"Kirschblüten und Coca-Cola" - читать интересную книгу автора (Шелдон Сидни)
Drittes Kapitel
Langsam wurde Masao wach und schlug die Augen auf. Er war in einem fremden Zimmer. Sein Kopf war schwer und pochte vor Schmerz. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewu#223;tlos gewesen war. Er blieb ganz ruhig liegen und zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergeraten war. Er hatte mit dem Polizisten gesprochen, mit Lieutenant Brannigan; sein Onkel und Higashi waren gekommen und hatten ihn ins Auto gezerrt; sie hatten ihm eine Bet#228;ubungsspritze verpa#223;t. Und dann? Masao setzte sich auf dem schmalen Bett auf, und in seinem Kopf begann alles zu kreisen. Er wartete, bis er wieder klar wurde. Vorsichtig stand er auf und schaute sich um, untersuchte das Zimmer. Es hatte keine Fenster, und nach der schr#228;gen Decke zu urteilen, befand er sich auf dem Dachboden der Jagdh#252;tte. Er ging zu der schweren Eichent#252;r und r#252;ttelte an der Klinke. Die T#252;r war von au#223;en verschlossen. Es gab keinen Ausweg. Und nun merkte Masao auch, da#223; er nur eine Turnhose und ein T-Shirt anhatte. Sie hatten ihm seine Kleider weggenommen!
So kann ich nirgends hingehen, dachte Masao. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und ein kaltes Fr#246;steln #252;berlief ihn. Seine Kleider lagen wahrscheinlich in einem ordentlichen H#228;ufchen am Ufer des Sees, wo die Polizei sie finden w#252;rde – zusammen mit einem gef#228;lschten Abschiedsbrief. Teruo #252;berlie#223; nichts dem Zufall. Mein armer Neffe, er konnte sich nicht mit dem Tod seiner Eltern abfinden …
Masaos Gedanken wurden durch ein Ger#228;usch drau#223;en auf dem Korridor unterbrochen. Irgend jemand n#228;herte sich. Es war bestimmt Higashi, der kam, um ihn zu holen, und Masao wu#223;te, er hatte keine Chance gegen den riesigen, starken Mann. Er sah sich nach einer Waffe um, irgend etwas, womit er sich verteidigen k#246;nnte, aber er fand nichts. Er fragte sich, wieviel Teruo dem Chauffeur wohl bezahlte, daf#252;r, da#223; er ihn umbrachte. Wahrscheinlich ein Verm#246;gen. Aber das war ja eine Kleinigkeit f#252;r Teruo. Wenn Masao tot war, w#252;rde Teruo unerme#223;lich reich sein. Die Schritte kamen n#228;her. Masao h#246;rte einen Schl#252;ssel im Schlo#223; drehen und sah, wie die T#252;r aufschwang. Higashi trat ein. Einen Augenblick dachte Masao daran, sich auf ihn zu st#252;rzen, aber der Chauffeur war viel gr#246;#223;er als er und mindestens hundert Pfund schwerer.
»Komm«, knurrte Higashi. »Wir wollen eine kleine Bootsfahrt machen.«
Also hatte er recht gehabt. Mit allem. Und er hatte genau erraten, was sein Onkel plante. Sie w#252;rden ihn mitten im See ins Wasser werfen, in die bodenlose Tiefe. Vielleicht w#252;rde sein Leichnam niemals gefunden.
Higashi trat auf ihn zu und packte seinen Arm. Ein Griff wie ein Schraubstock. »Geh’n wir.«
Higashi f#252;hrte den Jungen #252;ber den verlassenen Korridor. Sie befanden sich im vierten Stock, unter dem Dach der Jagdh#252;tte. Higashis Finger waren hart wie Stahl, sie dr#252;ckten sich in Masaos Arm, da#223; es schmerzte.
