"Galeeren in der Ostsee: Konteradmiral Bolitho vor Kopenhagen" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)X TraumgebildeNach einer der stürmischsten Überfahrten, an die Bolitho sich erinnern konnte, hatte die Die schmutzig gelben Wellenkämme schienen ihm beinahe schön, und die klamme Luft in der Kajüte war ihm nicht länger lästig. Bo-litho trat vorsichtig von den Heckfenstern zurück; obwohl er sich bemühte, sein verwundetes Bein nicht zu belasten, hätte er vor Schmerz fast aufgeschrien. Jeden Tag hatte er sich gezwungen, von Allday und Ozzard gestützt, ein paar Schritte zu gehen. Stolz oder Zorn — er war sich noch nicht sicher, was von beiden überwog — hatte ihn auf den Weg der Genesung getrieben. Er hegte den Verdacht, daß Kommodore Rice vom Downs-Geschwader vielleicht ungewollt einiges damit zu tun gehabt hatte. Herrick hatte darum gebeten, daß Rice das Kommando über die vereinten Geschwader übernahm, während er selber die Herrick klopfte an die Tür und trat ein.»Wir haben geankert, Sir. «Er schaute Bolitho prüfend an und fügte hinzu:»Sie sollten sich schonen.» «Wollen Sie mich vielleicht im Bootsmannsstuhl in mein Boot ab-fieren, Thomas? Wie den Arzt, den wir einmal hatten, oder wie ein Stück überzähliger Ladung?«Er zuckte zusammen, als das Deck sich plötzlich seitwärts neigte.»Aber ich werde vorsichtig sein.» Herrick lächelte.» Aye, Sir. Sobald die Tide wechselt, beabsichtige ich, in Portsmouth ins Dock zu gehen. Ich habe dem Hafenadmiral entsprechende Nachricht geschickt. «Dann setzte er ernst hinzu:»Der Sechste Offizier ist eben gestorben. So nahe am Zuhause.» Bolitho nickte. Es war besser so. Ein junger Offizier, dem das halbe Gesicht weggeschossen und der auch geistesgestört war, wäre an Land eine Tragödie gewesen. Jetzt konnte wenigstens die Erinnerung an ihn von seiner Familie hochgehalten werden. Er sagte:»So viele gute Leute, Thomas. Ich hoffe, sie sind nicht umsonst gestorben.» Herrick lächelte.»Werfen Sie es hinter sich, Sir. Das haben wir doch schon oft genug tun müssen.» «Und was wollen Sie machen?» «Wenn wir eingedockt sind, werde ich die Midships und einige der Verheirateten nach Hause schicken.» Bolitho verstand. Mit Verheirateten meinte Herrick Offiziere und Deckoffiziere. Gemeine Seeleute, so loyal sie auch sein mochten, hätten sich wahrscheinlich verdrückt, wenn sie erst einmal wieder die Annehmlichkeiten ihres Zuhauses kennenlernten. Herrick sagte:»Ich bleibe natürlich an Bord. Wenn's Gott gefällt, wird meine Frau mich hier besuchen.» Bolitho setzte sich sehr vorsichtig hin.»Sie machen das beste daraus, Thomas, recht so.» «Das ist wahr. Und ich bin glücklich. «Es klang etwas weniger glücklich, als er fragte:»Werden Sie die Admiralität aufsuchen, Sir?» Bolitho zog eine Grimasse.»Ja, aber ich würde lieber zehn solche Überfahrten auf Ihrem Schiff machen als eine Reise im Dienstwagen nach London.» Allday schaute herein. Er war schick angezogen, mit Goldknöpfen am Rock und Schnallenschuhen.»Ich habe die Bootsbesatzung zusammengerufen, Sir.» Herrick starrte Bolitho entsetzt an.»Sie haben doch nicht etwa die Absicht, sich an Land rudern zu lassen, Sir? Wir werden noch heute nacht im Dock sein. Sie können dann leicht morgen früh den Wagen am gt;Georgelt; erreichen.» Bolitho lächelte über