"Der Zauberer der Smaragdenstadt" - читать интересную книгу автора (Wolkow Alexander)

Der Scheuch

Elli wanderte rastlos mehrere Stunden, und als sie müde wurde, setzte sie sich vor einem der blauen Zäune hin, hinter dem sich ein Feld mit reifem Weizen zog. In der Nähe stand ein hoher Pfahl, auf dem eine Vogelscheuche aufgesteckt war. Der Kopf bestand aus einem mit Stroh ausgestopften Sack, auf den man Augen und Mund gemalt hatte, so daß das Gesicht sehr komisch wirkte. Die Scheuche hatte einen abgetragenen blauen Rock an, aus dessen Nähten an manchen Stellen das Stroh herausragte. Der Kopf war mit einem alten schäbigen Hut bedeckt, dem man die Schellen abgeschnitten hatte, und die Füße staken in blauen Schaftstiefeln, wie sie die Männer des Landes trugen.

Die Scheuche hatte ein komisches und gutmütiges Aussehen.

Elli betrachtete aufmerksam das bemalte Gesicht und staunte nicht wenig, als ihr plötzlich

das rechte Auge zublinzelte. Zunächst dachte sie, es sei eine Täuschung, denn in Kansas blinzelten die Vogelscheuchen nicht. Als ihr aber der Strohmann freundlich zunickte, erschrak sie, und der tapfere Totoschka sprang bellend am Zaun hoch, hinter dem die Scheuche stand.

«Guten Tag», sagte diese mit heiserer Stimme.

«Du sprichst?» wunderte sich Elli.

«Ja. Ich habe es gelernt, als ich mich mit einer Krähe zankte. Wie geht es dir?»

«Danke, gut! Sag, lieber Mann, hast du einen sehnlichen Wunsch?»

«O ja! Ich hab eine Menge Wünsche!» Die Scheuche begann hastig ihre Wünsche aufzuzählen: «Erstens brauche ich silberne Schellen für meinen Hut, zweitens neue Stiefel, drittens…»

«Oh, das reicht vollauf», unterbrach ihn Elli. «Aber was ist dein sehnlichster Wunsch?»

«Der sehnlichste?» Der Strohmann dachte einen Augenblick nach. «Nimm mich herunter. Es ist schrecklich langweilig, Tag und Nacht hier zu stehen und die widerlichen Krähen zu verscheuchen, die, nebenbei gesagt, gar keine Angst vor mir haben!»

«Kannst du denn selber nicht heruntersteigen?»

«Nein. Man hat mich auf den Pfahl aufgespießt. Zieh ihn doch aus mir heraus, ich werde dir sehr dankbar sein!»

Elli bog den Pfahl um, faßte den Strohmann mit beiden Händen und hob ihn ab.

«Besten Dank!» stieß er hervor, als er auf der Erde stand. «Ich fühle mich wie neugeboren. Wenn ich jetzt noch silberne Schellen für meinen Hut und ein Paar neue Stiefel

bekäme…»

Der Strohmann zupfte sorgfältig seine Jacke zurecht, klopfte das Stroh von den Kleidern ab, machte einen Knicks und stellte sich vor:

«Scheuch!»

«Was sagst du'?»

«Scheuch. Man hat mich so getauft, weil ich die Krähen verscheuchen muß. Und wie heißt du?»

«Elli.»

«Ein schöner Name!»

Das Mädchen war sprachlos. Es konnte nicht begreifen, wie eine Strohpuppe mit bemaltem Gesicht gehen und sprechen konnte.

Totoschka aber war empört.

«Und warum sagst du mir nicht guten Tag'?» rief er zornig.

«Ach, bitte um Verzeihung!» entschuldigte sich der Scheuch und drückte des Hündchens Pfote. «Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: Scheuch!»

«Sehr angenehm. Mein Name ist Toto. Meine besten Freunde dürfen mich aber Totoschka nennen!»

«Oh, lieber Scheuch, wie froh ich bin, deinen sehnlichsten Wunsch erfüllt zu haben!» sagte Elli.

«Verzeih, Elli», entgegnete der Scheuch und machte wieder einen Knicks. «Aber ich hab mich wohl geirrt, denn mein sehnlichster Wunsch ist ein Gehirn.»

