"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)

Drittes Kapitel

5. …blieb noch eine Weile auf dem Rücken liegen und kam langsam zu sich. Unter dem Fenster rumpelten und polterten bereits die Lastwagen mit Anhängern, in der Wohnung jedoch war alles ruhig. Von dem irren Tag gestern war weiter nichts übriggeblieben als ein leichtes Schädelbrummen, ein metallischer Geschmack auf der Zunge und ein lästiger Splitter in der Seele, im Herzen und weiß der Kuckuck wo noch. Gerade wollte er sich über diesen Splitter klar werden, da klingelte es behutsam an der Tür. Ach ja — Palytsch mit den Schlüsseln! dachte er und sprang aus dem Bett.

Als er durch den Flur ging, nahm er mit einem Seitenblick wahr, daß die Küche aufgeräumt, die Tür zu Bobkas Zimmer geschlossen und die Scheibengardine sorgfältig von innen zugezogen war.

Lidotschka pennt. Ist aufgestanden, hat das Geschirr abgewaschen und sich wieder hingehauen. Während er am Schloss fummelte, klingelte es abermals taktvoll.

„Gleich, sofort“, rief er heiser.

„Einen Moment, Arnold Palytsch!“

Aber es war gar nicht Arnold Palytsch. Vor der Tür stand, mit den Füßen auf dem Gummiabtreter scharrend, ein wildfremder junger Mann. Er trug Jeans, ein schwarzes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine überdimensionale Sonnenbrille. Ein Tonton Macoute. Fast gleichzeitig entdeckte Malja now weiter hinten, am Fahrstuhl, noch zwei Tontons Macoute mit schwarzen Brillen, doch im selben Moment verlor er jegliches Interesse an ihnen, denn der erste eröffnete ihm:

„Kriminalamt“ und hielt ihm einen aufgeklappten Ausweis hin. Schöne Bescherung! ging es Maljanow durch den Kopf. Alles sonnenklar, war ja zu erwarten! In seinem Innern herrschte ein einziges Chaos. Nur mit Turnhose bekleidet, stand er vor dem Tonton Macoute vom Kriminalamt und starrte auf das geöffnete Büchlein. Er sah ein Foto, diverse Stempel und Eintragungen, doch seine verwirrten Sinne nahmen nur eins wahr:

„Ministerium des Innern“. In Groß buchstaben.

„Ja-a“, stieß er hervor.

„Natürlich. Bitte sehr. Worum handelt es sich?“

„Guten Tag“, sagte der Tonton Macoute überaus höflich.

„Sie sind doch Maljanow, Dmitri Alexeje-witsch?“

„Ich…“

„Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“

„Bitte sehr, bitte“, sagte Maljanow.

„Augenblick, bei mir ist nicht aufgeräumt… Ich bin grade erst aufgestanden… Vielleicht gehen wir in die Küche? Nein, dort scheint jetzt die Sonne. Lieber doch hier hinein, ich mach gleich Ordnung.“ Der Tonton Macoute betrat das große Zimmer und blieb bescheiden in der Mitte stehen, wobei er sich zwanglos umsah. Maljanow deckte notdürftig das Bett zu, fuhr ins Hemd und in die Jeans, zog rasch die Gardine auf und öffnete das Fenster.

„Bitte nehmen Sie Platz, hier im Sessel. Oder wollen Sie lieber an den Tisch? Was führt Sie zu mir?“ Behutsam über ringsum verstreute Papierbogen steigend, begab sich der Tonton Macoute zum Sessel, ließ sich nieder und legte seine Ledermappe auf die Knie.

„Ihren Ausweis bitte“, sagte er. Maljanow wühlte im Schreibtisch, förderte seinen Ausweis zutage und reichte ihn hin.

„Wer wohnt hier noch?“ fragte der Tonton Macoute, während er den Ausweis prüfte.

„Meine Frau, unser Sohn… Aber die sind jetzt nicht da. Die sind in Odessa… Auf Urlaub. Bei der Schwiegermutter.“

Der Tonton Macoute legte den Ausweis auf seine Mappe und setzte die schwarze Brille ab. Es war ein ganz einfacher, sogar ziemlich unbedarft wirkender junger Mann. Und überhaupt kein Tonton Macoute. Eher sah er wie ein Verkäufer aus. Oder wie ein Fernsehmonteur.

