"Harry Potter und der Gefangene von Askaban" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Tante Magdas großer Fehler

Als Harry am nächsten Morgen zum Frühstück hinunterging, saßen die drei Dursleys schon am Küchentisch. sie starrten auf die Mattscheibe eines brandneuen Fernsehers, eines Willkommen-in-den-Ferien-Geschenks für Dudley, der sich fortwährend lauthals über den langen Weg zwischen dem Kühlschrank und dem Fernseher im Wohnzimmer beschwert hatte. Dudley hatte den größten Teil des Sommers in der Küche verbracht, die kleinen Schweinchenaugen geradezu auf die Mattscheibe geklebt und mit wabbelndem fünflagigem Kinn ununterbrochen kauend.

Harry setzte sich zwischen Dudley und Onkel Vernon, einen großen, fleischigen Mann mit sehr wenig Hals und einer Menge Schnauzbart. Keiner der Dursleys nahm Notiz davon, daß Harry in die Küche gekommen war, geschweige denn, daß ihm einer zum Geburtstag gratuliert hätte. Er nahm sich eine Scheibe Toast und sah hoch zum Fernseher, wo der Nachrichtensprecher gerade von einem Ausbrecher berichtete…

»… die Polizei warnt die Bevölkerung. Black ist bewaffnet und äußerst gefährlich. Eine eigene Notrufnummer wurde eingerichtet und jeder Hinweis auf Black sollte umgehend gemeldet werden.«

»Daß der ein Verbrecher ist, brauchen sie uns nicht erst zu sagen«, schnarrte Onkel Vernon und starrte über seine Zeitung hinweg auf das Bild des Flüchtigen.»Seht euch mal an, wie der aussieht, ein dreckiger Rumtreiber! Und diese Haare!«

Er warf Harry einen gehässigen Seitenblick zu, dessen strubbeliges Haar ihn immer von neuem ärgerte. Verglichen mit dem Mann im Fernsehen jedoch, dessen ausgemergeltes Gesicht umwuchert war von verfilztem, ellbogenlangem Gestrüpp, kam sich Harry durchaus gepflegt vor.

Wieder erschien der Nachrichtensprecher.

»Das Landwirtschafts- und Fischereiministerium gibt heute bekannt, daß -«

»Ist doch nicht zu fassen!«, bellte Onkel Vernon und starrte den Sprecher wütend an,»du hast uns nicht gesagt, wo dieser Verrückte ausgebrochen ist! Was soll das? Der Wahnsinnige könnte doch jeden Augenblick die Straße entlangkommen!«

Tante Petunia, knochig und pferdegesichtig, wirbelte herum und schaute wachsam aus dem Küchenfenster. Harry wußte, daß Tante Petunia nichts lieber tun würde, als den Notruf anzuläuten. Sie war die neugierigste Frau der Welt und verbrachte den größten Teil ihres Lebens damit, die langweiligen, gesetzestreuen Nachbarn auszukundschaften.

»Wann werden die es endlich kapieren«, sagte Onkel Vernon und schlug mit seiner großen purpurroten Faust auf den Tisch,»daß Aufknüpfen das einzige Rezept gegen solches Pack ist?«

»Wie wahr«, sagte Tante Petunia, die immer noch die Bohnenstangen nebenan taxierte.

Onkel Vernon nahm den letzten Schluck aus seiner Teetasse, warf einen Blick auf die Uhr und fügte hinzu:»Am besten, ich geh gleich, Petunia, Magdas Zug kommt um zehn an.«

Harry, in Gedanken eben noch oben bei seinem Besenpflege-Set, fiel schmerzhaft aus allen Wolken.

»Tante Magda?«, sprudelte es aus ihm heraus.»D-die – die kommt doch nicht etwa zu uns?«

Tante Magda war Onkel Vernons Schwester. Zwar war sie keine Blutsverwandte von Harry (dessen Mutter Tante Petunias Schwester gewesen war), doch man hatte ihn gezwungen, sie die ganze Zeit»Tante«zu nennen. Tante Magda lebte auf dem Land, in einem Haus mit großem Garten, wo sie Bulldoggen züchtete. Sie kam nur selten in den Ligusterweg, weil sie es nicht übers Herz brachte, ihre wertvollen Hunde allein zu lassen, doch jeden ihrer Besuche hatte Harry in schrecklich lebendiger Erinnerung.