seine Aufregung.»Ich muß wieder lernen zu gehen, Thomas. Und irgend etwas sagt mir, daß ich nicht länger hier an Deck herumschlurfen soll.» Herrick seufzte.»Wenn Sie entschlossen sind.» Allday grinste.»Wir wissen beide, was das heißt, nicht wahr, Sir?» Über der Kajüte hörte Bolitho Fußgetrampel und das Quietschen von Taljen. Die Bolitho erlaubte Ozzard, ihm in den Mantel zu helfen. Er zwang sich zu einem unbewegten Gesichtsausdruck, nahm aber an, daß weder Herrick noch Allday sich täuschen ließen. Der Schmerz trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, und jede kleinste Anstrengung kostete ihn fast mehr Kraft, als er besaß. Jetzt noch Säbel und Gurt, dann der Hut, während Ozzard den Zopf über den goldbestickten Kragen legte. Allday zupfte den Gurt zurecht und murmelte:»Wenn Sie noch etwas dünner werden, Sir, können wir Ihnen ein Hundehalsband umlegen.» Browne, schon im Bootsumhang, erschien am Eingang.»Boot liegt längsseit, Sir. «Er ließ die Blicke über Bolithos Erscheinung wandern und nickte billigend. Mit Herrick an der Spitze, marschierten sie von der Hütte auf das nasse Achterdeck. Bolitho gewahrte erstaunt die große Zahl von Seeleuten, die in den Wanten hingen oder auf den Laufbrücken standen. Herrick sagte schnell:»Ich habe keineswegs Befehle dazu gegeben, Sir.» Bolitho nahm den Hut ab und ging langsam in Richtung Fallreep. Die Einstiegspforte schien eine Meile weg zu sein, und jedes langsame Neigen des Decks drohte ihn umzuwerfen. Zum erstenmal seit dem Augenblick, als ihn die Musketenkugel niedergestreckt hatte, war er an Deck. Er brauchte nicht an die Schmerzen und den Blutverlust erinnert zu werden. Noch fühlte er sich innerlich leicht und wie betäubt von der Gewißheit, daß er lebte. Browne flüsterte:»Stützen Sie sich auf mich, Sir.» Selbst er hatte seine übliche Ruhe verloren.»Bitte.» Auf einmal rief einer der Männer:»Bravo!«, was ein allgemeines Beifallsgebrüll auslöste, das wie eine Flutwelle durch das Schiff lief. Pascoe schwenkte mit allen anderen den Hut, und sein lachendes Gesicht sagte alles. Da war Grubb in seinem verschlissenen Mantel, dann die mächtige Gestalt von Leutnant Wolfe, dazu all die anderen Gesichter, die zu Namen geworden waren. Persönlichkeiten. «Gehen Sie schon vor, Mr. Browne. «Bolitho streckte Herrick die Hand hin.»Ich werde Sie auf dem laufenden halten, Thomas. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau. «Er sprach mit zusammengepreßten Zähnen, um den Schmerz zu unterdrücken. Dann schaute er hinunter auf das stark dümpelnde Boot, musterte die Kuttergäste in ihren sauberen karierten Hemden und geteerten Hüten und die Riemen, die sich gegen das dunkle Wasser sehr weiß abhoben. Jetzt oder nie! Bolitho schwang sich nach außen aufs Fallreep und konzentrierte sich völlig auf das Boot und auf Allday, der — den Hut in der Hand — bereitstand, ihm beim Hinunterklettern zu helfen. Die Triller der Bootsmannsmaatenpfeife und die Hochrufe der Matrosen halfen ihm, seine Mühe bei jedem Schritt abwärts zu verbergen, bis er mit einer letzten Anstrengung das Boot erreichte. Als der Kutter sich von der Als die Kuttergäste kräftig durchholten und das Boot am Bug vorbeirauschte, schaute Bolitho zurück auf die hervorstechende Galionsfigur. Vizeadmiral Benbow hatte sein Bein