"Galeeren in der Ostsee: Konteradmiral Bolitho vor Kopenhagen" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)XI Eine alte RechnungBolitho stand unentschlossen am frisch entfachten Kaminfeuer und lauschte auf das Prasseln des Graupelregens gegen die Fenster. Es war Abend und er, soweit er wußte, fast allein in dem großen Haus. Sie hatten ihm ein kleines Zimmer im Erdgeschoß eingeräumt und ihn nicht einmal zum Mittagessen geweckt. Als er schließlich aufgewacht war, hatte er seine Kleider sauber zurechtgelegt gefunden und seine Kniehosen wie neu und ohne eine Spur der Blutflecken. Das Haus mußte sehr alt sein, stellte er fest, und viele Generationen von Swinburnes hatten immer wieder daran gebaut. Sein Zimmer war mit hohen Regalen ausgestattet, in denen offenbar vielbenutzte Bücher standen. Es erinnerte ihn an den Raum in Kopenhagen, in dem ihn der Kronprinz empfangen hatte. Auch das schien jetzt Teil eines Traumes zu sein. Nur die schmerzhafte Erinnerung an seine Wunde bürgte für die Realität. Er versuchte, die Frau aus der Kutsche als völlig Fremde zu sehen, wie es selbstverständlich gewesen wäre, wenn sie anders ausgesehen hätte. Ihm war, als träte er von einem Gemälde zurück, dessen Einzelheiten ihn fasziniert hatten, um es nun als Ganzes zu betrachten. Die Tür öffnete sich leise, und er wandte sich um und dachte, es sei Browne oder einer von Swinburnes aufmerksamen Dienstboten. Sie stand da — umrahmt vom Licht aus dem Nebenraum — , Gesicht und Arme vom Feuerschein des Kamins angeleuchtet. Bolitho wollte ihr entgegengehen, aber sie sagte:»Nein, bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Ich habe von Ihrer Verwundung gehört. Sie haben Ihr Leben riskiert, als Sie auf der Straße halfen, meines zu retten.» Sie näherte sich dem vollen Licht des Kaminfeuers, und ihr Kleid schleifte dabei über den Fußboden. Es war weiß mit gelbem Blumenmuster. Ihr langes, kastanienbraunes Haar war mit einem Band der gleichen Farbe zurückgebunden. Sie bemerkte, daß er sie anstarrte, und erklärte:»Das Kleid gehört mir nicht. Lady Swinburnes Tochter hat es mir geliehen. Mein Gepäck habe ich schon nach London geschickt. «Sie zögerte und streckte dann die Hand aus.»Ich bin in Ihrer und Ihrer Freunde Schuld.» Bolitho nahm ihre Hand und suchte hilflos nach den rechten Worten.»Gut, daß wir zur rechten Zeit kamen.» Behutsam machte sie ihre Hand frei und setzte sich.»Sie sind Konteradmiral Bolitho. «Sie lächelte leicht.»Und ich bin Mrs. Belinda Laidlaw.» Bolitho saß ihr gegenüber. Ihre Augen glichen Cheneys überhaupt nicht. Sie waren dunkelbraun. Er sagte:»Wir waren auf dem Weg nach London zur Admiralität. Wir kamen gerade von See. «Er bemühte sich, nicht auf sein Bein zu schauen.»Ich hatte das Pech, mich in einem Augenblick aufzurichten, in dem ich mich besser gebückt hätte.» Sie ging auf seinen mageren Witz nicht ein. «Auch ich bin gerade nach England zurückgekommen. Aus Indien. Mir scheint hier alles ganz anders. «Sie schüttelte sich.»Nicht nur das Klima, alles. Der Krieg ist so nahe, daß ich den Feind fast sehe, der auf der anderen Seite des Kanals wartet, um bei uns zu landen.» «Ich wüßte einige gute Gründe, warum die Franzosen nie kommen werden. «Er lächelte verlegen.»Obwohl sie es versuchen.» «Das nehme auch ich an. «Sie sah gedankenverloren aus. Bolitho vermutete, daß die Erschütterungen und Prellungen doch schlimmer gewesen waren, als der Arzt festgestellt hatte. Er fragte vorsichtig:»Kam Ihr Gatte mit Ihnen?» Ihre Augen verdunkelten sich, während sie zur geschlossenen