"Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang" - читать интересную книгу автора (Strugazki Arkadi, Strugazki Boris)

Zehntes Kapitel

20. …mich zum Großreinemachen dieses Schweinestalls zu bewegen. Mit knapper Not wimmelte ich sie ab. Wir kamen überein, daß ich mich hinsetzen und meine Arbeit beenden würde, Irka hingegen, wenn sie es partout nicht aushielt, wenn sie partout nichts mit sich anzufangen wusste und völlig außerstande war, sich mit der neuesten

„Ausländischen Literatur“ in der Badewanne zu aalen — Irka sollte die Wäsche sortieren und sich mit Bobkas Zimmer befassen. Ich wollte das große Zimmer übernehmen, allerdings morgen, morgen, nur nicht heute. Dann aber so, daß es glänzte und blitzte.

Ich ließ mich an meinem Tisch nieder, und eine Zeitlang blieb alles still und ruhig. Ich arbeitete, arbeitete mit Vergnügen, ja mit unwahrscheinlichem Vergnügen. Etwas Ähnliches hatte ich früher nie empfunden. Mich beseelte eine seltsame, finstere Genugtuung, ich schwelgte in Stolz und Selbstachtung. Mir schien, so müsse sich ein Soldat fühlen, der mit seinem MG zurückbleibt, um den Rückzug der Kameraden zu decken: Er ist allein, weiß, daß er hier nicht mehr wegkommt, daß er nie mehr etwas sehen wird außer diesem dreckigen Feld, den anrückenden Gestalten in fremden Uniformen und dem niedrigen, trüben Himmel, und er weiß auch, daß es so richtig ist, daß es anders nicht geht, und ist stolz. Und während ich arbeitete, saß ein Wachposten in meinem Gehirn und beobachtete hellhörig und luchsäugig alles ringsum, wohl wissend, daß nichts über standen war, daß alles weiterging und im Schubfach griffbereit das furchterregende Hämmerchen mit den Zacken und der Beilschneide lag. Und in einem bestimmten Moment ließ mich dieser Wächter den Kopf heben, weil im Zimmer etwas passiert war. Passiert war eigentlich nichts Besonderes: Vor dem Tisch stand Irka und sah mich stumm an. Indes musste zweifellos etwas passiert sein; etwas völlig Abwegiges und Ungeheuerliches, denn Irkas Augen waren quadratisch und ihre Lippen geschwollen. Ehe ich einen Ton sagen konnte, feuerte mir Irka einen rosa Fetzen vor die Nase, mitten auf meine Arbeit, und ich nahm ihn automatisch in die Hand und stellte fest, daß es ein Büstenhalter war.

„Was ist das?“ fragte ich, völlig verdattert, während ich abwechselnd auf Irka und den BH blickte.

„Ein Büstenhalter“, sagte Irka mit entstellter Stimme, kehrte mir den Rücken zu und entschwand in die Küche. Von schrecklichen Vorahnungen durchschauert, drehte ich das Stückchen rosa Spitze in den Händen und begriff nichts. Verdammt, was wird hier gespielt?

Was soll der BH? Plötzlich fielen mir die verhexten Frauen ein, die über Sachar hergefallen waren. Angst um Irka packte mich. Ich warf den BH hin, sprang auf und stürmte in die Küche.

Irka saß auf dem Hocker, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf in den Händen vergraben.

Zwischen den Fingern ihrer rechten Hand qualmte eine Zigarette.

„Rühr mich nicht an“, sagte sie erschreckend ruhig.

„Irka!“ hauchte ich jammervoll. „Irkalein! Ist dir schlecht?“

„Vieh“, sagte sie unbegreiflicherweise und setzte mit bebenden Fingern die Zigarette an den Mund.

Ich sah, daß sie weinte.

Rettungsdienst rufen? Nein, hilft nicht, was soll hier der Rettungsdienst!… Baldrian? Brom? Mein

Gott, was für ein Gesicht sie macht… Ich schnappte ein Glas und reichte ihr Wasser.

„Jetzt ist mir alles klar“, sagte Irka, krampfhaft den Rauch schlingend, und stieß mein Glas mit dem

Ellbogen weg.

