"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)Neuntes Kapitel18. …als mir. Eine Flugkarte bekam sie natürlich nicht. Mit dem Telegramm fuchtelnd, schlug sie sich zu irgendeinem Chef durch, der schrieb ihr einen Zettel aus, aber was nutzte das: Flugzeuge waren keine auf dem Flugplatz, und als welche kamen, flogen sie ganz woandershin. In ihrer Not stieg sie schließlich in eins, das sie nach Charkow brachte. Dort ging alles von vorn los, zu allem Überfluss goss es in Strömen, und erst gegen Abend kam sie nach Moskau weiter — mit einer Transportmaschine, die Kühlschränke und Särge flog. In Moskau klappte es besser. Aus Domodedowo raste sie nach Scheremetjewo, und von dort aus gelangte sie schließlich in einer Pilotenkabine nach Leningrad. Sie hatte die ganze Zeit nichts gegessen und fast immerzu geheult. Noch im Einschlafen jammerte sie und drohte, gleich morgen früh würde sie zur Post gehen, die Miliz dazuholen und ganz bestimmt rauskriegen, welche Schurken das verbrochen hätten. Selbstverständlich goss ich eifrig Öl ins Feuer: Ja, gewiss, das lassen wir uns nicht gefallen, wer solche Scherze treibt, verdient eins in die Fresse, ach was, der gehört ins Kittchen; natürlich erwähnte ich mit keiner Silbe, daß die Post solche Telegramme nicht ohne entsprechende Bescheinigung annimmt, daß heutzutage solchen Streichen, Gott sei Dank, ein Riegel vorgeschoben ist und daß dieses Telegramm höchstwahrscheinlich überhaupt keinen Absender hat, sondern vom Fernschreiber in Odessa selbsttätig getippt wurde… Schlafen konnte ich nicht. Eigentlich war ja auch schon Morgen. Draußen war es ganz hell. Trotz der zugezogenen Gardine war es auch im Zimmer nicht viel anders. Eine Weile lag ich still, streichelte Kaljam, der sich zwischen uns rekelte, lauschte Irkas leisen, gleichmäßigen Atemzügen. Sie schlief immer sehr fest und ausgesprochen genussvoll. Keine Unannehmlichkeit der Welt konnte ihr den Schlaf rauben. Zumindest bis jetzt… Seitdem ich das Telegramm gelesen hatte, hielt mich eine widerwärtige, qualvolle Starre umfangen. Die Muskeln waren wie verkrampft, in meinem Innern, in der Brust und im Bauch, lag ein riesiger eiskalter Klumpen. Bisweilen drehte sich der Klumpen, und dann befiel mich ein Zittern. Nachdem Irka mitten im Wort verstummt und eingeschlafen war, hatte ich eine kurze Erleichterung verspürt: Ich war nicht allein, ja mehr noch-der mir wohl am nächsten stehende, liebste Mensch war bei mir. Doch da regte sich in meiner Brust die eisige Kröte, und entsetzt dachte ich: Wie tief bin ich gesunken, was haben die aus mir gemacht, daß ich es fertig bringe, mich über Irkas Gegenwart zu freuen, darüber, daß sie hier mit mir ins Trommelfeuer geraten ist. Nein! Niemals! Morgen, gleich morgen hol ich eine Flugkarte! Sie muss nach Odessa zurück… Da können tausend Schlangen stehen, mit Fäusten box ich mich zur Kasse durch… Mein armes Mädel, was hat sie nicht alles durch gemacht, bloß wegen dieser Halunken, wegen mir, wegen dieser beschissenen diffusen Materie, die samt und sonders nicht soviel wert ist wie ein einziges Fältchen in ihrem Gesicht. Jetzt greifen sie auch noch nach ihr. Nicht genug, daß sie mich fertig machen, nein, auch sie muss ran. Wozu? Was wollen die von Irka? Lumpenpack, blindwütiges, hauen um sich wie Amokläufer… Das heißt nein, ihr passiert schon nichts. Die machen bloß mir Angst. Wollen mich kirre kriegen, wenn nicht so, dann eben anders. Auf Biegen und Brechen… Plötzlich stellte ich mir den toten Snegowoi vor: Wie er in seinem riesigen gestreiften Hausanzug den Moskowski entlanggeht, klotzig, kalt, mit einem blutverkrusteten Loch im gigantischen Schädel; die Post betritt und sich am Telegrammschalter anstellt, in der Rechten die Pistole, in der Linken das Telegramm; und keiner merkt was, die Schalterange— stellte nimmt aus seinen toten Fingern das Telegramm, schreibt die Quittung aus und sagt, ohne an die Gebühr zu denken: „Der nächste bitte…“ Ich schüttelte den Kopf, um das Schreckensbild zu verjagen, glitt vorsichtig von der Liege und tappte so, wie ich war, in Turnhosen, zur Küche. Dort war es schon taghell, auf dem Hof tschilpten eifrig die Spatzen, scharrte der Besen des Hauswarts. Ich