Tür sah.»Mein Mann ist tot.» Bolitho sah sie an.»Das tut mir leid. Es war taktlos von mir, so neugierig zu fragen. Bitte verzeihen Sie.» Ihr Blick war prüfend. «Sie meinen es ehrlich. Aber ich bin schon über das Schlimmste hinweg. Er war bei der Ostindischen Handelsgesellschaft und beschäftigte sich mit kaufmännischen Angelegenheiten, um den sich ausweitenden Handel auszubauen. Ursprünglich war er Soldat, aber er war zu weich dafür und froh, als er wieder Zivilist werden konnte.» Sie zuckte kurz mit der Schulter, und diese Bewegung berührte Bo-litho tief. «Dann wurde er krank. Auf einer Mission ins Landesinnere hatte er sich ein Fieber geholt. «Ihre Augen waren träumerisch wie ihr Ton, als riefe sie sich jeden Augenblick in die Erinnerung zurück.»Es wurde schlimmer und schlimmer, bis er schließlich das Bett nicht mehr verlassen konnte. Ich habe ihn drei Jahre lang gepflegt. Es war Teil meines Lebens geworden, etwas, das ich tragen mußte, ohne Mitleid oder Hoffnung. Dann, eines Morgens, starb er. Ich wußte nicht, daß er auch einige Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht hatte, schlechte Geschäfte. Wenige Stunden nach seinem Tod stellte ich fest, daß ich ohne Geld und völlig allein dastand.» Bolitho versuchte sich vorzustellen, wie es für sie gewesen sein mußte. Und doch sprach sie ohne Bitterkeit oder Groll. Vielleicht hatte sie während der langen Krankheit ihres Mannes gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie waren. Er sagte:»Wenn ich irgend etwas tun kann…» Sie hob die Hand, lächelnd über seinen Eifer.»Sie haben genug getan. Sobald die Straße wieder befahrbar ist, werde ich in London ein neues Leben beginnen.» «Darf ich fragen, was Sie vorhaben?» «In Bombay hatte ich ein einziges Mal großes Glück. Ich traf zufällig einen leitenden Herrn der Handelsgesellschaft, und zu unser beider Erstaunen stellten wir fest, daß wir verwandt sind. «Sie lächelte bei der Erinnerung.»Sehr entfernt nur, aber es war wie eine rettende Hand, die sich einem Ertrinkenden entgegenstreckte.» Bolitho blickte auf den Teppich, aber sein Verstand rotierte.»Rupert Seton.» «Wie, um alles in der Welt, konnten Sie das wissen?» Er erwiderte:»Ich war kürzlich in Kopenhagen. Dort hörte ich, daß er wenige Tage zuvor auf der Durchreise nach England da gewesen war.» Sie beobachtete besorgt sein Gesicht.»Was bedrückt Sie?» «Ich war mit seiner Schwester verheiratet. «Er sprach düster und hoffnungslos.»Sie starb bei einem Wagenunfall, als ich auf See war. Als ich Sie in der Kutsche sah, Ihr Haar — da dachte ich…Ich stellte mir vor…«Es dauerte einige Sekunden, bevor er den Satz vollendete.»Sie sind ihr sehr ähnlich.» In dem langen Schweigen hörte er eine Uhr ticken, den Schlag seines eigenen Herzens, und weit weg einen Hund aufgeregt bellen. Sie sagte sanft:»So habe ich mir also doch nicht alles nur eingebildet. Die Art, wie Sie mich hielten. Sie gab mir irgendwie die Gewißheit, daß ich geborgen war.» Die Tür öffnete sich, und Browne trat ein.»Verzeihung, Sir, aber ich dachte, Sie wären allein.» Belinda Laidlaw sagte:»Bitte kommen Sie herein, Leutnant. In diesem Haus fühlt man sich wie ein Flüchtling.» Browne rieb sich die Hände am Feuer.»Sie sehen besser aus nach der Ruhepause, Sir. Ich habe mit Lord Swinburnes Stallmeister gesprochen. Er sagt, die Straße wird bei Tagesanbruch wieder benutzbar sein. Das Schneetreiben geht in Regen über. «Als Bolitho nichts sagte, fuhr er eifrig fort:»Wenn Sie erlauben, werde ich Ihre Berichte nach London bringen.» «Einverstanden. «Bolitho