"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)

Achtes Kapitel

15…„Willst Du nicht bei mir übernachten?“ fragte Wetscherowski. Beim Geschirrwaschen ließ sich Maljanow Wetscherowskis Angebot durch den Kopf gehen. Wetscherowski drängte ihn nicht. Er verzog sich ins große Zimmer, wirtschaftete dort eine Weile rum, kehrte mit einer durchnässten Zeitung voll Abfall zurück und stopfte alles in den Mülleimer. Dann nahm er einen Lappen und wischte den Küchentisch ab.

An sich verspürte Maljanow nach den heutigen Erlebnissen und Gesprächen keine sonderliche Lust, allein zu bleiben. Andererseits — die Wohnung zu verlassen, wegzugehen, fand er peinlich und beschämend. Als wenn ich mich von denen rausekeln lasse. Wo ich es doch auf den Tod nicht leiden kann, woanders zu übernachten, nicht mal bei Freunden. Nicht mal bei Wetscherowski. Plötzlich schlug ihm ganz deutlich Kaffeeduft in die Nase. Das rosen-blütenzarte blassrosa Tässchen, der Zaubertrunk ä la Wetscherowski. Ach was, abends verzichtet man besser auf Kaffee. Den können wir morgen früh trinken.

Er spülte die letzte Untertasse, stellte sie auf den Trockenrost, wischte schlecht und recht den Fuß boden auf und ging ins große Zimmer. Wetscherowski war bereits dort, saß im Sessel, mit dem Gesicht zum Fenster. Goldrosa schimmerte der Himmel, der Vollmond stand, wie auf einem Minarett, genau über dem zwölfstöckigen Punkthaus. Maljanow nahm seinen Sessel, drehte ihn gleichfalls zum Fenster, setzte sich. Von Wetscherowski trennte ihn der Tisch, der musterhaft aufgeräumt war. Die Bücher sorgfältig gestapelt, der wochenalte Staub verschwunden, alle drei Bleistifte und der Kuli in Reih und Glied neben dem Kalender. Überhaupt: Während Maljanow mit dem Geschirr beschäftigt gewesen war, hatte Wetscherowski im Zimmer wahre Wunder vollbracht. Alles war blitzblank, nur staubgesaugt hatte er nicht. Obendrein sah er selber unverändert elegant und adrett aus, kein einziger Fleck verunzierte seinen cremefarbenen Anzug. Er hatte es sogar fertiggebracht, nicht zu schwitzen, was erst recht phantastisch erschien. Maljanow hingegen war trotz Irkas Schürze klatschnass auf dem Bauch, fast wie Waingarten. Wenn eine Frau nach dem Geschirrwaschen einen nassen Bauch hat, sagt man, der Mann ist ein Säufer. Wenn nun aber ein Mann einen nassen Bauch hat…? Schweigend sahen sie zu, wie im Punkthaus nach und nach die Lichter ausgingen. Kaljam erschien, sagte leise:

„Miau“, sprang Wetscherowski auf die Knie, richtete sich dort behaglich ein und schnurrte. Wetscherowski streichelte ihn sacht mit seiner langen, schmalen Hand, ohne den Blick von den Lichtern gegenüber abzuwenden.

„Er haart“, warnte ihn Maljanow.

„Macht nichts“, erwiderte Wetscherowski fast lautlos.

Wieder schwiegen sie. Jetzt, wo der verschwitzte, puterrote Waingarten, der vor Angst völlig geknickte Sachar mit seinem gruseligen Knaben und der ebenso unscheinbare wie rätselhafte Gluchow gegangen waren und nur noch Wetscherowski da war, grenzenlos ruhig, grenzenlos selbstbewusst, Wetscherowski, der keine übernatürlichen Entscheidungen erwartete — jetzt schien alles Geschehene eher eine überspannte Erzählung als ein Traum zu sein, und selbst wenn all das sich wirklich zugetragen hatte, so vor langer, langer Zeit, und im Grunde hatte es sich gar nicht zugetragen, sondern bloß angefangen und dann aufgehört. In Maljanow erwachte sogar ein vages Interesse an dieser halb literarischen Gestalt: Hat er denn nun seine fünfzehn Jahre gekriegt — oder…

16. …erinnerte sich Maljanow an Snegowoi, an die Pistole in dessen Hausanzug und das Siegel an der Tür.

„Hör mal“, sagte er.

„Ob sie wirklich Snegowoi ermordet haben?“

„Wer?“ fragte Wetscherowski nach kurzem Zögern.

„Na die…“begann Maljanow, brach jedoch ab.

„Wie es aussieht, hat er sich erschossen“, sagte Wetscherowski.

„Hat es nicht ausgehalten.“

„Was nicht ausgehalten?“.

„Den Druck. Er hat sich entschieden.“ Nein, das war keine überspannte Erzählung. Ich spürte, wie sich mein Inneres wieder verkrampfte, zog die Beine in den Sessel und umfasste die Knie. Krümmte mich ganz fest zusammen. Ich bin es, ich, mit dem das alles geschieht. Nicht Iwan Zarewitsch, Iwan Dummkopf, sondern ich. Wetscherowski hat’s gut.

„Sag mal“, fragte ich durch die zusammengebissenen Zähne,

„was hast du da mit Gluchow abzumachen? Du hast so seltsam mit ihm gesprochen.“

„Verärgert hat er mich.“

„Womit?“

Einen Moment schwieg Wetscherowski.

„Hat keinen Mut, allein zu bleiben“, kam dann die Antwort.

„Kapier ich nicht“, sagte ich nach kurzer Ober-legung.

„Mich ärgert nicht die Art seiner Wahl“, sprach Wetscherowski bedächtig, als sinniere er laut.

„Aber wozu muss er sich dauernd rechtfertigen? Und nicht bloß das — er versucht auch noch, die anderen auf seine Seite zu ziehen. Er schämt sich, schwach unter Starken zu sein, will, auch die anderen sollen schwach werden. Weil er glaubt, dann wird ihm leichter. Mag ja sein — aber mich macht so ein Standpunkt verrückt.“

Mit offenem Mund hörte ich ihm zu, und als er verstummte, fragte ich vorsichtig:

„Willst du damit sagen, daß Gluchow… daß auch er unter Druck steht?“

„Ja, stand. Jetzt ist er einfach zermalmt.“

„Aber… Aber entschuldige mal!“ Langsam wandte er mir sein Gesicht zu.

„Hast es wohl nicht begriffen?“ fragte er.

„Woher denn auch? Er hat doch gesagt… Ich hab’s selber gehört… Und überhaupt sieht man gleich, der Mann hat nie im Leben… Liegt doch auf der Hand!“

Freilich, jetzt schien es mir schon weit weniger eindeutig, eher umgekehrt.

„Also doch nicht begriffen“, sagte Wetscherowski, mich neugierig musternd.

„Hm… Aber Sachar weiß Bescheid.“ Zum erstenmal an diesem Abend holte er Pfeife und Tabaksbeutel hervor und machte sich in aller Ruhe ans Pfeifestopfen.

„Seltsam, daß du es nicht begriffen hast. Na ja, warst wohl ziemlich durcheinander. Aber denk doch mal nach: Der Mann liebt Krimis, liebt das Fernsehen, gerade heute wird diese banale Serie wieder gesendet… Und auf ein mal verlässt er seinen Lieblingsplatz, rennt zu wild fremden Leuten — wozu? Um sich über sein Kopfweh zu beklagen?“ Er riss ein Streichholz an und entzündete die Pfeife. Ein rotgelbes Flämmchen tanzte in seinen konzentriert blickenden Augen. Honigrauch zog durch den Raum.

„Und außerdem — ich hab ihn gleich wiedererkannt. Nein, nicht gleich… Er hat sich stark verändert. Das war mal ein richtiger Feuerkopf: tatkräftig, laut, giftig. Kein Rousseauismus, kein Tröpfchen Schnaps. Anfangs hat er mir bloß leid getan, doch als er für seine neue Weltanschauung zu werben begann, lief mir die Galle über.“ Er verstummte und widmete sich ganz seiner Pfeife.

Ich krümmte mich zusammen. So sieht es also aus. Einfach zermalmt, der Mann. Am Leben geblieben, aber nicht mehr er selbst. Entartete Materie… Entarteter Geist. Was haben die mit ihm gemacht? Hat es nicht ausgehalten. Zum Donnerwetter, es kann doch auch einen Druck geben, dem kein Mensch standhält.

„Also verurteilst du auch Snegowoi?“ fragte ich.

„Ich verurteile überhaupt niemand“, entgegnete Wetscherowski.

„Wieso denn nicht… Du bist doch wütend… Auf Gluchow.“

„Du hast mich nicht verstanden“, sagte Wetscherowski leicht gereizt.

„Es ist nicht die Entscheidung Gluchows, die mich wütend macht. Was für ein Recht hab ich, mich über die Entscheidung eines Menschen zu ereifern, der völlig allein kämpft, ohne jede Hilfe und Hoffnung. Mich regt sein Verhalten nach der Entscheidung auf. Ich wiederhole: Er schämt sich der getroffenen Wahl und versucht deshalb — nur deshalb? andere zu seinem Glauben zu bekehren. Das heißt, er stärkt die ohnehin unüberwindliche Macht. Begreifst du mich jetzt?“

„Mit dem Verstand — ja.“ Ich wollte noch hinzufügen, daß auch dieses Verhalten Gluchows begreiflich und daher verzeihlich sei, daß Gluchow im Grunde außerhalb jeglicher Analyse und im Bereich der Barmherzigkeit stehe, doch plötzlich fühlte ich, daß ich nicht weiterreden konnte. Es schüttelte mich. Ohne Hilfe und Hoffnung… Ohne Hilfe und Hoffnung… Warum grade ich? Was hab ich denen getan?… Doch das Gespräch musste weitergeführt werden, und so sagte ich, nach jedem Wort die Zähne zusammenbeißend:

„Schließlich und endlich gibt es doch auch einen Druck, dem niemand standhalten kann.“ Wetscherowski antwortete, doch ich vernahm und verstand nichts. Denn plötzlich war mir aufgegangen: Noch gestern war ich ein Mensch gewesen, ein Mitglied der Gesellschaft mit all seinen persönlichen Sorgen und Nöten, und solange ich mich an die von der Gesellschaft geschaffenen Gesetze hielt — und das war gar nicht so schwer, war zur Gewohnheit geworden, solange ich also diese Gesetze befolgte, schützten mich vor allen nur erdenklichen Gefahren die Miliz, die Armee, die Gewerkschaft, die öffentliche Meinung, die Freunde und nicht zuletzt die Familie; doch nun plötzlich hat sich etwas in meiner Umwelt verschoben, und ich sehe mich in eine einsame Grundel verwandelt, die angstvoll in einem Spalt hockt, während ringsum monströse Schemen geistern, die nicht einmal ein zahnbewehrtes Maul brauchen — ein leichter Flossenschlag genügt, und ich bin Staub, bin zermalmt, zerquetscht, bin ein Nichts. Und man hat mir zu verstehen gegeben: Solange du in deinem Spalt hockst, passiert dir nichts. Viel schrecklicher noch: Man hat mich von der Menschheit abgesondert wie ein Schaf von der Herde und schleppt mich fort — unbekannt, wohin und wozu, indes die Herde ahnungslos und seelenruhig ihres Weges zieht und sich immer weiter und weiter entfernt… Wäre es noch eine militante fremde Zivilisation, ein schrecklicher Vernichtungsangriff aus dem Kosmos, aus den Tiefen der Weltmeere, aus der vierten Dimension — um wie vieles leichter hätte ich es! Ich wäre einer von vielen, es fände sich ein Platz, ein Auftrag für mich, ich stünde an der Front! So aber gehe ich vor aller Augen zugrunde, und niemand merkt es, und wenn ich vernichtet, zu Staub zerrieben bin, werden alle erstaunt sein und die Achseln zucken. Gott sei Dank ist Irka nicht hier. Gott sei Dank ist wenigstens sie nicht davon betroffen. Wahnsinn! Wahnsinn! Dummes Zeug! Ich schüttelte aus Leibeskräften den Kopf und riss mich an den Haaren. Und der ganze Teufelsspuk nur, weil ich mich mit diffuser Materie befasse!?

„Offenkundig ja“, sagte Wetscherowski. Entsetzt starrte ich ihn an, doch da merkte ich auch schon, wie mir mein eigenes Gezeter noch in den Ohren gellte.

„Hör mal, Phil, das ist doch völlig absurd!“ sagte ich verzweifelt.

„Stimmt — vom menschlichen Standpunkt aus“, sagte Wetscherowski.

„Aber die Menschen haben ja auch nichts gegen deine Beschäftigung einzuwenden.“

„Wer dann?“

„Schon wieder blüht der Flieder!“ rief Wetscherows-ki, und diese Worte passten so wenig zu ihm, daß ich laut loslachte. Nervös. Hysterisch. Und als Antwort vernahm ich zufriedenes Marsmenschengekoller.

„Hör mal“, sagte ich.

„Der Teufel soll sie alle holen. Komm, wir trinken Tee.“

Ich hatte große Angst, Wetscherowski würde gleich sagen, es sei Zeit für ihn aufzubrechen, morgen müsse er Prüfungen abnehmen, ein Kapitel beenden oder so etwas, jedenfalls fügte ich hastig hinzu:

„Los, komm! Ich hab da noch eine Schachtel Pralinen versteckt. Wozu soll Waingarten auch die noch verdrücken, hab ich gedacht… Los, komm!“

„Mit Vergnügen!“ sagte Wetscherowski und stand bereitwillig auf.

„Weißt du, wenn man dauernd dran denkt“, sagte ich, während wir in die Küche marschierten, ich das Teewasser einfüllte und aufsetzte.

„Wenn man dauernd dran denkt, wird einem stockdunkel vor Augen. Nein, so geht’s nicht, so nicht. Das hat auch Snegowoi fertiggemacht, jetzt wird mir alles klar. Er hat in seiner Wohnung gegluckt, mutterseelenallein, hat alle Lampen angeknipst, aber was hat’s genutzt? Diese Art Dunkel, die kriegt man mit Licht nicht weg. Er grübelt und grübelt, plötzlich macht was im Kopf klick — und es ist aus… Den Humor darf man nicht verlieren — da liegt der Hund begraben! Ist doch auch wirklich komisch: Was für eine Riesenkraft, was für ein Energieaufwand — und alles nur, um einen Mann nicht rauskriegen zu lassen, was passiert, wenn ein Stern in eine Staubwolke gerät. Nein, Tatsache, Phil, denk dich da mal rein! Ist doch lachhaft, nicht?“

Wetscherowski sah mich höchst sonderbar an.

„Weißt du, Dima“, antwortete er.

„Die humorige Seite der Lage ist mir irgendwie nicht aufgegangen.“

„Nein, wirklich… Wenn man sich das ausmalt… Die versammeln sich dort und fangen an zu rechnen: Für die Erforschung der Ringelwürmer — hundert Megawatt, für die Durchsetzung des und des Pro jekts — fünfundsiebzig Gigawatt, um Maljanow zu stoppen — höchstens zehn. Jemand widerspricht: Reicht nicht! Erstens: mit Telefonanrufen weich machen. Zweitens: Kognak plus Frau…“ Ich setzte mich und presste die Hände zwischen den Knien zusammen.

„Nein, sag, was du willst, ich find es komisch.“

„Ja“, stimmte Wetscherowski zu.

„Komisch ist es. Aber nicht sehr. Deine Phantasie, Dima, ist trotz allem bescheiden. Ich staune, wie du überhaupt auf deine Blasen verfallen bist.“

„Was denn für Blasen!“ sagte ich.

„Blasen hat es nie gegeben! Und wird es nie geben. Schlagen Sie mich nicht, Bürger Vorgesetzter, ich hab nichts gesehen und nichts gehört, die Mieze Ninka kann bezeugen, ich bin gar nicht dabei gewesen… Und überhaupt hab ich mein Planthema — IR-Spektro-meter, und alles andre sind intellektuelle Mätzchen, ein Galilei-Komplex.“

Wir schwiegen. Der Teekessel begann leise zu sieden, machte: pff! pff! pff!

„Na gut“, sagte ich.

„Bescheidene Phantasie. Bitte sehr. Aber gib zu: Wenn wir all diese unerfreulichen Details beiseite lassen, ist es verteufelt interessant. Man kommt doch dahin, daß es sie gibt. Da hat man nun soviel gefaselt, rumgerätselt, zusammen geschwindelt… Hat diese blödsinnigen Untertassen ausgedacht, die Terrassen von Baalbek. Und dabei gibt es sie wirklich. Bloß natürlich in ganz andrer Form, als wir sie uns vorgestellt haben. Übrigens war ich schon immer der Meinung, daß sie, wenn sie sich endlich zeigen, so gar nicht all dem gleichen werden, was man über sie zusammengesponnen hat.“

„Wer ist das — sie?“ fragte Wetscherowski wie beiläufig. Er rauchte seine erloschene Pfeife an.

„Die Leute aus dem Kosmos“, erklärte ich.

„Oder, wissenschaftlich ausgedrückt — die Superzivilisation.“

„Ah — ja, ich verstehe, sagte Wetscherowski.

„Wirklich: Dass sie einem Milizmann mit atypischem Verhalten gleichen könnten — darauf ist noch keiner gekommen.“

„Las man“, sagte ich, stand auf und begann, den Teetisch zu decken.

„Meine Phantasie ist bescheiden, aber du hast überhaupt keine.“

„Mag sein“, stimmte Wetscherowski zu.

„Ich bin völlig unfähig, mir etwas vorzustellen, was meiner Meinung nach nicht existiert. Zum Beispiel diesen Feuerstoff, das Phlogiston. Oder auch den Welt raum-Äther… Nein, nein, brüh frischen, bitte. Und mach ihn recht stark.“

„Ja doch, sei unbesorgt“, gnatzte ich.

„Was hast du da vom Phlogiston erzählt?“

„Ans Phlogiston hab ich nie geglaubt. Und an Superzivilisationen auch nicht. Phlogiston, Super zivilisationen — all das ist zu menschlich. Wie bei Baudelaire. Zu menschlich, ergo-animalisch. Nicht von der Vernunft her. Von der Unvernunft.“

„Na erlaube mal!“ sagte ich, die Kanne für den Aufguss in der einen Hand, das Päckchen CeylonTee

in der andern.

„Du warst doch selbst der Ansicht, daß wir es mit einer Superzivilisation zu tun haben.“

„Mitnichten“, erwiderte Wetscherowski unbeirrt.

„Dieser Ansicht wart ihr. Und ich hab mich dessen bedient, um euch den rechten Weg zu weisen.“ Im großen Zimmer schrillte das Telefon. Ich erschrak

und ließ den Deckel von der Teekanne fallen.

„Scheiße“, zischte ich, abwechselnd auf Wetscherowski und die Tür blickend.

„Geh nur, geh“, sagte Wetscherowski ruhig und erhob sich.

„Den Tee gieß ich auf.“

Ich nahm nicht gleich ab, hatte schreckliche Angst.

Ich erwartete keinen Anruf, erst recht nicht um diese Zeit. Ob es der besoffene Waingarten war? Sitzt gottverlassen da… Ich griff nach dem Hörer.

„Ja?“

Der besoffene Waingarten sagte:

„Natürlich ist er noch auf. S-servus, du Opfer der Supervernunft! Wie steht’s?“

„Alles okay.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen.

„Und bei dir?“

„Bombenstimmung!“ teilte Waingarten mit.

„W-waren im As… Ostoria… Austeria (klar?) Haben eine halbe genommen — schien uns zu wenig.

Noch eine halbe… Sind mit den beiden halben los… Mit der ganzen also… Und jetzt fühlen wir uns großartig. Komm doch her!“

„Geht nicht“, sagte ich.

„Ich sitz hier mit Wetscherowski, beim Tee.“

„Wer Tee trinkt, an dem ist Hopfen und Malz verloren“, sagte Waingarten und prustete.

„Na gut. Wenn was ist, ruf an.“

„Ich versteh nicht. Bist du allein, oder ist Sachar da?“

„Wir sind selbst zu dritt“, erwiderte Waingarten.

„Wirklich nett, sag ich dir… Also, wenn was ist, komm her. Bist w-willkommen.“ Er legte auf. Ich ging in die Küche zurück. Wetscherowski schenkte Tee ein.

„Waingarten?“ fragte er.

„Ja. Ist doch erfreulich, daß in diesem Irrenhaus wenigstens etwas beim alten bleibt. Invarianz bei Irrsinn. Hätte nie gedacht, daß der besoffene Waingarten so eine Wohltat sein kann.“

„Was hat er gesagt?“ erkundigte sich Wetscherowski.

„Er hat gesagt: Wer Tee trinkt, an dem ist Hopfen und Malz verloren.“

Wetscherowski kollerte befriedigt. Er mochte Waingarten. Auf seine ganz persönliche Weise, aber er mochte ihn. In seinen Augen war Waingarten ein Enfant terrible — ein großes, verschwitztes, lautes Enfant terrible.

„Wart mal — wo hab ich die Pralinen?“ sagte ich.

„Aha!“

Ich langte in den Kühlschrank und brachte eine protzige Schachtel

„Pique Dame“ zum Vorschein.

„Na, ist das was?“

„Oh!“ sagte Wetscherowski anerkennend. Wir rissen die Schachtel an.

„Ein Gruß von der Superzivilisation“, sagte ich.

„Jawohl! Also — was hast du da vorhin gesagt? Du hast mich völlig aus dem Konzept gebracht… Ach ja! Sogar nach alldem bleibst du dabei, daß…“

„Mhm“, erwiderte Wetscherowski.

„Ich bleibe dabei. Mir war schon immer klar: Superzivilisationen gibt es nicht. Und jetzt, nach alldem — wie du dich ausgedrückt hast, ahne ich auch, weshalb.“

„Moment mal.“ Ich stellte die Tasse hin.

„Weshalb und so weiter — das ist alles Theorie, aber erklär mir bitte eins: Wenn es keine Superzivilisation, keine Leute aus einer andren Welt sind, im weitesten Sinn dieses Wortes — wer ist es dann?“ Ich geriet in Fahrt.

„Weißt du etwas, oder quatschst du bloß dumm und spielst mit Paradoxa? Einer hat sich abgeknallt, aus dem andren hat man eine Qualle gemacht… Was führst du uns dauernd an der Nase rum? Wozu das?“

Nein, sogar ohne Lupe war zu erkennen, daß Wetscherowski weder mit Paradoxa spielte noch uns an der Nase rumführte. Plötzlich wurde sein Gesicht grau und müde, und in seine Züge trat eine bislang sorgfältig getarnte, nun mit Macht durchbrechende Spannung — oder auch Verbissenheit, wilde Entschlossenheit. Er sah sich überhaupt nicht mehr ähnlich. Normalerweise war sein Gesicht schlaff, mit einem Anflug aristokratisch-dekadenter Mattigkeit, doch nun war es wie aus Stein gehauen. Wieder packte mich Entsetzen. Zum erstenmal kam mir der Verdacht, daß Wetscherowski ganz und gar nicht hier saß, um mich moralisch zu stützen. Und ganz und gar nicht deshalb hatte er mich eingeladen, bei ihm zu übernachten, und neulich — bei ihm zu sitzen und zu arbeiten. Trotz meiner großen Angst ver spürte ich plötzlich Mitleid mit ihm, das im Grunde unmotiviert war, lediglich auf unklaren Empfindungen, ja darauf beruhte, wie sehr er sich plötzlich im Gesicht verändert hatte.

Und genauso plötzlich fiel mir ein, daß Wetscherowski vor drei Jahren im Krankenhaus gelegen hatte, allerdings nur kurze Zeit.

17. …eine bis dato unbekannte gutartige Geschwulst. Erst nach einem Jahr. Und ich hatte von alldem überhaupt erst im vorigen Herbst erfahren, obwohl ich ihn jeden Tag, den Gott werden ließ, gesehen, bei ihm Kaffee getrunken, seinem Marsmenschengekoller gelauscht und ihm vorgejammert hatte, daß mich Furunkel plagten. Und nichts, gar nichts hatte mich stutzig gemacht… Jetzt aber, von diesem plötzlichen Mitleid übermannt, ließ ich mich hinreißen und sagte, obwohl ich im voraus wusste, daß es sinn— und zwecklos war:

„Phil“, sagte ich.

„Was ist — stehst du auch unter Druck?“

Natürlich beachtete er meine Frage nicht. Er überhörte sie einfach. Die Spannung wich aus seinem Gesicht, versank erneut in aristokratischer Aufgeblasenheit, die rotblonden Lider glitten über die Augen, und er begann, geräuschvoll an seiner erloschenen Pfeife zu nuckeln.

„Ich führ euch überhaupt nicht an der Nase rum“, sagte er.

„Das tut ihr selber. Ihr habt euch diese Superzivilisation einfallen lassen und wollt partout nicht begreifen, daß das zu simpel ist — moderne Mythologie, nichts weiter.“ Mir sträubten sich die Haare. Noch komplizierter? Also noch schlimmer? Ging denn das überhaupt?

„Du bist doch Astronom“, fuhr er vorwurfsvoll fort.

„Du solltest doch das Grundparadoxon der Xenologie kennen.“

„Kenn ich auch“, sagte ich.

„Jede Zivilisation wird in ihrer Entwicklung mit höchster Wahrscheinlichkeit…“

„Und so weiter…“, unterbrach er mich.

„Die Spuren ihrer Tätigkeit müssten auf jeden Fall zu sehen sein, aber wir sehen keine. Warum nicht? Weil es keine Superzivilisation gibt. Weil es aus irgend einem Grunde nicht zur Umwandlung von Zivilisationen in Superzivilisationen kommt.“

„Ja“, sagte ich.

„Die Vernunft rottet sich in Kern kriegen aus. Alles Quatsch.“

„Natürlich Quatsch“, stimmte er gelassen zu.

„Ebenfalls simpel, zu primitiv, auf die gewohnten Vorstellungen beschränkt…“

„Moment mal“, sagte ich.

„Was brabbelst du dauernd wie ein Papagei: primitiv, primitiv… Natürlich, das mit dem Kernkrieg ist primitiv. In Wirklichkeit mag alles viel komplizierter sein. Genetische Krankheiten, eine Art Lebensmüdigkeit, neue Zielorientierung… Darüber gibt es eine ganze Literatur. Ich zum Beispiel bin der Ansicht, daß die Äußerungen von Superzivilisationen kosmischen Charakter tragen, also einfach von kosmischen Naturerscheinungen nicht zu unterscheiden sind. Oder nimm unsren Fall — ist das etwa keine Äußerung?“

„Menschlich, allzu menschlich“, widersprach Wetscherowski.

„Sie haben konstatiert, daß die Erdbewohner an der Schwelle zum Kosmos angelangt sind, fürchten die Rivalität und haben beschlossen einzuschreiten. So etwa — meinst du?“

„Ja, warum nicht?“

„Weil das ein Roman ist. Vielmehr — eine ganze Literatur in kitschigen Umschlägen. Das alles sind Versuche, einen Kraken in einen Frack zu pferchen. Ja, mehr noch — einen Kraken, den es überhaupt nicht gibt.“

Wetscherowski schob die Tasse weg, legte den Ellbogen auf den Tisch, stützte das Kinn auf die Faust und blickte, die rotblonden Brauen hochgezogen, über mich hinweg ins Leere.

„Sieh mal, wie drollig“, sagte er.

„Vor zwei Stunden waren wir uns scheinbar über alles einig: Unwichtig ist, welche Kraft auf euch einwirkt, wichtig, wie man sich unter Druck zu verhalten hat. Aber ich sehe: du denkst an alles andere, bloß nicht daran. Du versuchst immer wieder, ganz stur, diese Kraft zu identifizieren. Und kehrst genauso stur zu der Hypothese von der Superzivilisation zurück. Du bist sogar bereit, deine eigenen kleinen Einwände gegen diese Hypothese zu vergessen, ja, du hast es schon getan. Im Grunde verstehe ich, warum es dir so geht. Irgendwo in deinem Unterbewusstsein sitzt die Vor stellung, daß jegliche Superzivilisation immerhin eine Zivilisation ist und daß zwei Zivilisationen allemal zu einer Einigung, einem Kompromiss gelangen müssten, so daß im Endeffekt die Wölfe satt sind und die Schafe am Leben bleiben. Na, und schlimmstenfalls: Es ist doch süß, sich dieser zwar feindlichen, doch imposanten Macht zu beugen, es ist edel, einem Feind zu weichen, der den Sieg verdient, und wer weiß, am Ende wird man noch für seine weise Unterwürfigkeit belohnt. Starr mich bitte nicht so an. Ich sage doch: im Unterbewusstsein.

Und nicht nur in deinem. Das ist sehr, sehr menschlich. Von Gott haben wir uns losgesagt, doch auf unseren eigenen Beinen stehen, ohne Stütze, ohne Mythos-Krücken — das können wir noch nicht. Aber wir werden es lernen müssen. Denn in eurer Lage fehlen euch nicht bloß Freunde. Ihr seid so einsam, daß ihr nicht einmal einen Feind habt. Das ist es, was ihr nicht begreifen wollt!“ Wetscherowski verstummte.

Ich versuchte, diese überraschende Rede zu verdauen, Gegenargumente zu finden, zu widerlegen, wutschnaubend zu beweisen — ja, was? Ich wusste es selber nicht. Wetscherowski hatte recht: Einem würdigen Gegner zu weichen ist keine Schande. Das heißt, nicht er denkt so, sondern ich. Das heißt, ich denke erst so, seitdem er es ausgesprochen hat. Aber es stimmt — ich fühle mich wirklich wie der General einer aufgeriebenen Armee, der im Kugel— hagel umherirrt und den General sucht, der ihn

besiegt hat, um ihm den Degen auszuhändigen. Und dabei bedrückt mich weniger die Niederlage als der verfluchte Umstand, daß ich den Gegner partout nicht finden kann.

„Wieso ist kein Feind da?“ fragte ich schließlich.

„Jemand muss doch dahinterstecken!“

„Und wer steckt dahinter“, sagte Wetscherowski gönnerhaft-lässig, „wenn ein Stein in der Nähe der

Erdoberfläche mit einer Beschleunigung von neun einundachtzig fällt?“

„Versteh ich nicht“, sagte ich.

„Aber er fällt doch so?“

„Ja…“

„Und dafür machst du keine Superzivilisation verantwortlich?“

„Na hör mal. Was soll denn…“

„Ja, wer steckt denn nun dahinter, wenn der Stein mit einer solchen Beschleunigung fällt? Wer?“

Ich goss mir Tee ein. Es sah aus, als brauchte ich bloß noch zwei und zwei zu addieren, trotzdem

verstand ich nichts.

„Du meinst, wir haben es mit einer Naturgewalt zu tun? Ja? Mit einer Naturerscheinung?“

„Wenn’s beliebt“, erwiderte Wetscherowski.

„Na weißt du, Freundchen…!“ Ich hob und senkte entgeistert die Hände, stieß mein Glas um, und der ganze Tisch schwamm.

„Scheiße!“

Während ich die Pfütze aufwischte, fuhr Wetscherowski unverändert lässig fort:

„Versuch doch mal, von den Epizykeln loszukommen, versuch, statt der Erde die Sonne in den Mittelpunkt zu stellen — und du merkst gleich, wie einfach alles wird.“

Ich warf den nassen Lappen ins Spülbecken.

„Du hast also deine eigene Hypothese?“ fragte ich.

„Ja, hab ich.“

„Na dann leg sie dar. Übrigens — warum hast du das nicht gleich getan? Als Waingarten noch hier war?“

Wetscherowski bewegte die Brauen.

„Weißt du… Jede neue Hypothese hat den Nachteil, daß sie eine Menge Streit hervorruft. Und zum Streiten hatte ich keine Lust. Ich wollte euch bloß klarmachen, daß ihr vor einer Entscheidung steht und daß ihr diese Entscheidung selber, jeder für sich allein, treffen müsst. Wie ich sehe, ist mir das nicht gelungen. Dabei hätte meine Hypothese ein zusätzliches Argument sein können, weil ihr Sinn… Genauer gesagt, weil die einzige praktische Schluss folgerung aus ihr darin besteht, daß ihr jetzt nicht bloß keine Freunde, sondern nicht einmal einen Feind habt. Wahrscheinlich bin ich falsch vorgegangen. Wahrscheinlich hätte ich mich auf eine zermürbende Diskussion einlassen sollen, dann wäre euch jetzt der Ernst der Lage klar. Meiner Meinung nach verhält sich die Sache so…“ Nicht, daß ich seine Hypothese nicht verstanden hätte, doch ich erfasste sie nicht restlos. Ich kann nicht behaupten, daß sie mich überzeugte, obwohl ich andererseits zugeben muss, daß in ihr alles Platz fand, was wir erlebt hatten. Mehr noch, in ihr fand überhaupt alles Platz, was im Kosmos je geschehen war, geschieht und geschehen würde, und darin, wenn man so will, lag die Schwäche dieser Hypothese. Sie komplizierte die Probleme nur, statt sie zu lösen.

Wetscherowski prägte den Begriff Homöostatisches Weltgebäude (ja, er benutzte dieses altertümliche poetische Wort).

„Das Weltgebäude wahrt seine Struktur“— lautete sein Axiom. Seiner Ansicht nach sind die Gesetze von der Erhaltung der Energie und der Materie bloß Teiläußerungen des Gesetzes von der Erhaltung der Struktur. Das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie widerspricht der Homöostase des Weltgebäudes und ist daher ein partikuläres und kein allgemeines Gesetz. Ergänzung zu diesem Gesetz ist das Gesetz von der unaufhörlichen Reproduktion der Vernunft. In der Kombination x; und im Widerstreit dieser beiden partikulären Gesetze realisiert sich also das allgemeine Gesetz von der Erhaltung der Struktur. Gäbe es nur noch das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie, verlöre das Weltgebäude seine Struktur, träte Chaos ein. Andererseits: Gäbe es nur noch die sich ständig vervollkommnende allmächtige Vernunft oder würde sie auch nur dominieren, so geriete die Struktur des Weltgebäudes ebenfalls ins Wanken. Natürlich würde das Weltgebäude dadurch weder besser noch schlechter werden, sondern einfach nur anders, nicht homöostatisch; denn die sich stetig entwickelnde Vernunft kennt nur ein Ziel: die Natur der Natur zu verändern. Folglich besteht das Wesen der Homöostase des Weltgebäudes in der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen zu nehmender Entropie und der Entwicklung der Vernunft. Folglich gibt es und kann es keine Superzivilisation geben, denn unter Superzivilisation verstehen wir doch gerade eine Vernunft, die so hochentwickelt ist, daß sie das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie in kosmischen Maßstäben zu beeinträchtigen beginnt. Und was jetzt mit uns geschieht, ist nichts weiter als die erste Reaktion des Homöostatischen Weltgebäudes auf die Gefahr, die Menschheit könnte sich in eine Superzivilisation verwandeln. Das Weltgebäude setzt sich zur Wehr. Frag mich nicht, sagte Wetscherowski, wie es kommt, daß gerade Maljanow und Gluchow die ersten Schwalben der heranreifenden Kataklysmen sind. Frag mich nicht nach der physikalischen Beschaffenheit der Signale, die die Homöostase in jenem kosmischen Winkel erschüttert haben, wo ein Gluchow und Maljanow ihre weltbewegenden Entdeckungen betreiben. Überhaupt — frag mich nicht nach den Wirkungsmechanismen des Homöostatischen Weltgebäudes — darüber weiß ich ebensowenig, wie etwa über die Wirkungsmechanismen des Gesetzes von der Erhaltung der Energie bekannt ist. Alle Prozesse verlaufen eben so, daß die Energie erhalten bleibt. Alle Prozesse verlaufen eben so, daß die besagten Arbeiten von Maljanow und Gluchow, mit Millionen und aber Millionen anderer Arbeiten vereint, nicht nach Milliarden Jahren zum Weltuntergang führen. Wobei es natürlich nicht um den Weltuntergang überhaupt geht, sondern um den Untergang jener Welt, die wir heute vor uns haben, die seit Milliarden Jahren existiert und die Maljanow und Gluchow mit ihren mikroskopischen Versuchen, die Entropie zu überwinden, nichtsahnend in Gefahr bringen.

Annähernd so — richtig oder fast richtig oder auch völlig verkehrt — stellte sich mir Wetscherowskis Hypothese dar. Auf einen Streit verzichtete ich. So schon war alles trist, aber unter seinem Blickwinkel sah unsere Lage derart verfahren aus, daß ich einfach nicht wusste, was ich sagen, wie ich mich zu dem Ganzen verhalten und wozu ich überhaupt noch weiterleben sollte. Großer Gott! Maljanow, D. A., kontra Homöostatisches Weltgebäude! Das war ja weniger als eine Blattlaus unterm Ziegelstein. Weniger als ein Virus im Sonnenzentrum…

„Hör mal“, sagte ich.

