"Kalle Blomquist" - читать интересную книгу автора (Линдгрен Астрид)SIEBTES KAPITEL»Das Spaßigste bei einer Sache sind die Vorbereitungen«, hatte Anders unmittelbar nach der Zirkuspremiere konstatiert. Die Vorstellung selbst war sicher sehr spannend und lustig gewesen, aber es waren jedenfalls die Tage vorher, angefüllt mit Proben und intensiven Vorbereitungen, die im Gedächtnis zurückblie-ben. Die gewesenen Zirkuskünstler gingen umher und wußten nicht richtig, was sie anfangen sollten. Kalle war derjenige, der am wenigsten eine Beschäftigung vermißte. Die Detektivwirksamkeit gab seinen Tagen, und mitunter auch seinen Nächten, Inhalt. Seine Fahndungstätigkeit, die sich bis jetzt nur auf das Allgemeine gerichtet hatte, konzen-trierte sich nun ganz auf Onkel Einar. Anders und Eva-Lotte sagten oft, sie wünschten, daß Onkel Einar wieder abreisen möchte, aber Kalle sah mit Schrecken dem Tag entgegen, da der Schurke, »sein« Schurke, den Koffer packen und ihn ohne »mystische Person« zurücklassen würde, um die seine Gedanken kreisen konnten. Und es wäre doch sehr ärgerlich, wenn Onkel Einar verschwinden würde, ohne daß Kalle dahintergekommen war, was für eine Art Verbrecher er eigentlich war. »So viele Indizien – es muß stimmen, etwas anderes ist nicht möglich!« versuchte er sich selbst zu überzeugen, wenn ihn hin und wieder Zweifel packten. Aber Anders und Eva-Lotte interessierten sich nicht eine Spur für die Bekämpfung von Verbrechen. Sie gingen umher und langweilten sich. Aber glücklicherweise passierte es doch, daß Postdirektors Sixtus eines Tages Anders »Poussierstengel« nachrief, als Anders mit Eva-Lotte die Hauptstraße entlangkam, und das, obwohl im Augenblick Friedenszustand zwischen Sixtus’ Bande und der von Anders herrschte. Offenbar langweilte sich Sixtus auch, und er wollte wohl aus diesem Grunde die Streitaxt wieder ausgraben. Anders blieb stehen. Eva-Lotte auch. »Was hast du gesagt?« fragte Anders. »Poussierstengel!« Sixtus spuckte das Wort gleichsam aus. »Ach so«, sagte Anders. »Ich hatte gehofft, ich hätte falsch gehört. Schade, daß ich dich bei dieser Hitze verprügeln muß!« »Ach, das macht nichts«, sagte Sixtus. »Ich kann ja hinterher ein Stück Eis auf deine Stirn legen. Wenn du dann noch lebst!« »Wir treffen uns heute abend auf der Prärie«, sagte Anders. »Geh nach Hause und bereite deine Mutter so schonend wie möglich vor.« Sie trennten sich, und Anders und Eva-Lotte gingen nach Hause und alarmierten, äußerst aufgelebt, Kalle. Es zog sich zu einer Fehde zusammen, die sicher einen guten Teil ihrer Sommerferien vergolden würde. Kalle war vollauf damit beschäftigt, durch den Zaun Onkel Einar zu beobachten, wie er im Garten wie ein unseliger Geist umherwankte. Kalle wollte eigentlich nicht gestört werden. Aber trotzdem gefiel ihm die Mitteilung, daß Sixtus die Streitaxt ausgegraben hatte. Sie setzten sich alle drei in Eva-Lottes Laube und disku-tierten die Sache. Aber da tauchte Onkel Einar auf. »Keiner spielt mit mir!« jammerte er. »Was geht hier eigentlich vor?« »Wir haben eine Schlägerei vor«, sagte Eva-Lotte kurz. »Anders soll sich mit Sixtus schlagen.« »Und wer ist Sixtus?