blickte auf die Bügelfalte seiner Kniehose nieder und verfluchte seine Wunde.»Ich werde hier auf Ihre Rückkehr warten.» Ihr Kleid raschelte über den Boden, als sie fragte:»Darf ich in Ihrem Wagen mitfahren, Leutnant? Ich fürchte, man wird in London beunruhigt sein, wenn ich noch später komme.» Browne blickte von einem zum anderen und war ungewöhnlich verwirrt.»Gut, gnädige Frau — wollte sagen: gerne, ich bin entzückt, wenn ich Ihnen dienlich sein kann.» Sie drehte sich zu Bolitho um und wartete, als er aufstand.»Ich hätte unser Gespräch gern fortgesetzt. «Sie legte ihm die Hand auf den Arm.»Aber ich fürchte, es hätte uns beiden Schmerz bereitet. Darum möchte ich Ihnen nur noch einmal für Ihre Freundlichkeit danken, und dann früh schlafen gehen, um für einen frühzeitigen Aufbruch bereit zu sein. Es war ein sehr anstrengender Tag, in jeder Hinsicht.» Bolitho starrte auf ihre Hand, die sie von seinem Arm zurückzog. Der kurze Kontakt war unterbrochen. Browne schaute hilflos drein, als die Tür sich hinter Mrs. Laidlaw schloß.»Ich bin wirklich sehr traurig, Sir.» «Traurig? Warum?«Bolitho wandte sich zum Feuer.»Sie haben es fertiggebracht, daß ich eine alte Regel durchbrach. Ich hatte kein Recht, Sie in meine Angelegenheiten hineinzuziehen. «Er wußte, Browne wollte etwas sagen, und fuhr dann schnell fort:»Sie sind ein guter Kerl, Browne. Zuerst war es mir gar nicht recht, einen Flaggleutnant zu haben und mit ihm vertrauliche Kenntnisse zu teilen. Aber inzwischen habe ich Sie kennen und schätzen gelernt.» «Dafür danke ich Ihnen, Sir. «Browne schien erstaunt. «Sprechen wir nicht mehr davon. Ich habe mich lächerlich gemacht und die Dame unnötig beunruhigt. Ich bin wohl schon zu lange Seemann, um mich noch zu ändern. Mein Platz ist auf See, Browne, und wenn ich dazu nicht mehr tauge, lebte ich besser nicht mehr.» Browne verließ leise den Raum und schloß die Tür. Wenn bloß Pas-coe oder Herrick da wären, dachte er. Selbst Allday hatte es bisher nicht geschafft, das Reglement des Swinburnschen Haushalts zu durchbrechen und zu seinem Herrn zu gelangen. Aber Bolitho brauchte jemanden. Browne dachte an die Berichte, an die nagenden Zweifel, die er anfangs bei Bolithos Kommandierung zum Ostseegeschwader gehabt hatte. Nun warf er einen Blick zurück auf die geschlossene Tür und rief sich Bolithos Worte in Erinnerung: gt;Ich habe Sie schätzen gelernt/ In Brownes Kreisen sagte man solche Sachen nicht, daher hatte es ihn tief bewegt. Er sah einen Diener, der mit einem silbernen Tablett unter dem Arm zur Treppe strebte. Er winkte ihn heran.»Würden Sie meinem Admi-ral wohl einen Schluck zu trinken bringen?» Der Diener sah ihn ausdruckslos an.»Französischen Brandy, Sir?» «Nein, das nicht. Mein Admiral führt seit vielen Jahren Krieg gegen die Franzosen. «Er sah, daß seine Worte keinen Eindruck auf das Froschgesicht machten, und fuhr fort:»Etwas kühlen Landwein. Er scheint ihn zu mögen.» Als der Diener sich entfernte, sah Browne Lord Swinburne die große Treppe herunterkommen. Swinburne fragte:»Alles in Ordnung, Oliver?» «Ich habe eine Bitte, Mylord.» «Das überrascht mich nicht. Ganz wie dein Vater. «Er schüttelte sich.»Also?» «Ließe es sich ermöglichen, daß der Bootssteurer des Admirals seinem Herrn etwas Gesellschaft leistet?» «Sein Bootssteurer? Hier?