"Der Zauberer der Smaragdenstadt" - читать интересную книгу автора (Wolkow Alexander)
Die Erlösung des eisernen Holzfällers
Als Elli erwachte, saß der Scheuch vor der Schwelle, während Totoschka dem Eichhörnchen im Walde nachjagte. «Wir müssen uns nach Wasser umsehen», sagte das Mädchen.
«Wozu brauchst du es?»
«Um mich zu waschen und zu trinken. Trocknes Brot kann man doch nicht essen.»
«Wie ich sehe, habt ihr Geschöpfe aus Fleisch und Knochen es nicht am besten», meinte der Scheuch nachdenklich. «Ihr müßt unbedingt schlafen, essen und trinken. Freilich habt ihr ein Gehirn, und dafür kann man vieles in Kauf nehmen.»
Sie fanden einen Bach, an dem Elli und Totoschka ihr Frühstück verzehrten. Im Korb blieb noch etwas Brot übrig. Elli wollte zum Backsteinweg zurück, als sie plötzlich ein Stöhnen aus dem Wald vernahm.
«Was mag das sein?'. fragte sie ängstlich.
«Keine Ahnung», erwiderte der Scheuch. «Laßt uns nachschauen.»
Wieder hörten sie das Stöhnen. Die Gefährten bahnten sich einen Weg durch das Dickicht und erblickten eine Gestalt zwischen den Bäumen. Elli lief auf sie zu und blieb wie angewurzelt stehen.
An einem angeschlagenen Baum stand mit erhobener Axt ein Mensch, der ganz aus Eisen war. Kopf, Arme und Beine waren mit Scharnieren an den Körper befestigt, und anstelle eines Hutes hatte er einen bronzenen Trichter auf. Die Krawatte an seinem Hals war gleichfalls aus Eisen. Der Mann stand unbeweglich da, die Augen weit geöffnet.
Totoschka stürzte bellend auf ihn zu und versuchte, ihn am Bein zu schnappen, sprang aber winselnd zurück, weil er sich beinahe die Zähne ausgebrochen hätte.
«Eine Gemeinheit, wau-wau-wau», klagte er, «einem anständigen Hund ein eisernes Bein hinzuhalten!»
«Das ist wohl eine Waldscheuche», meinte der Scheuch, «obwohl ich nicht verstehe, wen sie hier bewacht.»
«Hast du gestöhnt?» fragte Elli.
«Ja», gab der eiserne Mann zur Antwort. «Schon ein Jahr steh ich hier, und niemand kommt mir zu Hilfe…»
«Wie kann man dir helfen?» fragte Elli teilnahmsvoll.
«Meine Gelenke sind eingerostet, und ich kann mich nicht bewegen. Wenn man mich einschmieren würde, wäre ich wie neu. Die Ölkanne steht auf einem Brett in meiner Hütte.»
Elli und Totoschka liefen zur Hütte, während der Scheuch den eisernen Holzfäller neugierig von allen Seiten betrachtete.
«Sag, lieber Freund», fragte er, «ist ein Jahr viel oder wenig?»
Oh, ein Jahr ist sehr viel! Ganze dreihundertfünfundsechsig Tage!»
«Dreihundertfünfundsechzig…», wiederholte der Scheuch. «Sind das mehr als drei?»
«Bist du aber dumm!» sagte der Holzfäller. «Du kannst wohl nicht zählen?»
«Da irrst du!» entgegnete der Scheuch stolz, «ich kann sehr gut zählen.» Und er begann zu zählen, wobei er die Finger umbog: «Mein Herr hat mich gemacht — das ist eins! Ich hab mich mit der Krähe gezankt — das ist zwei! Elli hat mich vom Pfahl heruntergeholt — das ist drei! Und sonst ist mit mir nichts geschehen, also brauche ich auch nicht weiter zu zählen!»
Der Eiserne Holzfäller wußte vor Staunen nichts zu erwidern. In diesem Augenblick kam Elli mit der Ölkanne.
«Wo soll ich dich einschmieren?»
«Zuerst den Hals», antwortete der eiserne Mann.
Elli schmierte ihm den Hals, doch dieser war völlig eingerostet, und der Scheuch mußte den Kopf des Holzfällers lange hin und her drehen, bis der Hals zu knarren aufhörte.
«Und jetzt noch die Arme bitte!»
Elli schmierte seine Armgelenke, und der Scheuch hob und senkte behutsam die Arme des Holzfällers, bis sie tadellos funktionierten. Als dies geschehen war, holte der eiserne Mann tief Atem und warf die Axt von sich.
«Oh, wie ich mich wohl fühle!» rief er. «Ich hatte die Axt erhoben, ehe ich einrostete, und jetzt bin ich schrecklich froh, sie wieder wegzuwerfen. Und nun gib mir die Ölkanne, damit ich die Beine einschmiere. Dann wird alles in Ordnung sein.»
Als er die Beine eingeschmiert hatte und sie wieder bewegen konnte, dankte er Elli viele Male, denn er war sehr höflich.
«Ich hätte hier so lange gestanden, bis ich zu Staub zerfallen wäre. Ihr habt mir das Leben gerettet. Wer seid ihr?»
«Ich heiße Elli, und das sind meine Freunde.»
«Toto!»
«Scheuch ist mein Name. Ich bin mit Stroh ausgestopft!»
«Das kann man an deinem Gerede leicht erkennen», stellte der Eiserne Holzfäller fest. «Wie seid ihr hergekommen?»
«Wir ziehen in die Smaragdenstadt, wo der große Zauberer Goodwin lebt, und haben in deiner Hütte übernachtet.»
«Was führt euch zu Goodwin?»
«Er soll mir helfen, nach Kansas heimzukehren, zu Vater und Mutter», erwiderte Elli.
«Und ich will ihn um ein bißchen Gehirn für meinen Strohkopf bitten», sagte der Scheuch.
«Ich gehe einfach hin, weil ich Elli lieb hab und weil es meine Pflicht ist, sie vor Feinden zu schützen!» sagte Totoschka.
Der Eiserne Holzfäller dachte angestrengt nach.
«Was meint ihr, könnte mir Goodwin ein Herz geben?»
«Ich glaube, er kann's», sagte Elli. «Das wird ihm nicht schwerer fallen, als dem Scheuch ein Gehirn zu geben.»
«Wenn ihr mich mitnehmt, so will ich auch in die Smaragdenstadt ziehen und den Großen Goodwin um ein Herz bitten. Das ist mein sehnlichster Wunsch.»
«Oh, liebe Freunde», rief Elli aus, «wie froh ich bin! Jetzt seid ihr zwei, die sehnliche Wünsche haben!»
«Komm mit uns», sagte auch der Scheuch.
Der Eiserne Holzfäller bat Elli, seine Ölkanne zu füllen und in den Korb zu legen.
«Wenn's regnet, könnte ich wieder einrosten», sagte er, «und ohne die Ölkanne ergeht's mir schlimm…»
Er nahm die Axt, und sie schritten nun zu viert durch den Wald auf den gelben Backsteinweg zu.
Es war für Elli und den Scheuch ein großes Glück, einen so starken und geschickten Gefährten wie den eisernen Mann gefunden zu haben.
Als der Holzfäller sah, wie sich der Scheuch im Gehen auf seinen knorrigen Knüppel stützte, da schnitt er einen geraden Ast von einem Baum ab und machte daraus im Handumdrehen einen Spazierstock für den Strohmann.
Bald kamen die Wanderer zu einer Stelle, wo undurchdringliches Gestrüpp ihnen den Weg versperrte. Da machte sich der Eiserne Holzfäller mit seiner riesigen Axt ans Werk, und augenblicklich lag der Weg wieder frei vor ihnen.
Elli war so sehr in Gedanken vertieft, daß sie nicht merkte, wie der Scheuch in einen Graben stürzte. Er mußte seine Gefährten zu Hilfe rufen.
«Warum bist du dem Graben nicht ausgewichen?» fragte der Eiserne Holzfäller.
«Das weiß ich nicht», antwortete der Scheuch offenherzig. «Siehst du, mein Kopf ist voller Stroh, und ich gehe zu Goodwin, um mir bei ihm ein bißchen Gehirn auszubitten.»
«Soso», sagte der Holzfäller. «Ich glaube aber, ein Gehirn ist noch lange nicht das beste auf der Welt.»
«Wieso?» staunte der Scheuch. «Wie meinst du das?»
«Früher hatte auch ich ein Gehirn», erklärte der Eiserne Holzfäller, «wenn ich aber zwischen einem Gehirn und einem Herzen zu wählen hab, so ziehe ich das Herz vor.»
«Warum?» fragte der Scheuch.
«Hört euch meine Geschichte an, dann werdet ihr alles verstehen.»
Während sie weitergingen, erzählte der eiserne Mann:
«Ich bin Holzfäller. Als ich zu einem Jüngling herangewachsen war, entschloß ich mich zu heiraten. Ich hatte ein schönes Mädchen liebgewonnen und hielt um ihre Hand an. Damals war ich noch aus Fleisch und Knochen wie alle anderen Menschen. Meine Liebste lebte bei einer bösen Tante, die sie nicht fortlassen wollte, weil das Mädchen für sie arbeitete. Die Tante ging zur Zauberin Gingema und versprach ihr einen Korb voll fetter Blutegel, falls sie die Hochzeit verhindern würde.»
«Die böse Gingema ist jetzt tot!» fiel ihm der Scheuch ins Wort.
«Wer hat sie getötet?»
«Elli. Sie kam mit ihrem Tötenden Häuschen angeflogen und ging damit auf die Zauberin nieder, krak! krak!»
«Schade, daß das nicht früher geschah», seufzte der eiserne Mann und fuhr fort: «Die Gingema hat meine Axt verhext. Sie prallte von einem Baum ab und trennte mir mein linkes Bein vom Rumpf. Ich war sehr traurig, denn ohne Bein konnte ich doch keine Bäume fällen, und ging zu einem Schmied, der mir ein erstklassiges eisernes Bein machte. Gingema aber verhexte wieder meine Axt, und diese hieb mir das rechte Bein ab. Ich ging von neuem zum Schmied. Das Mädchen liebte mich und war bereit, mich auch als Krüppel zu heiraten. 'Wir werden an Stiefeln und Beinkleidern viel Geld sparen', sagte sie. Die böse Hexe gab uns aber keine Ruhe. Sie wollte unbedingt ihren Korb mit den Blutegeln bekommen. Die Axt hieb mir die Arme ab, und der Schmied fertigte mir neue aus Eisen an. Dann hieb mir die Axt den Kopf ab, und ich glaubte schon, es sei um mich geschehen. Als der Schmied davon erfuhr, fertigte er für mich einen prächtigen eisernen Kopf an. Ich arbeitete weiter, und wir liebten uns, das Mädchen und ich, wie früher…»
«Man hat dich also stückweise zusammengefügt», stellte der Scheuch tiefsinnig fest. «Mich hat mein Herr in einem Zug gemacht…»
«Das Schlimmste stand aber bevor», fuhr der Holzfäller betrübt fort. «Als die tückische Gingema sah, daß sie auf diese Weise nichts ausrichten kann, beschloß sie, mir den Garaus zu machen. Sie verhexte abermals meine Axt, und diese hieb mich entzwei. Glücklicherweise kam auch das dem Schmied zu Ohren, und er fertigte mir einen eisernen Rumpf an, den er durch Scharniere mit dem Kopf, den Armen und den Beinen verband. Leider hatte ich kein Herz mehr, denn das konnte mir der Schmied nicht einsetzen. Da dachte ich, daß ein Mensch ohne Herz kein Recht habe, ein Mädchen zu lieben, und ich entband meine Liebste ihres Versprechens. Seltsamerweise war das Mädchen gar nicht erfreut darüber, sie sagte, daß sie mich nach wie vor liebe und warten werde, bis ich's mir überlege. Jetzt weiß ich nichts von ihr, denn ich habe sie schon über ein Jahr nicht gesehen…»
Der Eiserne Holzfäller seufzte, und Tränen rannen ihm aus den Augen.
«Vorsicht», rief der Scheuch erschrocken und wischte mit seinem blauen Taschentuch die Tränen des eisernen Mannes ab. «Du könntest ja wieder verrosten!»
«Ich danke dir, mein Freund!» sagte der Holzfäller. «Ich hab ganz vergessen, daß ich nicht weinen darf. Mir ist jede Art von Wasser schädlich… Ich war also stolz auf meinen neuen eisernen Körper und fürchtete mich nicht mehr vor der verhexten Axt. Nur vor Rost fürchtete ich mich, und deshalb trug ich immer eine Ölkanne bei mir. Nur einmal vergaß ich sie, und ausgerechnet damals regnete es in Strömen. Ich rostete ein, daß ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte, und stand so da, bis ihr mich erlöst habt. Ich bin davon überzeugt, daß es die tückische Ginaema war, die den Regen damals auf mich niedergehen ließ… Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie. schrecklich es ist, ein volles Jahr im Walde zu stehen und darüber nachzudenken, daß man kein Herz hat!»
«Damit kann man höchstens das Aufgespießtsein auf einem Pfahl mitten in einem Weizenfeld vergleichen», unterbrach ihn der Scheuch. «Allerdings kamen Menschen vorbei, und ich konnte mich auch mit den Krähen unterhalten.»
«Als ich geliebt wurde, hielt ich mich für den glücklichsten Menschen der Welt», fuhr der Eiserne Holzfäller seufzend fort. «Wenn Goodwin mir ein Herz gibt, werde ich ins Land der Käuer zurückkehren und meine Liebste heiraten. Vielleicht wartet sie noch auf mich…»
«Und ich ziehe trotzdem ein Gehirn vor», beharrte der Scheuch, «denn ohne Gehirn ist das Herz zu nichts nütze.»
«Ich aber will ein Herz», beharrte der Eiserne Holzfäller. «Ein Gehirn macht den Menschen noch nicht glücklich, und das Glück ist doch das Schönste auf Erden.»
Elli schwieg, denn sie wußte nicht, wer von ihren neuen Gefährten recht hatte.
ELLI WIRD VON EINEM MENSCHENFRESSER GERAUBT
Der Wald wurde immer dichter. Die Zweige, die sich in den Kronen verflochten, ließen keinen Sonnenstrahl durch. Auf dem gelben Backsteinweg war es fast dunkel.
Die Wanderer gingen bis spätabends. Elli war sehr müde, und der Eiserne Holzfäller nahm sie auf die Arme. Der Scheuch, der die schwere Axt trug, wankte hinterher.
Schließlich machten sie halt, um zu übernachten. Der Eiserne Holzfäller baute für Elli eine bequeme Laubhütte, vor der er mit dem Scheuch die ganze Nacht über sitzen blieb. Sie lauschten den Atemzügen des Mädchens und wachten über ihren Schlaf.
Am Morgen gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume am Wegrand standen nicht mehr so dicht, und die Sonne schien hell auf die gelben Backsteine herab.
Wahrscheinlich hielt hier jemand den Weg instand, denn die Zweige, die der Wind abgebrochen hatte, lagen in Stapeln am Wegrand aufgeschichtet.
Plötzlich erblickte Elli einen Pfahl mit einem Brettchen, auf dem zu lesen war:
Wanderer, spute dich!
Hinter der Biegung werden
alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!
Elli staunte.
«Was bedeutet das? Werde ich von hier geradewegs nach Kansas kommen, zu Vater und Mutter?»
«Und ich?» fügte Totoschka hinzu, «werde ich vielleicht Nachbars Rektor, den Prahlhans, verprügeln, der so tut, als sei er stärker als ich?»
Elli war außer sich vor Freude und stürzte vorwärts. Totoschka folgte ihr mit frohem Gebell.
Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch, die der interessante Streit ob das Herz dem Gehirn vorzuziehen sei oder umgekehrt, völlig in Anspruch nahm, merkten gar nicht,
das Mädchen ihnen vorausgeeilt war. Plötzlich hörten sie es schreien und Totoschka wütend bellen. Sie liefen auf den Lärm zu, sahen aber nur noch eine zottige dunkle Gestalt im Dickicht verschwinden. Neben einem Baum lag ohnmächtig Totoschka, aus dessen Nase Blut strömte.
«Was ist geschehen?» fragte der Scheuch bestürzt. «Mir scheint, ein wildes Tier hat Elli geraubt.»
Der Eiserne Holzfäller erwiderte nichts. Er blickte nur starr geradeaus und fuchtelte drohend mit seiner riesigen Axt.
«Quirr… quirr…», schnarrte ein Eichhörnchen höhnisch auf dem Wipfel eines Baumes. «Was ist geschehen? Zwei große kräftige Männer haben auf ein kleines Mädchen nicht aufpassen können, und ein Menschenfresser hat es geraubt.»
«Ein Menschenfresser?» wiederholte der Eiserne Holzfäller. «Ich wußte nicht, daß es Menschenfresser in diesem Wald gibt.»
«Quirr… quirr… Das weiß doch jede Ameise! Schämen sollt ihr euch! Habt auf das Mädelchen nicht achtgeben können! Nur das kleine schwarze Tierchen hat es tapfer ver-
teidigt und den Menschenfresser gebissen, doch dieser versetzte ihm einen solchen Tritt mit seinem ungeheuren Fuß, daß es jetzt wahrscheinlich sterben wird…»
Das Eichhörnchen feixte und verhöhnte die beiden so sehr, daß sie vor Scham zu vergehen glaubten.
«Wir müssen Elli retten!» rief der Scheuch.
«Ja, ja», sagte der Eiserne Holzfäller. «Elli hat uns erlöst, und wir müssen sie dem Menschenfresser entreißen. Sonst sterbe ich vor Schmerz…» Tränen rannen über seine Wangen.
«Du weinst ja schon wieder!» rief der Scheuch entsetzt und trocknete ihm die Augen mit dem Taschentuch. «Die Ölkanne ist ja bei Elli!»
«Wenn ihr dem kleinen Mädchen helfen wollt, so kann ich euch zum Menschenfresser führen, obwohl ich mich sehr vor ihm fürchte», sagte das Eichhörnchen.
Der Eiserne Holzfäller bettete Totoschka behutsam auf das weiche Moos und sagte:
«Wenn wir zurückkehren, werden wir ihn gesund-pflegen!» Und zum Eichhörnchen gewandt, sagte er: «Führe uns!»
Das Tierchen hüpfte von Zweig zu Zweig, und die Freunde folgten ihm. Als sie tief in den Wald eingedrungen waren, sahen sie eine graue Mauer vor sich.
Das Schloß des Menschenfressers stand auf einem Hügel: Eine hohe Mauer umgab es, die selbst eine Katze nicht hätte erklimmen können. Davor zog sich ein Wassergraben. Der Menschenfresser hatte die Brücke hochgezogen und zwei Riegel vor das eiserne Tor geschoben.
Er lebte in seinem Schloß allein. Früher hatte er Schafe, Kühe und Pferde und viele Diener gehalten. Zu jener Zeit kamen oft Wanderer, die in die Smaragdenstadt zogen, am Schloß vorbei. Der Menschenfresser fiel über sie her und fraß sie. Als die Käuer davon erfuhren, hörte der Verkehr auf der Straße auf.
