"Harry Potter und der Gefangene von Askaban" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Der Fahrende Ritter

Harry zog mit dem schweren Koffer im Schlepptau durch die nächtlichen Straßen und sank schließlich keuchend auf ein Mäuerchen am Magnolienring. Reglos saß er da, doch noch immer kochte in ihm der Zorn und er spürte das rasende Pochen seines Herzens in den Ohren.

Nach zehn Minuten allein auf der dunklen Straße überkam ihn ein neues Gefühl: Panik. Wie er die Sache auch immer drehte und wendete, er war noch nie in einer so miserablen Lage gewesen, allein, auf sich gestellt, in der Welt der Muggel gestrandet und weit und breit niemand, an den er sich hätte wenden können. Das Schlimmste jedoch war, daß er gerade mutwillig gezaubert hatte, und das bedeutete, daß sie ihn fast sicher aus Hogwarts rauswerfen würden. Er hatte die Verordnung zur Beschränkung der Zauberei Minderjähriger so kraß verletzt, daß er sich wunderte, daß die Vertreter des Zaubereiministeriums nicht hier und jetzt auf ihn niedersausten.

Zitternd sah er den Magnolienring entlang. Was würde mit ihm geschehen? Würden sie ihn verhaften oder ihn nur aus der Zaubererwelt verbannen? Er dachte an Ron und Hermine, und das Herz wurde ihm noch schwerer. Ron und Hermine, ob er nun kriminell war oder nicht, würden ihm jetzt sicher helfen, doch sie waren beide im Ausland, und ohne Hedwig hatte er keine Möglichkeit, Verbindung mit ihnen aufzunehmen.

Außerdem hatte er kein Muggelgeld. Ein wenig Zauberergold war im Geldbeutel unten im Koffer, doch der Rest des Vermögens, das ihm seine Eltern hinterlassen hatten, lagerte in einem Verlies der Gringotts-Zaubererbank in London. Seinen Koffer bis nach London zu schleifen würde er nie schaffen. Außer

Er sah hinunter auf seinen Zauberstab, den er immer noch umklammert hielt. Wenn er schon rausgeworfen war (sein Herz pochte nun so schnell, daß es wehtat), konnte noch ein wenig mehr Zauberei nicht weiter schaden. Er hatte den Tarnumhang, den er von seinem Vater geerbt hatte – was, wenn er den Koffer verzauberte, so daß er federleicht war, ihn an seinen Besen band, sich den Umhang überwarf und einfach nach London flog? Dann konnte er den Rest seines Geldes aus dem Verlies holen und… sein neues Leben als Verbannter beginnen. Eine fürchterliche Aussicht, doch er konnte ja nicht ewig auf dieser Mauer sitzen und am Ende noch der Muggelpolizei erklären müssen, warum er sich mitten in der Nacht mit einem Koffer voller Zauberbücher und einem Besen herumtrieb.

Harry öffnete den Koffer und kramte unter seinen Sachen nach dem Tarnumhang. Doch bevor er ihn gefunden hatte, richtete er sich plötzlich auf und sah sich um.

Ein komisches Prickeln im Nacken gab ihm das Gefühl, er würde beobachtet. Doch die Straße schien immer noch menschenleer und kein Fenster der großen, quadratischen Häuser war erleuchtet.

Er beugte sich wieder über seinen Koffer, doch fast sofort stand er erneut auf, die Hand um den Zauberstab geklammert. Er ahnte es eher, als daß er es hörte: jemand oder etwas stand hinter ihm, im schmalen Durchgang zwischen dem Zaun und einer Garage. Harry spähte in die Dunkelheit hinein. Wenn es sich nur bewegen würde, dann würde er sehen, ob es nur eine streunende Katze war – oder etwas anderes.

»Lumos«, murmelte Harry und an der Spitze seines Zauberstabes erschien ein Licht, das ihn fast blendete. Er hielt den Zauberstab hoch über den Kopf, und die rauh verputzten Mauern von Nummer zwei glitzerten plötzlich; die Garagentür schimmerte und dazwischen sah Harry ganz deutlich die mächtigen Umrisse von etwas sehr Großem mit weit aufgerissenen, glühenden Augen.

Harry wich zurück – er stieß mit dem Bein gegen seinen Koffer und stolperte. Der Zauberstab flog ihm aus der Hand, als er einen Arm ausstreckte, um den Sturz abzufangen, und er landete schmerzhaft im Rinnstein.