Beim Fest zu Dudleys fünftem Geburtstag hatte Tante Magda Harry mit ihrem Gehstock auf die Schienbeine gehauen, damit er Dudley nicht mehr beim Bäumchen-wechsel-dich-Spiel schlug. Ein paar Jahre später war sie zu Weihnachten mit einem funkgesteuerten Senkrechtstarter für Dudley und einem Karton Hundekuchen für Harry aufgetaucht. Bei ihrem letzten Besuch war Harry versehentlich ihrem Lieblingshund auf den Schwanz getreten. Ripper hatte Harry hinaus in den Garten und einen Baum hochgejagt und Tante Magda hatte sich bis nach Mitternacht geweigert, ihn zurückzupfeifen. Wenn Dudley sich daran erinnerte, brach er vor Lachen immer noch in Tränen aus.

»Magda wird eine Woche bleiben«, schnarrte Onkel Vernon,»und wenn wir schon beim Thema sind«- er deutete mit einem fetten Finger drohend auf Harry -»sollten wir einiges klarstellen, bevor ich sie abholen gehe.«

Dudley grinste hämisch und wandte den Blick von der Mattscheibe ab. Sein liebster Zeitvertreib war, zu beobachten, wie Harry von Onkel Vernon schikaniert wurde.

»Erstens«, knurrte Onkel Vernon,»hältst du deine Zunge im Zaum, wenn du mit Magda sprichst.«

»Gut«, sagte Harry bitter,»wenn sie es auch tut.«

»Zweitens«, sagte Onkel Vernon und tat so, als hätte er Harrys Antwort nicht gehört,»da Magda nichts von deiner Abnormität weiß, will ich nicht, daß irgendwas Komisches passiert, während sie hier ist. Du benimmst dich, verstanden?«

»Wenn sie es auch tut«, sagte Harry zähneknirschend.

»Und drittens«, sagte Onkel Vernon, die gemeinen kleinen Augen waren jetzt Schlitze in seinem großen purpurnen Gesicht,»haben wir Magda gesagt, du würdest das St.-Brutus-Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen besuchen.«

»Was?«, schrie Harry.

»Und du bleibst bei dieser Geschichte, Bursche, oder du kriegst Schwierigkeiten!«, fauchte Onkel Vernon.

Zornig und mit bleichem Gesicht starrte Harry Onkel Vernon an. Er konnte es nicht fassen. Tante Magda kam für eine Woche zu Besuch – das war das furchtbarste Geburtstagsgeschenk, das er je von den Dursleys bekommen hatte, verglichen selbst mit Onkel Vernons alten Socken.

»Nun, Petunia«, sagte Onkel Vernon und erhob sich Schnaufend,»ich fahre jetzt zum Bahnhof. Kleine Ausfahrt gefällig, Dudders?«

»Nein«, sagte Dudley, der seine Aufmerksamkeit jetzt, da Onkel Vernon aufgehört hatte, Harry zu tyrannisieren, wieder dem Fernseher zugewandt hatte.

»Diddy muß sich für Tantchen fein herausputzen«, sagte Tante Petunia und strich über Dudleys dichtes Blondhaar.»Mamchen hat ihm eine wunderschöne neue Fliege gekauft.«

Onkel Vernon klopfte Dudley auf die fette Schulter.

»Also bis gleich«, sagte er und ging hinaus.

Harry, der in eine Art grauenerfüllte Trance versunken war, fiel plötzlich etwas ein. Er ließ seinen Toast liegen, stand rasch auf und folgte Onkel Vernon zur Haustür.

Onkel Vernon zog seinen Mantel an.

»Dich nehm ich nicht mit«, schnarrte er, als er sich umwandte und Harry erblickte.

»Will ich auch nicht«, sagte Harry kühl.»Ich möchte dich was fragen.«

Onkel Vernon beäugte ihn mißtrauisch.

»Drittkläßler in Hog…, auf meiner Schule dürfen hin und wieder ins Dorf«, sagte Harry.

»Ach?«, blaffte Onkel Vernon und nahm die Wagenschlüssel vom Haken neben der Tür.

Rasch setzte Harry nach.»Du mußt die Einverständniserklärung für mich unterschreiben«, sagte er.

»Und warum sollte ich das tun?«, höhnte Onkel Vernon.

»Nun ja«, sagte Harry und wog sorgfältig seine Worte ab,»es wird ein hartes Stück Arbeit sein, gegenüber Tante Magda so zu tun, als ob ich in dieses St. Wasweißich ginge -«

»St.-Brutus-Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen«, bellte Onkel Vernon, und Harry freute sich, einen deutlichen Anflug von Panik in seiner Stimme zu hören.

»Genau«, sagte Harry und sah gelassen hoch in Onkel Vernons großes, rotes Gesicht.»Ich muß mir eine Menge merken. Außerdem soll es sich ja überzeugend anhören, oder? Was, wenn mir aus Versehen etwas rausrutscht?«

»Dann prügle ich dir die Innereien raus!«, polterte Onkel Vernon und trat mit erhobener Faust auf Harry zu. Doch Harry ließ nicht locker.»Die Innereien aus mir herauszuprügeln wird Tante Magda auch nicht vergessen lassen, was ich ihr gesagt haben könnte«, sagte er verbissen.

Onkel Vernon, die Faust immer noch erhoben, erstarrte. Sein Gesicht hatte ein häßliches Braunrot angenommen.

»Aber wenn du meine Einverständniserklärung unterschreibst«, fuhr Harry rasch fort,»schwöre ich, daß ich nicht vergesse, wo ich angeblich zur Schule gehe, und ich führe mich auf wie ein Mug…, als ob ich normal und alles wäre.«

Harry entging nicht, daß Onkel Vernon noch einmal über die Sache nachdachte, auch wenn er die Zähne gefletscht hatte und eine Vene auf seiner Schläfe pochte.

»Schön«, blaffte er endlich.»Ich werde dein Verhalten während Tante Magdas Besuch scharf überwachen. Wenn du am Ende nicht die Grenze überschritten hast und bei der Geschichte geblieben bist, unterschreibe ich dein beklopptes Formular.«

Abrupt drehte er sich um, öffnete die Haustür und schlug sie mit solcher Wucht hinter sich zu, daß eine der kleinen Glasscheiben am oberen Türrand herausfiel.

Harry kehrte nicht in die Küche zurück. Er ging nach oben in sein Zimmer. Wenn er sich wie ein echter Muggel aufführen mußte, dann fing er am besten gleich damit an. Widerwillig und traurig sammelte er all seine Geschenke und Geburtstagskarten ein und versteckte sie unter dem losen Dielenbrett, zusammen mit seinen Hausaufgaben. Dann ging er hinüber zu Hedwigs Käfig. Errol hatte sich offenbar erholt; er und Hedwig schliefen mit den Köpfen unter den Flügeln. Harry seufzte und stupste sie beide wach.

»Hedwig«, sagte er niedergeschlagen,»du mußt für eine Woche verschwinden. Flieg mit Errol, Ron wird sich um dich kümmern. Ich geb dir eine Nachricht für ihn mit. Und schau mich nicht so an«- Hedwigs große bernsteinfarbene Augen blickten vorwurfsvoll -»es ist nicht meine Schuld. Das ist die einzige Möglichkeit, die Erlaubnis zu kriegen, mit Ron und Hermine nach Hogsmeade zu gehen.«

Zehn Minuten später flatterten Errol und Hedwig (der Harry einen Zettel für Ron ans Bein gebunden hatte) aus dem Fenster und waren bald auf und davon. Harry, dem nun ganz und gar elend war, räumte den leeren Käfig in den Schrank.

Doch er hatte nicht lange Zeit zum Grübeln. Schon kreischte Tante Petunia unten am Fuß der Treppe, Harry solle herunterkommen und sich bereitmachen, den Gast zu begrüßen.

»Mach was mit deinen Haaren«, schnappte Tante Petunia als er im Flur ankam.

Harry sah nicht ein, warum er versuchen sollte, sein Haar glatt zu kämmen. Tante Petunia krittelte doch liebend gern an ihm herum, und je zerzauster er aussah, desto glücklicher war sie.

Doch schon war draußen das Knirschen von Kies zu hören, als Onkel Vernon den Wagen in die Einfahrt zurücksetzte, dann das»Klonk«der Wagentüren und schließlich Schritte auf dem Gartenweg.

»An die Tür!«, zischte Tante Petunia.

Mit einem Gefühl im Magen, als würde die Welt untergehen, öffnete Harry die Tür.

Auf der Schwelle stand Tante Magda. Sie war Onkel Vernon sehr ähnlich mit ihrem großen, fleischigen, purpurroten Gesicht. Sie hatte sogar einen Schnurrbart, auch wenn er nicht so buschig war wie seiner. Unter dem einen Arm trug sie einen riesigen Koffer, unter dem anderen saß mit eingezogenem Schwanz eine alte und mißgelaunte Bulldogge.

»Wo ist denn mein Dudders?«, röhrte Tante Magda.»Wo ist mein Neffilein?«

Dudley kam den Flur entlanggewatschelt, das Blondhaar flach auf den fetten Schädel geklebt, und unter seinen vielen Kinnen lugte gerade noch der Zipfel einer Fliege hervor. Tante Magda wuchtete ihren Koffer in Harrys Magen, daß er nach Luft schnappen mußte, drückte Dudley mit einem Arm schraubstockfest an ihr Herz und pflanzte ihm einen Kuß auf die Wange.

Harry wußte genau, daß Dudley Tante Magdas Umarmungen nur ertrug, weil er dafür gut bezahlt wurde. Beim Abschied würde er eine knisternde Zwanzig-Pfund-Note in seiner fetten Faust finden.

»Petunia!«, rief Tante Magda und schritt an Harry vorbei, als wäre er ein Hutständer. Tante Magda und Tante Petunia küßten sich, besser gesagt ließ Tante Magda ihren massigen Kiefer gegen Tante Petunias hervorstehende Wangenknochen krachen.

Onkel Vernon kam jetzt herein und schloß die Tür mit einem leutseligen Lächeln.

»Tee, Magda?«, fragte er.»Und was dürfen wir Ripper anbieten?«

»Ripper kann ein wenig Tee aus meiner Tasse haben«, sagte Tante Magda, während sie sich in die Küche begaben und Harry im Flur mit dem Koffer allein ließen. Doch Harry beklagte sich nicht; jede Ausrede, nicht mit Tante Magda zusammen sein zu müssen, war ihm recht, und als hätte er alle Zeit der Welt, hievte er den Koffer die Treppe empor.

Als er in die Küche zurückkam, war Tante Magda schon mit Tee und Obstkuchen versorgt und Ripper schlabberte geräuschvoll in der Ecke. Harry bemerkte, wie Tante Petunia leicht die Mundwinkel verzog, weil Ripper ihren sauberen Boden mit Tee und Sabber bespritzte. Tante Petunia konnte Tiere nicht ausstehen.

»Wer kümmert sich denn um die anderen Hunde, Magda?«, fragte Onkel Vernon.

»Ach, ich hab sie in die Obhut von Oberst Stumper gegeben«, strahlte Tante Magda.»Er ist jetzt pensioniert. Ein kleiner Zeitvertreib kann ihm nicht schaden. Aber den armen alten Ripper hab ich nicht dalassen können. Er leidet ja so, wenn er nicht bei mir ist.«

Als Harry sich setzte, begann Ripper zu knurren. Das lenkte Tante Magdas Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf Harry.

»So!«, bellte sie,»immer noch hier?«

»Ja«, sagte Harry.

»Sag nicht in diesem unhöflichen Ton gt;jalt;, hörst du«, knurrte Tante Magda.»Verdammt gut von Vernon und Petunia, dich hier zu behalten. Ich hätte das nicht getan. Hätten sie dich vor meiner Tür ausgesetzt, wärst du sofort ins Waisenhaus gekommen.«

Harry war drauf und dran zu antworten, er würde lieber in einem Waisenhaus als bei den Dursleys leben, doch der Gedanke an die Erlaubnis für Hogsmeade hielt ihn davon ab. Er zwang sein Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln.

»Grins mich nicht so an!«, donnerte Tante Magda.»Ich sehe, du hast dich seit unserer letzten Begegnung nicht gebessert. Ich hatte gehofft, in der Schule würden sie dir ein paar Manieren einprügeln.«Sie nahm einen kräftigen Schluck Tee, wischte sich den Schnurrbart und sagte:»Wo schickst du ihn noch mal hin, Vernon?«

»Nach St. Brutus«, antwortete Onkel Vernon prompt.»Erstklassige Anstalt für hoffnungslose Fälle.«

»Verstehe«, sagte Tante Magda.»Machen sie in St. Brutus auch vom Rohrstock Gebrauch, Bursche?«, blaffte sie über den Tisch.

»Ähm -«

Onkel Vernon nickte hinter Tante Magdas Rücken.

»Ja«, sagte Harry. Wenn schon, denn schon, überlegte er dann und fügte hinzu:»Tagein, tagaus.«

»Vortrefflich«, sagte Tante Magda.»Dieses windelweiche Wischiwaschi, daß man Leute nicht schlagen soll, die es doch verdienen, kann ich nicht vertragen. In neunzig von hundert Fällen hilft eine gute Tracht Prügel. Hat man dich oft geschlagen?«

»O ja«, sagte Harry,»viele Male.«

Tante Magda verengte die Augen zu Schlitzen.

»Dein Ton gefällt mir immer noch nicht, Bürschchen«, sagte sie.»Wenn du so lässig von deinen Hieben reden kannst, dann schlagen sie offenbar nicht hart genug zu. Petunia, wenn ich du wäre, würde ich dort hinschreiben. Mach ihnen klar, daß du im Falle dieses Jungen den Einsatz äußerster Gewalt gutheißt.«

Vielleicht machte sich Onkel Vernon Sorgen, Harry könnte die Abmachung vergessen haben; jedenfalls wechselte er abrupt das Thema.

»Schon die Nachrichten gehört heute Morgen, Magda? Was sagst du zu der Geschichte mit diesem Ausbrecher?«

Während sich Tante Magda allmählich häuslich einrichtete, erwischte sich Harry bei fast sehnsüchtigen Gedanken an das Leben in Nummer vier ohne sie. Onkel Vernon und Tante Petunia gaben sich meist damit zufrieden, wenn Harry ihnen aus dem Weg ging, und Harry war das nur recht. Tante Magda jedoch wollte Harry ständig im Auge behalten, so daß sie Vorschläge für die Besserung seines Betragens zum Besten geben konnte. Vorzugsweise verglich sie Harry mit Dudley und kaufte Dudley teure Geschenke, während sie Harry tückisch anstarrte, als wollte sie ihn herausfordern zu fragen, warum er nicht auch ein Geschenk bekomme. Auch ließ sie ständig Mutmaßungen fallen, aus welchem Grund wohl Harry zu einer dermaßen unzulänglichen Person geworden sei.

»Du mußt dir keinen Vorwurf machen, daß der Junge so geworden ist, Vernon«, sagte sie am dritten Tag beim Mittagessen.»Wenn im Innern etwas Verdorbenes steckt, kann kein Mensch etwas dagegen machen.«

Harry versuchte sich auf das Essen zu konzentrieren, doch.seine Hände zitterten und sein Gesicht fing an vor Zorn zu brennen. Denk an die Erlaubnis, mahnte er sich selbst. Denk an Hogsmeade. Sag nichts. Steh nicht auf.

Tante Magda griff nach ihrem Weinglas.

»Das ist eine Grundregel der Zucht«, sagte sie.»Bei Hunden kann man es immer wieder beobachten. Wenn etwas mit der Hündin nicht stimmt, wird auch mit den Welp-«

In diesem Augenblick explodierte das Weinglas in Tante Magdas Hand. Scherben stoben in alle Richtungen davon und Tante Magda prustete und blinzelte und von ihrem großen geröteten Gesicht tropfte der Wein.

»Magda!«, kreischte Tante Petunia.»Magda, hast du dir was getan?«

»Keine Sorge«, grunzte Tante Magda und wischte sich mit der Serviette das Gesicht.»Muß es wohl zu fest gedrückt haben. Ist mir letztens auch bei Oberst Stumper passiert. Kein Grund zur Aufregung, Petunia, ich hab einen ziemlich festen Griff -«

Doch Tante Petunia und Onkel Vernon sahen Harry mißtrauisch an, und so beschloß er den Nachtisch lieber wegzulassen und der Tischrunde so bald wie möglich zu entfliehen.

Draußen im Flur lehnte er sich gegen die Wand und atmete tief durch. Es war schon lange her, daß er die Beherrschung verloren und etwas hatte explodieren lassen. Das durfte ihm auf keinen Fall noch mal passieren. Die Erlaubnis für Hogsmeade war nicht das Einzige, was auf dem Spiel stand – wenn er so weitermachte, würde er auch noch Schwierigkeiten mit dem Zaubereiministerium kriegen.

Harry war immer noch ein minderjähriger Zauberer und es war ihm nach dem Zauberergesetz verboten, außerhalb der Schule zu zaubern. Er hatte zudem keine ganz weiß Weste. Erst letzten Sommer hatte er eine offizielle Verwarnung bekommen, in der es klar und deutlich hieß, falls das Ministerium noch einmal von Zauberei im Ligusterweg Wind bekäme, würde ihm der Schulverweis von Hogwarts drohen.

Er hörte die Dursleys aufstehen und verschwand rasch nach oben.

Die nächsten Tage Überstand Harry, indem er sich zwang, an sein Do-it-yourself-Handbuch zur Besenpflege zu denken, wann immer Tante Magda es auf ihn anlegte. Das klappte ganz gut, auch wenn sein Blick dabei offenbar etwas glasig wurde, denn Tante Magda begann die Meinung zu äußern, er sei geistig unterbelichtet.

Endlich, nach einer Ewigkeit, brach der letzte Abend von Tante Magdas Aufenthalt an. Tante Petunia kochte ein schickes Essen und Onkel Vernon entkorkte mehrere Flaschen Wein. Sie schafften es durch die Suppe und den Lachs, ohne Harrys Charaktermängel auch nur mit einem Wort zu erwähnen; bei der Zitronen-Meringe-Torte langweilte Onkel Vernon alle mit einem Vortrag über Grunnings, seine Bohrerfirma. Dann kochte Tante Petunia Kaffee und Onkel Vernon stellte eine Flasche Kognak auf den Tisch.

»Ein Schlückchen, Magda?«

Tante Magda hatte dem Wein bereits ausgiebig zugesprochen. Ihr riesiges Gesicht war puterrot.

»Aber nur ein winziges, bitte«, kicherte sie.»Noch ein wenig – und noch ein bißchen – so ist es fein.«

Dudley verspeiste sein viertes Stück Torte. Tante Petunia schlürfte mit abgespreiztem kleinem Finger an ihrem Kaffee. Harry wollte sich eigentlich in sein Zimmer verziehen, doch als er in Onkel Vernons zornige kleine Augen blickte, wußte er, daß er es aussitzen mußte.

»Aah«, sagte Tante Magda, stellte das leere Glas auf den Tisch und leckte sich die Lippen.»Ausgezeichneter Schmaus, Petunia. Normalerweise wärm ich mir abends nur was auf, wo ich mich doch um zwölf Hunde kümmern muß…«Sie rülpste herzhaft und tätschelte ihren runden tweedbedeckten Bauch.»Verzeihung. Aber ich für meinen Teil sehe gern einen Jungen, der gut beieinander ist«, fuhr sie fort und zwinkerte Dudley zu.»Du wirst sicher mal ein stattlicher Mann, Dudders, wie dein Vater. ja, danke, Vernon, noch ein winziges Schlückchen Kognak…«

»Aber der da -«

Sie ruckte mit dem Kopf in Richtung Harry, dessen Magen sich verkrampfte.

Das Handbuch, dachte er rasch.

»Der da hat ein fieses, zwergenhaftes Aussehen. Das sieht man auch bei Hunden. Letztes Jahr hab ich Oberst Stumper einen ertränken lassen. Rattiges kleines Ding. Schwach. Unterzüchtet.«

Harry versuchte sich Seite zwölf seines Buches in Erinnerung zu rufen: Ein Zauber zur Kur widerstrebender Wiedergänger.

»Alles eine Frage des Blutes, sag ich immer. Schlechtes Blut zeigt sich einfach. Nun, ich will nichts gegen eure Familie sagen, Petunia -«, sie tätschelte Tante Petunias Hand mit ihrer eigenen schaufelgroßen,»- aber deine Schwester war ein faules Ei. Kommt in den besten Familien vor. Dann ist sie mit diesem Taugenichts abgehauen und was dabei herauskam, sitzt hier vor uns.«

Harry starrte auf seinen Teller, ein merkwürdiges Klingeln in den Ohren. Packen Sie Ihren Besen fest am Schweif, dachte er. Doch er wußte nicht mehr, was dann kam. Tante Magda schien in ihn hineinzubohren wie einer von Onkel Vernons Bohrern.

»Dieser Potter«, sagte Tante Magda laut, griff sich die Flasche und schüttete Kognak in ihr Glas und auf das Tischtuch,»ihr habt mir nie gesagt, was er beruflich gemacht hat!«

Onkel Vernon und Tante Petunia schienen auf glühenden Kohlen zu sitzen. Sogar Dudley hatte den Blick von der Torte erhoben und starrte seine Eltern an.

»Er – er hat nicht gearbeitet«, sagte Onkel Vernon und warf Harry einen kurzen Blick zu.»War arbeitslos.«

»Das hab ich mir gedacht!«, sagte Tante Magda, nahm einen gewaltigen Schluck Kognak und wischte sich mit dem Ärmel das Kinn.»Ein fauler Rumtreiber, der -«

»War er nicht«, sagte Harry plötzlich. Am Tisch trat jähe Stille ein. Harry zitterte am ganzen Körper. Noch nie war er so zornig gewesen.

»Noch Kognak!«, schrie Onkel Vernon, der käseweiß geworden war. Er schüttete den Rest der Flasche in Tante Magdas Glas.

»Und du, Bursche«, fauchte er Harry an,»du gehst zu Bett, verschwinde -«

»Nein, Vernon«, hickste Tante Magda mit erhobener Hand, während sie ihre kleinen, blutunterlaufenen Augen fest auf Harry richtete.»Sprich weiter, Bürschchen, nur weiter. Stolz auf deine Eltern, nicht wahr? Da gehen die doch einfach hin und fahren sich zu Tode – betrunken, nehm ich an -«

»Sie sind nicht bei einem Autounfall gestorben!«, sagte Harry, der plötzlich auf den Füßen stand.

»Sind sie sehr wohl, du frecher kleiner Lügner, und sie haben dich zurückgelassen als Last für ihre anständigen, hart arbeitenden Verwandten!«, schrie Tante Magda und schwoll vor Zorn an.»Du bist ein unverschämter, undankbarer kleiner -«

Doch Tante Magda verstummte plötzlich. Einen Moment lang sah es so aus, als fehlten ihr die Worte. Sie schien vor unsäglicher Wut anzuschwellen – doch es nahm kein Ende. Ihr großes rotes Gesicht dehnte sich aus, die winzigen Augen traten hervor und der Mund war so fest gespannt, daß sie nicht mehr sprechen konnte – und jetzt rissen einige Knöpfe von ihrer Tweedjacke und flogen gegen die Wände – sie schwoll an wie ein monströser Ballon, ihr Bauch platzte jetzt durch ihren Tweedbund, jeder einzelne Finger blähte sich zu Salamigröße auf -

»Magda«, schrien Onkel Vernon und Tante Petunia wie einem Munde, als Tante Magdas ganzer Körper vom Stuhl abhob. Sie war jetzt kugelrund wie ein riesiger Wasserball mit Schweinchenaugen, Hände und Füße stachen merkwürdig ab, während sie unter Würgen und Puffen in die Höhe schwebte. Ripper kam ins Zimmer gewatschelt und fing an wie verrückt zu bellen.

»Neeeeeeeinn!«

Onkel Vernon packte Magda an einem Fuß und versuchte sie herunterzuziehen, doch er selbst hob beinahe vom Boden ab. Im nächsten Augenblick machte Ripper einen Satz und versenkte die Zähne in Onkel Vernons Bein.

Harry verschwand aus dem Eßzimmer, bevor ihn jemand aufhalten konnte, und rannte zum Schrank unter der Treppe. Die Schranktür sprang von Zauberhand auf, als er sich näherte. Im Handumdrehen hatte er seinen großen Reisekoffer zur Haustür geschleift. Er sprintete die Treppe hoch, hechtete unter das Bett, riß das lose Dielenbrett heraus und griff sich den Kissenüberzug mit seinen Büchern und Geschenken. Er kroch unter dem Bett hervor, packte Hedwigs leeren Käfig und stürzte die Treppe hinunter zu seinem Koffer, gerade als Onkel Vernon, die Hose in blutige Fetzen gerissen, aus dem Eßzimmer platzte.

»Komm zurück!«, bellte er,»komm rein und bring sie wieder in Ordnung!«

Doch Harry hatte ein rücksichtsloser Zorn überwältigt. Er stieß den Kofferdeckel auf, zog seinen Zauberstab heraus und richtete ihn auf Onkel Vernon.

»Sie hat es verdient«, sagte er nach Atem ringend,»sie hat verdient, was sie bekommen hat. Und du bleibst mir vom Hals.«

Er langte hinter sich und fummelte an der Türkette.»Ich gehe«, sagte Harry.»Mir reicht's.«Und schon war er draußen auf der dunklen, stillen Straße; mit Hedwigs Käfig unter dem einen Arm schleifte er mit dem andern den Koffer hinter sich her.