"Kalle Blomquist" - читать интересную книгу автора (Линдгрен Астрид)







SECHSTES KAPITEL

Natürlich war die Sache nicht ohne Risiko. Aber ein Detektiv muß etwas wagen. Will er das nicht, dann kann er sich ebensogut den Detektivberuf aus dem Sinn schlagen und sich als Wurstverkäufer oder sonstwas etablieren. Kalle hatte keine Furcht. Aber spannend war es, mächtig spannend.

Er hatte seinen Wecker auf zwei Uhr gestellt. Zwei Uhr war ein geeigneter Zeitpunkt. Wie lange dauerte es, bis ein Schlafpulver wirkte? Kalle wußte es nicht genau. Aber sicher würde Onkel Einar um zwei Uhr wie ein Murmeltier schlafen, Kalle konnte sich nichts anderes vorstellen. Und da sollte es passieren! Denn wenn man endlich eine »mystische Person« gefunden hat, muß man den Fingerabdruck der »Person« haben.

Personalbeschreibung und Muttermal und all das ist sicher gut, aber nichts kommt an einen ehrlichen Fingerabdruck heran.

Kalle warf einen letzten Blick aus dem Fenster, bevor er ins Bett kroch. Die weißen Gardinen des gegenüberliegenden Fensters blähten sich leise im Abendwind. Da drinnen war Onkel Einar. Vielleicht nahm er eben das Schlafpulver und legte sich ins Bett. Kalle rieb sich vor Spannung die Hände. Das würde keine schwere Sache werden. Viele, viele Male hatten Eva-Lotte und er und Anders diese Feuerleiter benutzt, zuletzt im Frühjahr, als sie eine Räuberhöhle auf Eva-Lottes Boden hatten. Und wenn Onkel Einar rausklettern konnte, dann konnte Kalle rein-klettern!

»Um zwei Uhr passiert es, so wahr ich lebe!«

Kalle kroch in sein Bett und schlief augenblicklich ein. Er schlief unruhig und träumte, daß Onkel Einar ihn rund um den Bäckereigarten jagte. Kalle rannte wie um sein Leben, aber Onkel Einar kriegte ihn schließlich. Er packte Kalle hart am Genick und sagte: »Weißt du nicht, daß alle Detektive eine Blechbüchse am Schwanz festgebunden haben müssen, so daß man hört, wenn sie kommen?«

»Ja, aber ich habe gar keinen Schwanz«, verteidigte sich Kalle unglücklich.

»Ach, Unsinn, natürlich hast du einen Schwanz! Wie nennst du denn das sonst?«

Und als Kalle hinschaute, hatte er genauso einen Schwanz wie Tusse.

»So«, sagte Onkel Einar und band die Blechbüchse fest. Kalle machte einige Sprünge, und die Blechbüchse klapperte ganz furchtbar.

Er war so unglücklich, daß er hätte weinen können. Was würden Anders und Eva-Lotte sagen, wenn er auf diese Weise angerasselt kam? Niemals mehr würde er mit ihnen spielen können. Niemand wollte wohl gern mit jemand zusammen sein, der so einen Lärm machte. Da standen ja übrigens Anders und Eva-Lotte! Sie lachten ihn aus.

»So geht es mit Detektiven«, sagte Anders.

»Ist es wirklich wahr, daß alle Detektive Blechbüchsen am Schwanz haben müssen?« fragte Kalle.

»Absolut«, sagte Anders. »Das steht im Gesetz.«

Eva-Lotte hielt sich die Ohren zu.

»Pfui Teufel, was für einen Krach du machst«, sagte sie. Kalle mußte zugeben, daß der Lärm schlimmer als je war. Das klapperte und schmetterte – ach, wie das schmetterte!

Kalle erwachte. Der Wecker! Donnerwetter, wie der läutete!

Kalle stellte ihn eiligst ab. Im Augenblick war er hellwach. Gott sei Dank, er hatte keinen Schwanz! Es gibt vieles hier auf der Welt, wofür man dankbar sein muß. Aber jetzt schnell ans Werk!

Er lief zur Schreibtischschublade. Da lag das Stempelkissen.

Er steckte es in die Tasche. Ein Stück Papier mußte er auch haben. Dann war er fertig. Nie war er so vorsichtig die Treppe hinuntergeschlichen, und er vermied die Stufen, von denen er aus Erfahrung wußte, daß sie knarrten.

»Alles ruhig, sagte der Dieb!«

Kalle fühlte sich richtig ausgelassen. Er preßte seinen kleinen, dünnen Jungenkörper durch die Zaunöffnung, und jetzt stand er im Bäckereigarten. Wie still alles war! Und wie der Flieder duf-tete! Und der Apfelbaum! Alles war ganz anders als am Tage. In allen Fenstern war es dunkel. Auch in Onkel Einars!