Da begann der Menschenfresser seine Burg zu verwüsten. Zuerst fraß er die Hammel, Kühe und Pferde und dann die Diener, einen nach dem andern. In den letzten Jahren lauerte er im Wald unvorsichtigen Kaninchen und Hasen auf, die er mit Haut und Haar verschlang.
Als der Menschenfresser Elli raubte, jubelte er im Vorgefühl des üppigen Schmauses. Er trug das Mädchen in das Schloß, wo er es fesselte und auf den Küchentisch legte. Dann begann er sein großes Messer zu wetzen.
Klick… klick, klirrte das Messer.
Der Menschenfresser frohlockte:
«Ba-ga-ra! Eine solche Beute lob ich mir! Das wird herrlich schmecken. Ba-ga-ra!»
Und zu Elli:
«Ba-ga-ra! Das hab ich mir fein ausgedacht, das Brettchen mit der Aufschrift. Du glaubtest wohl, ich würde deine Wünsche erfüllen. Das könnte dir so passen! Nein, das hab ich als Köder für solche Gimpel wie du gemacht, ba-ga-ra!»
Elli flehte den Menschenfresser um Erbarmen an. Der aber hörte sie nicht und fuhr fort, das Messer zu wetzen.
Klick… klick… klick…
Er hob das Messer über das Mädchen, das vor Entsetzen die Augen schloß, ließ die Hand aber wieder sinken und gähnte.
«Ba-ga-ra. Das Wetzen des Messers hat mich müde gemacht. Ich will mich lieber für ein Stündchen hinlegen. Nach dem Schlaf schmeckt das Essen viel besser!»
Der Menschenfresser ging in sein Schlafgemach, und bald schnarchte er so laut, daß es im ganzen Schloß und sogar im Walde zu hören war.
Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch standen vor dem Wassergraben und wußten nicht, was sie tun sollten. «Ich würde hinüberschwimmen». sagte der Scheuch, «doch befürchte ich, daß das Wasser mir die Augen, die Ohren und den Mund wegwäscht, und dann bin ich blind, taub und stumm.»
«Und ich würde ertrinken», sagte der Eiserne Holzfäller, «weil ich doch so schwer bin. Ja, selbst wenn ich aus dem Wasser herauskäme, würde ich sogleich einrosten, und die Ölkanne ist doch nicht da…»
Während sie so standen und überlegten, hörten sie plötzlich das Schnarchen des Menschenfressers.
«Wir müssen Elli befreien, solange er schläft», sagte der Eiserne Holzfäller. «Warte, mir ist was eingefallen. Ich weiß. wie wir über den Graben kommen.»
Er fällte einen hohen Baum, so daß er auf die Schloßmauer fiel und eine Art Brücke bildete.
«Steig hinauf», sagte er zum Scheuch. «Du bist leichter als ich.»
Der Scheuch trat an den Baum heran, wich aber sofort ängstlich zurück.
Als das Eichhörnchen dies sah, riß ihm die Geduld. Es sprang auf den Stamm und lief flugs auf die Mauer zu.
«Quirr… quirr… Du Feigling!» rief es zum Scheuch hinüber. «Hast du gesehen, wie man's macht?» Als es aber einen Blick durchs Schloßfenster warf, schrie es voller Entsetzen: «Das Mädelchen liegt gefesselt auf dem Küchentisch, und daneben liegt ein großes Messer. Das Mädelchen weint… Ich sehe die Tränen fließen…»
Als der Scheuch dies hörte, vergaß er jede Gefahr und kletterte fast noch flinker als das Eichhörnchen auf die Mauer.
«O weh», schrie er, als er durch das Küchenfenster das bleiche Gesicht Ellis erblickte, und plumpste wie ein Sack in den Hof.
Noch ehe er aufstand, sprang das Eichhörnchen auf seinen Rücken, lief über den Hof zum Fenster, schlüpfte durch das Gitter in die Küche und begann am Strick, mit dem Elli gefesselt war, zu nagen.