„Das mit dem Telegramm, alles…

„Wir sind also soweit. Wer ist sie?“

Ich setzte mich und trank einen Schluck Wasser.

„Wer?“ fragte ich dümmlich.

Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wollte sie mich schlagen.

„Meine Güte, was für ein edles Schwein“, sagte sie angeekelt.

„Will nicht das eheliche Lager beschmutzen… Nein, wie hochherzig… Treibt es im Zimmer seines Sohnes.“

Ich trank das Glas aus und wollte es hinstellen, doch die Hand gehorchte mir nicht. Den Arzt! schoss es mir durch den Kopf. Irka, mein Liebes! Den Arzt!

„Na schön“, sagte Irka. Mich blickte sie nicht mehr an. Sie blickte aus dem Fenster und rauchtehektisch.

„Na schön, lassen wir das. Du selber hast immer gesagt: Liebe ist ein Vertrag. Wie schön sich das bei dir angehört hat: Liebe, Ehrlichkeit, Freund schaft… Da müsst ihr wenigstens aufpassen, daß ihr die BHs nicht liegen lasst… Wer weiß, vielleicht findet sich auch noch ein Schlüpfer?“ Da platzte in meinem Kopf eine Art Kugelblitz. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

„Irka!“ sagte ich.

„Mein Gott. Wie hast du mich erschreckt.“

Natürlich war sie auf eine völlig andere Antwort gefasst gewesen. Daher wandte sie mir plötzlich ihr Gesicht zu, ihr liebes, blasses, verweintes Gesicht, und sah mich mit so viel Erwartung, so viel Hoffnung an, daß auch ich fast losgeheult hätte. Sie wünschte sich nur eins: Dass sich alles sofort aufklärte, als Lappalie, als Irrtum, dummer Zufall erwies. Da war das Maß voll. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte es nicht mehr für mich behalten. Ich über schüttete sie mit der ganzen Lawine des Grauens und des Wahnsinns der letzten beiden Tage. Mag sein, daß sich meine Erzählung anfangs wie ein Witz anhörte. Ganz bestimmt sogar. Trotzdem redete ich und redete, einfach drauflos, ohne ihr Raum für giftige Zwischenbemerkungen zu lassen, wirr und unchronologisch, und ich sah, wie auf ihrem Gesicht Misstrauen und Hoffnung nach und nach der Verwunderung, der Besorgnis, der Angst und schließlich dem Mitleid wichen… Wir saßen bereits im großen Zimmer vor dem geöffneten Fenster, sie im Sessel, ich auf dem Teppich daneben, die Wange an ihr Knie gepresst — und da erst merkten wir, daß draußen ein Gewitter niederging. Über den Dächern hatte sich eine lila Wolke breitgemacht, es goss in Strömen, wilde Blitze züngelten in den Scheitel des Punkthauses. Große, kalte Spritzer klatschten aufs Fenstersims, flogen ins Zimmer, Windstöße bauschten die gelbe Gardine, wir jedoch saßen still, und Irka strich mir sanft übers Haar. Ich fühlte mich erlöst. Wir hatten uns ausgesprochen. Ich war das halbe Leid los. Nun ruhte ich mich aus, das Gesicht an ihrem glatten, braungebrannten Knie. Es donnerte fast unaufhörlich, unterhalten konnte man sich kaum, und ich hatte auch gar keine Lust mehr dazu. Schließlich sagte sie:

„Dimka. Du brauchst dich nicht nach mir zu richten. Du musst so entscheiden, als wenn ich gar nicht da wäre. Weil ich sowieso bei dir bleibe. Egal, wie du entscheidest.“ Ich schmiegte mich fest an sie. Im Grunde hatte ich gewusst, daß sie so antworten würde, und ihre Worte waren eigentlich überflüssig, dennoch war ich ihr dankbar.

„Sei mir bitte nicht böse“, fuhr sie nach kurzem Schweigen fort,

„aber es will mir einfach nicht in den Kopf… Nein, ich glaub dir, wirklich. Aber irgend wie find ich es zu gruslig, das alles… Ob es sich nicht doch anders erklären lässt? Ein bisschen — na, einfacher vielleicht, verständlicher?“

„Wir haben es versucht“, sagte ich.