»H#246;ren Sie«, sagte Masao verzweifelt. »Wenn Sie mich laufen lassen, will ich Ihnen mehr bezahlen als mein Onkel. Wenn ich wieder in Tokyo bin …«
»Schnauze«, knurrte Higashi.
»Ich kann …«
Higashi packte noch fester zu und stie#223; den Jungen vor sich her die Treppe hinunter.
Jetzt waren sie im dritten Stock angelangt, und #252;ber die Br#252;stung des Balkons sah Masao in der Ferne den See. Er erschien pl#246;tzlich so finster und bedrohlich. In wenigen Minuten, dachte Masao, w#252;rde er ein Teil dieses Wassers sein, ertrunken, f#252;r immer verloren. Nein, er konnte es nicht zulassen!
Die Zweige einer hohen schlanken Tanne streiften das Balkongel#228;nder, und als Masao das sah, packte ihn eine wilde, verzweifelte Hoffnung. Es gab eine Chance! Es war eine verzweifelt kleine Chance, aber sie war alles, was er hatte. Wenn es mi#223;lang, mu#223;te er sterben. Aber sterben mu#223;te er sowieso.
Masaos Herz schlug schneller. Er wartete, bis sie sich gegen#252;ber dem Balkon befanden, dann tat er so, als w#252;rde er stolpern. Als er st#252;rzte, b#252;ckte sich Higashi ganz automatisch, um ihn hochzurei#223;en. In diesem Moment stemmte sich Masao mit aller Macht gegen ihn, der eiserne Griff lockerte sich, und Masao sprang auf und rannte auf den Balkon. Er sp#228;hte hinunter und sah, zehn Meter unter sich, festen Boden. Falls er st#252;rzte, w#252;rde er auf der Stelle tot sein. Aber er hatte keine Wahl. Der Baum war der einzige Weg in die Sicherheit.
Er streckte die Hand aus und packte einen Ast der Tanne. Seine Finger glitten ab, und dann fand er festen Halt und schwang sich zum Stamm hin#252;ber.
In diesem Augenblick sp#252;rte er, wie jemand ihn von hinten am Fu#223; packte und zur#252;ckri#223;. Masao strampelte, aber es hatte keinen Zweck. Higashis m#228;chtiger Arm schlang sich um seinen Hals und w#252;rgte ihn. Mit einer letzten Kraftanstrengung warf sich Masao herum und entschl#252;pfte dem Griff. Keuchend rang er nach Luft. Aber der Chauffeur war schon wieder #252;ber ihm, das Gesicht vor Wut verzerrt.
»Dann werd ich dich eben hier umbringen«, zischte er.
Er breitete die Arme aus und tappte vorw#228;rts, um Masao zu packen und zu erdr#252;cken. Masao wich immer wieder aus. Er wu#223;te, diese Arme waren stark genug, ihm das Genick zu brechen. Langsam glitt er nach rechts, weg von dem Baum, und als Higashi ihm folgte, hechtete Masao pl#246;tzlich in die entgegengesetzte Richtung, sprang auf die Br#252;stung und packte erneut den Tannenzweig. Es war sinnlos. Higashi war sofort wieder da, packte ihn wie ein Wilder und ri#223; ihn zur#252;ck. Masao sp#252;rte, wie seine Finger von dem Ast abglitten. Jetzt war alles aus. Auch Higashi wu#223;te es. Er hatte gesiegt. Aber im Eifer, sein Werk zu vollenden, sprang Higashi auf die Br#252;stung, neben Masao, um ihn besser packen zu k#246;nnen. Die Br#252;stung hielt das Gewicht des riesigen Mannes nicht aus und brach pl#246;tzlich unter seinen F#252;#223;en weg. Masao klammerte sich an den Ast und sah voll Entsetzen, wie Higashis K#246;rper wirbelnd in die Tiefe st#252;rzte. Higashi stie#223; einen schrillen Schrei aus, dann schlug er auf und lag reglos, den Kopf in unnat#252;rlichem Winkel verrenkt.