„Machen wir uns bekannt“, sagte er.

„Igor Pe-trowitsch Sykow — Untersuchungsführer von der Staatsanwaltschaft.“

„Angenehm“, erwiderte Maljanow. Auf einmal wurde ihm bewusst, daß er doch — Himmel Herrgott noch mal! — kein Krimineller war, daß er — Himmel Herrgott! — leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktor der Wissenschaften war. Und nicht irgendein Hosenscheißer. Er schlug die Beine übereinander, nahm eine lässige Pose ein und sagte kühl:

„Ich höre.“ Igor Petrowitsch hob mit beiden Händen seine Mappe, schlug gleichfalls die Beine übereinander, senkte die Mappe aufs Knie und fragte:

„Kennen Sie Snegowoi, Arnold Pawlowitsch?“ Auf diese Frage war Maljanow gefasst. Aus Gründen, die ihm selber unerfindlich waren, hatte er nur drauf gewartet, daß man ihn nach Valka Waingarten oder Arnold Palytsch fragte. Deshalb antwortete er im gleichen kühlen Tonfall:

„Ja. Ich bin mit Oberst Snegowoi bekannt.“

„Und woher wissen Sie, daß er Oberst ist?“ kam sofort die nächste Frage.

„Na ja, wie soll ich sagen…“Maljanow wich einer direkten Antwort aus.

„Immerhin kennen wir uns schon lange.“

„Wie lange?“

„Na ja… Fünf Jahre wohl… Seit dem Einzug in dieses Haus.“

„Unter welchen Umständen haben Sie sich kennengelernt?“

Maljanow kramte in seinem Gedächtnis. Ja wirklich — unter welchen Umständen? Scheiße… Vielleicht, als er zum erstenmal den Schlüssel brachte? Nein, da kannten wir uns schon.

„Hm“, machte er, nahm das übergeschlagene Bein runter und kratzte sich den Nacken.

„Wissen Sie, ich komm einfach nicht mehr drauf. Ich kann mich bloß noch an einen Fall erinnern. Der Fahrstuhl war grade kaputt, Irina — also meine Frau — kam mit Einkäufen aus dem Laden, mit dem Kind… Arnold Palytsch nahm ihr das Netz und den jungen ab. Da hat sie ihn eingeladen. Er ist wohl noch am selben Abend gekommen.“

„War er in Uniform?“

„Nein“, sagte Maljanow, seiner Sache sicher.

„So… Und seitdem sind Sie befreundet?“

„Na ja… Was heißt befreundet? Er kommt mal rüber, holt sich Bücher, bringt welche. Manchmal trinken wir zusammen Tee. Und wenn er auf Dienst reise muss, gibt er uns die Schlüssel.“

„Warum?“

„Wieso — warum?“ staunte Maljanow.

„Es kann doch alles mögliche…“

Tatsächlich — warum? Darüber hab ich nie nachgedacht. Wahrscheinlich bloß so, für alle Fälle.

„Wahrscheinlich bloß so“, sagte Maljanow.

„Für alle Fälle. Wenn zum Beispiel ein Verwandter von ihm kommt oder so…“

„Ist denn jemand gekommen?“

„Nein… Nicht daß ich wüsste. Zumindest nicht, wenn ich da war. Vielleicht weiß meine Frau mehr.“

Igor Petrowitsch nickte tiefsinnig, fragte dann:

„Haben Sie mal mit ihm über die Wissenschaft gesprochen, über die Arbeit?“ Die Arbeit! Schon wieder!

„Ober wessen Arbeit?“ fragte Maljanow verdrossen.

„Ober seine natürlich. Er war doch wohl Physiker.“

„Keine Ahnung. Ich denke, er ist bei den Raketentruppen…“

Maljanow hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als es ihn kalt überlief. Wieso — war? Weshalb — w a r? Den Schlüssel hat er nicht gebracht. . Mein Gott, was ist passiert!? Um ein Haar hätte Maljanow losgeschrieen: Warum sagen Sie — war? doch da brachte ihn Igor Petrowitsch vollends aus dem Konzept. Blitzartig, wie ein Degenfechter, stieß er seinen langen Arm in Maljanows Richtung vor und schnappte sich eine der herumliegenden Manuskript seiten.