«Die Vogelaugen blitzten.»Aber sicher, er hat gar keinen Diener mitgebracht! Ich werde gleich mit dem Butler sprechen. Hat er speziell seinen Bootssteurer verlangt?» Browne schüttelte den Kopf.»Das nicht, Mylord, aber ich habe das Gefühl, daß es ihm wohltäte.» Seine Lordschaft schlurfte kopfschüttelnd davon.»Völlig verrückt, ganz wie sein Vater.» Später, als der Diener mit dem Tablett zurückkam und gerade in Bo-lithos Zimmer gehen wollte, hielt Allday ihn am Arm fest und sagte brüsk:»Halt, Kamerad, das mache ich!» Der Diener sah Allday hochmütig an, bemerkte dann aber dessen Gesichtsausdruck und die Größe seiner Fäuste. Allday balancierte das Tablett in einer Hand und öffnete mit der anderen die Tür. Das wird zunächst eine Bö geben, ein paar Flüche und Ausbrüche, dachte er. Aber danach… Nun, wir werden sehen. Während Allday ihm Halstuch und Kragen zurechtrückte, überlegte Bolitho ungeduldig, wie er diesen Abend überstehen sollte. Es war Erster Weihnachtstag, ein Tag mit vielem Kommen und Gehen in diesem großen Haus: Bauern, Nachbarn und Lieferanten mit Nachbestellungen in letzter Minute für das festliche Dinner, auf das Swinbur-nes Küche sich schon seit Wochen vorbereitete. Er hörte muntere Geigenklänge von unten und spielte mit dem Gedanken, unter dem Vorwand der Erschöpfung Lord Swinburne und seine Gäste zu meiden. Aber eine derartige Lüge wäre ungezogen und nach all der Fürsorge unverzeihlich gewesen. Draußen schneite es, aber schwächer, so daß die Fahrwege und Dächer das Licht der Laternen, die Besuchern den Weg zum Eingang wiesen, in einem Dutzend schimmernder Farben widerspiegelten. Bolitho war vom Erdgeschoß in diesen Raum umgezogen, aber auch die bessere Aussicht hatte wenig zu seiner Zerstreuung beigetragen. Er wünschte nun, er wäre gleich mit nach London gefahren, ohne Rücksicht auf die Folgen für seine Wunde. Allday trat einen Schritt zurück.»Nun sehen Sie wieder aus wie Sie selber, Sir.» Bolitho bemerkte, daß Allday gedämpft sprach und daß sein prüfender Blick aus halb geschlossenen Augen kam, um ihn keinesfalls zu reizen. Bolitho schämte sich. Allday mußte es in letzter Zeit nicht leicht mit ihm gehabt haben. Er sagte:»Ich wünschte, Sie könnten meinen Platz am Tisch einnehmen. «Dabei warf er einen Blick auf Alldays Spiegelbild.»Sie verdienten es, und noch viel mehr.» Allday fing seinen Blick im Spiegel auf und grinste. Seine Zurückhaltung wich, als er antwortete:»Bei all den feinen Damen, Sir? Da würde ich schön in Verlegenheit kommen, ehrlich.» Irgendwo wurde ein schwerer Gong angeschlagen. Allday nahm Bo-lithos besten Rock auf.»Ich hab' außerdem ein reizendes kleines Mädchen aufgetan, Sir. Mal sehen, ob ich es zum Dienst für Sie pressen kann.» Bolitho fuhr in die Ärmel.»Sie werden sich hoffentlich für ihr Entgegenkommen revanchieren.» Allday folgte ihm zur Tür.»Ganz gewiß, Sir.» Bolitho hielt noch einmal an.»Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig, Allday. Es scheint, ich habe alle schlecht behandelt, die mir in diesen Tagen zu helfen versuchten. «Er drehte sich um und lauschte auf die Stimmen und Klänge, welche die Freitreppe heraufbrandeten. Allday sagte ruhig:»Da müssen Sie durch, Sir. Aber Sie schaffen es nicht, wenn Sie Ihre Marssegel backbrassen!» Bolitho nickte und ging langsam die Treppe hinunter; dabei fühlte er sich ohne Hut und Säbel seltsam unsicher. Er erkannte die Halle kaum wieder. Sie war voll farbenprächtiger Kleider, halbnackter Schultern und Busen, voll roter Uniformröcke und einem solch bunten Gemisch von Leuten, daß er sich fragte, wo sie alle hergekommen sein mochten. Ein Diener sah ihn kommen und kündigte ihn an:»Konteradmiral Richard Bolitho!» Einige Köpfe wandten sich ihm zu, aber die meisten Gäste hatten die Ankündigung in dem Stimmengewirr nicht einmal gehört. Swinburne löste sich aus der Menge.»Ah, Bolitho, alter Junge!