verloren. Fast hätte er es ihm gleichgetan. Sie hatten ein langes und hartes Stück zu rudern, doch irgendwie half es Bolitho, seine Kräfte zu erneuern. Die lebhaften Bewegungen des Kutters, die Spritzer, die sein Gesicht netzten, waren doch besser als sein feuchtes Gefängnis an Bord des Linienschiffes. Ein paar Wachtposten der Seesoldaten bahnten Bolitho einen Weg durch die Menge von Neugierigen, die bei seiner Ankunft zuschauen wollten. In Falmouth und sogar in Plymouth hätte man ihn gleich erkannt. Hier dagegen sahen die Leute fast jeden Tag Admirale kommen und gehen, oft weit ranghöhere als Bolitho. Eine Frau hielt ihr Kind hoch und rief:»Ist es Nelson?» Eine andere sagte:»Er ist in der Schlacht gewesen, wer's auch sein mag.» Bolitho sah erstaunt eine elegante Kutsche, die im Schutz einer Mauer auf sie wartete. Browne erklärte fast entschuldigend:»Ich habe sie bestellt, als wir ankerten. Sie gehört einem Freund meiner Familie, und ich bin froh, daß sie rechtzeitig kam.» Bolitho lächelte. Die Kutsche war wunderbar gefedert und würde sich angenehm von dem Dienstwagen Portsmouth-London unterscheiden. «Sie überraschen mich immer wieder.» Ein junger Leutnant trat vor und zog den Hut.»Ich habe Befehl, Ihnen diese Schreiben zu übergeben, Sir. «Er beobachtete Bolitho mit so unverhohlener Neugier, als wolle er sich jede Einzelheit genau einprägen.»Vom Hafenadmiral und aus Whitehall, Sir.» Browne nahm die Papiere an und übergab sie Allday.»Legen Sie sie in den Wagen, und dann sagen Sie dem zweiten Bootssteurer, daß er mit dem Kutter zur Allday grinste.»Ich habe eine kleine Tasche gepackt, Sir. «Browne seufzte. Allday strahlte seit Bolithos Genesung wie die Tropensonne. «Meine Empfehlung an den Hafenadmiral. «Bolitho stellte sich vor, wie Herrick jetzt seinen Bericht für die Werft diktierte, eine Arbeit, die er haßte, wie die meisten Kommandanten.»Richten Sie ihm bitte Grüße von mir aus.» Browne warf dem Leutnant, dem Boten des Hafenadmirals, einen vernichtenden Blick nach, als er in der Menge untertauchte. Allday kam zurück und kletterte zu dem dicht vermummten Kutscher auf den Bock. Bolitho zögerte noch. Er drehte sich um und warf einen Blick durch das Hafentor auf die Reede hinaus. Viele Schiffe lagen draußen vor Anker, aber er suchte die Endlich kletterte er in die Kutsche und ließ sich erleichtert in die weichen Kissen sinken. «Haben Sie Schmerzen, Sir? Wir können hier eine Zeitlang stehenbleiben, wenn Sie es wünschen. Wagen und Pferde stehen zu Ihrer Verfügung, so lange Sie es wünschen.» Bolitho bewegte sein Bein probeweise.»Das muß aber ein sehr guter Freund sein.» «Ihm gehört die halbe Grafschaft, Sir.» Bolitho zwang seine Glieder, sich Zentimeter um Zentimeter zu entspannen.»Fahren Sie los. Die Arbeit des Doktors scheint zu halten. «Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Dabei kehrten noch einmal all die flüchtigen Erinnerungen zurück: Alldays Gesicht, die Gehilfen des Schiffarztes rundum, die Schmerzen, seine eigene Stimme, ächzend und flehend wie die eines Fremden. Und dann dieser Morgen. Die Seeleute, die ihm zujubelten. Er hatte sie an die Schwelle des Todes geführt, und sie wünschten ihm trotzdem noch Gutes. Die Bewegungen der Kutsche glichen denen eines Bootes in kabbeligem Wasser, und als