„Und woher haben Sie das?“ fragte er in scharfem Ton, und sein friedfertiges Gesicht verwandelte sich plötzlich in eine Räuberfratze.

„Woher?“

„Aber… er-erlauben Sie mal!“ stotterte Maljanow, vom Stuhl hochkommend.

„Sitzen bleiben!“ herrschte ihn Igor Petrowitsch an. Seine stahlblauen Äuglein huschten über Maljanows Gesicht.

„Wie kommen Sie zu diesen Angaben?“

„Was denn für Angaben?“ wisperte Maljanow.

„Wieso Angaben — zum Teufel noch mal!“ brüllte er.

„Das sind meine Berechnungen!“

„Das sind nicht Ihre Berechnungen“, widersprach ihm eiskalt Igor Petrowitsch, wobei er ebenfalls die Stimme hob.

„Woher haben. Sie dieses Diagramm?“ Von weitem das Blatt zeigend, tippte er mit dem Fingernagel auf die Dichtekurve.

„Aus meinem Kopf!“ sagte Maljanow fuchsteufelswild.

„Aus dem hier!“ Er hämmerte sich mit der Faust auf den Scheitel.

„Das ist die Abhängigkeit der Dichte von der Entfernung zum Stern!“

„Das ist die Wachstumskurve der Kriminalität in Ihrem Stadtbezirk im letzten Quartal!“ verkündete Igor Petrowitsch.

Maljanow verschlug es die Sprache. Igor Petrowitsch jedoch schürzte mäklig die Lippen und fuhr fort:

„Wenn Sie sie wenigstens anständig gezeichnet hätten. Nicht so verläuft sie, sondern so.“ Bei diesen Worten nahm er Maljanows Bleistift, sprang auf, legte das Blatt auf den Tisch und über malte die Dichtekurve mit einer Zickzacklinie, wobei er stark aufdrückte.

„So hier…“ sprach er.

„Und hier so, und nicht so.“Als er fertig und die Bleistiftspitze abgebrochen war, schmiss er den Stift hin, nahm wieder Platz und blickte Maljanow mit Bedauern an.

„Ach, Maljanow, Maljanow“, sagte er.

„So ein koch qualifizierter Mann, so ein gewiefter Verbrecher und geht vor wie der letzte Stümper.“ Völlig entgeistert starrte Maljanow von seiner Skizze zu Igor Petrowitsch und wieder zur Skizze. Das ging auf keine Kuhhaut. Und zwar so wenig, daß es egal war, ob man sprach oder schrie oder schwieg.

Genaugenommen hätte man in dieser Situation einfach aufwachen müssen.

„Na und Ihre Frau, steht sie auf gutem Fuß mit Snegowoi?“ fragte Igor Petrowitsch, nun wieder mit einer bis zur Fadheit freundlichen Stimme.

„Ja, auf gutem“, erwiderte Maljanow benommen.

„Duzen sie sich?“

„Hören Sie mal“, sagte Maljanow.

„Sie haben meine Skizze verdorben. Was soll das alles eigentlich?“

„Was denn für eine Skizze?“ wunderte sich Igor Petrowitsch.

„Na die hier, das Diagramm.“

„Ach so. Aber das ist doch unwichtig. Kommt Snegowoi auch, wenn Sie nicht zu Hause sind?“

„Unwichtig…“ echote Maljanow.

„Ja, für Sie“, fuhr er fort, raffte hastig alle Blätter vom Tisch und stopfte sie in die Fächer.

„Da sitzt man und sitzt, brütet wie bescheuert, und dann kommt der nächste beste daher und behauptet, das ist unwichtig“, murmelte er, während er sich hinhockte und die Aufzeichnungen einsammelte, die auf dem Fußboden rumlagen.

Igor Petrowitsch sah seinem Tun ungerührt zu und schraubte fein säuberlich eine Zigarette ins Mund stück. Als Maljanow, schwer atmend, verschwitzt und wutgeladen, an seinen Platz zurückkehrte, fragte Igor Petrowitsch höflich:

„Gestatten Sie, daß ich rauche?“

„Bitte“, sagte Maljanow.

„Da ist der Aschenbecher. Und wissen Sie: Beeilen Sie sich mit der Fragerei. Ich muss an die Arbeit.“

„Das hängt ganz von Ihnen ab“, hielt ihm Igor Petrowitsch entgegen, wobei er dezent den Rauch aus dem Mundwinkel von Maljanow weg blies.