Da ertönte ein ohrenbetäubender Knall und Harry riß die Hände vors Gesicht, um seine Augen vor dem jähen, blendenden Licht eines Scheinwerfers zu schützen.

Mit einem Schrei rollte er zurück auf den Gehweg, gerade noch rechtzeitig. Eine Sekunde später kam ein gigantisches Paar Reifen ebendort quietschend zum Stehen, wo Harry gerade gelegen hatte. Sie gehörten, wie er erkannte, als er den Kopf hob, zu einem grell purpurfarbenen Bus, einem Dreidecker, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Goldene Lettern über der Windschutzscheibe verkündeten: Der Fahrende Ritter.

Einen kurzen Moment lang fragte sich Harry, ob er nach seinem Sturz noch alle Tassen im Schrank hatte. Dann sprang ein Schaffner in purpurner Uniform aus dem Bus und begann laut in die Nacht hinein zu sprechen.

»Willkommen im Fahrenden Ritter, dem Nottransporter für gestrandete Hexen und Zauberer. Strecken Sie einfach die Zauberstabhand aus, steigen Sie ein und wir fahren Sie, wohin Sie wollen. Mein Name ist Stan Shunpike und ich bin für heute Abend Ihr Schaff-«

Der Schaffner verstummte jäh. Er hatte Harry entdeckt, der immer noch auf dem Boden saß. Harry hob seinen Zauberstab auf und rappelte sich hoch. Von nahem sah er, daß Stan Shunpike nur ein paar Jahre älter war als er; achtzehn oder neunzehn höchstens, mit großen, abstehenden Ohren und einer hübschen Portion Pickel.

»Was hast du denn da unten gesucht?«, fragte Stan, jetzt ganz ohne seinen beruflichen Ernst.

»Bin hingefallen«, sagte Harry.

»Wozu das denn?«, kicherte Stan.

»War keine Absicht«, sagte Harry genervt. Seine Jeans war an einem Knie aufgerissen und die Hand, die er ausgestreckt hatte, um sich abzufangen, blutete. Plötzlich fiel ihm ein, warum er gestürzt war, drehte sich auf den Fersen um und starrte auf den Durchgang zwischen dem Zaun und der Garage. Die Scheinwerfer des Fahrenden Ritters überfluteten ihn mit Licht – und nichts war zu sehen.

»Wen suchste denn?«, fragte Stan.

»Da war etwas Großes und Schwarzes«, sagte Harry und deutete unsicher auf den Durchgang.»Wie ein Hund… aber riesig.«

Er drehte sich zu Stan um, dessen Mund halb offen stand. Harry war mulmig zumute, als er Stans Augen zu der Narbe auf seiner Stirn wandern sah.

»Was'n das auf deinem Kopf?«, sagte Stan abrupt.

»Nichts«, sagte Harry schnell und patschte sich die Haare auf seine Narbe. Wenn das Zaubereiministerium nach ihm suchte, wollte er es ihnen nicht zu einfach machen.

»Wie heißt'n du?«, bohrte Stan nach.

»Neville Longbottom.«Das war der erstbeste Name, der ihm einfiel.»Also – also dieser Bus«, fuhr er rasch fort in der Hoffnung, Stan ablenken zu können,»du sagst, er fährt überallhin?«

»Jep«, sagte Stan stolz,»wo immer du hinwillst, solange es auf Land ist. Unter Wasser geht's nicht.«Wieder sah er Harry mißtrauisch an.»Hör mal, du hast uns doch gewinkt, oder? Hast deinen Zauberstab ausgestreckt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Harry rasch.»Hör mal, wie viel würde es nach London kosten?«

»Elf Sickel«, sagte Stan,»aber für dreizehn kriegst du heiße Schokolade und für fünfzehn eine Flasche warmes Wasser und eine Zahnbürste in der Farbe deiner Wahl.«

Wieder kramte Harry in seinem Koffer, zog seinen Geldbeutel heraus und zählte etwas Silber in Stans Hand. Dann hoben sie gemeinsam den Koffer und Hedwigs Käfig die Stufen des Busses empor.

Es gab keine Sitze; ein halbes Dutzend Messingbetten stand entlang der vorhangbezogenen Fenster. Neben jedem Bett brannten Kerzen in Haltern und beleuchteten die holzgetäfelten Wände. Hinten im Bus nuschelte ein winziger Zauberer mit Nachtmütze:»Nicht jetzt, danke, ich pökle gerade ein paar Schnecken«, drehte sich um und schlief weiter.