« »Einer der stärksten Jungen der Stadt«, sagte Kalle. »Anders bekommt sicher Prügel.« »Die kriege ich bestimmt«, gab Anders vergnügt zu. »Soll ich mitkommen und dir helfen?« schlug Onkel Einar vor. Anders und Kalle und Eva-Lotte starrten ihn an. Glaubte er wirklich, sie würden einen Erwachsenen sich in ihre Schlägerei-en einmischen lassen? Und alles verderben! »Na, Anders, was sagst du zu meinem Vorschlag?« fragte Onkel Einar. »Soll ich mitkommen?« »Nee«, sagte Anders, unangenehm berührt davon, auf so etwas Dummes antworten zu müssen. »Nee, das wäre nicht anständig.« »Nein, vielleicht nicht«, gab Onkel Einar zu und sah etwas beleidigt aus. »Obwohl es zweckmäßig wäre. Aber du bist wohl noch etwas zu jung, um zu verstehen, was zweckmäßig ist. Das ist etwas, was man so nach und nach lernt.« »Ich hoffe, daß er niemals so etwas Albernes lernt«, sagte Eva-Lotte. Da drehte sich Onkel Einar auf dem Absatz um und ging. »Ich glaube wahrhaftig, er ist böse«, sagte Eva-Lotte. »Ja, sicher sind Erwachsene manchmal komisch, aber der da ist noch komischer als die meisten anderen«, sagte Anders kopf-schüttelnd. »Er wird ja mit jedem Tag nörgliger und nörgliger.« »Jaja, wenn ihr wüßtet!« dachte Kalle.
Die Prärie war eine große Gemeindewiese außerhalb der Stadt. Sie war mit einer üppigen Buschvegetation bewachsen. Die Prärie gehörte der Jugend der Stadt. Hier lebte man Goldgräberle-ben in Alaska, streitbare Musketiere kämpften heftige Duelle aus, Lagerfeuer wurden in den felsigen Bergen entzündet, im afrikanischen Busch wurden Löwen geschossen, edle Ritter sprengten auf ihren stolzen Rossen heran, wüste Chikagogang-ster erhoben ohne Erbarmen ihre Maschinenpistolen – alles hing davon ab, welcher Film gerade im Kino der Stadt zu sehen war. Während des Sommers war das Kino natürlich geschlossen, aber man war trotzdem nicht in Verlegenheit. Es gab meistens eine ganze Reihe privater Keilereien, die ausgetragen werden sollten, und auch friedliche Spiele konnte man vorteilhafterwei-se nach der Prärie verlegen. Dahin lenkten Anders, Kalle und Eva-Lotte in einem Zustand gespannter Erwartung ihre Schritte. Sixtus war mit seiner Bande schon da. Die Mitglieder der Bande hießen Benka und Jonte. »Hier kommt einer, dessen Herzblut ich sehen will!« schrie Sixtus und fuchtelte lebhaft mit den Armen. »Was hast du für Sekundanten?« fragte Anders, ohne sich um die furchtbare Drohung zu kümmern. Seine Frage war mehr eine Formsache; er wußte ganz gut, welches die Sekundanten waren. »Jonte und Benka!« »Hier sind meine«, sagte Anders und zeigte auf Kalle und Eva-Lotte. »Welche Waffen ziehst du vor?« fragte Sixtus ganz regle-mentmäßig. Alle waren sich darüber klar, daß keine anderen Waffen als die Fäuste vorhanden waren, aber es machte immer einen guten Eindruck, auf Formen zu halten. »Die Handkoffer«, antwortete Anders ganz richtig, genau wie man es erwartet hatte. Und nun brach es los. Die vier Sekundanten standen in gebührendem Abstand und folgten dem Kampf mit so intensivem Einlebungsvermögen, daß ihnen der Schweiß herunterlief. Von den Kämpfern sah man nur ein Gewirr von Armen und Beinen und zerwühlten Haarschöpfen. Sixtus war der Stärkere, aber Anders war flink und geschmeidig wie ein