«Er lenkte ihn durch die weniger wichtigen Gruppen am Rande der Versammlung und murmelte:»Ich möchte Sie mit meinen Freunden bekanntmachen. Die meisten von ihnen haben noch nie im Leben einen aktiven Seeoffizier gesehen. «Er senkte die Stimme, als sie an einem Major mit scharlachrotem Gesicht vorbeikamen, der so alt aussah, als habe er schon an den vergangenen beiden Kriegen teilgenommen.»Er, zum Beispiel, soll Rekruten anwerben. Aber wenn unsere Bauernjungen ihn zu Gesicht bekommen, laufen sie weg und melden sich bei den Franzosen, würde mich nicht wundern.» Bolitho hielt plötzlich ein Glas in der Hand. Innerhalb von Sekunden fand er sich in einer Ecke, umgeben von lächelnden und neugierigen Gesichtern. Fragen prasselten von allen Seiten auf ihn nieder, und zum erstenmal empfand er ein Unbehagen, das auch die weihnachtliche Hochstimmung nicht verdrängen konnte. Manchmal während seiner Dienstzeit war Bolitho über solche privilegierten Leute entrüstet gewesen und hatte sogar Verachtung für sie empfunden. Auf See starben jeden Tag Männer aus diesem oder jenem Grund, und auch die Soldaten an Land hatten es nicht viel besser. Aber dank der großen Anstrengung der Marine und ungezählter Vorposten und Garnisonen der Rotröcke wuchs der britische Handel und sein Einfluß in Übersee ständig, ungeachtet mancherlei Schwierigkeiten und vieler Feinde. Als er jetzt ihre Fragen hörte und diese Unkenntnis spürte, wenn man von der Verteidigung des Landes sprach und über deren Schwäche, die den Franzosen eine Invasion ermöglichen würde, war Bolitho dem Verständnis für die hilflose Zivilbevölkerung näher denn je. Lady Swinburne rauschte durch die Menge und sagte:»Zeit zum Essen. «Sie bot Bolitho ihren Arm.»Wir wollen vorangehen.» Als sie durch die Reihen animierter Gesichter und knicksender Damen gingen, sagte sie:»Das ist eine Strafe für Sie, nehme ich an. Aber es sind alles Freunde. Sie möchten verstehen, möchten wissen, was ihnen bevorsteht. Was für Sie ein zufälliger Zufluchtsort ist, ist für diese Leute ein Ort der Hoffnung auf ihr Überleben.» Als sie die lange, glitzernde Tafel erreichten, gab es in der Halle etwas Unruhe. Bolitho hörte Swinburne einem seiner Diener zurufen:»Legen Sie noch ein Gedeck für den Leutnant auf, Arthur!«Browne war zurückgekommen. Während die Gäste sich langsam zu den ihnen zugedachten Plätzen an der schwer beladenen Tafel begaben, schaffte es Browne, sich zu Bolitho hindurchzuarbeiten und ihm zu melden:»Die Berichte sind abgeliefert, Sir. Sir George Beauchamp brennt darauf, Sie zu sprechen, sobald Sie reisefähig sind. «Er senkte die Stimme, als er wahrnahm, daß einige Gäste, die von seinem unerwarteten Auftauchen überrascht waren, die Hälse reckten und zu lauschen versuchten. Es war wie eine Szene im Theater: der zerzauste junge Offizier, der von der Front zurückgeeilt kommt, um seinem General zu melden: gt;Die Franzosen sind erledigt. Unsere Kavallerie greift an.lt; Browne fuhr fort:»Die Dinge in der Ostsee spitzen sich zu, wie Sie befürchtet hatten, Sir.» Es gab ein großes Rascheln von Gewändern und Rücken von Stühlen, als die Gäste Platz nahmen und bewundernd die Speisen musterten, die so hoch aufgetürmt waren, daß sie die Köpfe der Gegenübersitzenden verbargen. Bolitho wandte sich zur Seite und blickte in die Augen einer jungen, attraktiven Dame. Ihr Kleid war tief ausgeschnitten und ließ der Phantasie wenig Spielraum. Sie fing seinen Blick auf:»Sie starren mich an, Sir?