Masao hielt inne. Verzweifelt klammerte er sich an den Ast und tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Zwischen ihm und dem Grund in der Tiefe war – nichts. Ein Ausrutscher, und er war tot wie Higashi. Langsam und vorsichtig umfa#223;te Masao den Baumstamm und begann hinabzuklettern, immer Ast um Ast, obwohl alles in ihm zur Eile dr#228;ngte. Sein Onkel konnte Higashis Schrei geh#246;rt haben und jede Sekunde auftauchen. Er war eine hilflose Zielscheibe, wie er da zwischen Himmel und Erde hing. Aber Masao zwang sich, vorsichtig weiterzuklettern. Jeden Ast pr#252;fte er, bevor er sich ihm anvertraute. Endlich, es schien Jahrhunderte zu dauern, war der Boden nicht mehr weit, und er sprang ab. Dann lag er im Gras, unf#228;hig, sich zu bewegen, nach Atem ringend. Jeder Muskel seines K#246;rpers schmerzte. Am liebsten w#228;re er f#252;r immer auf der k#252;hlen Erde liegengeblieben. Aber er wu#223;te, er mu#223;te fort, und zwar rasch.
Aber wohin? Er wu#223;te nicht, wohin er gehen sollte. Zu Lieutenant Brannigan konnte er nicht zur#252;ck. Der w#252;rde nur wieder seinen Onkel anrufen, damit er kam und ihn holte. Und jetzt war da ein Toter. Sie w#252;rden ihm die Schuld geben.
Masao stand in der Dunkelheit, fr#246;stelnd in seinem Unterhemd, und dachte nach. Er hatte kein Geld und keine Kleider, und sein Leben war in Gefahr. Pl#246;tzlich flammte oben im Haus ein Licht auf. Masao drehte sich um und rannte blindlings hinaus auf die Stra#223;e – nach nirgendwo.
Am Himmel stand ein strahlend heller Vollmond, und Masao nutzte sein Licht, um sich am Rand der Stra#223;e zu halten. Er fragte sich, was droben in der H#252;tte passiert sein mochte. Hatte Teruo bereits Higashis Leiche entdeckt? Suchte er schon nach Masao? Wie eine Antwort auf seine Fragen h#246;rte er ein Auto brummen. Rasch suchte Masao hinter den B#252;schen Deckung. Eine Sekunde sp#228;ter rollte die vertraute Limousine langsam um die Kurve. Am Steuer sa#223; Teruo; seine Augen suchten den Randstreifen zu beiden Seiten der Stra#223;e ab. Masao duckte sich tiefer ins Geb#252;sch und wartete, bis das Auto vorbei war. Erst als er das Surren des Motors nicht mehr h#246;rte, verlie#223; Masao sein Versteck und lief auf der Stra#223;e weiter. Zehn Minuten sp#228;ter h#246;rte er das Motorenger#228;usch sich wieder n#228;hern und sprang erneut in Deckung. Er beobachtete, wie sein Onkel in Richtung der Jagdh#252;tte verschwand. Vielleicht glaubte er, da#223; Masao sich noch irgendwo im Park versteckte. Der Junge beschleunigte seine Schritte.
Als Masao das St#228;dtchen Wellington erreichte, machte er einen Umweg, damit niemand ihn entdeckte. Den Fehler, zur Polizei zu gehen, w#252;rde er nicht wiederholen. Zum hundertstenmal #252;berlegte er, wohin er gehen sollte. Das war schlimmer, als verirrt zu sein: er hatte #252;berhaupt kein Ziel.
Der Kampf mit Higashi hatte ihn ersch#246;pft, und Masao brauchte dringend eine Verschnaufpause. Aber er wu#223;te, er mu#223;te weiterlaufen. Wenn er eine Pause machte, konnten sie ihn erwischen, und er wu#223;te, was das bedeutete. Es bedeutete den Tod. Also zwang er sich, weiterzulaufen, die ganze Nacht hindurch, immer einen Schritt nach dem anderen. Und jeder Schritt trug ihn weiter von seinem Onkel weg, entfernte ihn von der Gefahr.