„Wenn es so ist — wozu, verdammte Scheiße, zerreißen wir uns überhaupt noch die Mäuler. Der Teufel soll sie holen, meine M-Kavernen! Entscheiden, wählen! Wo siehst du denn hier eine Alternative?“ Gemächlich setzte er die Brille ab, massierte mit dem kleinen Finger den rotgedrückten Nasensattel. Lange schwieg er, unerträglich lange. Ich aber wartete. Weil mir mein sechster Sinn verriet: Er kann mich nicht einfach so meinem Schicksal überlassen, seiner Homöostase zum Fraß, das brächte er nie fertig, nie hätte er mir all das erzählt, wenn es nicht einen Ausweg gäbe, eine Möglichkeit, ja eine Alternative, verdammt noch mal! Da beendete er seine Nasenmassage, setzte die Brille wieder auf und sagte still:

„Ich hörte, dieser Weg führe zum Ozean des Todes, und kehrte auf halbem Wege um. Seither dehnen sich vor mir Umwege, öde und krumm…“

„Wie bitte?“

„Soll ich es wiederholen?“ fragte Wetscherowski.

„Ja.“

Er wiederholte. Ich war den Tränen nahe. Rasch stand ich auf, ließ den Teetopf vollaufen und setzte ihn erneut auf die Flamme.

„Wie gut, daß es Tee gibt“, sagte ich.

„Sonst läg ich längst besoffen unterm Tisch.“

„Trotzdem bin ich mehr für Kaffee“, sagte Wetscherowski.

Plötzlich hörte ich, wie jemand in der Wohnungstür den Schlüssel umdrehte. Wahrscheinlich wurde ich weiß wie die Wand, vielleicht sogar grün, jeden falls beugte sich Wetscherowski besorgt zu mir vor und sagte leise:

„Ruhig Blut, Dima… Du bist doch nicht allein.“ Ich hörte ihn kaum.

Draußen im Flur öffnete sich die zweite Tür, Kleider raschelten, schnelle Schritte ertönten, Kaljam stieß einen wilden Schrei aus, und während ich noch wie versteinert dasaß, rief die atemlose Stimme Irkas

„Kaljamchen!“ und gleich hinterher:

„Dimka!“ Hals über Kopf stürzte ich in den Flur. Ich flog Irka um den Hals, drückte sie, schmiegte mich an (Irka! Irka!), spürte das vertraute Parfüm — ihre Wangen waren nass, ihr Gestammel ebenso seltsam wie meins:

„Dimka! Du lebst! Mein Gott… Was hab ich durchgemacht!“

Schließlich besannen wir uns. Zumindest ich. Das heißt, mir wurde endgültig klar, daß es Irka war und was sie stammelte. Und das unbestimmte Entsetzen, das mich lähmte, verwandelte sich in einen ganz konkreten Alltagsschreck. Ich stellte sie vor mich hin, trat einen Schritt zurück, blickte aufmerksam in ihr verweintes Gesicht (sie war nicht mal angemalt) und fragte:

„Was ist los, Irka? Warum bist du hier? Und Bobka?“ Ich glaube, sie hörte mich gar nicht. Sie umklammerte meine beiden Hände, forschte mit tränennassen Augen in meinem Gesicht und wieder holte nur:

„Ich bin bald verrückt geworden… Ich dachte schon, ich komm zu spät… Was ist bloß passiert?“ Die Hände ineinandergeschlungen, zwängten wir uns in die Küche, ich drückte sie sanft auf meinen Hocker, und Wetscherowski goss ihr schweigend den starken Tee aus dem Aufgusskännchen ein. Sie trank mit gierigen Zügen, verschüttete die Hälfte auf ihren Staubmantel. Sie war totenbleich und sah so jämmerlich aus, daß ich sie kaum wieder erkannte: die Augen rotgeweint, das Haar struppig und zerzaust. Da wurden mir die Knie weich, und ich sackte mit dem Rücken ans Spülbecken.

„Ist was mit Bobka?“ fragte ich mit steifer Zunge.

„Bobka?“ echote sie verständnislos.

„Wieso Bobka? Deinetwegen hab ich mich verrückt gemacht… Was ist passiert?“ schrie sie plötzlich.

„Warst du krank?“ Wieder tastete sie mich mit den Blicken ab.

„Du bist doch gesund wie ein Stier!“ Ich merkte, wie mein Unterkiefer abklappte, und schloss den Mund. Völlig unbegreiflich. Wetscherowski fragte betont ruhig:

„Hat man dir was Schlimmes über Dima mitgeteilt?“ Irkas Blick wanderte von mir zu ihm. Dann rannte sie plötzlich in den Flur und kehrte sofort wieder, wobei sie fieberhaft in ihrem Täschchen wühlte.

„Ja, seht nur, was ich bekommen habe… Seht nur…“ Kamm, Lippenstift, Geld, allerlei Zettel und Döschen flogen auf den Fußboden.

„Mein Gott, wo hab ich’s bloß… Aha!“ Sie schleuderte die Tasche auf den Tisch, schob die zitternde Hand in die Manteltasche — die sie nicht gleich fand — und brachte ein zerknülltes Telegramm zum Vorschein.

„Da!“

Ich riss das Telegramm an mich. Überflog es. Kapierte nichts…

SOFORT KOMMEN SNEGOWOI…

Ich überflog es noch mal, las es vor lauter Verzweiflung laut:

„DIMAS BEFINDEN SEHR SCHLECHT SOFORT KOMMEN SNEGOWOI… Wieso Snegowoi?“ fragte ich. „Warum Snegowoi?“

Wetscherowski nahm mir das Telegramm behutsam aus der Hand.

„Heute früh abgeschickt“, sagte er.

„Wann abgeschickt?“ fragte ich laut, als sei ich schwerhörig.

„Heute früh, neun Uhr zweiundzwanzig.“

„Mein Gott! Wie kann er bloß — ob das ein Scherz sein soll?“ sagte Irka…