«Lächelnd fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?» Ein breites Gesicht hinter ihrer Schulter sagte mit heiserer Stimme:»Vorsichtig, lieber Freund. Das ist eine Wildkatze, wenn nicht Schlimmeres.» Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern schaute Bolitho weiter an.»Mein Herr Gemahl. Ein Flegel.» Bolitho war fast dankbar, als das Mahl endlich begann. Und was für ein Mahl das war! Es hätte sämtliche Midshipmen seines Geschwaders für eine Woche gesättigt, und doch wäre noch genug übriggeblieben. Die Gänge wurden von geschulten Dienern angeboten und die leeren Teller und Schüsseln mit gleicher Präzision abgeräumt. Bolitho war erstaunt, daß wirklich die meisten Schüsseln leergegessen waren, während er sich bereits unangenehm satt vorkam. Es gab verschiedene Sorten Fisch. Einen erkannte Bolitho als Steinbutt, einen anderen hielt er, obwohl er von einer dicken Sauce bedeckt war, für Weißfisch. Weiter und weiter ging es, und jeder neue Gang war größer und prächtiger dekoriert als der vorherige: ein riesiger Ochsenrücken, über kleinem Feuer gegrillt, gebackener Schinken und gedünsteter Puter, und alles wurde mit einer reichen Auswahl von Lord Swinburnes Weinen hinuntergespült. Bolitho fühlte das Knie seiner Tischdame, und als er sich leicht bewegte, drückte sie stärker zu, beharrlich und sinnlich erregend. Aber als er sie anschaute, war sie anscheinend völlig aufs Essen konzentriert und griff sich zielsicher die genußreichsten Speisen heraus. Er sah, daß Browne ihn vom anderen Ende der Tafel beobachtete. Der hatte sich offenbar immer nur vom Besten auf den Teller gepackt. Seine Erfahrungen mit dem Londoner Leben zahlten sich aus. Die Dame neben ihm fragte:»Sind Sie mit geheimem Auftrag hier?«Ihre Augen blickten jetzt unruhig und unverhüllt. Er lächelte.»Nein, ich ruhe mich nur ein paar Tage aus.» Ihr Hand verschwand unter dem Tisch, und er fühlte ihre Finger behutsam über seinen Schenkel streichen. «Ach ja, Sie sind verwundet worden, hörte ich.» Bolitho sah den Diener auf der anderen Seite des Tisches. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Augen sprachen Bände. «Langsam, Madame! Oder wollen Sie, daß Ihr Gatte mich vor die Tür bittet?» Sie warf den Kopf zurück und lachte.»Der? Bevor die Damen sich zurückziehen, wird er stockbetrunken sein und bald darauf umfallen. «Ihr Ton wurde flehentlich:»Das ist der Grund, warum man mich neben Sie gesetzt hat: Unser Gastgeber hält mich für ein Flittchen. Für ihn bin ich nur ein mehr oder weniger nützliches Haustier, das man verkuppelt.» «Und nun. «Lord Swinburne stand auf, ein volles Glas in der Hand.»Bevor die Damen sich zurückziehen, möchte ich den Trinkspruch aufs Herrscherhaus ausbringen.» Stühle wurden zurückgestoßen, und Diener eilten herbei, um Seidenkleider vor herunterfallenden Essensresten und umgestürzten Gläsern zu bewahren. Bolitho mühte sich etwas zu spät hoch, da es in der Marine Brauch war, beim Toast auf den König sitzenzubleiben. «Auf seine Majestät, König Georg!» Wie feierlich sie plötzlich alle waren, dachte Bolitho. Danach wechselte die Stimmung wieder, und die Damen verabschiedeten sich. Bolithos Tischdame strich mit dem Fächer über seinen Arm und raunte verheißungsvoll:»Später.» In einem Punkt hatte sie recht, dachte Bolitho: Ihr Mann lag mit dem Kopf auf den Armen zwischen den Tellern, das Haar mit einer Mischung aus Pastete und holländischem Flammeri verschmiert. Lange Pfeifen wurden hereingebracht, und die Portweinflasche kreiste langsam um den Tisch. Die Luft war schnell