das Geklapper der Hufe und Knarren der Räder auf Kopfsteinpflaster in das dumpfe Geräusch einer schlammigen Landstraße überging, übermannte Bolitho der Schlaf. «Brrr, Ned! Halt, Blazer!» Bolitho schreckte aus seinem Schlaf hoch und bemerkte gleich mehrere Dinge auf einmal: daß es viel kälter geworden war und daß sich Graupelkörner in den Ecken der Wagenfenster gesammelt hatten. Außerdem schaukelte sein Sitz heftig. Das lag daran, daß Browne mit aller Gewalt versuchte, das Fenster zu öffnen. Er hielt dabei eine gespannte Pistole in der anderen Hand. Browne fluchte:»Gottverdammich, es ist festgeklemmt!«Er bemerkte, daß Bolitho aufgewacht war, und setzte unnötigerweise hinzu: «Draußen gibt's Schwierigkeiten, Sir. Straßenräuber, oder so ähnlich.» Das Fenster fiel so plötzlich herunter wie das Messer einer Guillotine, die kalte Luft strömte herein und füllte in Sekunden das Wageninnere. Bolitho hörte, daß die Pferde unter Kontrolle waren und ihre Hufe nur auf sumpfigem Untergrund schlitterten. Es war der recht Ort für einen Raubüberfall, weit und breit kein Haus zu sehen. Der Wagen hielt, und ein Mann mit weißen Augenbrauen schaute zu ihnen herein. Bolitho schob Brownes Pistole zur Seite. Es war Allday, Gesicht und Brust mit Schnee und Graupelkörnern bedeckt. Allday sagte:»Ein Unfall, Sir. Der andere Wagen ist von der Straße abgekommen. Jemand scheint verletzt zu sein.» Browne kletterte aus dem Wagen und protestierte, als Bolitho ihm folgte. Draußen blies ein starker, stetiger Wind, und als die beiden Offiziere sich hinter Allday vorwärtskämpften, wehten ihre schweren Bootsumhänge wie Banner aus. Der Kutscher war auf seinem Bock geblieben und beruhigte die Pferde, die mit dampfenden Leibern nervös stampften. Die andere Kutsche, kleiner als ihre, lag im Graben neben der Straße. Ein Pferd stand in der Nähe und schien völlig unbeteiligt am Geschehen. Neben dem Hinterrad hob sich ein Blutflecken deutlich vom Schneematsch ab. Allday sagte:»Hier unten, Sir!«Er arbeitete sich mühsam den Abhang hoch und schleppte dabei einen Mann hinter sich her. Dessen eines Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, offensichtlich war es gebrochen. «Vorsichtig!«Browne kniete schon neben ihm.»Bewußtlos, der arme Teufel.» Allday sagte:»Sieht aus, als habe er wegkriechen wollen. Um Hilfe zu holen, nehme ich an.» Sie sahen einander an, und Bolitho befahl:»Schauen Sie in der Kutsche nach. Hier, ziehen Sie mich hoch!» Mit einigen Schwierigkeiten bekamen sie die Tür auf und schlugen sie wie den Deckel einer Stückpforte zurück. Die andere Seite des Wagens lag tief im Matsch. Bolitho sagte:»Es ist eine Frau. Und ganz allein. «Er packte den Türrahmen so fest, daß das zersplitterte Holz seine Haut ritzte. Das konnte doch nicht sein! Er schlief noch, und dies war nur ein quälendes Traumgebilde. Er spürte Allday neben sich.»Alles in Ordnung, Sir?» «Schauen Sie hinein!