Es gab Kalle einen kleinen Stoß, als er den Fuß auf die Feuerleiter setzte. Zum ersten Male fühlte er ein bißchen Angst aufsteigen. War ein Fingerabdruck so viel Ungelegenheit wert? Er wußte eigentlich nicht, wozu er diesen Fingerabdruck haben wollte. Aber – so überlegte er – Onkel Einar ist sicher ein Schurke, und von allen Schurken nimmt man Fingerabdrücke.

Also los, Fingerabdruck genommen von Onkel Einar! Das ist reine Routinearbeit, redete sich der Meisterdetektiv aufmunternd zu und fing an, die Feuerleiter hinaufzuklettern.

»Wenn nun aber Onkel Einar hellwach im Bett sitzt und mich anstarrt, wenn ich den Kopf reinstecke, was sage ich dann?« Kalles Bewegungen wurden etwas zögernd, »’n Abend, Onkel Einar, schönes Wetter heute nacht! Ich mache nur einen kleinen Spaziergang die Leiter rauf und runter!« – Nein, das ging nicht!

»Ich hoffe, es war ein sehr starkes Schlafmittel, das Tante Mia ihm gegeben hat«, dachte Kalle und versuchte, sich überlegen zu fühlen.

Aber trotzdem empfand er es ungefähr so, als ob er seinen Kopf in eine Schlangengrabe steckte, als er sich über das Fensterbrett schob. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht so, daß man sich nicht hätte orientieren können. Kalle glich in diesem Augenblick einem kleinen ängstlichen und neugieri-gen Wiesel, das bereit war, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu entwischen Da stand das Bett. Man hörte tiefe Atemzüge aus der Richtung. Gott sei Dank, Onkel Einar schlief!

Unwahrscheinlich leise kroch Kalle über das Fensterbrett.

Hin und wieder hielt er an, um zu lauschen. Aber alles war ruhig.

»Vielleicht hat sie ihm Rattengift gegeben, da er so fest schläft«, dachte Kalle. Er legte sich platt auf den Bauch und schlängelte sich vorsichtig zu seinem Opfer hin. Reine Routinearbeit!

Was für ein Glück! Onkel Einars rechte Hand hing schlaff an der Bettkante herunter. Man brauchte sie nur zu nehmen und dann … Gerade da murmelte Onkel Einar etwas im Schlaf und warf seine Hand über das Gesicht.

Bum, bum, bum – Kalle fragte sich, ob eine Dampfmaschine im Zimmer versteckt sei. Aber es war nur sein Herz, das klopfte, als ob es Lust hätte herauszuspringen.

Indessen schlief Onkel Einar weiter. Jetzt lag die Hand auf der Bettdecke. Kalle öffnete den Deckel des Stempelkissens, und vorsichtig, als ob er glühende Kohlen anfassen wollte, nahm er Onkel Einars Daumen und drückte ihn gegen das Stempelkissen.

»Äh – puh«, sagte Onkel Einar.

Jetzt ging es nur darum, das Stück Papier hervorzuholen. Wo in aller Welt hatte er es gelassen? Das war ja reizend! Da lag sein Schurke mit Stempelfarbe am Daumen, alles war wie zu-rechtgelegt, und jetzt fand er das Papier nicht – ja, jetzt hatte er es! Es war da! In der Hosentasche! Mit großer Vorsicht drückte er Onkel Einars Daumen gegen das Papier.

Die Sache war in Ordnung. Er hatte den Fingerabdruck, und er hätte nicht zufriedener sein können, wenn er eine weiße Maus bekommen hätte, was sonst das war, was sein Herz am meisten begehrte.

Jetzt langsam zurückkriechen und sich über das Fensterbrett schwingen! Das war ja so einfach.

Ja, alles wäre sicher nach Berechnung gegangen, wenn Tante Mia nicht so ein Blumenfreund gewesen wäre. In der anderen Hälfte des Fensters, in der, die nicht offen war, stand eine kleine bescheidene Geranie. Kalle erhob sich vorsichtig aus seiner liegenden Stellung und … Einen Augenblick lang glaubte er, daß es ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe war, was diesen schrecklichen Lärm zustande brachte. Und es war doch nur ein armer kleiner Blumentopf.

Kalle stand aufrecht am Fenster mit dem Rücken zu Onkel Einars Bett. »Jetzt sterbe ich«, dachte er, »und das ist ganz gut.« Mit jeder Fiber seines Wesens hörte und fühlte und begriff er, daß Onkel Einar aufgewacht war. Kein Wunder übrigens, dieser Blumentopf hatte wahrhaftig ein Leben geführt, als ob er ein ganzer Blumenladen wäre.

»Hände hoch!«

Es war Onkel Einars Stimme, aber doch nicht die seine. Sie klang, ja – sie klang wie Stahl.