„Zum Beispiel: Wie nennen Sie Snegowoi gewöhnlich: Oberst, mit Zunahmen oder mit Vor— und Vatersnamen?“

„Mal so, mal so“, knurrte Maljanow.

„Was spielt das für eine Geige?“

„Nennen Sie ihn auch Oberst?“

„Gewiss. Na und?“

„Sonderbar, höchst sonderbar“, sagte Igor Pe-trowitsch, wobei er behutsam die Asche abstreifte.

„Oberst ist er nämlich erst seit vorgestern.“ Das saß. Maljanow schwieg, fühlte, wie er rot wurde.

„Also — woher wissen Sie, daß Snegowoi zum Oberst befördert wurde?“ Maljanow winkte ab.

„Na schön“, sagte er.

„Was soll’s. . Ja, ich hab ein bisschen aufgeschnitten. Ja — ich wusste nicht, daß er Oberst ist — oder Oberstleutnant… Ich war einfach gestern bei ihm und hab den Uniformrock gesehen, mit den Schulterklappen eines Obersts.“

„Und wann waren Sie gestern bei ihm?“

„Abends. Ziemlich spät… Ein Buch hab ich mir von ihm geholt. Das hier.“

Na, da hatte er sich schön verplappert! Sofort nahm Igor Petrowitsch das Buch in die Hand und blätterte darin. Maljanow brach der kalte Schweiß aus, da er nicht die leiseste Ahnung hatte, was es für ein Buch war.

„Hm, in welcher Sprache ist es denn?“ fragte Igor Petrowitsch zerstreut.

„Äh…“ druckste Maljanow, und wieder brach ihm der kalte Schweiß aus.

„Englisch wahrscheinlich.“

„Kaum“, sagte Igor Petrowitsch und blickte den Text genauer an.

„Ist doch kyrillische Schrift und keine lateinische. Ah, russisch!“ Maljanow brach zum drittenmal der Schweiß aus, doch Igor Petrowitsch legte bloß das Buch weg, setzte seine schwarze Brille auf, lehnte sich zurück und fixierte ihn. Und Maljanow fixierte Igor Petrowitsch, bemüht, weder zu blinzeln noch den Blick abzuwenden. Durch den Kopf ging ihm etwa folgendes: Scheißkerl… Hauptmann Concasseur.. Ich sag nicht, wo unsre sind…

„Wem, glauben Sie — wem seh ich ähnlich?“ fragte plötzlich Igor Petrowitsch.

„Einem Tonton Macoute“, rutschte es Maljanow raus.

„Falsch“, sagte Igor Petrowitsch.

„Tippen Sie noch mal.“

„Ich… Ich weiß nicht“, stotterte Maljanow. Igor Petrowitsch setzte die Brille ab und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

„Schwach! Echt schwach! Sind ja merkwürdige Auffassungen, die Sie von unseren Ermittlungsorganen haben. Einem Tonton Macoute — ei, jei, jei!“

„Ja, aber wem dann?“ fragte Maljanow kleinlaut. Igor Petrowitsch schwenkte schulmeisterhaft seine Brille.

„Dem Un-sicht-ba-ren!“ sagte er, jede Silbe unter streichend.

„Das einzige, was der und ein Tonton Macoute gemeinsam haben, ist, daß sie aus eng lischen Büchern stammen.“ Drückendes Schweigen trat ein, stickig wie Watte, sogar das Wagengekreisch unter dem Fenster war verstummt. Maljanow hörte nicht den geringsten Laut und verspürte wieder den qualvollen Wunsch aufzuwachen. Und plötzlich, in diese Stille hinein, schrillte das Telefon. Maljanow fuhr zusammen. Igor Petrowitsch anscheinend auch. Das Telefon schrillte noch mal. Auf die Armlehnen gestützt, stemmte sich Maljanow hoch und blickte Igor Petrowitsch fragend an.

„Ja, ja“, sagte der.

„Ist gewiss für Sie.“ Maljanow schleppte sich zur Liege und nahm den Hörer ab. Es war Valka Waingarten.

„Tag, Astrophage“, kläffte der.

„Warum rufst du nicht an, du Hornochse?“

„Na ja-a… Mir war nicht danach…“

„Treibst wohl süße Spiele?“

„Ja-a… Nein“, stammelte Maljanow.

„Wo denkst du hin…“

„Na, wenn meine Swetka mir ihre Freundinnen zuschanzen würde…“sagte Waingarten neidisch.

„Ja-a“, nuschelte Maljanow. Im Nacken spürte er den Blick Hauptmann Concasseurs.

„Hör mal, Valka, ich ruf dich später an.“ Sofort wurde Waingarten misstrauisch.

„Was ist los bei dir?“

„Ach, nichts… Ich erzähl’s dir später.“

„Die Frau?“

„Nein.“

„Ein Mann?“

„Mhm.“

Waingarten schnaufte.

„Hör mal“, sagte er mit gesenkter Stimme.

„Soll ich zu dir kommen?“

„Nein! Du fehlst mir grade noch…“ Wieder Geschnaufe.

„Hör mal“, sagte Waingarten.

„Ist er rothaarig?“ Unwillkürlich blickte sich Maljanow nach Igor Petrowitsch um. Verblüfft musste er feststellen, daß der ihn gar nicht ansah. Er las, die Lippen bewegend, in Snegowos Buch.

„Aber nein, was soll der Quatsch? Genug, ich ruf dich nachher an.“

„Unbedingt!“ brüllte Waingarten.

„Sobald er weg ist, ruf gleich an!“

„Ja doch“, sagte Maljanow und legte auf. Dann setzte er sich wieder, murmelte:

„Pardon.“

„Schon gut“, sagte Igor Petrowitsch und legte das Buch weg.

„Sie sind aber vielseitig interessiert, Dmitri Alexejewitsch.“

„Ja-a… Einigermaßen“, stammelte Maljanow. Scheiße — wenn ich wenigstens einen Blick in das Buch tun könnte!

„Igor Petrowitsch“, sagte er bittend.

„Können wir nicht zum Schluss kommen? Es geht doch schon fast zwei Stunden.“

„Aber selbstverständlich!“ rief Igor Petrowitsch bereitwillig. Nach einem besorgten Blick auf die Uhr holte er einen Notizblock aus der Mappe.

„Also. Sie waren gestern abend bei Snegowoi — stimmt doch?“

„Ja.“

„Um dieses Buch zu holen?“

„Ja-a“, sagte Maljanow, entschlossen, weitere Einzelheiten für sich zu behalten.

„Wann war das?“

„Spät. Gegen Mitternacht.“

„Hatten Sie nicht den Eindruck, daß Snegowoi verreisen wollte?“

„Doch. Das heißt, nicht den Eindruck… Er hat mir direkt gesagt, daß er am nächsten Morgen verreist und mir die Schlüssel bringen will.“

„Hat er sie gebracht?“

„Nein. Das heißt, vielleicht hat er geklingelt, und ich hab’s nicht gehört, hab noch geschlafen.“ Igor Petrowitsch kritzelte eifrig, den Notizblock auf der Mappe, die Mappe auf dem Knie. Er blickte überhaupt nicht mehr hoch, nicht mal beim Fragen. Als sei er plötzlich in Zeitnot.

„Hat Snegowoi Ihnen nicht gesagt, wohin er verreist?“

„Nein, das sagt er nie.“

„Aber Sie können sich denken, wohin er fährt?“

„Na ja-a, so ungefähr. Zu irgendeinem Versuchs gelände oder so…“

„Hat er Ihnen mal davon erzählt?“

„Nein, natürlich nicht. Über seine Arbeit sprechen wir nie.“

„Und wieso können Sie sich’s denken?“ Maljanow zuckte die Achseln. Ja, wieso? Schwer zu erklären, so was. Klar, daß der Mann in einem Geheimkasten arbeitet, das ganze Gesicht verbrannt, die Hände… Und wie er sich benimmt. Schon, daß er nie über die Arbeit spricht.

„Ich weiß nicht“, sagte Maljanow.

„Mir schien es so… Ich weiß nicht.“

„Hat er Sie mal mit einem seiner Freunde bekannt gemacht?“

„Nein, nie.“

„Und mit seiner Frau?“

„Ist er denn verheiratet? Ich hab immer geglaubt, er ist Junggeselle… Oder… Witwer.“

„Und warum haben Sie das geglaubt?“

„Weiß ich nicht“, sagte Maljanow unwirsch.

„Intuition.“

„Vielleicht hat es Ihre Frau erzählt?“

„Irka? Woher soll die das wissen?“

„Eben das möchte ich in Erfahrung bringen.“ Schweigend starrten sie einander an.

„Versteh ich nicht“, sagte Maljanow.

„Was möchten Sie in Erfahrung bringen?“

„Woher Ihre Frau wusste, daß Snegowoi unverheiratet ist.“

„Äh-äh… N-ja… Wußte sie es denn?“ Igor Petrowitsch antwortete nicht. Er blickte Maljanow eindringlich an, und seine Pupillen verengten und weiteten sich auf seltsame, unheimliche Weise. Maljanows Nerven waren bis zum äußersten gespannt. Ihm schien: Noch eine Sekunde, und er würde mit den Fäusten auf den Tisch dreschen, zetern, geifern und endgültig sein Gesicht verlieren. Er konnte einfach nicht mehr. Hinter all diesem Geschwätz steckte ein unheilvoller Sinn, all das glich klebrigem Spinngewebe, in das aus irgendeinem Grund Irka reingezogen werden sollte.

„Na schön“, sagte plötzlich Igor Petrowitsch und klappte seinen Notizblock zu.

„Kognak haben Sie ja da.

„Er wies auf die Bar.

„Und der Wodka steht im Kühlschrank. Was ziehen Sie vor? Persönlich?“

„Ich?“

„Ja, Sie. Persönlich.“

„Kognak“, krächzte Maljanow und schluckte. Seine Kehle war wie ausgedörrt.

„Na prächtig!“ sagte Igor Petrowitsch aufgeräumt, erhob sich flink und begab sich leichtfüßig zur Bar.

„Da brauchen wir ja nicht weit zu gehen… Fein!“ Er machte sich bereits in der Bar zu schaffen.

„Aha, Zitrone ist auch da… Ein bisschen verschrumpelt, aber macht nichts. Was für Gläser möchten Sie? Na, nehmen wir die hier, die blauen.“ Maljanow sah stumpfsinnig zu, wie er behend die Schwenker auf den Tisch stellte, dünne Zitronenscheiben abschnitt, die Flasche öffnete.

„Wissen Sie“, sagte Igor Petrowitsch.

„Wenn ich offen sein darf: Ihre Chancen sind mies. Die Entscheidung fällt natürlich das Gericht, aber immerhin bin ich schon zehn Jahre dabei und hab meine Erfahrung. Wissen Sie, man kann sich bei jedem Fall ausrechnen, was darauf steht. Die Höchststrafe kriegen Sie nicht, aber fünfzehn Jahre — die garantier ich Ihnen, wenn ich so sagen darf.“ Fein säuberlich, ohne ein Tröpfchen zu verschütten, goss er den Kognak ein.

„Selbstverständlich können immer mildernde Umstände auftreten, aber offen gestanden — vorläufig sehe ich keine… Nein, absolut keine, absolut, Dmitri Alexejewitsch! Na denn…“ Er hob sein Glas und nickte einladend. Mit steifen Fingern nahm Maljanow seinen Schwenker.

„Gut“, sagte er mit verzerrter Stimme.

„Aber darf ich trotzdem erfahren, was los ist?“

„Aber selbstverständlich!“ rief Igor Petrowitsch. Er leerte sein Glas, warf sich eine Zitronenscheibe in den Mund und nickte energisch.

„Selbstverständlich dürfen Sie das! Ich erzähl es Ihnen, ich bin dazu befugt. “ Und er erzählte.