Eichhörnchen. Es gelang ihm schon zu Anfang, ein paar ordentliche Volltreffer auf seinen Gegner loszulassen. Das hatte indessen nur den Erfolg, Sixtus zu unerhörter Kampflust anzufeuern. Es sah schlimm aus für Anders. Eva-Lotte biß sich in die Lippen. Kalle warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. Er hätte sich selbst so furchtbar gern für sie in den Kampf geworfen. Aber es war leider Anders, der den Vorzug gehabt hatte, von Sixtus Poussierstengel genannt zu werden. »Hej, Anders!« schrie Eva-Lotte aus vollem Herzen. Aber jetzt war auch Anders so weit gekommen, wütend zu werden, und er warf sich in einen rasenden Nahkampf, der Sixtus zum Rückzug zwang. Nach den Vorschriften sollte ein Duell dieser Art nicht mehr als zehn Minuten dauern. Benka stand mit der Uhr in der Hand, und die beiden Duellanten, die wußten, daß die Zeit kostbar war, taten ihr Alleräußerstes, um den Kampf zu gewinnen. Aber jetzt schrie Benka »Abbrechen!«, und mit Aufwand aller ihrer Selbstbeherrschung kamen Sixtus und Anders seinem Befehl nach. »Unentschieden«, sagte Benka. Sixtus und Anders schüttelten einander die Hände. »Die Beleidigung ist abgewaschen«, sagte Anders. »Aber ich habe die Absicht, dich morgen zu beleidigen, und dann können wir weitermachen.« Sixtus nickte zustimmend. Das bedeutete Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose. Sixtus und Anders hatten ihre Banden nach einem hohen Vorbild aus der Geschichte Englands getauft. »Ja«, sagte Anders feierlich, »nun herrscht Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.« Diesen Ausdruck hatte er auch der Geschichte entnommen, und er fand, daß es seltsam schön klang, wie es hier so, nach beendetem Streit, herausgeschleudert wurde, während sich die Dämmerung auf die Prärie senkte. Die Weißen Rosen – Anders, Kalle und Eva-Lotte – tauschten ernsthaft Händeschütteln mit den Roten Rosen aus – Sixtus, Benka und Jonte –, und man trennte sich. Das Merkwürdige war, daß Sixtus Eva-Lotte, obwohl er glaubte, begründeten Anlaß zu haben, Anders Poussierstengel nachzurufen, als er mit Eva-Lotte die Straße entlanggekommen war, voll und ganz als würdigen Gegner und Repräsentanten für die Weiße Rose akzeptierte. Die drei Weißen Rosen gingen heimwärts. Besonders die Weiße Rose Kalle hatte es sehr eilig. Er fühlte sich niemals richtig ruhig, wenn er nicht jederzeit Onkel Einar unter Aufsicht hatte. »Es ist genauso, als ob man ein Hausschwein zu hüten hätte«, dachte Kalle. Anders hatte Nasenbluten. Gewiß hatte Sixtus gesagt, daß er sein »Herzblut« sehen wolle, aber ganz so gefährlich war es also nicht geworden. »Du hast diesmal einen feinen Match gehabt«, sagte Eva-Lotte bewundernd. »Na ja«, sagte Anders bescheiden und sah auf sein blutbe-flecktes Hemd. Es gab sicher Krach deswegen, wenn er nach Hause kam. Am besten war, es so schnell wie möglich überstan-den zu haben. »Wir treffen uns morgen«, sagte er abschließend und lief davon. Kalle und Eva-Lotte gingen zusammen. Aber da fiel es Kalle ein, daß seine Mutter ihn gebeten hatte, eine Abendzeitung zu kaufen. Er nickte Eva-Lotte zu und ging allein zum Zeitungskiosk. »Alle Abendzeitungen sind ausverkauft«, sagte die Dame im Kiosk. »Versuch es beim Hotelportier!