Es ist immer am besten, einer Gefahr gerade ins Auge zu sehen. Kalle drehte sich um und blickte direkt in eine Revolver mündung. Ach, in der Phantasie hatte er es so viele, viele Male getan, und es hatte ihm niemals etwas angehabt. Mit einem schnellen Schlag hatte er den Kerl überrumpelt, der auf ihn gezielt hatte, und mit einem »Nicht so eilig, mein bester Herr« hatte er ihm geschickt den Revolver entwunden.



In der Wirklichkeit ging es etwas anders zu. Kalle hatte wohl viele Male in seinem Leben Angst gehabt. Er hatte Angst gehabt, als der Hund des Bankdirektors ihn einmal auf dem Marktplatz angefallen hatte und als er im Winter einmal in ein Eisloch gefallen war, aber niemals, niemals hatte er eine so lähmende, quälende Angst gefühlt wie in dieser Minute.

»Mutter«, dachte er.

»Komm näher!« sagte die Stahlstimme.

Wie kann man gehen, wenn man nur ein paar weiche Makka-roni hat, wo sonst die Beine sind? Er machte jedenfalls einen Versuch.

»Was in aller Welt – bist du es, Kalle?«

Der Stahl war aus Onkel Einars Stimme weg, aber er fuhr streng fort: »Was machst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Antworte!«

»Hilfe«, wimmerte Karl innerlich. »Wie soll ich es erklären?«

In Stunden der höchsten Not bekommt man mitunter eine Eingebung, die einen retten kann. Kalle erinnerte sich, daß er vor einigen Jahren zu schlafwandeln pflegte. Er war des Nachts irgendwo umherspaziert, bis seine Mutter mit ihm zum Doktor ging und er Beruhigungsmittel bekam.

»Na, Kalle?« sagte Onkel Einar.

» Wie bin ich hierhergekommen?« sagte Kalle. »Wie bin ich hergekommen? Ich habe doch wohl nicht wieder angefangen, im Schlaf umherzugehen? Ach, jetzt fällt mir ein, ich habe ja von dir geträumt, Onkel Einar (das war ja wahr, dachte Kalle).

Entschuldige vielmals, daß ich dich gestört habe.«

Onkel Einar hatte den Revolver weggesteckt. Er klopfte Kalle auf die Schulter.

»Jaja, mein lieber Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es sind alle deine Detektivideen, die dich im Schlaf umherwandern lassen. Bitte deine Mutter, daß sie dir etwas Brom gibt, bevor du schlafen gehst. Du wirst sehen, das hilft. Jetzt ist es wohl am besten, ich begleite dich hinaus.«

Onkel Einar ging mit ihm die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Kalle verbeugte sich. Eine Sekunde später schlüpfte er durch den Zaun in einer Fahrt wie ein eingeseiftes Kaninchen.

»Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er. Er fühlte sich wie ein Mensch, der eben aus schwerer Seenot gerettet worden ist. Seine Beine zitterten so merkwürdig. Er konnte sich gerade eben die Treppe hinaufschleppen, und als er in sein Zimmer kam, sank er aufs Bett. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er wieder. So saß er lange.

Ein gefährlicher Beruf, der Detektivberuf! Manche glauben, das sei reine Routinearbeit – so einfach ist das nicht! Stets und ständig wird man vor offene Revolvermündungen gestellt, ja, wahrhaftig!

Kalles Beine fingen langsam an, sich wieder normal zu fühlen.

Der lähmende Schreck war fort. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Da lag das kostbare Papier. Kalle hatte keine Angst mehr. Er war glücklich. Ganz vorsichtig nahm er das kleine Stück Papier und legte es in den linken Schreibtischkasten. Da lagen schon der Dietrich und die Zeitung und die Perle. Eine Mutter, die ihre Kinder betrachtet, konnte keinen wärmeren Augenaus-druck haben als Kalle, wenn er auf den Inhalt des Kastens blicke.

Er verschloß ihn sorgfältig und steckte den Schlüssel ein. Dann nahm er sein Notizbuch hervor und schlug Onkel Einars Seite auf. Da war wieder ein kleiner Nachtrag nötig. »Besitzt Revolver«, schrieb Kalle. »Schläft mit ihm unter dem Kopfkissen.«

Um diese Zeit des Jahres frühstückte Familie Lisander auf der Veranda. Sie hatten gerade angefangen, als Anders und Kalle in der Nähe auftauchten, um Eva-Lottes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kalle hätte gern gewußt, ob Onkel Einar etwas von seinem nächtlichen Besuch erwähnen würde. Aber Onkel Einar aß seine Hafergrütze, als ob nichts geschehen wäre.

»Nein aber, Einar, wie ärgerlich!« sagte Frau Lisander plötzlich. »Ich habe ja vergessen, dir gestern abend das Schlafmittel zu geben!«