„Nein, was red ich da… Wetscherowski hat natürlich recht… Nicht mit diesem seinem Homöostatischen Weltall, nein, recht hat er, daß es nicht darum geht. Tatsächlich — wo ist da ein Unterschied? Sich ergeben, wenn es das Weltall ist, kämpfen, wenn es eine Superzivilisation ist? Aber hör nicht auf mich. Ich red bloß so… Weil ich ganz durcheinander bin.“ Sie schauderte. Ich stand auf, zwängte mich neben sie in den Sessel und umarmte sie. Jetzt wollte ich bloß noch eins: in allen Tonarten wiederholen, daß ich entsetzliche Angst hatte. Angst um mich, um sie, um uns beide… Aber das wäre natürlich sinn los und wohl auch grausam gewesen. Mir schien, wenn es sie nicht gäbe, wüsste ich genau, was ich zu tun hätte. Doch es gab sie. Und ich wusste, daß sie auf mich stolz war, seit eh und je. Ich bin zwar recht langweilig und nicht gerade ein Erfolgsmensch, aber stolz kann man auch auf mich sein. Früher mal war ich ein guter Sportler, arbeiten kann ich. Grips hab ich, im Observatorium bin ich gut angeschrieben und im Freundeskreis auch, ich versteh zu feiern, kann witzig sein, streiten… Auf all das ist sie stolz. Ein bisschen nur, aber immerhin. Ich hab doch bemerkt, wie sie mich manchmal anblickt. Nein, ich weiß wirklich nicht, wie sie meine Verwandlung in eine Qualle aufnehmen würde. Womöglich kann ich sie dann auch nicht mehr richtig lieben, nicht mal dazu wär ich noch fähig… Und als antworte sie auf meine Gedanken, sagte sie, plötzlich auflebend:

„Erinnerst du dich, wie wir uns beide gefreut haben, daß alle Prüfungen vorbei sind und wir nie mehr welche ablegen müssen? Und jetzt stellt sich raus: Es waren doch nicht alle, eine steht noch bevor.“

„Ja“, sagte ich und dachte: Bloß, daß bei dieser Prüfung kein Mensch weiß, was besser ist: eine Eins oder eine Fünf. Und daß man überhaupt nicht weiß, wofür es die Eins gibt und wofür die Fünf.

„Dimka“, flüsterte sie und blickte mich voll an.

„Dann hast du doch wirklich was Tolles raus gekriegt, wenn sie dir so zusetzen. Eigentlich müsstest du stolz sein, und überhaupt ihr alle… Dass euch der große Kosmos ernst nimmt!“

„Hm“, brummte ich und dachte: Waingarten und Gubar haben keinen Grund mehr, stolz zu sein, und was mich betrifft, so ist alles noch fraglich. Und wieder sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten:

„Überhaupt ist nicht wichtig, wozu du dich entschließt. Wichtig ist nur, daß du zu einer solchen Entdeckung fähig bist… Erzählst du mir wenigstens, worum es geht? Oder darfst du das auch nicht?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich und dachte: Nanu, will sie mich trösten, oder denkt sie tatsächlich so, oder ist auch sie schon derart eingeschüchtert, die Ärmste, daß sie mich zur Kapitulation animiert, oder versüßt sie nur die Pille, die ich — das weiß sie bereits — sowieso schlucken muss? Oder ist es vielleicht umgekehrt: Stachelt sie mich zum Kämpfen an, entfacht sie meinen erlöschenden Ehrgeiz?

„Diese Schweine“, sagte sie leise.

„Aber uns beide trennen — das schaffen sie nie! Meinst du nicht auch, Dimka?“

„Natürlich“, sagte ich und dachte: Darum geht es ja, Kleines, nur darum.

Das Gewitter zog ab. Die Wolke entschwebte, sich gemächlich einrollend, nach Norden und riss einen grauen Nebelhimmel auf, der keine Sturzbäche mehr niedersandte, sondern nur noch trübes Geniesel.