« Na ja, da war nichts anderes zu machen. Vor dem Hotel traf Kalle Schutzmann Björk. Kalle fühlte eine Welle kollegialer Sympathie für ihn. Ganz gewiß war Kalle Privatdetektiv, und Privatdetektive standen ja immer ein paar Stufen über den gewöhnlichen Polizisten, die sich meistens merkwürdig ungeschickt bei der Lösung selbst des einfachsten kriminalistischen Rätsels erwiesen, aber Kalle fühlte jedenfalls, daß es Bande der Gemeinsamkeit zwischen ihm und Schutzmann Björk gab. Sie wirkten beide für die Bekämpfung von Verbrechen in der Gesellschaft. Kalle hatte große Lust, Schutzmann Björk über das eine oder andere um Rat zu fragen. Sicher gab es keinen Zweifel darüber, daß Kalle ein für sein Alter besonders hervorragender Kriminalist war, aber er war doch trotz allem nicht älter als dreizehn Jahre. Meistens gelang es ihm, vor dieser Tatsache die Augen zu schließen, und unter seiner Detektivwirksamkeit stellte er sich immer sich selbst als einen reifen Mann mit scharfem durch-dringendem Blick vor, die Pfeife nachlässig im Mundwinkel, einen Mann, der mit »Herr Blomquist« angeredet und mit großer Ehrfurcht von den Mitgliedern der Gesellschaft behandelt wurde, während dagegen deren verbrecherische Elemente ihn mit tiefstem Schreck betrachteten. Aber gerade jetzt fühlte er sich nur als Dreizehnjähriger, und er war geneigt zuzugeben, daß Schutzmann Björk eine ganze Menge Erfahrung besaß, die ihm selbst abging. »’n Abend«, sagte Kalle. »’n Abend«, sagte Schutzmann Björk. Der Schutzmann warf einen forschenden Blick auf einen schwarzlackierten Ford, der vor dem Hotelportal parkte. »Ein Stockholmer Auto«, sagte er. Kalle stellte sich an seine Seite, die Hände auf dem Rücken. Eine ganze Weile standen sie still und betrachteten gedankenvoll die vereinzelten Abendwanderer, die über den Marktplatz gingen. »Onkel Björk«, sagte Kalle plötzlich, »wenn man glaubt, daß ein Mensch ein Schurke ist, was macht man da?« »Ihm eins aufs Maul geben«, sagte Schutzmann Björk vergnügt. »Ja, aber ich meine, wenn er ein Verbrechen begangen hat«, sagte Kalle. »Ihn festnehmen natürlich«, sagte der Schutzmann. »Ja, aber wenn man es nur glaubt, es aber nicht beweisen kann«, beharrte Kalle. »Ihn überwachen, was das Zeug hält!« Schutzmann Björk lachte ein breites Lachen. »Aha, du pfuschst mir ins Hand-werk!« sagte er freundlich. »Ich pfusche gar nicht«, dachte Kalle beleidigt. Niemand nahm ihn ernst. »Hallo, Kalle, jetzt muß ich mal zum Bahnhof runter. Mach inzwischen die Arbeit für mich!« Und damit ging Schutzmann Björk. Ihn überwachen, hatte er gesagt! Man kann doch nicht einen Menschen überwachen, der die ganze Zeit nur in einem Garten sitzt und sich selbst überwacht! Onkel Einar hatte überhaupt nichts vor. Er lag oder saß oder ging in Bäckermeisters Garten herum wie ein Tier in einem Käfig und wollte, daß Eva-Lotte und Anders und Kalle ihn unterhielten und ihm halfen, die Zeit totzuschlagen. Ja, gerade eben das – die Zeit totzuschlagen! Es sah nicht so aus, als ob Onkel Einar Ferien hatte, es sah aus, als ob er wartete. »Aber auf was? Das kriege ich nicht raus!