Heute früh um acht war ein Wagen gekommen, um Snegowoi abzuholen und zum Flugplatz zu bringen. Der Fahrer staunte, daß Snegowoi nicht wie üblich am Torweg stand. Er wartete fünf Minuten, fuhr dann mit dem Lift rauf und klingelte an der Wohnungstür. Niemand öffnete, obwohl die Klingel, wie der Fahrer sehr wohl hörte, in Ordnung war. Daraufhin fuhr er wieder runter, rief aus der Telefonzelle an der Ecke seine Dienststelle an und meldete die entstandene Sachlage. Die Dienststelle versuchte, Snegowoi anzurufen, doch sein Apparat war pausenlos besetzt. Unterdessen ging der Fahrer ums Haus rum und konstatierte, daß alle drei Fenster Snegowois weit aufgerissen waren und daß in der Wohnung Licht brannte, obwohl die Sonne doch schon hoch stand. Sofort erstattete er Bericht. Es wurden kompetente Leute angefordert, die unverzüglich Snegowois Wohnung aufbrachen und in Augenschein nahmen. Sie konstatierten, daß alle Lampen brannten, daß auf dem Bett im Schlafzimmer ein aufgeklappter, doch schon gepackter Koffer lag, Snegowoi selber jedoch in seinem Arbeitszimmer am Tisch saß, in der einen Hand den Telefonhörer, in der anderen eine Makarow-Pistole. Die Untersuchung ergab, daß Snegowoi einer Schusswunde erlegen war, beigefügt aus ebendieser Pistole, durch einen Schläfenschuss aus nächster Nähe. Der Tod war augenblicklich eingetreten, zwischen drei und vier Uhr morgens.

„Und was hab ich damit zu tun?“ fragte Maljanow. Da erzählte ihm Igor Petrowitsch ausführlich, wie man die ballistische Kurve rekonstruiert und die Kugel entdeckt hatte, die durch den Kopf hindurch gegangen und in der Wand steckengeblieben war.

„Aber ich — was hab ich damit zu tun?“ fragte Maljanow, sich wie rasend an die Brust klopfend. Zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits drei Gläser intus.

„Ja, tut er Ihnen denn leid?“ fragte Igor Petrowitsch.

„Ob er Ihnen leid tut, frag ich.“

„Natürlich tut er mir leid. Er war ein Pfundskerl… Aber ich — wie kommen Sie grade auf mich? Ich hab mein Lebtag keine Pistole angefasst! Ich war nicht beim Militär… Wegen der Augen…“ Igor Petrowitsch ließ seine Worte unbeachtet. Statt dessen berichtete er des langen und breiten, wie man binnen kürzester Frist ermittelt hatte, daß der Tote Linkshänder gewesen sei. Merkwürdig also, daß er sich mit der rechten Hand erschossen habe.

„Ja doch! Ja!“ stimmte Maljanow zu.

„Arnold Palytsch war tatsächlich Linkshänder. Ich weiß es auch, ich kann es bestätigen… Aber warum ich? Ich hab doch geschlafen, die ganze Nacht! Und überhaupt: Was hätte ich für Gründe — sagen Sie doch selbst!“

„Wer hat es denn sonst getan? Wer sonst?“ fragte Igor Petrowitsch katzenfreundlich.

„Wie soll ich das wissen? Sie — Sie müssen das rauskriegen!“

„Sie, mein Teuerster“, säuselte Igor Petrowitsch mit honigsüßer Zunge, Maljanow mit einem Auge durch den Kognakschwenker fixierend.

„Sie sind der Mörder!“

„Wahnsinn…“ hauchte Maljanow hilflos. Vor Verzweiflung war er den Tränen nahe. Plötzlich fuhr ein Windstoß ins Zimmer, blähte die zurückgezogene Gardine, und die irre Nachmittags sonne, jäh durchs Fenster brechend, fiel Igor Pe-trowitsch voll ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, beschattete sein Gesicht mit der gespreizten Hand, rückte im Sessel zur Seite und stellte das Glas hastig auf den Tisch. Irgend etwas ging mit ihm vor. Er blinzelte heftig, seine Wangen röteten sich, das Kinn zuckte.

„Verzeihen Sie bitte“, sagte er, und seine Stimme klang auf einmal ganz normal und menschlich.

„Verzeihen Sie, Dmitri Alexejewitsch!… Vielleicht könnten Sie… Hier ist es ein bisschen zu…“ Er brach ab, denn in Bobkas Zimmer krachte etwas zu Boden und zerschellte mit anhaltendem Geklirr.

„Was ist das?“ fragte Igor Petrowitsch voller Argwohn, und seine Stimme hatte ihren menschlichen Klang wieder eingebüßt.

„Da ist… Da ist jemand drin“, sagte Maljanow, ohne weiter über Igor Petrowitschs seltsame Verwandlungen nachzudenken. Ihn bewegte etwas andres, ein völlig neuer Gedanke.

„Hören Sie mal!“ rief er und sprang auf.