nahm Irkas Täschchen, fand eine zerdrückte Schachtel mit zwei geknickten Zigaretten, setzte mich an den Tisch und rauchte. Geraucht hatte ich lange nicht mehr. Zwei Jahre nicht, vielleicht sogar drei… Hatte Willenskraft bewiesen. Ja, mein lieber Malja-now. Jetzt wirst du sie brauchen, deine ganze Willenskraft. Scheiße, ich bin ein miserabler Schauspieler, nicht mal richtig lügen kann ich. Aber Irka darf nichts erfahren. Es soll ihr erspart bleiben. Ich muss es allein durchstehen. Helfen kann mir niemand. Wieso denn helfen? besann ich mich plötzlich. Darum geht’s ja gar nicht. Sondern darum, daß ich Irka sowieso nie was von meinen Schwierigkeiten erzähle, wenn’s nicht sein muss. Ich mag ihr keinen Kummer bereiten. Freude bereit ich ihr gern, aber Kummer — nein! Wär nicht dieser ganze Mist — wie gern hätt ich ihr jetzt von meinen Kavernen erzählt, sie würde gleich alles verstehen, sie ist ein kluges Kind, obwohl ihr Theorie nicht liegt und sie dauernd klagt, sie sei dumm… Aber was soll ich ihr jetzt erzählen? Ein Elend ist das… An sich ist Schwierigkeit nicht gleich Schwierigkeit. Es gibt Schwierigkeiten unterschiedlicher Größenordnung. Über die winzigen — über die darf man ruhig klagen, das tut sogar wohl. Irka sagt: Unsinn, was regst du dich auf! und gleich wird einem leichter. Wenn es aber hart kommt, ist es einfach unmännlich, darüber zu reden. Dann erfahren weder Mutter noch Irka etwas. Und schließlich gibt es Schwierigkeiten solchen Kalibers, daß man nicht mehr aus noch ein weiß. Erstens: Ob es mir passt oder nicht — auch Irka ist unter Beschuss geraten. So ein Widersinn, so eine Ungerechtigkeit. Auf mir haut man rum wie auf einer Pauke, aber ich weiß wenigstens, wofür, ahne, wer, und weiß, daß man’s auf mich abgesehen hat. Dass es keine blöden Streiche und Schicksalsschläge sind, sondern gezielte Schüsse. Ich finde, es ist doch besser, man weiß, daß man anvisiert wird. Freilich, die Leute sind verschieden, und die meisten wissen so was lieber nicht. Aber nicht so Irka. Die ist tollkühn, ich kenn sie. Wenn sie vor was Angst hat, rennt sie drauf zu, Hals über Kopf. Irgendwie unanständig von mir, sie nicht ein zuweihen. Und überhaupt. Ich muss mich entscheiden. Bisher hab ich’s vermieden, aber ich komm nicht umhin. Oder hab ich schon entschieden? Weiß es selber nicht und hab schon entschieden… Ja, wenn ich schon zu wählen hab… Angenommen, die Entscheidung als solche geht nur mich was an. Ich tu, was ich für richtig halte. Aber die Folgen? Ent— scheide ich so, beschmeißt man uns nicht bloß mit einfachen, sondern mit Atombomben. Entscheide ich anders… Interessant, ob Irka Gluchow nett fände? Eigentlich ist er doch ein lieber Kerl, so still und bescheiden… Den Fernseher müsste man schon Bobka zuliebe kaufen, sonnabends würden wir Ski laufen, ins Kino gehen… Wie man’s auch dreht — es betrifft nicht bloß mich. Unter Bombenhagel zu sitzen ist mies, doch nach zehn Ehejahren da hinterzukommen, daß man mit einer Qualle lebt — auch kein Zuckerlecken… Und wenn nun doch? Woher weiß ich denn, was Irka an mir liebt? Das ist es ja eben: Ich weiß es nicht! Freilich, sie selber weiß es womöglich auch nicht. Ich rauchte die Zigarette zu Ende, stand vom Hocker auf und steckte den Stummel in den Mülleimer. Neben dem Mülleimer lag ein Personalausweis. Reizend! Alles haben wir aufgehoben, jeden Papierschnipsel, jede Kopeke, bloß den Ausweis nicht! Ich nahm das schwarzgrüne Büchlein und überflog die erste Seite. Wieso, weiß ich selber nicht. Da brach mir der kalte Schweiß aus. Sergejenko, Inna Fjodorowna. Geburtsjahr: 1939… Was ist denn das! Auf dem Bild: Irka… Nein, nicht Irka. Eine Frau, die ihr gleicht, aber nicht Irka. Eine Inna Fjodorowna Sergejenko. Ich legte den Ausweis wie ein rohes Ei auf den Tisch, erhob mich und schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer. Wieder brach mir der kalte Schweiß aus. Die Frau unter dem Laken hatte ein von ledriger Haut straff umspanntes Gesicht und bleckte die Oberzähne, weiß, messerscharf — wie im Lächeln oder vor Schmerz. Eine Hexe! Wie von Sinnen packte ich sie an der nackten Schulter und rüttelte. Irka war sofort wach, riss ihre Kulleraugen auf und wisperte: „Dimotschka, was hast du? Tut dir was weh?