« dachte Kalle und stieg die Treppe zum Hotel hinauf. Der Portier war im Augenblick beschäftigt, so daß Kalle warten mußte. In der Portierloge standen zwei Herren. »Können Sie mir sagen, ob ein Herr Brane hier im Hotel wohnt?« fragte der eine von ihnen. »Einar Brane?« Der Portier schüttelte den Kopf »Sind Sie ganz sicher?« »Ja, natürlich.« Die zwei Männer sprachen leise miteinander. »Und auch keiner, der Einar Lindeberg heißt?« fragte der eine. Kalle stutzte. Einar Lindeberg, das war ja, weiß Gott, Onkel Einar! Es ist immer angenehm, den Leuten mit Auskünften dienen zu können, und Kalle beabsichtigte gerade, den Mund auf-zumachen und zu erzählen, daß Einar Lindeberg bei Bäckermeister Lisander wohnte, aber im letzten Augenblick schluckte er es hinunter, und es kam nur ein zögerndes »Äh – hm« heraus. »Jetzt bist du nahe daran gewesen, eine Dummheit zu machen, mein lieber Kalle«, sagte er sich mit leisem Vorwurf. »Wir wollen erst mal warten und zusehen, wie das sich hier entwickelt.« »Nein, wir haben auch keinen Gast mit diesem Namen hier«, sagte der Portier bestimmt. »Nicht? Ja, Sie wissen natürlich auch nicht, ob jemand, der Brane oder Lindeberg heißt, sich hier in der Stadt in letzter Zeit aufgehalten hat? Und irgendwo anders als hier im Hotel gewohnt hat, meine ich.« Der Portier schüttelte wieder den Kopf. »All right! Können wir ein Doppelzimmer bekommen?« »Bitte sehr! Nummer 34 wird sicher gut passen«, sagte der Portier höflich. »Es kann in zehn Minuten in Ordnung sein. Wie lange bleiben die Herren?« »Das kommt darauf an! Ein paar Tage, nehme ich an.« Der Portier legte den Herren das Fremdenbuch vor, damit sie ihre Namen hineinschreiben konnten. Und Kalle kaufte seine Abendzeitung. Er war merkwürdig aufgeregt. »Es brennt, es brennt absolut!« flüsterte er für sich selbst. Es war ganz undenkbar, von hier fortzugehen, bevor er ein klares Bild von den Herren bekommen hatte, die nach Onkel Einar gefragt hatten. Er begriff sehr wohl, daß der Portier etwas erstaunt sein würde, wenn er, Kalle Blomquist, sich in die Hotelhalle setzte und die Zeitung läse, aber das war die einzige Möglichkeit. Kalle warf sich in einen der Ledersessel mit der Miene eines Engroshändlers auf Geschäftsreisen und hoffte von ganzem Herzen, daß der Portier ihn nicht hinauswerfen würde. Aber glücklicherweise mußte der Portier Telefonanrufe beantworten und hatte keine Zeit, Kalle seine Aufmerksamkeit zu widmen. Kalle bohrte mit dem Zeigefinger zwei Löcher in die Zeitung und überlegte sich gleichzeitig, wie er seiner Mutter diesen merkwürdigen Eingriff in ihre Abendlektüre erklären sollte. Dann dachte er darüber nach, was das für zwei Männer sein konnten. Vielleicht Detektive? Detektive traten ja oft paarweise auf, wenigstens in Filmen. Wie wäre es, wenn er zu einem der beiden hinginge und ihn anredete: »Guten Abend, lieber Kollege!« »Das wäre dumm, um nicht zu sagen idiotisch!« beantwortete sich Kalle selbst seine Frage. Man soll niemals den Ereignis-sen vorgreifen. Oh, was für ein Glück man mitunter hat! Hier kamen die beiden und setzten sich in die Sessel direkt Kalle gegenüber. Er konnte hier sitzen und sie durch die Zeitung anstarren, soviel er wollte. »Personalbeschreibung!