schiff, das inzwischen ausgelaufen ist, war die Brigg. Er muß an Bord sein. Wer einmal ein verdammter Verräter war, der bleibt es auch. Schön, er soll uns diesmal nicht entwischen, bei Gott nicht!»

Palliser sagte ernst:»Das also war der Grund für all die Verzögerungen. Kein Trinkwasser, keine Audienz beim Vizekönig. Sie wollten uns hier festhalten. «Sein Ton klang plötzlich bitter.»Wir haben keine Bewegungsfreiheit, und sie wissen das.»

Überraschenderweise zeigte Dumaresq ein breites Lächeln. Dann rief er:»Macmillan, ich möchte eine Rasur und ein Bad! Spillane, halten Sie sich bereit, einige Befehle für Mr. Palliser niederzuschreiben. «Er ging zu den Heckfenstern und beugte sich über das Süll, den Kopf zum Ruder gesenkt.»Suchen Sie sich ein paar gute Leute aus, Mr. Palliser, und schiffen Sie sich mit ihnen auf der Heloise ein. Treiben Sie möglichst wenig Aufwand, damit das Wachboot nicht aufmerksam wird. Nehmen Sie deshalb auch keine Seesoldaten mit. Gehen Sie Anker auf, und jagen Sie der verdammten Brigg nach. Verlieren Sie sie nicht aus den Augen!»

Bolitho beobachtete die Veränderung, die in Dumaresq vorging. Nun wurde auch klar, warum er Slade daran gehindert hatte, bis in die Innenreede zu segeln. Er hatte eine ähnliche Entwicklung vorausgesehen und nun einen Trumpf in der Hand — wie immer.

Pallisers Hirn arbeitet bereits auf vollen Touren.»Und Sie, Sir?»

Dumaresq beobachtete seinen Steward, der Seifennapf und Rasiermesser neben seinem Lieblingsstuhl bereitlegte.

«Mit oder ohne Trinkwasser, Mr. Palliser, ich werde heute nacht Anker lichten und Ihnen folgen.»

Palliser sah ihn zweifelnd an.»Die Batterie könnte das Feuer eröffnen, Sir!»

«Bei Tageslicht vielleicht. Aber es geht hier um sehr viel, auch um das, was man gt;Ehrelt; nennen könnte. Ich beabsichtige, das auszuloten. «Er wandte sich ab und entließ sie damit, fügte dann aber noch hinzu:»Nehmen Sie den Dritten Offizier hier mit. Rhodes brauche ich, auch wenn sein Kopf von der Sauferei zu platzen droht, damit er Ihre Aufgaben hier an Bord übernimmt.»

Zu anderer Zeit hätte Bolitho den Auftrag freudig begrüßt, aber er hatte den Ausdruck in Pallisers Augen bemerkt und erinnerte sich an das Gesicht hinter den Kajütfenstern der Brigg. Aurora würde ihn nun verachten. Es war vorbei, genau wie sein schöner Traum von ihr.