«Ein Gehirn?»

«Na ja, ein Gehirn. Es ist doch nicht angenehm, wenn man einen Kopf voll Stroh hat.»

«Du lügst ja!» sagte Elli vorwurfsvoll.

«Lügen? Was ist das? Man hat mich erst gestern gemacht,

und ich versteh noch nichts…'

«Wieso verstehst du dann, daß du Stroh im Kopf hast und kein Gehirn wie die Menschen?»

«Das hat mir eine Krähe gesagt, als wir uns zankten. Ich will's dir erzählen. Heute morgen flog eine große struppige Krähe in meiner Nähe herum, die vom Weizen bei weitem nicht so viel fraß, wie sie auf der Erde verstreute. Dann setzte sie sich frech auf meine Schulter, pickte mich in die Wange und höhnte: Kaggi-kar!, und das nennt sich ein Scheuch! Welcher Kauz von einem Farmer hat sich einbilden können, daß wir Krähen uns vor ihm fürchten würden…' Du wirst verstehen, Elli, daß ich wütend war und unbedingt etwas erwidern mußte. Ich strengte mich furchtbar an, und dann gelang es mir plötzlich. Wie ich mich da freute! Allerdings haperte es zunächst. 'Pff, fff… ff -ort mit dir, du Scheusal!' schrie ich, 'un… un… untersteh dich nur, mich zu zwicken, ich kann fff… ff u… ffurchtbar sein!' Es gelang mir, die Krähe am Flügel zu packen und sie von meiner Schulter zu werfen. Die aber machte sich nichts daraus und begann unverschämt die Ähren zu picken. 'Du glaubst wohl, ich staune?' rief die Krähe. 'Als ob ich nicht wußte, daß in Goodwins Land selbst die Scheuchen sprechen, wenn sie sich nur tüchtig anstrengen! Aber ich hab trotzdem keine Angst vor dir, denn von deinem Pfahl kommst du doch nicht los!' — 'Ffff… ffo… ffort!' schrie ich in meinem Elend, und hätte am liebsten geheult vor Wut. In der Tat, wozu tauge ich auch, wenn ich nicht einmal mit einer Krähe fertig werde.

Trotz ihrer Frechheit war die Krähe anscheinend ein guter Vogel», fuhr der Strohmann fort. «Sie hatte Mitleid mit mir. 'Sei nicht so traurig!' krächzte sie. 'Hättest du ein Gehirn im Kopf, so wärst du so wie alle anderen! Das Gehirn ist das einzig Wertvolle bei den Krähen… und bei den Menschen!' So erfuhr ich, daß der Mensch ein Gehirn hat, und ich keines. Übermütig schrie ich: Ohoho-ho-ho!! Es lebe das Gehirn! Ich werde mir unbedingt eins verschaffen!' Der launische Vogel vergällte mir aber die Freude. 'Karrkarr!' kicherte er, 'wo kein Gehirn da ist, wird's auch keins geben, karr-karr!' und flog davon. Und dann kamst du mit Totoschka. Sag, Elli, kannst du mir ein Gehirn geben?»

«Nein, das kann ich nicht. Das kann wahrscheinlich nur Goodwin in der Smaragdenstadt. Ich gehe zu ihm, um ihn zu bitten, daß er mich nach Kansas heimführt zu Vater und Mutter.»

«Wo befindet sich diese Smaragdenstadt, und wer ist Goodwin?»

«Weißt du es nicht?»

«Nein, ich weiß überhaupt nichts», antwortete der Scheuch traurig. «Du siehst ja, ich bin mit Stroh ausgestopft und hab kein Gehirn.»

«Du tust mir schrecklich leid!» seufzte das Mädchen.

«Hab Dank für dein Mitgefühl. Bist du auch sicher, daß Goodwin mir ein Gehirn gibt, wenn ich dich in die Smaragdenstadt begleite.»

Das weiß ich nicht. Aber wenn der Große Goodwin dir auch keines gibt, so wird es dir doch nicht schlechter gehen als jetzt.»