Das lodernde Feuer, das Masao die Kraft gab weiterzulaufen, war seine Wut auf Teruo. Dem Onkel war es ganz egal, ob die Eltern ein angemessenes Begr#228;bnis bekamen. Es ging ihm nur darum, die Firma an sich zu rei#223;en, die Masao geh#246;rte. Aber Masao war entschlossen, seinen Eltern das Begr#228;bnis zu verschaffen, das sie verdienten. Irgendwie w#252;rde er ihre Asche nach Japan zur#252;ckbringen. Er wu#223;te nicht, wie er es schaffen sollte. Er wu#223;te nur, er w#252;rde es schaffen – oder sterben.
Die Nachtluft war k#252;hl, und Masao begann in seinem T-Shirt zu fr#246;steln. Es gab keine M#246;glichkeit, sich Kleider zu besorgen; keine M#246;glichkeit, sich aufzuw#228;rmen. Er lief an verschlafenen Farmh#228;usern vorbei und dachte neidisch an die Menschen, die dort drinnen warm und gem#252;tlich schliefen. Er fragte sich, wie lange er so weiterlaufen konnte. Die Zukunft lag finster vor ihm. Selbst wenn er jemanden fand, dem er seine Geschichte erz#228;hlen konnte, stand doch sein Wort gegen das Wort seines Onkels, und sein Onkel war ein Mann von hoher Stellung und gro#223;er Wichtigkeit. Sein Onkel hatte – wie sagte man gleich in Amerika? – Prestige. Lieutenant Brannigan hatte Masao nicht geglaubt. Niemand w#252;rde ihm glauben. Masao f#252;hlte sich in einem Alptraum gefangen, aus dem es keinen Ausweg gab.
Ganz fr#252;h am n#228;chsten Morgen fand sich Masao am Rand eines kleinen St#228;dtchens wieder. Auf der Hauptstra#223;e dr#228;ngte sich eine Menschenmenge, und einen schrecklichen Augenblick dachte Masao, sie w#228;ren hinter ihm her. Aber die Menschen unterhielten sich nur und lachten. Irgendwie herrschte eine festliche Stimmung. Neugierig schlich sich Masao n#228;her und blieb am Rand der Stra#223;e in Deckung, um zu beobachten, was da vor sich ging.
Es waren mindestens zwei Dutzend M#228;nner, alle in Turnhose und T-Shirt gekleidet – genau wie er. Sie standen auf der Mitte der Stra#223;e, und andere Leute, alle in normaler Kleidung, dr#228;ngten sich herbei. Verwundert starrte Masao hin#252;ber, unf#228;hig, sich vorzustellen, was da los sein mochte. Jetzt schob sich ein Mann durch die Menge und band den M#228;nnern Nummernschilder am R#252;cken fest – und jetzt begriff Masao endlich. Es war ein Volkslauf! Einen Moment hatte Masao Lust, mitzumachen. Er war genauso gekleidet wie die anderen, und es w#228;re eine perfekte Tarnung. Aber er wu#223;te, da#223; er zu m#252;de war. Er war v#246;llig ausgepumpt, seelisch wie k#246;rperlich. Er war die ganze Nacht gelaufen und hatte einfach keine Kraft mehr. Er beschlo#223; also zu warten, bis die Menschenmenge sich verlaufen hatte. Dann wollte er weitermarschieren.
Aber im gleichen Moment passierte etwas, das Masao zwang, es sich anders zu #252;berlegen. Dort hinten, auf der Stra#223;e, kam die Limousine seines Onkels herangeschlichen. Die Flucht war doch nicht gegl#252;ckt! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden!