»Das ist deins«, flüsterte Stan und schob Harrys Koffer unter das Bett gleich hinter dem Fahrer, der in einem Lehnstuhl vor dem Steuer saß.»Das ist unser Fahrer, Ernie Prang. Ern, das ist Neville Longbottom.«

Ernie Prang, ein älterer Zauberer mit dicken Brillengläsern, nickte Harry zu, der noch einmal nervös die Haare auf die Stirn klatschte und sich auf sein Bett setzte.

»Leg los, Ern«, sagte Stan und setzte sich in den Sessel neben Ernie.

Es gab einen weiteren gewaltigen Knall und im nächsten Moment lag Harry flach auf dem Bett, hingeworfen durch die Beschleunigung des Fahrenden Ritters. Er rappelte sich hoch, starrte aus dem Fenster und sah, daß sie nun eine ganz andere Straße entlangrollten. Stan musterte Harrys verdutztes Gesicht mit großem Vergnügen.

»Hier waren wir, bevor du uns runtergewinkt hast«, sagte er.»Wo sind wir, Ern? Irgendwo in Wales?«

»Hmm«, sagte Ernie.

»Wie kommt es, daß die Muggel den Bus nicht hören?«, fragte Harry.

»Die!«, sagte Stan verächtlich.»Hörn nicht richtig hin, nich wahr? Gucken auch nicht richtig. Merken nie nichts, nee.«

»Am besten, du weckst Madam Marsh auf, Stan«, sagte Ern.»Wir sind gleich in Abergavenny.«

Stan ging an Harrys Bett vorbei, stieg eine schmale Holztreppe hoch und verschwand. Harry sah immer noch aus (lern Fenster, zunehmend nervös. Ernie schien den Gebrauch eines Steuers noch nicht gemeistert zu haben. Der Fahrende Ritter holperte immer wieder über Gehwege, doch nie krachte es. Reihenweise Laternenpfähle, Briefkästen und Mülleimer sprangen ihm aus dem Weg, wenn er sich näherte, und zurück auf ihren Platz, wenn er vorbei war.

Stan kam wieder herunter, gefolgt von einer Hexe, die in einen Reiseumhang eingehüllt war und ein bißchen grün im Gesicht wirkte.

»Da sind wir, Madam Marsh«, sagte Stan glücklich, als Ern Auf die Bremse trat und die Betten ungefähr einen halben Meter in Richtung Fahrersitz schlitterten. Doch Madam Marsh drückte sich nur schnell ein Taschentuch gegen den Mund und wankte die Stufen hinunter. Stan warf ihr die Tasche hinterher und schlug die Tür zu. Wieder ertönte ein lauter Knall und sie donnerten eine schmale Allee entlang,.m deren Rand die Bäume aus dem Weg sprangen.

Harry hätte ohnehin nicht schlafen können, selbst wenn er nicht in einem Bus gesessen hätte, der ständig laut knallte und hundertfünfzig Kilometer auf einmal überspringen konnte. Ihm drehte sich der Magen, als ihm wieder die Frage einfiel, was wohl mit ihm geschehen würde und ob die Dursleys es schon geschafft hatten, Tante Magda von der Decke zu holen.

Stan hatte inzwischen eine Ausgabe des Tagespropheten aufgeschlagen und las mit der Zunge zwischen den Zähnen in dem Blatt. Ein großes Foto von einem Mann mit eingesunkenem Gesicht und langem, verfilztem Haar blickte Harry von der Titelseite entgegen. Es kam ihm merkwürdig bekannt vor.

»Der Mann da!«, sagte Harry und vergaß für eine Welle seine Sorgen,»er war in den Muggelnachrichten.«

Stanley blätterte zur Titelseite zurück und kiekste.

»Sirius Black«, sagte er kopfnickend.»Natürlich war er in den Muggelnachrichten, Neville. Wo hast du eigentlich gesteckt?«

Beim Anblick von Harrys ratloser Miene kicherte er überlegen, riß die Titelseite heraus und gab sie Harry.

»Du solltest mehr Zeitung lesen, Neville.«

Harry hielt das Blatt ins Kerzenlicht und las:

Black immer noch auf freiem Fuß

Sirius Black, der wohl berüchtigste Gefangene, der je in der Festung von Askaban saß, ist immer noch auf der Flucht, wie das Zaubereiministerium heute bestätigte.