voll Tabaksqualm, der sich mit dem Rauch aus dem Kamin vermischte und schmerzhaft in die Augen stach. Bolitho tat, als döse er — wie viele andere — vor sich hin, und ließ die Unterhaltung an seinem Ohr vorbeiplätschern. Es ging um landwirtschaftliche Fragen, um Preise, ausgebliebene Lieferungen und fehlende Arbeitskräfte. Das war ihr Anteil am Krieg, aber Bolitho so fremd, wie ihnen ein Batteriedeck an Bord gewesen wäre. Er versuchte, an seinen kommenden Besuch bei der Admiralität zu denken. Wie lange würde Herrick für die Ausbesserung des Schiffes benötigen? Was machten inzwischen die Franzosen? Die Dänen? Die Russen? Aber zwischen ihm und seinen Gedanken tauchte immer wieder Belindas Gesicht auf. Die Art, wie sie ihn angeschaut hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Wie sie vor seinen lächerlichen Hirngespinsten flüchtete. Inzwischen war sie wahrscheinlich längst in einem schönen Haus in London heimisch geworden und so von ihren neuen Aufgaben erfüllt, daß sie sich an ihn kaum noch erinnerte. Browne ließ sich in dem Stuhl neben ihm nieder.»Ein tolles Essen, nicht wahr, Sir?» «Berichten Sie mir von London. Wie war die Fahrt?» «Passabel, Sir. Je näher wir London kamen, desto besser wurde die Straße. Wir machten natürlich mehrmals Pausen und hatten! Glück mit unseren Gasthöfen.» Bei den Worten gt;wirlt; und gt;unserenlt; mußte Bolitho gegen auf- steigende Eifersucht ankämpfen. Browne berichtete weiter:»Sir George war kurz angebunden wie immer, Sir. Ich glaube, Admiral Damerum hatte ihn besucht. Einiges, was Sir George sagte, überraschte mich.» «Was hat er gesagt?» «Nicht viel. «Browne wurde unter Bolithos forschenden Blicken etwas unruhig.»Aber in der Admiralität heißt es, der Zar behindere weiter unsere Handelsschiffahrt in der Ostsee. Ich glaube, die Schiffe, die Sie der französischen Fregatte abgejagt haben, werden die letzten gewesen sein, die herauskamen.» Bolitho nickte.»Ich hatte gehofft, es käme anders, aber eigentlich fürchtete ich das immer. Dänemark wird keine Wahl haben. Und wir auch nicht.» Browne griff mit langem Arm nach einem verlassenen Glas mit Brandy. Er zögerte einen Augenblick und kippte es dann entschlossen hinunter. Seine Augen verschleierten sich, als es ihn innerlich durchglühte. Dann fragte er sehr förmlich:»Darf ich offen sprechen, Sir?» «Ich habe Ihnen schon oft gesagt. «Bolitho hielt inne, als er die Unsicherheit des Leutnants bemerkte.»Was es auch sei, erzählen Sie.» «Ich habe nie viel mit dem aktiven Marinedienst im Sinn gehabt, Sir. Mein Vater bestand aber darauf, daß ich die Uniform anzog, und gebrauchte seinen Einfluß, damit ich ein Offizierspatent bekam. «Er lächelte trübe.»Ich wurde Kurier, ein Botenjunge, ein bevorzugter Zuschauer oder was mein Admiral sonst von mir verlangte. Erst seit ich Ihnen diene, und das ist ehrlich gemeint, Sir, bin ich manchmal ein wenig stolz auf mich. «Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht.»Aber wenn da nicht eine gewisse Dame gewesen wäre, hätte ich Sir Georges Dienst kaum verlassen.» Browne hatte seine Worte und den Brandy wie einen Schutzschild benutzt. Als er wieder sprach, hörte es sich an, als käme es von einem ganz anderen Menschen. «Ich war über Ihre Ernennung beunruhigt, Sir, und noch mehr darüber, wie Admiral Damerum das Ostseegeschwader verließ, ohne Ihnen sämtliche Informationen zu geben, die seine Patrouillen gesammelt hatten. «Er schaute Bolitho an, als erwartete er, wegen Mißbrauchs ihrer jungen Freundschaft zum Schweigen gebracht zu werden.»Ihr verstorbener