“ Herrgott — Irka! Natürlich Irka! Ich seh ja schon Gespenster! „Hab geschnarcht, was?“ murmelte Irka verschlafen und war gleich wieder weg. Ich kehrte auf Zehenspitzen in die Küche zurück, schob den Ausweis möglichst weit weg, holte aus der Schachtel die letzte Zigarette und rauchte wieder. So. So also leben wir jetzt. Werden wir leben. Von jetzt ab. Das eisige Tier in meinem Innern regte sich noch eine Weile und erstarrte. Ich wischte mir den ekligen Schweiß vom Gesicht. Da fiel mir etwas ein, und ich griff wieder in Irkas Tasche. Ihr Ausweis war da. Maljanowa, Irina Jermolajewna. Geburtsjahr: 1933. Zum Verrücktwerden!… Na schön. Aber was hatten die davon? War doch alles kein Zufall. Dieser Ausweis, das Telegramm, Irkas beschwerliche Reise, ja, auch die Särge im Flugzeug — war doch unmöglich Zufall, das alles… Oder doch? Blinde Wut, Mutter Natur, hirnlose Elementargewalt. Bestätigt doch ausgezeichnet Wetscherowskis Hypothese: Schlägt hier wirklich das Homöostatische Weltgebäude eine Mikrorevolte nieder, dann kann es durchaus so aus sehen. Wie wenn ein Mensch mit einem Handtuch Jagd auf eine Fliege macht. Wilde Schläge pfeifen durch die Luft, Vasen fliegen von den Regalen, die Stehlampe kippt um, harmlose Nachtfalter gehen drauf, die Katze, auf die Pfote getreten, flitzt mit steilem Schwanz unter die Couch… Geballtes, schlecht gezieltes Vorgehen. Was weiß ich denn schon? Vielleicht stürzt grade jetzt hinter Murinski Rutschej ein Haus ein: Gezielt war auf mich, getroffen wurde das Haus, und ich krieg es nicht mal mit, hab nur diesen Ausweis abbekommen. Und alles bloß deshalb, weil ich vorhin an die M-Kavernen gedacht hab? Mir vorgestellt habe, ich könnte Irka davon erzählen… Nein, so kann ich bestimmt nicht leben. Ich glaub nicht, daß ich ein Feigling bin, aber so leben: keinen Moment Ruhe, vor der eigenen Frau erschrecken, weil man sie für eine Hexe hält… Ja, und Wetscherowski — Gluchow schneidet er einfach. Genauso wird er mich schneiden. Ich werde mich völlig umstellen müssen. Alles wird anders sein. Andre Freunde, andre Arbeit, andres Leben… Eine andre Familie vielleicht auch… Seither dehnen sich vor mir Umwege, öde und krumm… Und schämen werd ich mich, morgens beim Rasieren in den Spiegel zu blicken. Dort wird ein ganz kleiner, ganz stiller Maljanow sein. Natürlich, auch daran gewöhnt man sich — wie wohl an alles auf der Welt. Auch an jeden Verlust. Aber wenn man bedenkt — ich verlier doch nicht wenig! Zehn Jahre hab ich dafür gearbeitet. Nein, nicht bloß zehn Jahre — das ganze Leben lang. Von Kind an, seit dem Schulzirkel, seit den selbstgebastelten Teleskopen, seit der Berechnung der Wolf schen Zahlen nach irgendwessen Beobachtungen… Meine M-Kavernen — eigentlich weiß ich nichts über sie: was sie hergäben, was jene draus machen könnten, die das Problem nach mir aufgreifen, entwickeln, bereichern, weiterüberliefern, ans nächste Jahrhundert… Anscheinend käme Beachtliches heraus, verliere ich Beachtliches, wenn es der Keim von Erschütterungen ist, gegen die das Weltall selbst aufbegehrt. Milliarden Jahre sind eine lange Frist. In Milliarden Jahren wächst aus einem Schleimklumpen eine Zivilisation… Aber sie zertreten mich. Zuerst vergällen sie mir das Leben, piesacken mich, treiben mich zum Wahn sinn, und wenn das nichts nützt — zertreten sie mich einfach… Ach herrje! Sechs Uhr. Die Sonne brennt schon wieder. Und da — für mich selber unerklärlich — verzog sich das kalte Tier aus meiner Brust. Ich stand auf, ging ruhig ins Zimmer hinüber, holte aus dem Schreibtisch meinen Papierkram und nahm den Kuli. In die Küche zurückgekehrt, legte ich alles hin, setzte mich und begann zu arbeiten. Richtig denken konnte ich natürlich nicht, mein Kopf war wie mit Watte ausgestopft, die Augenlider brannten, aber ich sichtete aufmerksam und gewissenhaft die Entwürfe, sortierte aus, was ich nicht mehr brauchte, ordnete das übrige, nahm mein großes Heft und fing an, alles ins reine zu schreiben — ohne Hast, genüßlich, wobei ich exakt und sorgfältig die Worte wählte. Viele mögen diese Arbeitsphase nicht — ich ja. Mir macht es Spaß, an der Sprache zu feilen, gemächlich und mit Gefühl nach den schönsten und treffendsten Ausdrücken zu suchen, die Fehler rauszufischen, die sich in die Rohfassung eingeschlichen haben, Diagramme zu zeichnen, Tabellen anzulegen. Das ist die edle Alltagsarbeit des Wissenschaftlers — da zieht er Bilanz, da hat er Gelegenheit, sich an sich selber und am Werk seiner Hände zu freuen. Und ich freute mich an mir selber und am Werk meiner Hände, bis plötzlich Irka neben mir erschien: mir den nackten Arm um den Hals schlang, ihre warme Wange an meine schmiegte. „Ja?