„Kommen Sie mit! Da drin ist eine Freundin meiner Frau! Sie kann alles bezeugen! Ich hab die ganze Nacht geschlafen, bin nirgends gewesen.“

Einander schubsend und stoßend, hasteten sie durch den Flur.

„Interessant, sehr interessant“, sagte Igor Pe-trowitsch.

„Eine Freundin ihrer Frau… Wollen sehen!“

„Sie kann es bezeugen“, murmelte Maljanow.

„Gleich werden Sie sehen… Sie bezeugt es…“ Ohne anzuklopfen, stürzten sie in Bobkas Zimmer und blieben wie angewurzelt stehen. Das Zimmer war aufgeräumt und leer. Von Lidotschka keine Spur; kein Bettzeug mehr auf der Couch, der Koffer verschwunden. Am Fenster, vor den Scherben eines Tonkrugs (Choresm, XI. Jahrhundert), saß mit der unschuldigsten Miene der Welt Kaljam.

„Die da?“ fragte Igor Petrowitsch und wies auf Kaljam.

„Nein“, erwiderte Maljanow dümmlich.

„Das ist unser Kater, den haben wir schon lange… Ja, aber wo ist denn Lidotschka?“ Er blickte sich zur Flur garderobe um. Der weiße Mantel war fort.

„Mir scheint, sie ist weggegangen.“ Igor Petrowitsch zuckte die Achseln.

„Mir auch“, sagte er.

„Hier ist sie jedenfalls nicht.“ Maljanow trottete zu dem verunglückten Krug.

„Rindvieh!“ sagte er und verpasste Kaljam eine Ohrfeige.

Kaljam stob davon. Maljanow hockte sich hin. In tausend Scherben. Der schöne Krug…

„Hat sie bei Ihnen genächtigt?“ erkundigte sich Igor Petrowitsch.

„Ja“, erwiderte Maljanow finster.

„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen? Heute?“

Maljanow schüttelte den Kopf.

„Gestern. Das heißt, eigentlich doch heute. In der Nacht. Ich hab ihr Bettwäsche gegeben, und eine Decke…“ Er blickte in Bobkas Bettkasten.

„Bitte. Alles da.“

„Ist sie schon lange bei Ihnen?“ wollte Igor Pe-trowitsch wissen.

„Nein, erst seit gestern.“

„Und ihre Sachen — sind die hier?“

„Ich seh nichts“, erwiderte Maljanow.

„Auch der Mantel ist weg.“

„Komisch, nicht wahr?“ meinte Igor Petrowitsch. Maljanow winkte bloß ab.

„Soll sie bleiben, wo der Pfeffer wächst“, sagte Igor Petrowitsch.

„Mit den Weibern hat man nichts als Ärger. Kommen Sie, wir trinken noch ein Gläschen.“ Plötzlich ging die Wohnungstür auf, und in den Flur…

6. …und der Fahrstuhl sprang an. Maljanow blieb allein.

Lange stand er auf der Schwelle von Bobkas Zimmer, an den Türrahmen gelehnt, unfähig zu denken. Kaljam erschien, schlich, nervös mit dem Schwanz zuckend, an ihm vorbei, flitzte auf den Treppenflur hinaus und begann, eifrig den Zementfußboden zu lecken.

„Na schön“, sagte Maljanow schließlich, riss sich vom Türrahmen und ging ins große Zimmer. Dort war alles vollgeraucht, auf dem Tisch standen verwaist drei blaue Kognakschwenker — zwei leere und ein halbvoller. Die Sonne schien bereits auf die Bücherregale.

„Hat den Kognak mitgenommen“, sagte Maljanow.

„Schweinerei!“

Eine Weile saß er im Sessel, trank sein Glas aus. Draußen vor dem Fenster wummerte und knatterte es, durch die offene Wohnungstür drang vom Treppenhaus her Kindergeschrei und Fahrstuhllärm. Es roch nach Kohlsuppe. Er stand auf, schleppte sich, die Schulter am Türrahmen stoßend, hinaus auf den Treppenflur und blieb vor Snegowois Wohnung stehen. Das Türschloss war versiegelt, mit einem dicken Lacksiegel. Vorsichtig tippte er das Siegel an, fuhr zurück. Alles stimmte, war wirklich passiert. Der Bürger der Sowjetunion Oberst Arnold Pawlowitsch Snegowoi, dieser rätselhafte Mann, lebte nicht mehr…