Mit einem Sprung schl#252;pfte Masao zwischen die Gruppe der M#228;nner in Turnhosen und Unterhemden.
Der Funktion#228;r, der die Nummern verteilte, schaute Masao scharf an und sagte: »Beinah w#228;rst du zu sp#228;t gekommen. Wir sind l#228;ngst startbereit.«
Im n#228;chsten Moment hatte auch Masao eine Nummer auf dem R#252;cken. Die L#228;ufer nahmen Aufstellung, bereit f#252;r den Startschu#223;. Masao schob sich noch mehr in die Mitte, um sich zu verstecken. Er hatte gar nicht die Absicht, sich an dem Rennen zu beteiligen. Er wollte nur in der Menge Schutz suchen, bis sein Onkel fort war. Aber als der Starter jetzt die Pistole in die Luft hob, um das Startzeichen zu geben, sah Masao die schwarze Limousine direkt auf die Gruppe der L#228;ufer zufahren. Dann kam der scharfe Knall der Pistole, und Masao rannte mit den anderen los – immer sch#246;n in der Mitte.
Als die Limousine an den L#228;ufern vorbeischnurrte, zog Masao den Kopf ein. Langsam rollte die Limousine weiter. Masao war noch ersch#246;pft von der langen Nacht, aber er hatte Angst, aus dem Feld der L#228;ufer auszuscheren, weil sein Onkel jeden Moment zur#252;ckkehren konnte. Seine einzige Sicherheit bestand darin, die anderen als Tarnung zu benutzen. Und so machte sich Masao auf einen langen Wettlauf gefa#223;t. Er lief mit weit ausgreifenden, leichten Schritten, und weil er jung und kr#228;ftig war, fand er bald den richtigen Rhythmus. Dann begann er sich die anderen Konkurrenten anzusehen. Manche waren #228;lter als er, aber viele waren ungef#228;hr in seinem Alter. Masao fragte sich, was wohl der Anla#223; dieses Laufes sein mochte, ob er jedes Jahr veranstaltet wurde und was hinterher passieren w#252;rde. Aber das alles war jetzt unwichtig. Das einzig Wichtige war: solange er mit den anderen lief, als einer unter vielen, war er in Sicherheit. Die anderen waren sein Schutz und seine Deckung.
Allm#228;hlich sp#252;rte er seine alte Kraft wieder, und seine Beine liefen wie von selbst. Er legte etwas Tempo vor und #252;berholte den einen oder anderen L#228;ufer. Er war sich nicht sicher, wie er seine Kr#228;fte einteilen sollte, denn er wu#223;te nicht, wie lang die Strecke war. Es konnten f#252;nf Kilometer sein oder auch zehn. Aber dar#252;ber, fand Masao, konnte er sich sp#228;ter Sorgen machen. Unaufhaltsam schob er sich vor, und bald lag wieder eine ganze Gruppe von L#228;ufern hinter ihm. Er fing an, die frische Morgenbrise in seinem hei#223;en Gesicht und die freie, leichte Bewegung seines K#246;rpers zu genie#223;en. Er blickte auf und entdeckte, da#223; nur noch ein halbes Dutzend L#228;ufer vor ihm lagen. Wieder legte er Tempo zu, und dann waren nur noch f#252;nf vor ihm, dann vier … und drei … Und Masao zog mit den beiden L#228;ufern an der Spitze gleich. Sie begannen ihr Tempo zu beschleunigen, und Masao mu#223;te k#228;mpfen, um mit ihnen Schritt zu halten. Sein Herz pochte und seine Lungen brannten. Er war sich nicht sicher, ob er durchhalten w#252;rde. Es gab keinen Grund, warum er dies Rennen gewinnen sollte, es bedeutete ihm nichts. Und doch – er wu#223;te, er mu#223;te weitermachen. Es war eine Frage des Stolzes. Nachdem er zum Wettlauf angetreten war, mu#223;te er ihn auch gewinnen. Der Zweitbeste wollte er nicht sein.