“ sagte ich und richtete mich auf. Das war meine altvertraute Irka, ganz und gar nicht mehr das Häufchen Unglück von gestern. Rosig, frisch, klaräugig und vergnügt — so stand sie neben mir. Meine Lerche. Ja, Irka ist eine Lerche. Ich bin eine Eule, und sie ist eine Lerche. So eine Klas sifizierung gibt es, hab ich mal gehört. Lerchen gehen früh zu Bett, schlafen leicht und gern ein, wachen ebenso leicht und gern auf und fangen gleich zu singen an, und keine Kalamität der Welt kann sie zwingen, etwa bis Mittag im Bett rumzulungern. „Du hast wohl wieder gar nicht geschlafen?“ fragte sie und trat, ohne meine Antwort abzuwarten, an die Balkontür. „Was ist denn da für ein Volksgemurmel?“ Erst da vernahm ich vom Hof her ein ungewöhnliches Stimmengewirr — in der Art, wie es bei Verkehrsunfällen herrscht, wenn die Miliz bereits erschienen und der Krankenwagen noch unterwegs ist. „Dimka!“ rief Irka. „Sieh nur! Ein Wunder!“ Mir stockte das Herz. Diese Wunder kannte ich. Ich sprang auf… 19. …Kaffee trinken. Und da verkündete Irka frohgemut, alles sei herrlich und wunderschön. Letzten Endes wende sich doch immer alles auf der Welt zum Guten. Die zehn Tage in Odessa hätten ihr dicke gereicht, in diesem Sommer sei dort so viel Trubel wie noch nie, und überhaupt habe sie sich heimgesehnt und denke gar nicht daran, nach Odessa zurückzukehren, zumal es bestimmt keine Flugkarten gebe und Mamachen sowieso Ende August auf Besuch kommen wolle und dann Bobka mitbringen könne. Jetzt werde sie, Irka, wieder arbeiten gehen, und zwar gleich nach dem Kaffeetrinken — und in Urlaub fahren wir zusammen, wie wir schon mal vorhatten, im März oder April: nach Kirowsk, in die Berge zum Wintersport. Wir wollten Rührei mit Tomaten essen. Während ich das Rührei briet, durchstöberte Irka die ganze Wohnung nach Zigaretten, fand jedoch nichts, ließ plötzlich die Nase hängen, machte uns noch Kaffee und fragte, wie es mit Snegowoi gewesen war. Ich erzählte ihr, was ich von Igor Petrowitsch erfahren hatte, wobei ich geflissentlich alle Klippen mied und die Geschichte als einen ausgesprochenen Unglücks fall hinzustellen bemüht war. Beim Erzählen fiel mir die entzückende Lidotschka ein, und um ein Haar hätte ich mich verplappert. Irka redete über Snegowoi, erinnerte sich an was, zog betrübt die Mundwinkel runter (…„jetzt hat man nicht mal jemand, bei dem man ein Stäbchen schnorren kann!“), ich aber trank in kleinen Schlucken den Kaffee und war nicht einig mit mir, was ich tun sollte: Solange ich Irka nicht alles durch die Bank erzählte, schien mir auch nicht ratsam, das Gespräch auf Lidotschka und den Bestelldienst zu bringen; denn die Sache mit Lidotschka und dem Bestelldienst war restlos unklar — vielmehr, restlos klar: So viel Zeit war vergangen, und Irka hatte weder die Freundin noch ihre Bestellung auch nur mit einem Wort erwähnt. Natürlich konnte es ihr entfallen sein. Erstens — die Riesenaufregung, zweitens vergisst sie überhaupt immer alles. Trotzdem war es besser — sicher ist sicher — die verfänglichen Themen zu meiden. Das heißt einen kleinen Probeball zu starten konnte vielleicht nicht schaden. Ich passte einen günstigen Moment ab — als nämlich Irka von Snegowoi abkam und zu erfreulicheren Dingen überging: wie Bobka in den Graben gepurzelt war und die Schwiegermutter gleich hinterher — und fragte beiläufig: „Na, und was macht deine Lidotschka?“ Mein kleiner Probeball entpuppte sich als ein ziemlich schweres Geschoss. Irka machte große Augen. „Was denn für eine Lidotschka?“ „Na die… Mit der du zur Schule gegangen bist.“ „Ah, die Ponomarjowa? Wie kommst du denn auf die?“ „Bloß so“, stammelte ich. „Rein zufällig.“ Solche Gegenfrage hatte ich nicht einkalkuliert. „Odessa, Panzerkreuzer ›Potjomkin‹… Die Fischerkähne mit Äschen… Da ist sie mir eben eingefallen. Was ist denn dabei?“ Irka, die kein Auge von mir wandte, klapperte ein paarmal mit den Lidern und sagte schließlich: „Wir haben uns getroffen. Hübsch ist sie geworden, die Männer laufen ihr nach.“ Eine Pause trat ein. Verdammt, wie ich die Schwindelei hasse! Ein feines Probebällchen! Ein Selbsttor. Unter Irkas prüfenden Blicken stellte ich die leere Tasse auf die Untertasse, sagte mit falscher Stimme: „Was macht denn unser Baum?“, trat an die Balkontür und blickte hinaus. Na gut, Schwamm drüber, mit Lidotschka war jetzt alles klar, ein für allemal. Aber unser Baum, was machte der? Der Baum war noch da. Die Menge hatte sich gelichtet. Eigentlich standen am Baum nur noch Karo, zwei Hauswarte, ein Mann vom Tiefbauamt und zwei Milizionäre. Sowie ein gelber Streifen wagen. Alle, außer dem Wagen natürlich, schauten auf den Baum und tauschten sich offenbar darüber aus, wie man sich verhalten und was das alles bedeuten sollte. Einer von den Milizmännern nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Taschentuch den rasierten Schädel. Auf dem Hof war es schon ziemlich heiß, und zu den üblichen Gerüchen nach Asphalt, Staub und Benzin hatte sich ein eigenartiger neuer gesellt — Waldduft. Der rasierte Milizmann setzte plötzlich seine Mütze wieder auf, steckte das Taschentuch weg, hockte sich hin und polkte mit dem Finger in der aufgewühlten Erde. Rasch trat ich vom Balkon zurück. Irka war schon im Bad. Schnell räumte ich den Tisch ab und spülte das Geschirr. Ich war todmüde, wusste aber: Einschlafen konnte ich jetzt sowieso nicht. Wahrscheinlich würde ich überhaupt nicht mehr schlafen können, bevor diese Geschichte nicht ausgestanden war. Ich rief bei Wetscherowski an. Erst als es tutete, fiel mir ein, daß er ja gar nicht zu Hause sein konnte, er musste rigorosa abnehmen, doch ehe ich zu Ende gedacht hatte, meldete er sich. „Du bist zu Hause?“ fragte ich blöd. „Ja, wie soll ich dir das erklären…“, antwortete er. „Schon gut“, sagte ich. „Hast du den Baum gesehen?“ „Ja.“ „Na und?“ „Ganz bestimmt“, erwiderte Wetscherowski. Ich schielte zum Bad und sagte halblaut: „Ich glaub, das war ich.“ „Meinst du?“ „Mhm. Ich hab die Reinschrift gemacht.“ „Hast du’s geschafft?“ „Nicht ganz. Gleich setz ich mich hin und mach weiter.“ Wetscherowski schwieg. „Und warum?“ fragte er dann. Ich geriet ins Stammeln. „Ich weiß nicht… Plötzlich bekam ich Lust, Ordnung reinzubringen. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich vor Kummer. Ist doch schade. Und du, gehst du heute nicht weg?“ „Sieht nicht so aus. Was macht Irka?“ „Zwitschert“, sagte ich und musste unwillkürlich lächeln. „Du kennst doch Irka. Von der prallt alles ab.“ „Hast du’s ihr erzählt?“ „Wo denkst du hin! Natürlich nicht.“ „Warum — „natürlich“?“ Ich räusperte mich. „Weißt du, Phil, ich schwanke ja selber: Soll ich’s ihr sagen oder nicht? Ich komm einfach zu keinem Schluss.“ „Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu nichts“, sagte Wetscherowski. Ich wollte antworten, so klug sei ich selber, doch da stellte Irka im Bad die Dusche ab, und ich sagte hastig: „Also, mach’s gut, ich geh an die Arbeit. Wenn was ist, ruf an, ich bin zu Hause.“ Irka zog sich an, schminkte sich, gab mir einen Schmatz auf die Nase und hüpfte davon. Ich packte mich bäuchlings auf die Liege, die Hände unter dem Kopf, und begann nachzudenken. Sofort erschien Kaljam, erkletterte mich und machte sich auf meinem Rücken lang. Er war weich, heiß und feucht. Und da schlief ich ein. Es war wie eine Ohnmacht. Das Bewusstsein schwand und stellte sich plötzlich wieder ein. Kaljam lag nicht mehr auf meinem Rücken, an der Tür klingelte es. Unser verabredetes Zeichen: kling ling-ling ling-ling. Ich rollte mich von der Liege. Mein Kopf war klar, ich fühlte mich ungewöhnlich kampflustig. Bereit zum ruhmreichen Tod. Ich begriff: Eine neue Runde begann. Aber Angst empfand ich nicht mehr, nur noch wilde Entschlossenheit. Allerdings stand draußen lediglich Waingarten. Nicht zu fassen — noch verschwitzter, zerzauster, glotzäugiger und aufgelöster als gestern. „Was ist das für ein Baum?