«Kaum konnte er seine Stimme beherrschen. Allday zwängte ein Bein durch den Türspalt und schlüpfte dann vorsichtig hinein. Drinnen schien es ohne den beißenden Wind und die Nässe fast warm. Er streckte die Hand aus und berührte die Frau, fuhr aber erschreckt zurück, als ihr Kopf ihm langsam entgegensank. «O mein Gott!» Bolitho sagte:»Helfen Sie mir hinein!» Er fühlte nicht einmal, daß sein bandagiertes Bein gegen die Tür stieß. Alles, was er sah, war der Körper der Frau. Ihr Samtmantel war ihr durch den Sturz auf die Füße gerutscht. Das gleiche lange, kastanienbraune Haar, fast das gleiche Gesicht, ähnliche Züge. Sie mußte sogar in Cheneys Alter sein, dachte er verzweifelt. Vorsichtig, fast ohne zu atmen, umfaßte er ihre Schultern und fühlte zögern nach ihrem Herzen. Nichts. Er konzentrierte sich, dachte an die Kraft, die von Allday ausging. Sie mußte leben! Da, ein schwacher Herzschlag unter seinen Fingern. Allday sagte heiser:»Nichts gebrochen, Sir. Nur eine häßliche Beule an der Schläfe.«Überraschend zart wischte er ein paar Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.»Ich würde es einfach nicht glauben, wenn Sie nicht hier wären.» Bolitho hielt sie vorsichtig in den Armen, spürte ihren schwachen Atem und fühlte, wie sich ihr Körper an seinem erwärmte. Er hörte Browne von der Straße rufen:»Was ist los, Sir?«Von seinem Platz bei dem verletzten Kutscher konnte er wahrscheinlich nichts sehen. Was war denn los? Bolitho überlegte. Ein Mädchen, das wie Cheney aussah, aber nicht Cheney war. Eine Kapriole des Schicksals, die sie hier auf der leeren Straße zusammengeführt hatte, sicher nur für einen Augenblick. Allday sagte:»Wir tragen sie am besten in unseren Wagen, Sir. «Er sah Bolitho besorgt an.»Wenn wir nicht gekommen wären, hätten sie bei dieser Kälte kaum überlebt.» Bolitho kletterte verwirrt aus dem Wagen. Die ganze Szene war so, wie er sie sich immer vorgestellt hatte: der zerschmetterte, umgestürzte Wagen und darin wie in einer Falle Cheney mit dem Kind unter ihrem Herzen. Der Kutscher tödlich verletzt, aber Ferguson, sein einarmiger Verwalter, bei ihr. Irgendwie hatte Ferguson es geschafft, Cheney auf der Suche nach Hilfe zwei Meilen weit zu tragen, aber ohne Erfolg. Bolitho hatte sich das Bild so oft vorgestellt. Wenn diese Fremden hier Schauspieler gewesen wären, hätten sie es nicht wahrhaftiger, nicht grausamer nachstellen können. Browne sagte:»Ich habe sein Bein provisorisch geschient. Er ist noch etwas benommen. «Unsicher spähte er durch den Schneeregen, sein Dreispitz glitzerte wie Glas.»Lord Swinburnes Landsitz liegt hier in der Nähe. «Er rief ihrem Kutscher zu:»Kennen Sie ihn?» Der Kutscher nickte, offenbar nicht gewillt, weiter in die Sache hineingezogen zu werden.»Ja, Sir.» In diesem Augenblick schien Browne zu bemerken, daß da noch etwas anderes vorsichging. Er beobachtete Allday, der die bewußtlose Frau zum Wagen trug, und wandte sich an Bolitho, um ihn zu befragen. Aber Bolitho kletterte schon in ihren Wagen, das Gesicht so verschlossen, wie Browne es noch nie gesehen hatte. Allday kam zurück und sah sich den verletzten Kutscher an. Browne flüsterte ihm wütend zu:»Was ist eigentlich los, Mann?» Allday blieb ruhig, obwohl er innerlich kochte.»Mr. Browne, Sir — wenn Sie dem Amiral helfen wollen, dann schlage ich vor, daß Sie in dem anderen Wagen mit nach Gepäckstücken suchen. Hier werden sich bald Diebe einfinden wie Krähen um den Galgen. Dann könnten Sie vielleicht das Pferd hinten an unseren Wagen binden. Ich kann mit Pferden nicht umgehen.» Als Browne sich gehorsam zur umgestürzten Kutsche begab, fügte Allday hinzu:»Der Admiral wird es Ihnen später erklären, Sir. Das ist keine Mißachtung Ihrer Person, nichts für ungut.» Er sagte es so geradeheraus, daß Browne wußte, es hieß:»Geh' zur Hölle, wenn du willst!