»Wir tun alles, was wir können, um Black zu fassen«, sagte Zaubereiminister Cornelius Fudge heute Morgen,»und wir bitten alle Hexen und Zauberer, Ruhe zu bewahren.«

Fudge wurde von Mitgliedern der Internationalen Vereinigung von Zauberern kritisiert, weil er den Premierminister der Muggel von der Krise unterrichtet hatte.

»Nun, es blieb mir nichts anderes übrig, wissen Sie«, sagte der verärgert wirkende Fudge.»Black ist verrückt. Er ist eine Gefahr für jeden, der ihm über den Weg läuft, ob Magier oder Muggel. Der Premierminister hat mir versichert, daß er kein Wort darüber verlauten lassen wird, wer Black in Wahrheit ist. Und seien wir ehrlich – wer würde ihm schon glauben?«

Während die Muggel gewarnt wurden, daß Black mit einer Pistole bewaffnet ist (eine Art metallener Zauberstab, mit dem sich die Muggel gegenseitig umbringen), lebt die Zauberergemeinschaft in Furcht vor einem weiteren Massaker wie dem vor zwölf Jahren, als Black mit einem einzigen Fluch dreizehn Menschen tötete.

Harry sah in die überschatteten Augen von Sirius Black, die einzige Partie des eingesunkenen Gesichts, die lebendig schien. Harry hatte nie einen Vampir getroffen, doch er hatte Bilder von ihnen im Unterricht gesehen, in Verteidigung gegen die dunklen Künste, und Black, mit seiner wachsweißen Haut, sah genau wie ein Vampir aus.

»Kann einem ganz schön Angst einjagen, nich wahr?«, sagte Stan, der Harry beim Lesen beobachtet hatte.

»Er hat dreizehn Menschen umgebracht?«, sagte Harry und gab Stan die Seite zurück,»mit einem Fluch?«

»Jep«, sagte Stan,»und auch noch vor Zeugen. Am hellichten Tag. Gab 'n ziemlichen Aufruhr, nich wahr, Ern?«

»Hmm«, mümmelte Ernie.

Stan, die Hände auf der Rückenlehne, drehte sich mitsamt Stuhl herum, um Harry besser sehen zu können.

»Black war ein großer Anhänger von Du-weißt-schon-wem«, sagte er.

»Wie, Voldemort?«, sagte Harry unbedacht.

Selbst Stans Pickel wurden weiß; Ern riß das Steuer so heftig herum, daß ein ganzer Bauernhof dem Bus aus dem Weg springen mußte.

»Hast du sie nicht mehr alle?«, keuchte Stan.»Wozu sagst du seinen Namen?«

»Tut mir Leid«, sagte Harry hastig,»entschuldigt, ich – ich hab vergessen -«

»Vergessen!«, sagte Stan mit matter Stimme.»Du lieber Junge, mein Herz pocht so schnell…«

»Also – war Black ein Anhänger von Du-weißt-schon-wem?«, hakte Harry mit Verzeihung heischender Miene nach.

»Ja«, sagte Stan und rieb sich die Brust.»Ja, das stimmt. Stand Du-weißt-schon-wem sehr nahe, heißt es. jedenfalls, als der kleine Harry Potter mit Du-weißt-schon-wem Schluß machte -«

Wieder strich sich Harry nervös die Haare in die Stirn.

»- wurden alle Anhänger von Du-weißt-schon-wem aufgespürt, nich wahr, Ern? Die meisten wußten, daß alles vorbei war, wo doch Du-weißt-schon-wer verschwunden war, und sie gaben klein bei. Aber nicht Sirius Black. Hab gehört, er dachte, er würde der zweite Mann sein, wenn Du-weißt-schon-wer eines Tages die Macht übernommen hätte.

jedenfalls haben sie Black mitten auf einer Straße voller Muggel eingekreist und Black hat seinen Zauberstab gezogen und die halbe Straße in die Luft gejagt. Einen Zauberer hat er dabei erwischt und auch ein Dutzend Muggel, die im Weg waren. Furchtbar, nich? Und weißt du, was Black dann getan hat?«, fuhr Stan dramatisch flüsternd fort.

»Was?«, sagte Harry.