“ erkundigte er sich gleich von der Schwelle aus, und zwar im Flüsterton, was ebenfalls unfasslich war. „Du kannst ruhig laut reden“, sagte ich. „Komm rein.“ Vorsichtig, nach allen Seiten schielend, trat er ein, stellte zwei schwere Einkaufsnetze mit gewaltigen Manuskriptmappen unter die Flurgarderobe und wischte sich mit der nassen Hand den nassen Hals. Ich zog Kaljam am Schwanz in den Wohnungsflur und schloss die Tür. „Na?“ fragte Waingarten. „Siehst ja“, erwiderte ich. „Komm ins Zimmer.“ „Der Baum da — hast du den zerbrochen?“ „Ja.“ Wir setzten uns, ich an den Tisch, er in den Sessel daneben. Aus seinem unten aufgeknöpften Nylonjäckchen quoll sein riesiger, behaarter Bauch vor, schlecht und recht durch ein Netzhemd verhüllt. Er ächzte und pustete, wischte sich trocken und voll führte im Sitzen allerlei Verrenkungen, um aus der Gesäßtasche Zigaretten zu angeln. Dabei brubbelte er schwärzeste Flüche, die niemand Bestimmtem galten. „Wir kämpfen also mutig weiter“, sagte er, als endlich dicker Rauch aus seinen behaarten Nasen löchern quoll. „Besser stehend zu sterben — tam ta-ram, als auf den Knien zu leben. Idiot!“ geiferte er. „Bist du wenigstens unten gewesen? Du Schlaf sack auf Beinen! Hast du dir wenigstens angesehen, wie er aus dem Boden geschossen ist? Das ist ja eine Explosion gewesen. Und wenn’s unter deinem Arsch gekracht hätte? Ta-ra-ta-ta und tam-to-ram!“ „Was brüllst du?“ sagte ich. „Soll ich dir Baldrian geben?“ „Wodka hast du nicht?“ „Nein.“ „Na dann Wein.“ „Alles alle. Was hast du mir da gebracht?“ „Meinen Nobelpreis!“ jaulte er. „Meinen Nobelpreis bring ich! Aber nicht dir, du Idiot. Du hast selber genug am Hals!“ Wie ein Wilder begann er, sein Jäckchen auch oben aufzuknöpfen, riss einen Knopf ab und fluchte. „Idioten gibt’s heute kaum noch“, erklärte er. „Die Mehrzahl denkt mit Recht, es ist besser, reich und gesund zu sein als arm und krank. Was brauchen wir schon viel: einen Waggon Brot, einen Waggon Kaviar, von mir aus schwarzen zu Weißbrot. Das neunzehnte Jahrhundert ist vor bei, Vater“, sagte er inbrünstig. „Es ist längst tot und begraben, und alles, was noch übrig ist, sind Mias men, Vater, nur Miasmen. Ich hab kein Auge zugetan, die ganze Nacht. Sachar schnarcht, sein grauslicher Bengel schnarcht, bloß ich lieg wach, mach Schluss mit den Resten des neunzehnten Jahrhunderts in meinem Kopf. Zwanzigstes Jahrhundert, Alter, heißt Berechnung und keinerlei Emotionen! Emotionen sind bekanntlich ein Mangel an Information, nichts weiter. Stolz, Ehre, Nachfahren — alles adliges Gewäsch. Athos, Porthos und Aramis. Ich kann es nicht. Ich nicht — tam-ta-ra-tam! Werte? Bitte sehr. Das Kostbarste auf der Welt ist meine eigene Person, sind meine Familie und meine Freunde. Alles andre kann mir gestohlen bleiben. Für das andre bin ich nicht verantwortlich. Mich schlagen? Wenn’s sein muss. Für mich. Für meine Familie, die Freunde. Bis aufs Blut. Aber für die Menschheit? Die Würde des Erdbewohners? Das galaktische Prestige? Für Worte schlag ich mich nicht! Da hab ich Wichtigeres zu tun! Mach du doch, was du willst. Aber hör lieber auf mich: Sei kein Idiot!“ Er sprang auf und segelte, gewaltig wie ein Luft schiff, in die Küche. Aus dem Hahn über dem Spülbecken schoss brausend Wasser. „Unser ganzes Arbeitsleben“, brüllte er aus der Küche, „ist eine einzige Kette von Abmachungen! Man muss ja ein Vollidiot sein, um unvorteilhafte Abmachungen zu treffen! Das hat man schon im neunzehnten Jahrhundert gewusst..“ Er brach ab, ich hörte, wie er glucksend schluckte. Dann verstummte der Wasserhahn, und Waingarten kam zurück, wischte sich den Mund. „Von Wetscherowski darfst du keinen Rat erwarten“, belehrte er mich. „Das ist kein Mensch — das ist ein Roboter. Und nicht mal ein Roboter aus dem einundzwanzigsten Jahr hundert, nein, aus dem neunzehnten. Wenn man im neunzehnten Jahrhundert Roboter zu bauen verstanden hätte, wären es solche Wetscherowskis geworden… Von mir aus haltet mich für einen Hundsfott. Ich hab nichts dagegen. Aber abmurksen las ich mich nicht! Von keinem. Und um nichts in der Welt. Ein lebendiger Köter taugt mehr als ein toter Löwe, und erst recht taugt ein lebendiger