«Doch dann dämmerte ihm etwas. «Sie sieht seiner toten Frau ähnlich, ist es das?» Allday seufzte.»Es ist kaum zu glauben. Ich kannte Mrs. Bolitho gut und meinte vorhin, ich könnte meinen Augen nicht trauen. «Er starrte zu dem anderen Wagen hinüber, dessen Umriß in dem anhaltenden Schneeregen gerade noch zu erkennen war.»Als ob er nicht schon genug zu verkraften hätte!«Das sagte er derart bitter, daß Browne beschloß, es dabei bewenden zu lassen. Später, als ihre Kutsche behutsam in die andere Straße einbog, das dritte Pferd gehorsam hinter ihnen hertrottend, beobachtete Browne, wie sorgsam Bolitho und Allday sich bemühten, die Frau gegen jeden plötzlichen Ruck des Wagens abzuschirmen. Unter der durch ihre Ohnmacht verursachten Blässe sah man, daß ihre Haut mehr als nur flüchtig erworbene Sonnenbräune aufwies. Sie war offensichtlich erst kürzlich in Übersee gewesen. Browne schätzte ihr Alter auf etwa dreißig Jahre. Sie war liebreizend, ein anderer Ausdruck fiel ihm nicht ein. Die zarten Linien ihres Mundes hatten auch Schock und Schmerz nicht entstellen können. Und dann ihr Haar. Er hatte noch nie eine derart warme Brauntönung gesehen. Eine ihrer Hände fiel herunter, und Browne sah, wie Bolitho sie vorsichtig zurücklegte. Er bemerkte, daß Bolitho dabei zögerte, was er noch nie bei ihm bemerkt hatte. Vielleicht war es der Ring an ihrem Finger, der Ring eines anderen. Das war zu erwarten, dachte Browne. Er sah den traurigen Ausdruck in Bolithos Augen und fühlte sich davon seltsam bewegt. Selbst im Traum sollten solche Dinge nicht passieren. Allday sagte:»Wir fahren gerade an einem Pförtnerhaus vorbei, Sir. «Er spitzte die Ohren, um mitzubekommen, was ihr Kutscher dem Pförtner zurief. Wie zu sich selber sagte er bitter:»Ich wünschte, wir hätten auf Kapitän Herrick gehört und noch eine Jacht an Bord ve r-bracht. Dann hätte er von ihrer Existenz nie erfahren.» Die Kutsche hielt an, und der Klang weiblicher Stimmen drang zu ihnen herein. «Gott steh' uns bei: Marineoffiziere! Helfen Sie mir. Und Sie bestellen Andy, daß er sein Pferd satteln und den Doktor holen soll!«Browne sagte:»Ein Glück, daß ich mich an dieses Gut erinnerte, Sir.» Aber Bolitho hörte ihn nicht. Er folgte bereits den anderen zum Eingang des Herrenhauses. Lord Swinburne schien viel zu klein für einen Mann, der so viel Autorität und ein derart großartiges Haus besaß. Er stand mit seinem Allerwertesten gefährlich nahe am prasselnden Kaminfeuer und blickte mit der wachen Neugier einer Winterdrossel abwechselnd Bolitho und Browne an. «Donnerwetter, was für eine Geschichte, Sir! Gut, daß wir Sie bei uns haben, Bolitho. Offiziere des Königs kommen selten hierher. Und Armee und Flotte haben uns alle jungen Leute weggeholt. Wie mein Verwalter zurechtkommt, wage ich gar nicht zu fragen.» Ein Dienstmädchen trat durch die hohe, zweiflügelige Tür und machte einen Knicks.»Verzeihung, Mylord, aber der Doktor ist gekommen.» «Dann bring' ihn doch nach oben, Mädchen. Und sag' ihm, daß ich etwas zum Aufwärmen habe, wenn er nachher fertig ist.» Das Mädchen knickste wieder und verschwand. Swinburne lachte in sich hinein.»Sie sind also auf dem Weg nach London, sagen Sie? Gut, aber warum wollen Sie nicht bei uns übernachten? Mein Stallmeister meint, das Unwetter verzieht sich bis zum Morgen. Sie sind hier sehr viel besser aufgehoben als in einem flohinfizierten Gasthof, das darf ich wohl sagen. «Er genoß den unerwarteten Besuch. Bolitho streckte das verwundete Bein aus und fühlte, daß die Wärme des Feuers ihm wohltat und den pochenden Schmerz linderte. Swinburne sagte plötzlich sehr ernst:»Gut zu wissen, daß wir noch junge Männer haben, die unsere Flotten befehligen. Gott weiß, daß wir sie dringend brauchen. Wie ich höre, ist Nelson aus dem Mittelmeer zurück und bereits bei der Kanalflotte. Große Dinge bereiten sich vor.» Bolitho nahm ein Glas von einem anderen Diener. Der Wein war kühl und klar, höchstwahrscheinlich auf dem Gut nach einem alten Rezept selbst hergestellt, wie sie es oft in Cornwall machten und in allen anderen Grafschaften, die von ihren eigenen Erzeugnissen leben mußten. Lord Swinburne wußte mehr als er, aber Bolitho war nicht in der Stimmung, Informationen einzuholen. Seine Gedanken kreisten allein um das Mädchen oben. Diese Ausstrahlung! Dieser Duft ihres Haares, als er sie im Wagen gehalten hatte! Es war närrisch, ja verrückt, sie mit Cheney zu vergleichen. Denn das war vorbei. Früher oder später, auf diese oder jene Weise, würde er sich davon befreien müssen. Browne sagte:»Ich würde gern hierbleiben, Mylord. Mein Vater hat oft von Ihnen gesprochen. «Er sah Bolitho an.»Wäre es Ihnen recht, Sir?» Bolitho wollte ablehnen, notfalls unhöflich werden, um nur dem allen zu entfliehen und seine Verzweiflung zu verbergen. Aber in diesem Augenblick sah er einen kleinen, rundlichen Mann mit Brille eintreten und wußte, daß es der Arzt war. «Nun, wie geht es ihr?» Der Doktor nahm ein Schwenkglas mit Brandy entgegen und hielt es voller Bewunderung gegen das Feuer. «Nichts gebrochen, aber sie benötigt Ruhe. Es war ein böser Sturz, und sie hat Prellungen wie ein Preisboxer.» Browne bemühte sich, uninteressiert zu erscheinen, aber er stellte sich vor, wie das reizende Mädchen nackt und hilflos vor den Augen des Arztes gelegen hatte. Der Doktor setzte hinzu:»Sie ist jetzt bei Bewußtsein, Gott sei Dank. Ihre Gattin kümmert sich um sie, Mylord, also ist sie in guten Händen. «Er hielt das Glas zu neuer Füllung hin.»Bei Gott, ich hatte keine Ahnung, daß die Schmuggler ihre Ware bis hierher liefern.» Lord Swinburne grinste verschmitzt.»Sie unverschämter Teufel! Wenn es im Umkreis von fünf Meilen einen anderen Arzt gäbe, würden Sie den Fuß nicht mehr über meine Schwelle setzen.» Sie waren offenbar sehr gute Freunde. Der Doktor stellte sein Glas vorsichtig ab und kam zu Bolitho herüber.»Bitte, halten Sie einen Augenblick still, Sir.» Bolitho wollte protestieren, sah dann aber das Blut auf seinem Bein im Feuerschein wie ein grausames Auge schimmern. Der Arzt knöpfte sich den Rock auf. «Erlauben Sie mir, daß ich Sie in einen anderen Raum führe?» Browne beobachtete fasziniert, wie Bolithos Widerstand sich in Verlegenheit verwandelte, als der Arzt ruhig hinzusetzte:»Ich habe genügend tapfere Männer kennengelernt und weiß mit Wunden umzugehen, Sir.» Als sie den Raum verließen, der hochgewachsene Offizier auf den rundlichen Doktor gestützt, sagte Swinburne:»Sie dienen unter einem bemerkenswerten Mann, Oliver. Welch ein Glück für Sie!» «Wenn der Konteradmiral morgen nicht in der Lage ist, weiterzufahren, werde ich ohne ihn abreisen, Mylord. «Browne dachte über die Konsequenzen seines Entschlusses nach. Es mußte sich lohnen, Admi-ral Beauchamps Gesicht zu sehen, wenn er mit Bolithos Berichten in der Admiralität aufkreuzte. «Ich fürchte, er würde sich sonst Sorgen machen.» «Gute Idee, mein Junge. Die Straßen sind nicht so, wie sie sein sollten.» Der Arzt kehrte zurück und knöpfte seinen Rock zu, womit er andeutete, daß er nun nicht länger arbeitete. Er senkte die Stimme.»Er hat eine schreckliche Wunde, Leutnant, aber sie ist gut versorgt worden. Allerdings verlangt sie sehr viel mehr Geduld, als Ihr Vorgesetzter wohl aufbringt. «Er hielt die Hände ans Feuer.»Er hatte Glück, daß ein so guter Arzt an Bord war. Ich habe von ihm schon gehört und gelesen.» Swinburne sagte:»Und was gedenken Sie, mit dem Admiral zu tun?» «Ich werde ihn hierbehalten, wenn ich darf. Ich glaube, er ist ein einsamer Mann. Der schnelle Wechsel zum stillen Landleben könnte ihm mehr schaden als guttun. «Er machte eine ausholende Bewegung, die den großen, mit Säulen geschmückten Raum umfaßte.»Doch in dieser bescheidenen Hütte und mit dem Weihnachtsfest vor der Tür könnte er schnell genesen.» Swinburne zwinkerte Browne zu.»Also erledigt. Sie fahren zu diesen Eierköpfen von der Admiralität, wenn Sie müssen. Aber seien Sie rechtzeitig zum Fest wieder hier. «Er rieb sich die Hände.»Es wird wieder ganz wie in alten Zeiten. «Als Bolitho zurückkam, wußte er, daß es zwecklos war, zu protestieren oder zu streiten. Manchmal war Nachgeben besser. Schicksal? Herricks berühmte Fortune. Wie man es auch nennen wollte: irgend etwas hatte entschieden, daß er die Er versuchte, seine lächerliche Hoffnung zu unterdrücken, bevor sie ihn vernichtete. Swinburne sagte laut:»Verdammt noch eins, natürlich: Bolitho! Mir ist bis jetzt nicht eingefallen, daß Ein Diener riß die Tür auf, und Lady Swinburne rauschte mit der imposanten Würde eines Linienschiffs herein, um ihre Gäste zu begrüßen. Sie nickte Browne zu.»Ah, Oliver!«war alles, was sie sagte, doch Bolitho vermutete, daß es viel mehr bedeutete. Dann nahm sie Bolithos Hand und musterte ihn neugierig. Sie war eine sehr große Dame, gut einen Kopf größer als ihr Mann. «Konteradmiral Bolitho, Sie sind herzlich willkommen. Sie sehen so aus, wie mein Sohn jetzt wohl ausgesehen hätte. Er fiel bei der Schlacht in der Chesapeake-Bucht.» Swinburne sagte:»Quäl' dich nicht damit, Mildred. Es ist lange her.» Bolitho drückte ihre Hand.»Nicht für mich, Mylady. Ich war dabei.» Sie nickte.»Das dachte ich mir, da Sie gleichaltrig sind. «Ein Lächeln wischte ihre plötzliche Trauer beiseite. Sie sagte:»Oben liegt ein junge Dame, die Sie zu sehen wünscht. Um Ihnen zu danken. «Lady Mildred sah, daß der Arzt kurz den Kopf schüttelte, und bemerkte den Blutfleck auf Bolithos Hose, den auch der Alkohol des Arztes nicht ganz beseitigt hatte.»Na schön, dann eben später. «Sie warf den anderen einen strahlenden Blick zu.»Ein verwundeter Seeheld und eine Dame in Not, kann es bessere Voraussetzungen für ein schönes Weihnachtsfest geben?» |
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