»Gelacht«, sagte Stan.»Hat einfach dagestanden und gelacht. Und als die Verstärkung aus dem Zaubereiministerium ankam, hat er sich seelenruhig abführen lassen und hat sich die ganze Zeit geschüttelt vor Lachen. Weil er verrückt ist, nich wahr, Ern? Isser nich verrückt?«

»Wenn er's nich war, als er nach Askaban kam, dann lsser's spätestens jetzt«, sagte Ern in seiner langsamen Art.»Würd mich in die Luft jagen, bevor ich einen Fuß dort hineinsetze. Geschieht ihm aber recht… nach dem, was er getan hat…«

»War 'n ziemlicher Aufwand, die Sache zu vertuschen, nich wahr, Ern?«, sagte Stan.»Ganze Straße in Schutt und Asche und all die toten Muggel. Was haben sie noch mal gesagt, sei passiert, Ern?«

»Gasexplosion«, brummte Ernie.

»Und jetzt isser raus«, sagte Stan und begutachtete erneut das Zeitungsfoto von Sirius Blacks ausgemergeltem Gesicht.»Hat noch nie jemand geschafft, aus Askaban auszubrechen, nich, Ern? Frag mich, wie er's hingekriegt hat. jagt einem ganz schön Angst ein, nich wahr? Möcht gar nicht wissen, was die Wärter dort mit ihm angestellt haben, nich wahr, Ern?«

Ernie zitterte plötzlich.

»Laß uns über was andres reden, Stan, alter Junge. Wenn ich an diese Wärter in Askaban denke, wird mir ganz anders.«

Widerstrebend legte Stan die Zeitung weg und Harry, der sich jetzt noch elender fühlte, lehnte sich an ein Fenster. Unwillkürlich stellte er sich vor, was Stan in ein paar Nächten seinen Passagieren erzählen würde.

»Habt ihr von Harry Potter gehört? Hat seine Tante aufgeblasen! Wir ham ihn hier im Fahrenden Ritter gehabt, oder, Ernie? Hat versucht zu entkommen…«

Er, Harry, hatte das Zaubergesetz gebrochen, genau wie Sirius Black. War Tante Magda aufzublasen schlimm genug, um in Askaban zu landen? Harry wußte nichts über das Zauberergefängnis, nur daß jeder, den er es hatte erwähnen hören, in angsterfülltem Ton gesprochen hatte. Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, hatte erst letztes Jahr ein paar Monate dort verbracht. Harry würde den Ausdruck des Entsetzens auf Hagrids Gesicht, als er hörte, daß er dorthin mußte, niemals vergessen, und Hagrid war einer der mutigsten Menschen, die er kannte.

Der Fahrende Ritter rollte durch die Dunkelheit und Büsche und Plotter, Telefonhäuschen und Bäume links und rechts des Weges hüpften davon. Harry lag ruhelos und niedergeschlagen auf seinem Federbett. Nach einer Weile fiel Stan ein, daß Harry für heiße Schokolade bezahlt hatte, doch er schüttete alles über Harrys Kopfkissen, als der Bus mit einem Schlag von Anglesea nach Aberdeen sprang. Nach und nach kamen Zauberer und Hexen in Morgenmänteln und Pantoffeln von den oberen Decks herunter und stiegen aus. Alle schienen sehr glücklich darüber zu sein.

Schließlich war Harry als letzter Passagier übrig geblieben.

»Laß hören, Neville«, sagte Stan und klatschte in die Hände,»wohin in London?«

»Winkelgasse«, sagte Harry.

Die Winkelgasse war eine versteckte Straße voller Zaubererläden. Dort war auch die Gringotts-Bank.

»Na gut«, sagte Stan,»dann halt dich mal fest -«

Knall!

Sie donnerten über eine Hauptverkehrsader Londons. Harry setzte sich auf und sah zu, wie sich Häuser und Bänke aus dem Weg des Fahrenden Ritters quetschten. Am Himmel wurde, es allmählich heller. Er würde sich ein paar Stunden hinlegen, dann zur Gringotts gehen, sobald sie öffnete, und dann fliehen – wohin, wußte er nicht.

Ern trat jählings auf die Bremse und der Bus kam mit quietschenden Reifen vor einem kleinen, schäbigen Pub zum Stehen, dem Tropfenden Kessel, hinter dem das magische Tor zur Winkelgasse lag.

»Danke«, sagte Harry zu Ern.

Er sprang die Stufen hinunter und half Stan, seinen Koffer und Hedwigs Käfig auf den Gehweg zu hieven.