Waingarten mehr als ein toter Waingarten. Das ist Waingartens Stand punkt und auch der seiner Familie und seiner Freunde, wie ich annehmen darf…“ Ich ließ ihn ausreden. Ich kenne ihn, diesen Brüllaffen, ein Vierteljahrhundert, und zwar ein Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts. Er zetert so, weil er alles in Fächer verteilt hat. Sinnlos, ihm jetzt in die Parade zu fahren — er hört ja doch nicht hin. Solange Waingarten noch nicht die richtigen Fächer für alles gefunden hat, kann man mir ihm ganz normal, gleich mit gleich, streiten, ja ihn sogar leicht umstimmen. Aber ein Waingarten, der mit dem Sortieren fertig ist, verwandelt sich in ein Tonband. Er brüllt und wird ekelhaft zynisch — das ist wohl ein Relikt aus seiner schweren Kindheit. Also schwieg ich still, wartete, bis das Band abgelaufen war, und nur eins fiel mir auf: daß er zu oft von den lebendigen und den toten Waingartens sprach. Angst traute ich ihm nicht zu, er war ja nicht ich. Ich hatte Waingarten in den verschiedensten Ausführungen erlebt: Waingarten verliebt, Waingarten als Jäger, Waingarten als grober Flegel, Waingarten, grün und blau geprügelt. Nur einen Waingarten kannte ich noch nicht — den erschrok-kenen. Ich wartete ab, bis er eine Schaltpause machte und in seine Zigarettenschachtel grapschte. „Sag mal — du hast dich wohl einschüchtern lassen?“ fragte ich, um mir Gewissheit zu verschaffen. Ungesäumt legte er die Zigarettenschachtel hin und hielt mir über dem Tisch eine riesige nasse Faust mit durchgestecktem Daumen unter die Nase. Auf diese Frage schien er nur gelauert zu haben. Die Antwort war auf seinem Tonband parat, nicht nur gestisch, sondern auch verbal. „Nicht soviel hat man mich eingeschüchtert!“ sagte er und fuhrwerkte mit seiner Faust vor meiner Nase rum. „Wir leben doch nicht im neun zehnten Jahrhundert. Eingeschüchtert hat man im neunzehnten. Im zwanzigsten macht man so einen Blödsinn nicht. Im zwanzigsten wird gute Ware gekauft. Nicht eingeschüchtert — gekauft hat man mich! Kapiert, altes Haus? Ist doch eine Alternative! Entweder man frikassiert dich, oder du kriegst ein schönes neues Institut, um dessentwillen sich schon zwei korrespondierende Mitglieder die Gurgeln durchgebissen haben. In diesem Institut bau ich dir zehn Nobelpreise, kapiert? Freilich, auch die Ware ist gediegen. Das Recht der Erstgeburt, sozusagen. Waingartens Recht auf die Freiheit wissenschaftlicher Neugier. Keine schlechte Ware, Alter, keine schlechte, musst du zugeben! Aber ein Ladenhüter! Aus dem neunzehnten Jahrhundert! Im zwanzigsten hat sowieso kein Mensch diese Freiheit. Mit dieser Freiheit kannst du dein Lebtag als Laborant versauern und Reagenzgläser putzen. So ein Institut ist kein Linsengericht! Ich setz dort zehn, ja zwanzig Ideen an, und wenn ihnen die eine oder andre wieder nicht passt — na dann feilschen wir eben wieder! Gewalt knickt den Halm, Alter! Spucken wir lieber nicht in den Wind. Wenn ein Panzer auf dich zurollt und du hast bloß deinen Kopf als Waffe, dann musst du zusehen, daß du rechtzeitig wegspringst…“ Er brüllte noch eine ganze Weile, rauchte, hustete krächzend, sprang zur leeren Bar und guckte rein, sprang enttäuscht zurück und brüllte weiter, wurde dann still, beruhigte sich, fläzte sich in den Sessel, blickte, den dickschnauzigen Kopf zurückgelehnt, an die Decke und schnitt beängstigende Fratzen. „Na schön“, sagte ich. „Aber deinen Nobelpreis, wohin schleppst du den? Du musst doch ins Kesselhaus, bist aber zu mir in den fünften Stock rauf.“ „Zu Wetscherowski“, antwortete er. Ich war platt. „Was soll denn der damit?“ „Weiß nicht. Frag ihn selber.“ „Moment mal“, sagte ich. „Hat er dich etwa angerufen?“ „Nein, ich ihn.“ „Na und?“ „Was — na und?“ Er kam im Sessel hoch und knöpfte sein Jäckchen zu. „Ich hab ihn heute früh angerufen und ihm gesagt, daß ich die Taube in der Hand vorziehe.“ „Na und?“ „Was — na und? Da hat er zu mir gesagt: Bring, hat er gesagt, dein ganzes Material zu mir.“ Wir schwiegen. „Ich versteh nicht, was er mit deinem Material will“, sagte ich. „Ein Don Quichotte ist er!“ bellte Waingarten. „Hat noch keine Federn lassen müssen! Hat noch nie Blut geschwitzt!