Also begann Masao noch schneller zu laufen, seine Arme und Beine pumpten wie die Kolben einer Maschine. Und nach ein paar Sekunden hatte er die Spitze erobert. Jetzt machte die Stra#223;e eine Kurve, und dort vorne lag ein Dorf. Quer #252;ber die Hauptstra#223;e war ein Transparent gespannt: ZIEL.
Masao sp#252;rte, da#223; die beiden anderen L#228;ufer aufholten, aber er rang sich noch einen letzten Spurt ab – und #252;berquerte die Ziellinie vor ihnen. Auf einmal war er von einer Menschenmenge umringt, und alles war ein einziges aufgeregtes Durcheinander. Die Leute sch#252;ttelten ihm die Hand und gratulierten ihm, aber sie sprachen so schnell, da#223; er nicht verstand, was sie sagten.
»Schau her!« rief eine Stimme. Masao hob den Kopf und blickte in die Kameralinse eines Reporters, der ihn f#252;rs Fernsehen filmte.
Es war unwirklich, wie ein Traum. Die Leute klopfen ihm den R#252;cken, legten ihm die Hand auf die Schulter.
»Du k#246;nntest bei der Olympiade starten …«
»Ich wette, du hast ’n Rekord gebrochen …«
»Bist du hier aus der Gegend …?«
Sie behandelten ihn alle, als w#228;re er so was wie ein Held. Anscheinend war es ein wichtiges Rennen f#252;r sie. Na, immerhin war es auch f#252;r ihn wichtig gewesen. Es hatte ihm das Leben gerettet. Er w#252;nschte nur, die Leute w#252;rden etwas langsamer sprechen, damit er verstehen konnte, was sie sagten.
Ein w#252;rdig aussehender Mann kam zu Masao, ri#223; seinen Arm in die H#246;he und rief: »Ladies und Gentlemen! Ruhe, bitte!« Die Ger#228;usche der Menge verstummten allm#228;hlich. »Dies ist ein gro#223;er Tag f#252;r uns alle. Unsere Gemeinde ist stolz darauf, das Fitne#223;-Programm des Pr#228;sidenten mitzugestalten. Dies ist schon das dritte Jahr, in dem ich diese Veranstaltung durchf#252;hre. Unsere Jugend von heute …«
Der Mann war vermutlich der B#252;rgermeister des Dorfes, #252;berlegte Masao. Und er nutzte wohl den g#252;nstigen Augenblick, sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuh#246;rer zu sonnen. Masao hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Aber er blieb h#246;flich stehen und wartete, bis der B#252;rgermeister seine Ansprache beendete, bis er endlich fortgehen konnte.
Aber jetzt kam noch eine #220;berraschung. Als die Rede vorbei war, wandte sich der B#252;rgermeister Masao zu und sagte: »Und jetzt habe ich, im Namen unserer B#252;rger, das Vergn#252;gen, dir zur Erinnerung an diesen ruhmreichen Tag einen Scheck zu #252;berreichen.« Und er dr#252;ckte Masao einen Scheck #252;ber hundert Dollar in die Hand. Die waren vom Himmel gesandt.
»Vielen Dank«, stammelte Masao. »Ich … ich …« Das W#246;rtchen erfreut wollte ihm nicht einfallen. »Ich bin sehr angenehm.« Aus der Menge stiegen Lachen und Beifall auf, und dann liefen die Leute langsam auseinander. Masao betrachtete den Scheck in seiner Hand. Das erste, was er sich kaufen mu#223;te, waren Kleider. Er wandte sich an einen Jungen, etwa in seinem Alter, der Jeans und ein buntes Sporthemd trug.
Masao hielt den Scheck in die Luft und sprach ganz langsam: »Entschuldige, sag mir doch bitte, wo kann ich …«
Er unterbrach sich mitten im Satz, weil ihm das Wort einl#246;sen nicht einfiel. Im stillen verfluchte er sich, da#223; er im Englisch-Unterricht nicht besser aufgepa#223;t hatte.
Aber Masao hatte Gl#252;ck. Der Junge verstand ihn. »Du willst’n einl#246;sen? Da dr#252;ben, gleich an der Ecke, ist ’ne Bank. Komm mit. Ich zeig’s dir.«
»Ja.«
»Wo kommst du her?«
»Tokyo.«
»Heh, das ist toll. Ich hei#223;e Jim Dale. Und du?«
»Masao …« Er hielt inne. »Masao Harada.«
»Nett, dich kennenzulernen, Masao.«
Sie waren vor der Bank angekommen. Pl#246;tzlich fiel Masao ein, da#223; er keinen Pa#223; bei sich hatte, #252;berhaupt keine Papiere. Vielleicht w#252;rden sie ihm den Scheck nicht einl#246;sen. Er war reich wie ein K#246;nig, besa#223; ein Verm#246;gen auf Bankkonten #252;berall auf der Welt, aber er konnte keinen Cent davon lockermachen. Er war arm wie ein Bettler. Dieser Hundert-Dollar-Scheck war das einzige, woran er sich halten konnte.
»Ich komm mit dir rein«, erbot sich Jim Dale.
Dem blonden Jungen machte es anscheinend Spa#223;, sich im Ruhm seines neuen Freundes zu baden. Sie marschierten in die Bank, und Jim Dale f#252;hrte Masao zum Kassenschalter.
Er sagte zu der Frau am Schalter: »Hi, Mi#223; Perkins. Mein Freund will einen Scheck einl#246;sen.«
Die Kassiererin schaute Masao an und l#228;chelte: »Ach, Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Masao starrte sie an. Wieder diese verdammte Sprache! »Wie … wie bitte?«
Sie wiederholte: »Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Auf einmal verstand Masao: Sie sind also der Junge, der das Rennen gewann. Er nickte. »Ja, Ma’am.«
Die Kassiererin nahm den Scheck und z#228;hlte f#252;nf Zwanzigdollarscheine auf die Theke. Sie schob Masao das Geld zu. »Da haben Sie. Einhundert Dollar.«
Dankbar steckte er das Geld ein. »Vielen Dank.« Jetzt konnte er sich wenigstens Kleidung und Essen kaufen. Er drehte sich nach Jim Dale um. »Ich brauch was zum Anziehen. Wei#223;t du …«
Jim nickte. »Kein Problem. Komm mit.«
Ein paar Minuten sp#228;ter betraten Masao und sein Freund einen Laden.
»Dies ist unser gr#246;#223;tes Kaufhaus«, sagte Jim Dale stolz.
»Ist ja toll«, sagte Masao h#246;flich. Es war winzig, verglichen mit den gro#223;en Kaufh#228;usern, die Masao von Japan gew#246;hnt war. Aber es w#252;rde seinen Zweck erf#252;llen. Jim f#252;hrte Masao in die Kleider-Abteilung, wo eine Auswahl von Anz#252;gen, Jeans und Hemden an den Stangen hingen. Masao suchte sich ein Paar Jeans und ein Sporthemd aus und probierte die Sachen gleich in der Kabine an. Sie pa#223;ten nicht gerade wie angegossen, aber es w#252;rde schon gehen. Wenigstens hatte er jetzt wieder etwas anzuziehen.
»Ich behalte sie gleich an«, sagte er zu dem Verk#228;ufer.
Das n#228;chste Problem war – etwas zu essen. »Gibt es eine Pizzeria hier in der Stadt?«
Jim Dale starrte ihn an. »Eine was?«
Masao dachte, er h#228;tte das Wort vielleicht nicht richtig ausgesprochen. Er wiederholte es, ganz langsam. »Eine Piz-ze-ria.«
Der Junge err#246;tete. »Klar. