"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)

Siebentes Kapitel

14. …hockte Sachars Sohn hinten auf der Liege und ergötzte die Versammelten von Zeit zu Zeit mit ausgewählten Zitaten aus der Kleinen Medizinischen Enzyklopädie, die Maljanow ihm in der Eile versehentlich zugeschoben hatte. Wetscherowski, der neben dem verschwitzten, auf gelösten Waingarten besonders vornehm wirkte, hörte dem merkwürdigen Jungen interessiert zu und beobachtete ihn, die roten Brauen hoch in die Stirn gezogen. Noch hatte Wetscherowski fast nichts von Belang gesagt, lediglich ein paar Fragen gestellt, die Maljanow — und nicht nur ihm — unsinnig vorkamen. So fragte er zum Beispiel völlig unmotiviert Sachar, oberhäufig Konflikte mit seinen Vorgesetzten habe, " und Gluchow, ob er gern fernsehe. Es erwies sich, daß Sachar nie und mit niemand Konflikte hatte, so war er nun mal veranlagt, und daß Gluchow nicht nur gern fernsah, sondern mit Vorliebe. Von Gluchow war Maljanow sehr angetan. An sich mochte er keine neuen Leute im Kreise alter Bekannter, dauernd stand er Ängste aus, sie könnten sich vorbeibenehmen und es könnte fatal werden. Doch mit Gluchow ging alles glatt. Er war erstaunlich gemütlich und lieb — klein, zierlich, stupsnasig, mit rötlichen Äuglein hinter einer großen, starken Brille. Als er eintraf, leerte er mit Vergnügen ein von Waingarten angebotenes Gläschen Wodka, und die Mitteilung, es sei das letzte, betrübte ihn sichtlich. Ins Kreuzverhör genommen, hörte er jedem sehr aufmerksam zu, den Kopf nach Professorenart auf die rechte Schulter geneigt, den Blick ebenfalls nach rechts gerichtet. Nein, nein, sagte er, als bedaure er es, so war es bei mir nicht. Gott bewahre, einfach undenkbar… Mein Thema? Ich fürchte, damit können Sie wenig anfangen:

„Die kulturellen Einflüsse der USA auf Japan. Versuch einer quantitativen und qualitativen Analyse“… Ja, eine Art Idiosynkrasie, wie es aussieht, ich habe medizinische Kapazitäten befragt — ein äußerst seltener Fall, sagen sie… An sich schien das mit Gluchow ein Schuss in den Ofen zu sein, trotzdem fand es Maljanow gut, daß er da war. Er gab sich so schön diesseitig: Trank mit Genus und wollte noch mehr, aß mit kindlicher Freude Kaviar, bevorzugte Ceylon Tee und las am liebsten Krimis. Auf Sachars merkwürdigen Sohn blickte er zaghaft und befremdet, manchmal unsicher kichernd, die verrückten Erzählungen hörte er sich überaus teilnahmsvoll an, wobei er sich wiederholt mit beiden Händen hinter den Ohren kratzte und murmelte:

„Wirklich verblüffend… Nicht die Möglichkeit!“—.

Mit einem Wort: Gluchow war für Maljanow ein offenes Buch.

Neue Informationen durfte man von ihm nicht er hoffen, und Ratschläge erst recht nicht. Wie stets in Wetscherowskis Gegenwart, schrumpfte Waingarten sichtlich zusammen. Er sah auch nicht mehr so anstößig aus, hörte auf, rumzubrüllen und alle und jeden mit

„Vater“ oder

„Alter“ zu titulieren. Freilich, den letzten schwarzen Kaviar fraß trotz allem er.

Völlig verstummt war Sachar, von den kurzen Antworten auf Wetscherowskis überraschende Fragen abgesehen. Nicht einmal seine eigene Leidensgeschichte brauchte er zu erzählen — das besorgte Waingarten für ihn. Er gab es auch endgültig auf, seinen merkwürdigen Sohn zu ermahnen, und die erbaulichen Zitate über die Krankheiten diverser heikler Organe nötigten ihm höchstens ein gequältes Lächeln ab.

Zu guter Letzt schwiegen sie alle. Nippten am kaltgewordenen Tee. Rauchten. Wie flüssiges Gold lohten die Fenster des Dienstleistungshauses, am dunkelblauen Himmel hing die zarte Sichel des zunehmenden Mondes, von der Straße drang lautes Geknister herauf: wahrscheinlich wurden wieder alte Kisten verbrannt. Waingarten raschelte mit der Zigarettenschachtel, guckte rein, zerknüllte sie und fragte halblaut:

„Hat noch jemand Zigaretten?“

„Ja, bitte“, brummte Sachar beflissen. Gluchow räusperte sich und klimperte mit dem Teelöffel im Glas.

Maljanow blickte zu Wetscherowski. Der saß im Sessel, die ausgestreckten Beine über Kreuz, und studierte aufmerksam die Nägel seiner rechten Hand. Maljanow blickte zu Waingarten. Waingarten rauchte seine Zigarette an und sah über das Flämmchen hinweg zu Wetscherowski. Auch Sachar blickte auf Wetscherowski. Und Gluchow ebenfalls. Plötzlich musste Maljanow lachen. Mein Gott, was erwarten wir eigentlich von ihm? Na schön, er ist Mathematiker. Ein bedeutender Mathematiker. Ein sehr bedeutender sogar — ein Mann von Weltruf. Na und? Ganz wie ein Häuflein Gören, das sich im Wald verlaufen hat! Alles gafft hoffnungsvoll auf den Onkel — der führt uns bestimmt raus.

„Ja, das sind die Überlegungen, zu denen wir bisher gelangt sind“, sagte Waingarten mit flinker Zunge.

„Wie ihr seht, zeichnen sich im wesentlichen zwei Standpunkte ab. “Er sprach, als wende er sich an alle, blickte jedoch nur Wetscherowski an.

„Dimka vertritt die Ansicht, wir müssten all das im Rahmen der

uns bekannten Naturerscheinungen zu erklären suchen. Meiner Meinung nach haben wir es mit der Einmischung völlig unbekannter Kräfte zu tun. Sozusagen: Reales durch Reales, Phantastisches durch Phantastisches…“ Sein Erguss hörte sich unwahrscheinlich hoch gestochen an. Statt offen und ehrlich zuzugeben: Onkelchen, wir haben uns verlaufen, führ uns raus… Nein, bloß nicht, er muss unbedingt beweisen: Auch wir sind nicht aus Dummsdorf. Na, dann freu dich an deiner Borniertheit! Maljanow nahm den Teekessel und entwich vor Valkas — Blamage in die Küche. Dort hörte er nicht, worüber sie sprachen, er füllte Wasser ein und setzte den Topf auf die Flamme. Als er zurückkehrte, redete Wetscherowski, der dabei gelassen die Nägel seiner linken Hand betrachtete.

„… deshalb neige ich trotz allem mehr zu Ihrem Standpunkt, Valja. Ja, für Phantastisches muss man anscheinend phantastische Erklärungen suchen. Ich nehme an, ihr alle befindet euch im Blickfeld einer — hm, ja-a, sagen wir mal: Superzivilisation. Meines Erachtens ist das bereits ein fester Terminus zur Bezeichnung einer fremden Vernunft, die um viele Größenordnungen mächtiger ist als die menschliche…“

Waingarten, der in tiefen Zügen rauchte, nickte gemessen, mit unerhört wichtiger und konzentrierter Miene.

„Warum sie es für notwendig erachten, gerade eure Forschungen zu unterbinden“, fuhr Wetscherowski fort,

„diese Frage ist ebenso kompliziert wie müßig. Den Kernpunkt sehe ich darin, daß die Menschheit unwissentlich den Kontakt heraufbeschworen und somit aufgehört hat, ein autokrates System zu sein. Anscheinend sind wir, ohne es zu ahnen, einer Superzivilisation auf die Hühneraugen getreten, und anscheinend hat sich diese Superzivilisation das Ziel gesetzt, von nun an unseren Fortschritt nach ihrem Ermessen zu regulieren.“

„Aber hör mal, Phil“, sagte Maljanow.

„Wenigstens du solltest begreifen: Wieso denn Superzivilisation, was, zum Teufel, für eine Superzivilisation, wenn sie uns wie ein blindes Kätzchen mit der Schnauze stukt? Wozu dieser ganze Blödsinn: Mein Untersuchungsführer, der auch noch Kognak klaut… Sachars Weiber… Wo bleibt denn da das Grundprinzip der Vernunft: die Zweckmäßigkeit, das Rationelle?“

„Das sind Einzelheiten, Dima“, sagte Wetscherowski still.

„Warum nichtmenschliche Zweckmäßigkeit mit menschlichen Maßstäben messen? Außerdem: Bedenke, mit welchem Kraftaufwand du dich auf die Wange haust, um eine armselige Mücke zu töten. Ein solcher Schlag reicht für alle Mücken ringsum.“

„Oder ein anderes Beispiel“, ergänzte Waingarten.

„Welchen Sinn hat eine Brücke vom Standpunkt eines Hechts?“

„Na, ich weiß nicht“, sagte Maljanow.

„Ist doch alles ziemlich dumm.“ Wetscherowski wartete ab, ob Maljanow nicht noch etwas hinzusetzen würde, und sprach dann weiter:

„Ich möchte folgendes hervorheben. Wenn man die Frage so stellt, treten eure persönlichen Misslichkeiten und Probleme in den Hintergrund. Es geht um nichts Geringeres als um das Schicksal der Menschheit…“ Er überlegte.

„Na, vielleicht nicht gerade um das Schicksal im schlimmsten Sinne dieses Wortes, jedoch unbedingt um ihre Würde. Also stehen wir nicht nur vor der Aufgabe, Ihre Re-vertasentheorie zu verteidigen, Valja, sondern das Schicksal unserer gesamten irdischen Biologie… Oder irre ich mich da?“

Erstmalig in Wetscherowskis Gegenwart blähte sich Waingarten bis zu seiner normalen Größe auf. Er nickte ungemein energisch, sagte jedoch keines falls das, was Maljanow erwartet hatte.

„Zweifelsohne“, sagte er.

„Wir begreifen alle, daß es nicht um uns persönlich geht. Es geht um Hunderte von Forschungsarbeiten. Vielleicht gar um Tausende… Ach was — um die erfolgversprechenden Richtungen überhaupt!“

„Eben!“ sagte Wetscherowski mit Nachdruck.

„Also gibt es eine Keilerei. Ihre Waffe ist das Geheimnis, folglich muss unsere die Öffentlichkeit sein. Womit fangen wir also an? Wir weihen unsere Bekannten ein, all jene, die einerseits genug Phantasie besitzen, uns zu glauben, und andererseits genug Autorität, ihre Kollegen auf den Kommandohöhen der Wissenschaft zu überzeugen. Auf diese Weise stellen wir indirekt Kontakt zur Regierung her, er halten Zugang zu den Massenmedien und können maßgeblich die ganze Menschheit informieren. Euer erster Schachzug war vollkommen richtig — ihr habt euch an mich gewandt. Ich meinerseits übernehme das Gespräch mit einigen angesehenen Mathematikern, die zugleich angesehene Ämter bekleiden. Zuerst setze ich mich natürlich mit unseren Leuten in Verbindung, dann mit Ausländern…“ Er war ungewöhnlich aufgelebt, saß kerzengrade im Sessel und redete und redete. Nannte Namen, Titel, Posten, legte ganz genau fest, wen Maljanow, wen Waingarten ansprechen sollte. Fast hätte man glauben können, er säße schon tagelang über einem detaillierten Aktionsplan. Aber je länger er redete, desto missmutiger wurde Maljanow. Und als Wetscherowski mit einem nahezu schon perversen Eifer zum zweiten Teil seines Programms schritt, zur Apotheose, wo die durch einen Großalarm vereinigte Menschheit wie ein Mann mit den geballten Kräften des gesamten Planeten dem superzivilisierten Welt feind aufs Haupt schlug — da war es mit Maljanows Geduld vorbei: Er stand auf, ging in die Küche und setzte neues Teewasser auf. Prost Mahlzeit — das ist also Wetscherowski! Der Mann mit Köpfchen! Armer Hund, dem sitzt wohl auch das Herz in den Hosen. Ja, Freundchen, das ist was andres als über Telepathie streiten. Übrigens sind wir selber schuld: Wetscherowski vorn, Wetscherowski hinten, Wetscherowski, das As… Dabei ist Wetscherowski bloß ein Mensch. Ein kluger natürlich, eine Koryphäe, aber auch nicht mehr. Solange es um Abstraktionen geht, ist er dicke da, aber wenn das Leben die Zähne zeigt… Ärgerlich nur, daß er gleich Waingartens Partei ergriffen und mich gar nicht richtig angehört hat… Maljanow nahm den Teekessel und ging wieder ins Zimmer.

Natürlich, dort war Waingarten dabei, aus Wetscherowski Kompott zu machen. Völlig zu Recht. Pietät — gut und schön, aber wenn einer Kokolores verzapft, hilft man ihm mit Pietät nicht weiter…Ob Wetscherowski glaube, sie seien Vollidioten? Vielleicht habe er, Wetscherowski, ein paar Einflussreiche Leute von der Akademie beider Hand, die leicht plemplem und nach einigen sto Gramm soweit seien, daß sie bei einer solchen Mitteilung in Freudengeschrei ausbrächen. Er, Waingarten, verfüge über solche Bekanntschaften nicht. Dafür habe er einen alten Freund namens Dmitri Maljanow, von dem er, Waingarten, ein gewisses Maß an Anteilnahme erhoffen dürfe, um so mehr als Malja-now selber zu den Leidtragenden gehöre. Na und? Habe der etwa seine, Waingartens, Eröffnung mit Jubelgeschrei aufgenommen? Mit Interesse? Oder wenigstens mit Anteilnahme? Ja, Scheiße! Seine erste Reaktion sei gewesen: Er, Waingarten, spinne. Und auf seine Weise habe Maljanow sogar recht. Ihm, Waingarten, schaudre bei dem bloßen Gedanken, er müsste all das zum Beispiel seinem Chef erzählen, obwohl der nebenbei bemerkt weder alt noch verknöchert und sogar selber einem gewissen edlen Wahn in der Wissenschaft verfallen sei. Vielleicht sei es Wetscherowski schnuppe, aber Waingarten für sein Teil habe nicht die geringste Absicht, den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik zu verbringen, und sei sie noch so bonforzionös.

„Die holen uns mit der Zwangsjacke!“ barmte Sachar.

„Ist doch klar. Euch wird ja nichts weiter passieren, aber mir hängen sie gleich den Erotomanen an.“

„Hör auf, Sachar!“ ranzte Waingarten.

„Nein, Phil, Ehrenwort, ich erkenn Sie nicht wieder! Na schön, das mit der Klinik mag übertrieben sein. Aber als Wissenschaftler wären wir erledigt — gleich, so fort! Kein Fatz bleibt von unsrem Renommee! Und außerdem, verdammte Scheiße: Gesetzt den Fall, wir finden ein paar Sympathisanten in der Akademie — wie sollen die mit dem Mumpitz zur Regierung? Wer traut sich das? Dem muss man doch weiß der Teufel wie einheizen. Na und unsre liebe Menschheit erst, die lieben Mitplanetler!“ Waingarten machte eine wegwerfende Handbewegung und richtete seine Olivenaugen auf Maljanow.

„Gieß mir was ein, möglichst heiß“, sagte er.

„Öffentlichkeit, Öffentlichkeit! Das ist ein Prügel mit zwei Enden.“ Und er schlürfte geräuschvoll seinen Tee, wobei er sich immer wieder mit der behaarten Hand über die schwitzende Nase fuhr.

„Will noch wer Tee?“ fragte Maljanow. Er sah geflissentlich an Wetscherowski vorbei. Goss Sachar Tee ein, Gluchow und sich selbst. Nahm Platz. Wetscherowski tat ihm entsetzlich leid, und er schämte sich entsetzlich für ihn. Valka hatte recht: Der Ruf eines Wissenschaftlers ist denkbar empfindlich. Eine missglückte Rede — und wo ist er hin, dein Ruf, Philipp Pawlowitsch? Wetscherowski krümmte sich im Sessel, die Hände vors Gesicht geschlagen. Es war unerträglich. Maljanow sagte:

„Versteh doch, Phil, all deine Vorschläge… Dieses dein Aktionsprogramm… Theoretisch hat das Ganze sicher Hand und Fuß. Aber was wir jetzt brauchen, ist keine Theorie. Wir brauchen ein Programm, das sich unter den gegebenen konkreten Umständen realisieren lässt. Du sprichst von einer vereinigten Menschheit. Aber begreif doch, für dein Programm eignet sich wahrscheinlich jede andere Menschheit, bloß nicht unsre, die irdische, meine ich. Unsre wird dir das nie glauben. Die glaubt an eine Superzivilisation — weißt du wann? Wenn sich diese Superzivilisation auf unser Niveau herablässt und uns im Tiefflug mit Bomben bepflastert. Ja, dann erst glauben wir es, dann erst schließen wir uns zusammen, und das bestimmt auch nicht gleich — bestimmt decken wir uns in der Hitze des Gefechts erst einmal gegenseitig mit Sprengköpfen ein.“

„Aber genau!“ kommentierte Waingarten schnöde und lachte kurz. Alle schwiegen.

„Und mein Chef ist überhaupt eine Frau“, sagte Sachar.

„Sehr lieb und gescheit, aber wie soll ich ihr das alles beibringen? Das von mir?“ Wieder trat Schweigen ein, jeder trank stumm seinen Tee. Endlich ergriff Gluchow das Wort.

„Ist das ein Teechen!“ schwärmte er leise.

„Ein Meister sind Sie, Dmitri Alexejewitsch. So was hab ich lange nicht getrunken… Tja-ja-ja… Natürlich ist das alles unerfreulich, vertrackt… Andererseits, schauen Sie nur: dieser Himmel, dieser Mond… Dazu ein Gläschen Tee, ein Zigarettchen… Was braucht der Mensch im Grunde mehr? Im Fernsehen — ein anständiger Krimi, mit recht viel Fortsetzungen… Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Sie, Dmitri Alexejewitsch, geben sich da mit den Sternen ab, dem interstellaren Gas… Was geht Sie das eigentlich an? Wenn man so recht überlegt? Na? Kiebitzen wollen, was? Also kriegen Sie eins auf den Deckel: Lassen Sie das! Trink Tee, sitz vor der Röhre… Der Himmel ist nicht zum Kiebitzen da. Der Himmel ist da zum Sichfreuen.“

Da plötzlich verkündete Sachars Junge auftrumpfend:

„Du bist ein Schlaumeier!“ Maljanow glaubte, er meine Gluchow. Aber nein. Der Junge blickte, ganz wie ein Erwachsener die Augen zusammenkneifend, auf Wetscherowski und drohte ihm mit dem schokoladenbeschmierten Finger.

„Fein still sein“, ermahnte ihn Sachar hilflos. Wetscherowski indes nahm mit einem Ruck die Hände vom Gesicht und bezog seine anfängliche Pose — lehnte sich im Sessel zurück, die langen Beine ausgestreckt und über Kreuz. Sein Rotblonden gesicht griente.

„Na also“, sagte er,

„ich freue mich, feststellen zu dürfen, daß uns die Hypothese des Genossen Waingarten in eine Sackgasse führt, die ohne Lupe zu erkennen ist. Ebenfalls in eine Sackgasse führen, wie man auf Anhieb sieht, die Hypothesen über den legendären Bund der Neun oder eine geheimnisvolle Vernunft, die sich in den Tiefen der Weltmeere verbirgt. Überhaupt entfällt jegliche vernünftig handelnde Kraft. Es wäre sehr schön, wenn ihr jetzt wenigstens einen kleinen Moment stillschweigen und nachdenken würdet, um euch von der Richtigkeit meiner Worte zu überzeugen.“ Maljanow rührte wie blöd mit dem Teelöffel im Glas und dachte: So ein Aas, wie der uns aufs Glatteis geführt hat! Warum? Wozu die Schau?… Waingarten starrte mit vorquellenden Augäpfeln ins Leere, seine feisten, schweißigen Wangen zuckten gefährlich. Gluchow sah verwirrt von einem zum andern, Sachar wartete einfach ab: Offenbar war ihm die Dramatik der Schweigeminute entgangen.

„Bitte beachtet folgendes“, nahm Wetscherowski seine Rede wieder auf.

„Zur Erklärung der phantastischen Vorfälle haben wir phantastische, aber doch im Bereich unserer heutigen Vorstellungen angesiedelte Überlegungen hinzugezogen. Das hat uns nichts gegeben. Absolut nichts. Valja hat es überaus klar bewiesen. Deshalb hat es offenbar nicht den geringsten Sinn, oder richtiger, erst recht keinen Sinn, Überlegungen anzustellen, die außerhalb unseres heutigen Vorstellungsbereichs liegen. Ich nenne da nur die Gotteshypothese… Oder… Oder andere… Und daraus folgt?“ Waingarten wischte sich fahrig mit dem Hemdzipfel das Gesicht ab und schlürfte fieberhaft seinen Tee. Maljanow fragte gekränkt:

„Was fällt dir ein — uns so zu veralbern?“

„Was blieb mir denn sonst übrig?“ entgegnete Wetscherowski und zog seine verfluchten roten Brauen bis an die Decke hoch.

„Sollte ich, ich selber, euch beweisen, daß es sinnlos ist, sich an irgendwen zu wenden? Ja, überhaupt sinnlos, die Frage so zu stellen, wie ihr sie stellt? Bund der Neun oder Tau Walfischbewohner — bleibt sich doch gleich. Worüber soll man da noch streiten? Egal, wie die Antwort ausfällt — ein praktisches Programm lässt sich daraus nicht ableiten. Euer Haus ist abgebrannt, vom Orkan zerstört, von der Flut weggespült— nicht daran müsst ihr jetzt denken, was mit dem Haus passiert ist, sondern daran, wo und wie ihr jetzt leben, was ihr weiter tun sollt.“

„Du willst also sagen…“ begann Maljanow.

„Ich will sagen“, erklärte Wetscherowski hart,

„daß mit euch nichts Interessantes passiert ist. Nichts, wofür man sich interessieren, was man er forschen, was man analysieren muss. Euer ganzes Bestreben, die Ursachen zu ergründen, ist eitel Neugier. Nicht darüber müsst ihr nachdenken, wer womit Druck auf euch ausübt, sondern darüber, wie ihr euch unter Druck verhalten sollt. Und das ist bedeutend schwerer als Märchen über den indischen König Aschoka zusammenzuspinnen, weil von nun an jeder von euch auf sich allein gestellt ist. Niemand kann euch helfen, einen Rat geben, Entscheidungen abnehmen. Weder jemand von der Akademie noch die Regierung, nicht einmal die gesamte fortschrittliche Menschheit… Na, Valja hat es ja hinlänglich begründet.“

Er stand auf, goss sich Tee ein und kehrte in den Sessel zurück-unausstehlich selbstbewusst, korrekt, elegant-lässig, wie auf einem diplomatischen Empfang. Sogar die Tasse hielt er wie ein Peer beim Five o’clock tea der Königin. Der Junge zitierte lauthals:

„Wenn der Kranke den Rat der Ärzte nicht befolgt, die Behandlung vernachlässigt, Alkoholmissbrauch treibt, so wird nach ungefähr fünf, sechs Jahren das sekundäre Stadium durch das tertiäre abgelöst — das letzte…“

Plötzlich sagte Sachar traurig:

„Warum bloß? Warum muss das alles ausgerechnet mir, uns passieren?“

Wetscherowski stellte die Tasse mit leisem Klicken auf die Untertasse.

„Weil unser Jahrhundert in schwarzem Gewande wandelt“, gab er zur Antwort und betupfte seine graurosa Pferdelippen mit einem schneeweißen Taschentuch.

„Es trägt einen hohen Zylinder, wir aber hasten umher wie ehedem, doch schlägt uns dereinst der Untätigkeit Stunde und die Stunde, da wir unserem täglichen Tun entrissen, so ereilt uns der Zwiespalt und die Träume sterben…“

„Pfui Deibel!“ fluchte Maljanow, Wetscherowski aber brach in sein sattes, zufriedenes Marsmenschengekoller aus.

Waingarten klaubte aus dem überquellenden Aschenbecher einen längeren Stummel, steckte ihn sich zwischen die dicken Lippen, riss ein Streichholz an und starrte eine Weile geistesabwesend auf das Flämmchen.

„Tatsächlich“, sagte er.

„Ist doch gleich, um was für eine Macht es sich handelt, da sie der menschlichen offenkundig überlegen ist.“ Er rauchte an.

„Ob nun ein Ziegel auf die Blattlaus fällt oder ein Zweirubelstück… Bloß: Ich bin keine Laus. Ich kann wählen.“ Sachar blickte ihn hoffnungsvoll an, doch Waingarten sprach nicht weiter. Wählen, dachte Maljanow. Leicht gesagt.

„Leicht gesagt — wählen…“begann Sachar, doch da fiel ihm Gluchow ins Wort, und Sachars hoffnungsvoller Blick klammerte sich an ihn.

„Aber wieso denn!“ sagte Gluchow ungewöhnlich bestimmt.

„Ist denn nicht klar, was man wählen muss? Das Leben muss man wählen! Was denn sonst?

Doch nicht eure Teleskope oder Reagenzgläser. Sollen sie dran ersticken, an euren Teleskopen! Und diffusen Gasen! Leben muss man, lieben, die Natur fühlen — fühlen, und nicht in ihr rumwühlen! Wenn ich jetzt einen Baum, einen Strauch ansehe, fühle ich, weiß ich — das ist mein Freund, wir existieren für einander, brauchen einander.“

„Jetzt?“ fragte Wetscherowski laut. Gluchow brach ab.

„Wie bitte?“ murmelte er.

„Wir kennen uns doch, Wladlen Semjonowitsch“, sagte Wetscherowski.

„Erinnern Sie sich nicht? Estland, die Schule für mathematische Linguistik… Die finnische Sauna, Bier…“

„Ja-a“, sagte Gluchow und senkte den Blick.

„Ja.“

„Damals waren Sie ganz anders“, sagte Wetscherowski.

„Gott, wie lange ist das her…“ erwiderte Gluchow.

„Sie wissen ja, Barone altern…“

„Barone kämpfen auch“, sagte Wetscherowski.

„So lange ist das gar nicht her.“ Gluchow hob und senkte unbestimmt die Hände. Maljanow durchschaute dieses Zwischenspiel nicht, aber es steckte etwas dahinter, etwas Ungutes, das war kein leeres Gerede. Sachar hingegen, Sa-char schien zu verstehen, hörte da was raus, was ihn betraf, wohl an seine Ehre rührte, ihn kränkte. Je denfalls fuhr er Wetscherowski plötzlich überraschend heftig, fast Hasserfüllt an:

„Snegowoi haben sie schon umgebracht! Sie, Philipp Pawlowitsch, haben leicht reden, Ihnen geht man ja nicht an die Gurgel, Sie haben’s gut!“ Wetscherowski nickte.

„Ja“, sagte er.

„Ich hab’s gut. Ich hab’s gut und Wladlen Semjonowitsch auch. Nicht wahr. Wladlen Semjonowitsch?“ Der gemütliche kleine Mann mit den roten Kaninchenaugen hinter der starken altmodischen Metallbrille antwortete wieder mit einer unbestimmten Handbewegung. Dann stand er auf und sagte, ohne jemand anzublicken:

„Ich bitte um Entschuldigung, Freunde, aber ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät…“