„Regen hab ich mitgebracht“, sagte Irka.

„Und dabei dachte ich, wir fahren am Sonnabend nach Solnetschnoje.“

„Bis Sonnabend ist es noch lange hin“, sagte ich.

„Vielleicht fahren wir wirklich.“ Alles war gesagt. Jetzt mussten wir über Solnetsch-noje reden, über Bücherregale für Bobka, über die Waschmaschine, die wieder mal den Geist ausgehaucht hatte. Das taten wir denn auch. Wir wiegten uns in der Illusion eines gewöhnlichen Abends, und um diese Illusion zu verlängern, beschlossen wir, Tee zu trinken. Wir machten ein neues Päckchen CeylonTee auf, das Aufgusskännchen wurde sorgsamst,nach allen Regeln der Kunst, mit heißem Wasser ausgespült, auf den Tisch kam feierlich die Schachtel

„Pique Dame“, und dann standen wir beide am Teekessel und ließen kein Auge vom Wasser, um den Moment des Aufwallens nicht zu verpassen, wobei die üblichen Frotzeleien ausgetauscht wurden, und als ich die Tassen und Untertassen auf denTisch stellte, nahm ich den sakrosankten Schein vom Bestelldienst, den Zettel über Lido-tschka sowie den Ausweis der Sergejenko, I. F., knüllte alles zusammen und ließ es unbemerkt im Mülleimer verschwinden.

Wir tranken wunderschönen Tee — es war richtiger Tee, „Tee als Getränk“, sprachen über alles mögliche, nur nicht über das Wichtigste, und ich dachte die ganze Zeit, woran Irka wohl denken mochte, denn sie sah aus, als habe sie den ganzen Schreck schon vergessen, erleichtert vergessen, nachdem sie gesagt hatte, was sie davon hielt, und ich fühlte mich mit meiner Entscheidung wieder allein gelassen.

Nach dem Teetrinken sagte sie, sie wolle jetzt bügeln und ich solle mich zu ihr setzen und etwas Lustiges erzählen. Ich räumte das Geschirr weg, doch da klingelte es an der Tür. Unter leisem Geträller

„Nur die Berge sind schöner als Berge…“ begab ich mich in den Flur — nach einem kurzen Seitenblick auf Irka, die seelenruhig mit einem trockenen, sauberen Lappen den Tisch polierte. Erst als ich den Schlüssel umdrehte, fiel mir der Fleischklopfer ein, aber ihn zu holen wäre lächerlich und peinlich gewesen, also öffnete ich die Tür. Ein langer, blutjunger Bursche in nassem Regen cape und mit nassem Haar erklärte gleichmütig:

„Ein Telegramm. Ihre Unterschrift bitte…“ Ich nahm ihm den Bleistiftstummel aus der Hand, drückte die Quittung an die Wand, vermerkte nach seinen Angaben Datum und Uhrzeit, unterschrieb, reichte den Bleistift und die Quittung zurück, dankte und schloss die Tür. Ich wusste, etwas Gutes war nicht zu erwarten. Gleich im Flur, unter dem hellen 500-Watt-Leuchter, entfaltete ich das Telegramm und las es. Es kam von der Schwiegermutter.

ANKUNFT MIT BOBKA MORGEN ABHOLEN FLUG NR.425 BOBKA SCHWEIGT STÖRT HOMÖOPATHISCHES WELTGEBÄUDE KUSS MAMA.

Unten war ein Kontrollstreifen aufgeklebt. HOMÖOPATHISCHES WELTGEBÄUDE. Ich las das Telegramm einmal, zweimal, faltete es ganz langsam zusammen, knipste das Licht aus und ging den Korridor entlang. Irka erwartete mich bereits, mit dem Rücken an die Badezimmertür gelehnt. Ich reichte ihr das Telegramm, sagte:

„Mama und Bobka kommen morgen“ und ging schnurstraks an meinen Tisch. Dort lag noch immer Lidotschkas BH rum. Ich packte ihn fein säuberlich aufs Fensterbrett, raffte meine Blätter zusammen, ordnete sie und steckte sie in das große Heft, dann nahm ich eine schöne neue Schreibmappe, tat alles hinein, band die Strippen zu und malte im Stehen drauf:

