"Meine russischen Nachbarn" - читать интересную книгу автора (Каминер Владимир)Die ZugvögelObwohl der Kalte Krieg längst vorüber ist, genießt Russland nach wie vor im Westen einen schlechten Ruf. Wenn die Pfützen in Berlin Mitte Oktober plötzlich einfrieren, heißt es stets in den Nachrichten, das Tief »Natascha« oder »Iwan« habe die deutsche Grenze überquert - die russische Luftmassen schrecken vor nichts zurück. Mit großem Erstaunen lasen wir neulich in der Presse, dass auch die Vogelgrippe von den russischen Zugvögeln nach Europa eingeschmuggelt werde. Meine Nachbarin fragte mich daraufhin, ob es in Russland schon die ersten Opfer gäbe. »Gar nicht«, erklärte ich. »Die Russen haben Ostimmunität, sie essen die Vogelgrippe zum Frühstück und fühlen sich noch wohl dabei!« Ich wollte die alte Dame nur beruhigen, sie aber glaubte nicht an meine Ostimmunität und versteckte sich in ihrer Wohnung. Am späten Abend stand ich auf dem Balkon, rauchte und überlegte. Vielleicht haben die deutschen Medien Recht und es kommt tatsächlich alles Schlechte aus dem Osten? Ich konnte mich jedenfalls an nichts Gutes von dort erinnern, abgesehen von mir selbst und ein paar Freunden. Draußen war es dunkel und still. Nur von oben hörte ich die verseuchten Zugvögel laut schnattern. Ich lehnte mich übers Balkongitter und starrte in den Himmel, um festzustellen ob die Vögel tatsächlich aus dem Osten kamen. Doch am Himmel, diffus beleuchtet von Straßenlaternen, war nichts zu sehen. Merkwürdig, dachte ich und ging in die Wohnung zurück. Eine Stunde später stand ich wieder auf dem Balkon, die Zugvögel schnatterten und zwitscherten noch lauter, blieben aber weiterhin unsichtbar. Wie immer, wenn ich auf geheimnisvolle Phänomene stoße, die sich mit dem gesunden Menschenverstand nicht erklären lassen, holte ich meine Frau als Expertin. Sie ging sehr kritisch an die Sache heran. Als Erstes klärte sie mich über Vogelmigration auf. Sie meinte, dass es um diese Jahreszeit gar keine Zugvögel über Berlin mehr geben könne, die letzten mussten längst in Afrika sein. Dann konzentrierte sie sich kurz auf die unsichtbare Geräuschquelle und identifizierte sie als die Entspannungs-CD »Das sind bestimmt deine Freunde aus dem vierten Stock, die Russen-WG«, vermutete sie lachend. Ich gab ihr sofort Recht. Die Nachbarn nachts mit seltsamen Vogelstimmen zu beschallen - diese Aktion trug eine klare Handschrift. So bescheuert können nur Russen sein. Ich ging die Treppe hoch. Die Vögel zwitscherten tatsächlich im vierten Stock, wo mein Nachbar Andrej allein zu Hause war. Er ließ mich rein und erzählte mir mit Begeisterung, wie er neulich einen ganzen Stapel Naturgeräusche für nichts ergattert habe. »Was willst du hören?«, fragte er. »Ich habe von Fröschen bis Elefanten alles da.« Die Naturgeräusche würden ihn in gute Stimmung bringen, meinte er. Aufgewachsen in einem Betonblock mitten in der Stadt hatte Andrej als Kind nie Kontakt zu Tieren gehabt. Das wollte er jetzt in Berlin nachholen. Wir saßen in seinem Zimmer, tranken Tequila mit Tee, und Andrej zeigte mir Familienfotos, von seinem älteren Bruder, von den Eltern und seinem Lieblingsonkel, dessen Knast-Tattoos die einzigen Tierbilder waren, die Andrej als Kind begleitet hatten. Sein Onkel hatte wie kaum ein anderer unter der sowjetischen Diktatur gelitten und in den frühen Siebzigerjahren für sein antitotalitäres Gedankengut und einen bewaffneten Raubüberfall sechs Jahre Straflager aufgebrummt bekommen. Dort hatte er sich die Tiere eintätowiert. Auf der linken Schulter hatte Andrejs Onkel ein Meerschweinchen, auf der rechten ein Seepferdchen mit traurigen Augen. Eigentlich bedeuteten diese Tattoos in der speziellen Knast-Ikonographie Hoffnungslosigkeit und standen für die die Tragödie des Daseins. Das Meerschweinchen auf der linken hieß »Wir sind im Arsch« und das Seepferdchen, elegant wie ein Fragezeichen, stand für »Wozu leben?«. Doch die Tiere sahen niedlich aus, und der Onkel wirkte ungeheuer lebenslustig. Andrej schob eine Platte nach der anderen in seinen CD-Player. Erst um drei Uhr nachts kehrte ich unsicheren Schritts in meine Wohnung zurück und konnte noch lange danach nicht einschlafen. Kaum schloss ich die Augen, schon quakten die Frösche im Himmel, Elefanten trompeteten, Libellen summten, und der ganzkörpertätowierte Onkel meines Nachbarn lächelte mir von einem vergilbten Foto zu. |
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