»Na dann«, sagte Harry,»auf Wiedersehen!«

Doch Stan hörte ihn nicht. Er stand immer noch an der Bustür und starrte glubschäugig auf den dunklen Eingang des Tropfenden Kessels.

»Da bist du ja, Harry«, sagte eine Stimme.

Bevor Harry sich umdrehen konnte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Und im gleichen Moment schrie Stan:»Wahnsinn! Ern, komm mal her! Komm her!«

Harry blickte hoch zum Besitzer der Hand auf seiner Schulter und ihm war plötzlich, als würde ein Eimer Eis in seinen Magen geschüttet – er war geradewegs in die Arme des Zaubereiministers Cornelius Fudge gelaufen.

Stan sprang neben ihn auf den Gehweg.

»Wie haben Sie Neville gerade genannt, Herr Minister?«, fragte er aufgeregt.

Fudge, ein beleibter kleiner Mann in langem Nadelstreifenumhang, sah abweisend und erschöpft aus.

»Neville?«, wiederholte er stirnrunzelnd.»Das ist Harry Potter.«

»Ich hab's doch gewußt«, rief Stan schadenfroh.»Ern! Ern! Rat mal, wer Neville ist, Ern! 's ist Harry Potter! Ich kann seine Narbe sehen!«

»Ja«, sagte Fudge unwirsch.»Nun, ich bin sehr froh, daß der Fahrende Ritter Harry aufgelesen hat. Wir beide gehen jetzt rein in den Tropfenden Kessel -«

Fudge verstärkte den Druck seiner Hand auf Harrys Schulter und Harry mußte sich von ihm in den Pub bugsieren lassen. Eine gebeugte Gestalt mit einer Laterne kam durch die Tür hinter der Bar. Es war Tom, der in Weisheit ergraute zahnlose Wirt.

»Sie haben ihn, Herr Minister!«, sagte Tom.»Wünschen Sie etwas? Bier? Cognac?«

»Vielleicht eine Kanne Tee«, sagte Fudge, der Harry immer noch fest im Griff hielt.

Hinter ihnen hörten sie ein lautes Kratzen und Keuchen und dann erschienen Stan und Ern mit Harrys Koffer und Hedwigs Käfig. Sie sahen sich verwirrt um.

»Wieso haste uns denn nicht gesagt, wer du bist, he, Neville?«, sagte Stan und strahlte Harry an, während Ernies eulenhaftes Gesicht interessiert über Stans Schulter lugte.

»Und einen Raum, wo wir ungestört sein können, bitte, Tom«, sagte Fudge ungeduldig.

»Tschau«, sagte Harry bedrückt zu Stan und Ern, während Tom den Minister zum Durchgang hinter der Bar wies.

»Tschau, Neville«, rief Stan.

Tom ging mit erhobener Laterne voran, und Fudge geleitete Harry durch den schmalen Gang in ein kleines Hinterzimmer. Tom schnippte mit den Fingern, ein kleines Feuer entflammte im Kamin und mit einer Verbeugung ging er hinaus.

»Setz dich, Harry«, sagte Fudge und wies auf einen Stuhl neben dem Kamin.

Harry setzte sich; trotz des wärmenden Feuers kroch ihm eine Gänsehaut die Arme empor. Fudge zog seinen Nadelstreifenumhang aus und warf ihn beiseite, dann krempelte er die Hosenbeine seines flaschengrünen Anzugs hoch und setzte sich Harry gegenüber.

»Ich bin Cornelius Fudge, Harry. Der Zaubereiminister.«

Das wußte Harry natürlich; er hatte Fudge schon einmal gesehen, doch damals hatte er den Tarnumhang seines Vaters getragen und Fudge erfuhr besser nichts von dieser Geschichte.

Tom, der Wirt, tauchte wieder auf, mit einer Schürze über seinem Nachthemd und einem Tablett mit Tee und kleinen Brötchen. Er stellte das Tablett auf den Tisch zwischen Fudge und Harry, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

»Nun, Harry«, sagte Fudge und schenkte ihnen Tee ein,»du hast uns ganz schön in die Bredouille gebracht, das will ich dir offen sagen. Erst dieses Schlamassel im Haus deiner Verwandten anrichten und dann davonlaufen! Ich fürchtete schon… aber du bist in Sicherheit, und das ist alles, was zählt.«

Fudge butterte eine Brötchenhälfte und schob den Teller Harry zu.