„D. Maljanow. Zur Frage der Wechselwirkung der Sterne und der diffusen Materie in der Galaxis.“ Überflog es, dachte kurz nach und strich

„D. Maljanow“ fett durch. Dann klemmte ich die Mappe unter den Arm und zog los. Irka lehnte immer noch an der Badezimmertür, das Telegramm an die Brust gepresst. Als ich vorbeiging, machte sie eine vage Handbewegung — wie um mich aufzuhalten oder mir zu danken. Ohne sie anzublicken, sagte ich:

„Zu Wetscherowski. Bin gleich wieder da.“

Langsam stieg ich die Treppe hinauf, Stufe für Stufe, immer wieder die Mappe zurechtrückend, die mir unter dem Arm wegrutschen wollte. Im Treppenhaus brannte aus irgendeinem Grunde kein Licht, es war dämmrig und still, man hörte nur das Geplät-scher des Wassers, das vor den offenen Fenstern vom Dach rann. An der Nische im sechsten Stock, wo sich neulich das Pärchen geküsst hatte, blieb ich stehen und blickte in den Hof hinab. Das schwarze Laub des mächtigen Baumes schimmerte nass, der Hof war leer, der Regen kräuselte die blinkenden Pfützen.

Ich traf niemand auf der Treppe, lediglich zwischen dem siebten und achten Stock kauerte auf den Stufen ein kleiner Mann, jämmerlich anzusehen, einen grauen altmodischen Hut neben sich. Vorsichtig wich ich ihm aus und trottete weiter, doch plötzlich sagte er:

„Gehen Sie da nicht hin, Dmitri Alexejewitsch.“ — Ich blieb stehen und blickte den Kauernden an. Es war Gluchow.

„Gehen Sie da nicht hin“, wiederholte er.

„Es wäre nicht gut.“

Er stand auf, nahm seinen Hut, straffte sich mühsam, das Kreuz mit den Händen stützend, und ich sah, daß sein Gesicht ganz schwarz war, dreck — oder rußverschmiert; die komische Brille saß schief und der kleine Mund war fest zusammengepresst, als leide er starke Schmerzen. Er rückte die Brille zu recht und sagte, kaum die Lippen bewegend:

„Noch eine Mappe. Eine weiße. Noch eine Kapitulation.“ Ich schwieg. Gluchow schlug seinen Hut leicht ans Knie, als staube er ihn ab, rieb ihn dann mit dem Ärmel. Auch er schwieg, ging jedoch nicht. Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde.

„Sie müssen verstehen“, begann er schließlich wieder,

„kapitulieren ist immer furchtbar. Im vorigen Jahrhundert erschoss man sich sogar, um nicht zu kapitulieren. Keineswegs aus Angst vor Folterungen oder KZ, auch nicht aus Angst, etwas beider Folter zu verraten, nein, einfach aus Schmach.“

„Das ist auch in unsrem Jahrhundert passiert“, sagte ich.

„Und gar nicht so selten.“

„Ja, gewiss“, räumte er bereitwillig ein.

„Gewiss doch. Weil man sich nur ungern eingesteht, daß man nicht der ist, für den man sich gehalten hat. Man möchte partout so bleiben, wie man sonst immer gewesen ist, aber das ist unmöglich, wenn man kapituliert. Also kommt man nicht umhin… Und trotzdem, es gibt einen Unterschied. In unserem Jahrhundert erschießt man sich, weil man sich vor den anderen schämt, vor der Gesellschaft, den Freunden… Im vorigen Jahr-hundert erschoss man sich, weil man sich vor sich selber schämte. Komisch, aber in unserem Jahr-hundert glaubt man, daß der Mensch mit sich selber immer ins reine kommt. So ist es wohl auch. Ich weiß nicht, woran es liegt. Was da vor sich gegangen ist… Vielleicht, weil die Welt komplizierter geworden ist? Weil es außer solchen Begriffen wie Stolz oder Ehre massenhaft andere Dinge gibt, die zur Selbstbestätigung dienen können?“

Er blickte mich abwartend an. Ich zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht, vielleicht.“

„Ich weiß es auch nicht“, sagte Gluchow.