“ Plötzlich begriff ich. „Hör mal, Valka“, sagte ich. „Tu das nicht. Hol ihn der Teufel — er ist übergeschnappt! Sie machen Hackfleisch aus ihm! Wozu das?“ „Ja, aber was dann?“ fragte Waingarten begierig. „Was dann?“ „Verbrenn sie doch, in drei Teufels Namen, diese deine Revertase! Komm, wir machen’s gleich. In der Badewanne… Na, was ist?“ „Leid tut’s mir drum“, sagte Waingarten und wandte den Blick ab. „Bis zum Gehtnichtmehr… Ist doch erste Klasse, die Arbeit. Exquisit. De luxe.“ Betroffen schwieg ich. Er jedoch schoss wieder aus dem Sessel tigerte durchs Zimmer, in den Flur raus und zurück, und ließ wieder sein Tonband laufen. Man schämt sich — jawohl! Ist in seiner Ehre gekränkt — jawohl! Im Stolz verletzt. Erst recht, wenn man’s für sich behält. Aber Stolz — was ist das schon? Glatte Idiotie. Einfach zum Kotzen. Die meisten Leute, die allermeisten würden an unserer Stelle keine Sekunde schwanken. Und uns Idioten nennen. Völlig zu Recht. Was denn — haben wir noch nie einen Rückzug angetreten? Und ob! Tausendmal! Und tausendmal werden wir’s noch müssen! Und keinesfalls vor Göttern — nein, vor einer schäbigen Beamtenseele, vor einer Laus, an der man keinen Nagel schmutzig machen möchte… Da langte es mir, daß er dauernd vor mir rumrannte, schwitzte und sich rechtfertigte, und ich sagte, Rückzug antreten, bitte sehr, aber er trete ja keinen Rückzug an, er kneife, kapituliere. Na, da ging er erst hoch! Der Schlag saß. Aber mir tat es kein bisschen leid. Weil ich nicht ihm auf den Hauptnerv geschlagen hatte, sondern mir selbst… Kurzum, wir verzankten uns, und Waingarten zog ab. Nahm seine Netze und ging zu Wetscherowski. Auf der Schwelle sagte er, er käme später wieder, doch da eröffnete ich ihm, Irka sei zurück, und er verzagte vollends. Er mag es nicht, wenn man ihn nicht mag. Ich setzte mich an den Tisch, holte wieder meine Blätter raus und begann zu arbeiten. Das heißt: Natürlich nicht zu arbeiten, sondern zu ordnen und zu formulieren. Anfangs wartete ich bloß darauf, daß eine Bombe unter meinem Tisch explodierte oder eine blaue Visage mit einem Strick um den Hals ins Fenster guckte. Aber nichts dergleichen geschah, ich vertiefte mich in meine Beschäftigung — doch schon läutete es wieder an der Tür. Ich öffnete nicht sofort. Zuerst ging ich in die Küche und holte den Fleischklopfer — so ein grusliges Ding mit Zacken an der einen und einem Beilchen an der anderen Seite. Wenn mir einer was will — peng! vor den Dez und Sense. Ich bin ein friedfertiger Mensch, mag weder Streit noch Prügeleien wie Waingarten, aber jetzt reicht’s. Endgültig. Ich öffnete. Draußen stand Sachar. „Tag, Dimka, bitte nicht böse sein“, sagte er über trieben familiär. Unwillkürlich glitt mein Blick tiefer. Aber sonst stand keiner da. Sachar war allein. „Bitte, bitte. Treten Sie näher“, sagte ich. „Ist ja nett.“ „Wissen Sie, ich komm bloß mal so“, fuhr er im selben gekünstelten Ton fort, der so gar nicht zu seinem verklemmten Lächeln und seiner überaus intelligenten Gesamterscheinung passte. „Kann Waingarten nicht auftreiben, weiß der Teufel, wo er steckt… Den ganzen Tag ruf ich bei ihm an — keiner da. Jetzt geh ich zu Philipp… äh… Palytsch, und da denk ich: Willst doch mal schauen, vielleicht ist er bei Ihnen…“ „Wer? Philipp Pawlowitsch?“ „Nein, Valentin… Waingarten.“ „Der ist auch zu Philipp Pawlowitsch gegangen“, sagte ich. „Ach so ist das!“ rief Sachar, hocherfreut. „Ist das lange her?“ „Eine Stunde etwa.“ Plötzlich wurde sein Gesicht starr — er hatte den Fleischklopfer entdeckt. „Sie machen wohl Mittag?“ säuselte er und fügte, ohne meine Antwort abzuwarten, eilends hinzu: „Na ja, dann will ich Sie nicht länger stören…“ Er schob sich zur Tür, hielt inne. „Ach, hab doch vergessen… Das heißt, nicht vergessen, ich weiß einfach nicht, wo… in welcher Wohnung Philipp Palytsch wohnt.“ Ich sagte es ihm. „Aha, gut… Wo er mich doch angerufen hat, wissen Sie, und ich hab vergessen… Über dem Gespräch…“ Er wich noch einen Schritt zurück und klinkte die Tür auf. „Na klar, kann passieren“, sagte ich. „Und wo ist Ihr junge?“ „Hab’s hinter mir! Alles!“ rief er glücklich aus, setzte den Fuß über die Schwelle und… |
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