»Iß, Harry, du siehst ganz schön mitgenommen aus. Nun denn…

Es wird dich sicher freuen zu hören, daß wir die bedauernswerte Sache mit der aufgeblasenen Miss Magdalene Dursley bereinigt haben. Zwei Mitarbeiter der Abteilung für die Umkehr verunglückter Zauberei wurden vor ein paar Stunden in den Ligusterweg beordert. Miss Dursley wurde aufgestochen und ihr Gedächtnis ein klein wenig verändert. Sie hat keinerlei Erinnerung an den Vorfall. Es ist also nichts passiert, und die Sache ist erledigt.«

Fudge lächelte Harry über den Rand seiner Teetasse hinweg an, ganz wie ein guter Onkel, der seinem Lieblingsneffen ein hübsches Geschenk gemacht hat. Harry, der seinen Ohren nicht trauen wollte, öffnete den Mund, doch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können, und er klappte ihn wieder zu.

»Aah, du machst dir Sorgen, wie Tante und Onkel reagieren?«, sagte Fudge.»Nun, ich will nicht bestreiten, daß sie Äußerst wütend sind, Harry, aber sie sind bereit, dich nächsten Sommer wieder aufzunehmen, solange du über Weihnachten und Ostern in Hogwarts bleibst.«

Harry räusperte sich.

»In den Weihnachtsferien und den Osterferien bleibe ich immer in Hogwarts«, sagte er,»und in den Ligusterweg will ich nie wieder zurück.«

»Schon gut, schon gut, Harry, wenn du dich erst einmal beruhigt hast, denkst du sicher anders darüber«, sagte Fudge in besorgtem Ton.»Es ist schließlich deine Familie, und ich bin sicher, ihr mögt euch alle miteinander – ähm – tief im Grunde eurer Herzen.«

Harry hatte keine Lust, Fudge eines Besseren zu belehren. Er wartete immer noch darauf zu hören, was jetzt mit ihm passieren würde.

»Also müssen wir nur noch klären«, sagte Fudge und butterte sich sein zweites Brötchen,»wo du die letzten beiden Ferienwochen verbringst. Ich schlage vor, du nimmst hier im Tropfenden Kessel ein Zimmer und -«

»Moment mal«, brach es aus Harry hervor,»was ist mit meiner Bestrafung?«

Fudge zwinkerte.»Bestrafung?«

»Ich hab das Gesetz gebrochen!«, sagte Harry.»Die Verordnung zur Beschränkung der Zauberei Minderjähriger!«

»O mein lieber Junge, wir werden dich doch wegen einer, solchen Lappalie nicht bestrafen!«, rief Fudge und fuchtelte mit der Brötchenhälfte in der Hand ungeduldig durch die Luft.»Es war ein Unfall! Wir schicken doch nicht Leute nach Askaban, nur weil sie ihre Tante aufgeblasen haben!«

Das paßte nun überhaupt nicht zu Harrys früheren Erfahrungen mit dem Zaubereiministerium.

»Letztes Jahr habe ich eine offizielle Verwarnung gekriegt, nur weil ein Hauself einen Teller mit Nachtisch im Haus meines Onkels zerdeppert hat!«, erklärte er Fudge mit gerunzelter Stirn.»Das Zaubereiministerium sagte, wenn dort noch einmal gezaubert wird, werfen sie mich aus Hogwarts raus.«

Wenn Harrys Augen ihn nicht trogen, sah Fudge plötzlich verlegen aus.

»Die Dinge ändern sich, Harry… unter den heutigen Umständen… müssen wir dies und jenes berücksichtigen… du willst doch nicht etwa rausgeworfen werden?«

»Natürlich nicht«, sagte Harry.

»Schön, und warum dann die ganze Aufregung?«, lachte Fudge.»Hier, nimm dir ein Brötchen, Harry, während ich vorne nachfrage, ob Tom noch ein Zimmer für dich frei hat.«

Fudge verließ das Hinterzimmer; Harry starrte ihm nach. Etwas äußerst Merkwürdiges ging, hier vor. Warum hatte Fudge ausgerechnet im Tropfenden Kessel auf ihn gewartet, wenn nicht um ihn zu bestrafen? Und nun, da Harry darüber nachdachte, war es doch ungewöhnlich, daß der Zaubereiminister sich persönlich mit der Zauberei Minderjähriger abgab?

Fudge kam mit Tom zurück.