«Das stimmt», gab der Scheuch zu. «Weißt du», fuhr er zutraulich fort, «mir kann nichts geschehen, weil ich mit Stroh ausgestopft bin. Du kannst mich mit einer Nadel durchstechen, und es wird mir nicht weh tun. Ich möchte aber nicht, daß die Menschen mich einen Strohkopf nennen, und ohne Gehirn kann man doch nichts erlernen!»

«Du Armer», sagte Elli. «Komm mit uns. Ich werde Goodwin bitten, daß er dir hilft.»

«Schönen Dank!» erwiderte der Scheuch und machte wieder einen Knicks.

Der Strohmann war, obwohl nur einen Tag alt, sehr höflich.

Das Mädchen half ihm, die ersten Schritte zu tun, und dann gingen sie zusammen den gelben Backsteinweg entlang, der in die Smaragdenstadt führte.

Totoschka mißfiel der neue Weggefährte. Er lief um ihn herum und beschnupperte ihn, in der Annahme, unterm Rock sei ein Mäusenest verborgen. Er bellte und tat so, als wollte er den Strohmann beißen.

«Hab keine Angst, Totoschka wird dich nicht beißen», sagte Elli zu Scheuch.

«Hab ich ja gar nicht! Kann man vielleicht Stroh beißen? Gib mir deinen Korb, es macht mir nichts aus, ihn zu tragen, denn ich werde niemals müde. Und dann — im Vertrauen gesagt — gibt es nur ein Ding auf der Welt, vor dem ich mich fürchte», flüsterte er heiser dem Mädchen ins Ohr.

«Oh!» rief Elli, «wovor denn? Vor einer Maus?»

«Nein, vor einem brennenden Streichholz!»

* * *

Nach ein paar Stunden wurde der Weg holprig. Der Scheuch stolperte über Löcher, über die Totoschka hinwegsprang, während Elli sie umging. Da der Strohmann immer geradeaus ging, fiel er einmal übers andere der Länge nach hin, was ihm aber nicht weh tat. Elli half ihm jedesmal aufzustehen, und er schritt, über seine Ungeschicklichkeit lachend, unbekümmert weiter.

Dann las Elli am Wegrand einen dicken Ast auf und reichte ihn dem Strohmann, der ihn als Wanderstab benutzte und sich nunmehr beim Gehen viel sicherer fühlte.

Dann wurden die Häuschen immer seltener, und Obstbäume waren überhaupt keine mehr zu sehen. Das Land war hier dünn besiedelt und unfreundlich.

Die Wanderer machten an einem Bach halt. Elli nahm Brot aus ihrem Korb und bot ein Stückchen dem Scheuch an, der es jedoch höflich ablehnte.

«Ich hab niemals Hunger, und das ist für mich sehr vorteilhaft.»

Elli nötigte ihn nicht und gab das Brot Totoschka, der es gierig verschlang und dann Männchen machte, damit man ihm mehr gebe.

«Erzähl mir von dir, Elli, und von deinem Land», bat der Scheuch.

Elli sprach lange über die weite Steppe von Kansas, wo im Sommer alles grau und staubig ist, ganz anders als in Goodwins Wunderland.

Der Scheuch hörte aufmerksam zu.

«Ich verstehe nicht, warum du dich nach deinem trockenen und staubigen Kansas sehnst?»

«Das kannst du nicht, weil du kein Gehirn hast», entgegnete das Mädchen. «Zu Hause ist es immer besser!»

Der Scheuch lächelte pfiffig.

«Das Stroh, mit dem ich ausgestopft bin, ist auf dem Feld gewachsen, meinen Rock hat ein Schneider genäht und die Stiefel ein Schuster. Wo ist nun mein Zuhause? Auf dem Feld, beim Schneider oder beim Schuster?»

Elli wußte nichts zu antworten.

Mehrere Minuten saßen sie schweigend da.

«Vielleicht wirst du mir jetzt etwas erzählen?» fragte das Mädchen.

Der Scheuch blickte sie vorwurfsvoll an.

«Ich bin so jung, daß ich überhaupt nichts weiß. Man hat mich erst gestern gemacht, und ich hab keine Ahnung, was es vor mir auf der Welt gab. Zum Glück malte mir mein Herr zuerst die Ohren, und so konnte ich hören, was um mich vorging. Damals war zufällig ein anderer Käuer bei uns zu Gast, und das erste, was ich vernahm, waren seine Worte: 'Die Ohren sind doch zu groß!' — 'Macht nichts. Sie sind schon so, wie sie sein sollen', entgegnete mein Herr und malte mir das rechte Auge.