„Da glaubt man nun, ich als erfahrener Kapitulant, wie lange denke ich schon darüber nach, nur immer darüber, wie viele beweiskräftige Argumente hab ich schon zusammen… Scheinbar hat man sich selber überredet, hat seine Ruhe gefunden — da plötzlich gibt’s einen Stich… Natürlich, zwanzigstes Jahr hundert, neunzehntes, ein Unterschied ist schon da. Aber Wunden bleiben Wunden. Sie verheilen, vernarben, du hast sie schon fast vergessen — da schlägt das Wetter um, und sie schmerzen wieder. So ist es immer gewesen, in allen Jahrhunderten.“

„Ich verstehe“, sagte ich.

„Verstehe alles. Aber es gibt solche und solche Wunden. Manchmal tun einem fremde mehr weh.“

„Gott bewahre!“ flüsterte er.

„Darauf will ich doch gar nicht hinaus. Nie würde ich mich unterstehen. Ich sage das nur so. Glauben Sie um Himmels willen nicht, daß ich Ihnen abraten will oder überhaupt etwas raten… Ausgerechnet ich… Wissen Sie, dauernd geht mir durch den Kopf: Solche wie wir — was sind wir bloß für Menschen? Sind wir wirklich so gut erzogen, von unserer Zeit, unserem Land, oderumgekehrt — sind wir ein Atavismus,Troglodyten? Warum zermartern wir uns so? Die Antwort finde ich nicht.“

Ich schwieg. Gluchow stülpte sich lasch seinen komischen Hut auf.

„Na ja — dann leben Sie wohl, Dmitri Alexejewitsch“, sagte er.

„Wir sehen uns gewiss nie wieder. Trotzdem war es mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Und Sie machen wirklich ausgezeichneten Tee.“

Er nickte mir zu und setzte sich treppab in Bewegung.

„Nehmen Sie doch den Fahrstuhl“, rief ich ihm nach.

Er drehte sich nicht um, antwortete nicht. Ich stand da und lauschte, wie er die Stufen hinabschlurfte, immer tiefer und tiefer, lauschte so lange, bis sich weit unten knarrend die Haustür öffnete. Dann rumste die Tür zu, und es wurde wieder still. Ich rückte die Mappe unter meinem Arm zurecht, querte den letzten Treppenabsatz, stieg, mich am Geländer festhaltend, die letzte Treppe hoch. An Wetscherowskis Tür blieb ich stehen und horchte. Er war nicht allein. Ich hörte Stimmen brabbeln. Fremde Stimmen. Wahrscheinlich hätte ich umkehren und später wiederkommen sollen, doch ich war am Ende meiner Kraft. Ich musste einen Schlussstrich ziehen. Und zwar sofort. Ich drückte auf den Klingelknopf. Die Stimmen brabbelten weiter. Nach einer Weile drückte ich wieder und ließ den Knopf erst los, als ich Schritte vernahm und Wetscherowskis Stimme fragte:

„Wer ist da?“

Ich war nicht einmal überrascht, obwohl Wetscherowski sonst immer unbesehen jedem öffnete und nie fragte. Genau wie ich. Wie alle meine Bekannten.

„Ich bin’s. Mach auf.“

„ja, gleich“, sagte er, und eine Zeitlang herrschte Stille.

Das Gebrabbel war nicht mehr zu hören, nur weiter unten rumorte jemand mit der Müllschluckerluke. Mir fiel ein, daß Gluchow gesagt hatte, ich solle nicht hierhergehen.

„Gehen Sie da nicht hin, Mr. Wormold. Man hat vor, Sie zu vergiften.“ Woraus ist das? Klingt sehr bekannt… Ach, unwichtig. Wohin soll ich denn sonst? Und Zeit ist auch keine mehr. Jenseits der Tür näherten sich wieder Schritte, das Schloss klickte, die Tür öffnete sich. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, wich einen

Schritt zurück. So sah ich Wetscherowski zum

erstenmal.

„Komm rein“, sagte er heiser und trat zur Seite…