« sagte sich der Meisterdetektiv. »Reine Routinearbeit! Erst der eine … nee, wahrhaftig, es müßte verboten sein, so auszusehen!« Etwas so Unangenehmes hatte Kalle noch nie gesehen, und er dachte im stillen, daß der Verschönerungsverein der Stadt gern bereit sein würde, eine runde Summe zu bezahlen, wenn dieser Kerl da sich außerhalb der Stadtmauern verflüchtigte. Es war schwer zu entscheiden, was es war, was sein Gesicht so unangenehm machte, ob es die niedrige Stirn war, die allzu eng beieinander stehenden Augen, die dicke Nase oder der Mund, den ein eigentümliches Lächeln verunstaltete.
»Wenn das kein Schurke ist, dann bin ich der Erzengel Ga-briel in Lebensgröße«, dachte Kalle. Der andere hatte nichts Aufsehenerregendes in seinem Aussehen, wenn man von einer fast krankhaften Blässe absah. Er war klein und blondhaarig. Er hatte sehr helle blaue Augen und einen unsteten Blick. Kalle starrte sie so an, daß es schon verwunderlich war, wenn seine Augen nicht aus den Gucklöchern hervortraten. Auch seine Ohren lauschten gespannt. Die beiden sprachen eifrig miteinander, aber leider konnte Kalle nicht viel davon auffassen. Doch plötzlich sagte der Blasse mit etwas lauterer Stimme: »Davon kann keine Rede sein! Er muß hier in der Stadt wohnen. Ich habe selbst den Brief an Lola gesehen. Auf dem Poststempel stand ganz deutlich Kleinköping.« Lolas Brief! Lola! Lola Hellberg, wer denn sonst? »Es bewegt sich in meinen kleinen grauen Gehirnzellen«, konstatierte Kalle mit Genugtuung. Er selbst hatte den Brief an Lola Hellberg in den Briefkasten gesteckt – wer auch immer diese ehren-werte Dame sein mochte. Und er hatte sie in seinem Notizbuch stehen. Kalle versuchte beharrlich, etwas mehr von dem Gespräch der beiden Männer aufzufassen, aber es gelang ihm nicht. Gleich darauf kam der Portier und meldete, daß das Zimmer für die Herren bereit sei. Der Unangenehme und der Blasse erhoben sich und gingen. Und Kalle beabsichtigte, das gleiche zu tun. Da sah er, daß die Portierloge leer war. Es war im Augenblick niemand außer ihm in der Hotelhalle. Ohne langes Bedenken schlug er das Fremdenbuch auf und schaute hinein. Der Unangenehme hatte sich zuerst eingeschrieben, das hatte er beobachtet. »Tore Krok, Stockholm« – das mußte er sein! Und wie hieß der Blasse? »Ivar Redig, Stockholm.« Kalle zog sein kleines Notizbuch hervor und trug sorgfältig Namen und Personalbeschreibung seiner neuen Bekannten ein. Er schlug auch Onkel Einars Seite auf und notierte: »Nennt sich wahrscheinlich mitunter Brane.« Dann steckte er die Zeitung unter den Arm und verließ das Hotel, vergnügt einen Schlager pfeifend. Und dann war da noch eine Sache – das Auto! Das mußte ihnen gehören, man sah so selten Stockholmer Autos hier in der Stadt. Und wenn sie mit dem Sechsuhrzug gekommen wären, so hätten sie sich schon vor mehreren Stunden ein Hotelzimmer besorgt gehabt. Er notierte die Nummer und die übrigen Kenn-zeichen. Dann besah er die Reifen. Sie waren sehr abgenutzt, außer dem rechten Hinterreifen. Das war ein funkelnagelneuer von der Gummifabrik Gislaved. Kalle machte eine kleine Skizze des Reifenmusters. »Reine Routinearbeit«, sagte er und steckte das Notizbuch in seine Hosentasche. |
||||||||||
|