Der Scheuch schob die schweren Riegel zurück, ließ die Zugbrücke herab, und der Eiserne Holzfäller trat in den Hof. Er rollte die Augen und schwang drohend seine Axt.
Das wird dem Menschenfresser Angst machen, wenn er plötzlich erwachen und auf den Hof hinaustreten sollte, dachte der Holzfäller.
«Hierher, hier!» schnarrte das Eichhörnchen aus der Küche, und die Freunde eilten auf den Ruf herbei.
Der Holzfäller klemmte die Axt in den Türspalt, stemmte sich dagegen, und die Tür flog auf. Elli sprang vom Tisch, und alle vier, der Eiserne Holzfäller, der Scheuch, Elli und das Eichhörnchen, liefen, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald.
Unter den Füßen des Eisernen Holzfällers dröhnten die Steinfliesen des Schloßhofs, worüber der Menschenfresser erwachte. Er stürzte aus seinem Gemach, und als er Elli nicht vorfand, raste er wie wild auf das Tor zu.
Der Menschenfresser war nicht hoch von Wuchs, aber sehr dick. Sein Kopf sah wie ein Kessel aus, sein Bauch wie ein Faß. Er hatte lange Arme wie ein Gorilla, seine Beine staken in hohen Stiefeln mit dicken Sohlen, und er trug einen zottigen Mantel aus Tierfellen. Auf dem Kopf hatte er statt eines Helms eine große eherne Kasserolle gestülpt, mit dem Griff nach hinten. Seine Hand umklammerte eine mächtige Keule mit scharfen Nägeln am dicken Ende.
Er brüllte vor Wut, stampfte mit seinen schweren Stiefeln über die Fliesen und fletschte seine scharfen Zähne, klaz-klaz-klaz.
«Ba-ga-ra, ihr Schelme sollt mir nicht entkommen!»
Der Menschenfresser holte die Flüchtenden schnell ein. Als der Holzfäller dies sah, lehnte er die entsetzte Elli an einen Baum an und machte sich kampfbereit. Der Scheuch blieb zurück, weil sich seine Füße immerfort in den Wurzeln und die Brust in den Zweigen verfingen. Als der Menschenfresser ihn erreichte, warf sich der Scheuch zu Boden, und der Menschenfresser, der das nicht erwartet hatte, stolperte und fiel hin.
«Ba-ga-ra! Was ist denn das für ein Scheusal?»
Der Menschenfresser war noch ganz benommen, da sprang der Eiserne Holzfäller auf ihn zu und hieb ihn mit seiner scharfen Axt mitten durch die Kasserolle entzwei.
«Quirr… quirr, das hast du gut gemacht», rief das Eichhörnchen begeistert, hüpfte durch die Bäume und verbreitete im ganzen Wald die Kunde vom Tod des Menschenfressers.
«Großartig!» lobte der Eiserne Holzfäller den Scheuch. «Du hättest ihn nicht besser überrumpeln können, selbst wenn du ein Gehirn hättest!»
«Du bist ja schwer verletzt!» rief Elli erschrocken.
«Nicht der Rede wert», wehrte der Scheuch gleichmütig ab. «Man wird freilich die Löcher zunähen müssen. Das Ungeheuer hat mir den Rock zerrissen, und ich fürchte, mein Stroh fällt durch.»
Elli nahm Nadel und Zwirn und begann zu flicken. Während sie so dasaß und nähte, drang ein leises Winseln an ihr Ohr. Der Eiserne Holzfäller stürzte ins Dickicht, und im nächsten Augenblick kam er mit Totoschka auf den Armen zurück. Das tapfere Hündchen war aus seiner Ohnmacht erwacht und der Spur des Menschenfressers nachgekrochen.
Elli dankte ihren Freunden von Herzen für ihre Opferbereitschaft und Tapferkeit. Sie nahm den entkräfteten Totoschka auf die Arme, und die kleine Schar zog weiter. Bald erreichten sie den gelben Backsteinweg, der zur Smaragdenstadt führte.