Ich betrachtete neugierig die Umgebung, denn — du wirst ja verstehen — es war das erstemal, daß ich die Welt sah.

,Das Auge ist nicht übel', sagte der Gast, 'du hast mit blauer Farbe nicht gegeizt.'

,Das andere scheint mir ein bißchen zu groß', meinte mein Herr, indem er mein zweites Auge zu Ende malte.

Dann machte er mir aus einem Flicken die Nase und malte den Mund. Ich konnte aber noch nicht sprechen, weil ich nicht wußte, wozu der Mund da ist. Der Herr zog mir seinen alten Rock an und setzte mir einen alten Hut auf, von dem die Kinder die Schellen abgeschnitten hatten. Ich war schrecklich stolz und kam mir wie ein richtiger Mensch vor.

,Dieser Kerl wird mit den Krähen schon fertig werden', meinte der Farmer.

,Weißt du was? Nenn ihn Scheuch!' sagte der Gast, und mein Herr folgte seinem Rat.

Die Kinder des Farmers riefen fröhlich: 'Scheuch! Scheuch! Die Krähen verscheuch!', dann trug man mich aufs Feld, setzte mich auf einen Pfahl und ließ mich allein. Es war langweilig, so zu verharren, doch wußte ich mir nicht zu helfen. Gestern fürchteten sich noch die Vögel vor mir, heute nicht mehr. Dann kam die gute Krähe, die mir vom Gehirn erzählte… Wenn Goodwin mir doch eines geben würde!…»

«Ich glaube, er wird dir helfen», tröstete ihn Elli.

«Ja, ja! Es ist unangenehm, ein Strohkopf zu sein, über den sogar die Krähen lachen.»

«Laßt uns gehen!» sagte Elli, stand auf und reichte dem Scheuch den Korb.

Am Abend kamen sie in einen großen Wald. Die Zweige hingen tief herab und versperrten ihnen den gelben Backsteinweg. Dann ging die Sonne unter, und es wurde dunkel.

«Wenn du ein Haus siehst, in dem wir übernachten könnten, so sag es mir», bat Elli mit müder Stimme. «Es ist so unheimlich, im Dunkeln zu wandern.»


Da blieb der Scheuch plötzlich stehen.

«Ich sehe rechts eine kleine Hütte. Wollen wir hingehen?»

«Ja, ja», erwiderte Elli, «ich bin so müde!»

Sie bogen vom Weg ab und standen bald vor der Hütte. Als sie hineingingen, entdeckte Elli in einer Ecke ein Lager aus Moos und Heu. Sie schlief, den Arm um Totoschka, sofort ein, während der Scheuch vor der Schwelle hockte und über die Schlafenden wachte.

Seine Wache war nicht unnütz. Nachts schlich sich ein Tier heran, das einen schwarz-gemischten Pelz und auf dem Kopf, der wie ein Schweinskopf aussah, weiße Streifen hatte.

Wahrscheinlich hatte der Duft des Essens in Ellis Korb das Tierchen angelockt. Der Scheuch glaubte, Elli drohe große Gefahr. Mit angehaltenem Atem stand er da und ließ den

Feind (es war bloß ein junger Dachs, was der Strohmann freilich nicht wissen konnte) bis an die Tür herankommen. Als das Tierchen seine Nase neugierig hereinsteckte und den lockenden Duft einsog, versetzte der Scheuch ihm mit der Rute, die er in der Hand hielt, einen saftigen Hieb über den fetten Rücken.

Der Dachs heulte auf und floh ins Dickicht zurück, aus dem noch lange sein Winseln zu hören war…

Der Rest der Nacht verlief ruhig. Die Tiere des Waldes hatten begriffen, daß die Hütte einen verläßlichen Wächter hatte. Der Scheuch, der niemals müde wurde und keinen Schlaf brauchte, saß an der Schwelle, starrte in die Finsternis und wartete ruhig den Morgen ab.