Bruder, Sir. «Er leckte sich verlegen die Lippen.»Ich weiß nicht, ob ich fortfahren soll?» Bolitho blickte zu Boden. Da war es also wieder, noch immer nicht begraben, und würde es wohl auch niemals sein. Er sagte sehr ruhig:»Mein Bruder war ein Überläufer, ein Verräter, wenn Sie es genau wissen wollen. «Er sah, daß seine Worte trafen.»Er war ein hemmungsloser Spieler und besaß schon als Junge ein aufbrausendes Temperament. Er forderte einen Kameraden zum Duell, und der Offizier starb. Mein Bruder floh nach Amerika und stieg während der Revolution zum Kapitän eines Kaperschiffes auf. Nach dem Krieg kam er ums Leben, als er ein ausgebrochenes Pferd einfangen wollte. «Der letzte Teil war eine Lüge, aber er hatte sich so an sie gewöhnt, daß es nicht mehr darauf ankam. Er sah Browne ruhig an.»Ist es das, was Sie mir sagen wollten?» Browne starrte in sein Glas, aber es war leer. «Vielen Dank, Sir, daß Sie mich ins Vertrauen gezogen haben.» Er heftete den Blick auf einen Punkt über Bolithos Schulter. «Kannten Sie den Offizier, der getötet wurde?» «Nein, zu der Zeit war ich in der Karibik. Als ich heimkam, erfuhr ich es von meinem Vater. Der Schock hat ihn fast umgebracht. «Etwas in Brownes Ton ließ Bolitho aufmerken.»Warum?» «Sein Name war Damerum, Sir. Sir Samuels Bruder.» Bolitho rief sich sein erstes Zusammentreffen mit dem Admiral an Bord seines Flaggschiffes In den wenigen Minuten schien Browne ziemlich betrunken geworden zu sein. In schleppendem, vertraulichem Ton murmelte er:»Und, äh, wenn Sie annehmen, daß er seine privaten Empfindungen niemals vor dienstliche Belange stellen würde, Sir, dann irren Sie.» Bolitho stand auf.»Ich glaube, es wäre klug, wenn wir uns jetzt zurückzögen. «Er nickte Swinburne zu, aber der nahm kaum noch wahr, was um ihn herum vorging. Als sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen, schwankte Browne bei jedem Schritt. Vor der Tür zu Bolithos Zimmer saß Allday auf einem zierlichen Stuhl, der aussah, als würde er jeden Augenblick unter ihm zusammenbrechen. Er bemerkte Browne und grinste.»Bißchen viel für einen kleinen Leutnant, wie, Sir?» «Bringen Sie ihn ins Bett, Allday. «Bolitho strich sich den Rock glatt, als Allday einen Arm um Brownes Taille legte, gerade noch rechtzeitig, sonst wäre er vornübergefallen.»Ich gehe wieder hinunter in die Halle. «Er rang sich ein Lächeln für Allday ab.»Als einziger noch vorhandener Vertreter der Königlichen Marine kann ich die Gastgeber nicht enttäuschen.» Allday stieß die Tür auf und schleppte die willenlose Gestalt zum Bett.»Soll er denn hier schlafen, Sir?» Bolitho blickte zur Uhr.»Ja. Aber ich habe den Verdacht, daß er nicht lange alleinbleiben wird. Mag sein, daß bald eine junge Dame aufkreuzt. Also stehen Sie hier nicht im Wege.» Allday starrte ihn an.»Sie denkt, es ist Bolitho wandte sich zur Treppe.»Ich nehme an, daß es beiden ziemlich gleichgültig sein wird und daß sie sich morgen früh an nichts mehr erinnern. Dessen bin ich mir sogar ziemlich sicher.» Allday sah Bolitho nach, bis dieser auf der Treppe verschwunden war, und seufzte neidvoll. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Leutnant in einen anderen Raum zu tragen und sich selber in das Bett zu legen. Dann aber dachte er an das niedliche Dienstmädchen, das am anderen Ende des Hauses auf ihn wartete. Er verbeugte sich zur Tür hin und sagte:»Schlafen Sie wohl, Mr. Browne mit gt;elt; am Schluß. Sie sind ein Glückspilz, auch wenn Sie es selber nicht merken.» |
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