»Zimmer elf ist frei, Harry«, sagte Fudge.»Ich bin sicher, du wirst dich hier sehr wohl fühlen. Nur noch eins, und das wirst du gewiß verstehen… Ich möchte nicht, daß du dich im London der Muggel herumtreibst, klar? Bleib in der Winkelgasse. Und jeden Abend, bevor es dunkel wird, kommst du hierher zurück. Das verstehst du sicher. Tom wird dich ein wenig im Auge behalten.«

»Gut«, sagte Harry langsam,»aber warum -?«

»Wir wollen dich doch nicht wieder verlieren, nicht wahr?«, sagte Fudge und lachte herzhaft.»Nein, nein… besser, wir wissen, wo du bist… ich meine…«

Fudge räusperte sich laut und griff nach seinem Nadelstreifenumhang.

»Nun, ich muß gehen, viel zu tun, weißt du…«

»Haben Sie schon eine Spur von diesem Black?«, fragte Harry.

Fudges Finger rutschten fahrig über die silbernen Verschlüsse seines Umhangs.

»Wie bitte? Oh, du hast davon gehört, nun, nein, noch nicht, aber es ist mir eine Frage der Zeit. Die Wachen in Askaban haben noch nie versagt… und so wütend hab ich sie doch nie gesehen…«Fudge schauderte ein wenig.»Nun, ich verabschiede mich.«

Er streckte die Hand aus, und als Harry sie schüttelte, fiel ihm plötzlich etwas ein.

»Ähm, Herr Minister, kann ich Sie etwas fragen?«

»Natürliche, sagte Fudge lächelnd.

»Also, Drittkläßler in Hogwarts dürfen doch Hogsmeade besuchen, und mein Onkel hat die Zustimmungserklärung nicht unterschrieben. Meinen Sie, Sie könnten -?«

Fudge sah peinlich berührt aus.

»Ähm«, sagte er.»Nein. Nein, tut mir sehr Leid, Harry, aber da ich nicht dein Vater oder Vormund bin -«

»Aber Sie sind der Zaubereiminister«, drängte Harry.»Wenn Sie mir die Erlaubnis geben würden -«

»Nein, tut mir Leid, Harry, aber die Vorschriften sind nun mal so«, sagte Fudge mit matter Stimme.»Vielleicht kannst du Hogsmeade nächstes Jahr besuchen. Im Grunde finde ich es ohnehin besser, wenn du nicht… ja… gut, ich muß gehen. Viel Spaß hier, Harry.«

Und mit einem letzten Lächeln und einem Händedruck verabschiedete sich Fudge, und Tom ging freudestrahlend auf Harry zu.

»Würden Sie mir bitte folgen, Mr Potter«, sagte er.»Ich habe Ihre Sachen schon hochgetragen…«

Harry folgte Tom eine schöne hölzerne Treppe empor zu einer Tür mit der Messingnummer elf, die der Wirt für ihn aufschloß und öffnete.

Drinnen standen ein sehr bequem aussehendes Bett und ein paar auf Hochglanz polierte Eichenmöbel, im Kamin prasselte fröhlich ein Feuer und auf dem Kleiderschrank hockte -

»Hedwig!«, keuchte Harry.

»Die Schnee-Eule klickte mit dem Schnabel und flatterte hinunter auf Harrys Arm.

»Eine sehr kluge Eule haben Sie da«, gluckste Tom.»Kam etwa fünf Minuten nach Ihnen an. Wenn Sie irgend etwas brauchen, Mr Potter, zögern Sie nicht zu fragen.«

Mit einer weiteren Verbeugung ging er hinaus.

Harry saß eine ganze Weile auf dem Bett und streichelte Hedwig, ganz in Gedanken versunken. Der Himmel draußen vor dem Fenster wechselte rasch die Farben, von einem tiefen, samtenen Blau zu einem stählernen Grau und dann, allmählich, zu einem mit Gold durchzogenen Rosa. Harry konnte kaum glauben, daß er erst vor ein paar Stunden aus dem Ligusterweg geflohen war, daß er nicht von der Schule geworfen wurde und daß er jetzt zwei Wochen ohne einen einzigen Dursley vor sich hatte.

»Das war eine ziemlich merkwürdige Nacht, Hedwig«, sagte er gähnend.

Und ohne auch nur seine Brille abzunehmen, ließ er sich in die Kissen sinken und schlief ein.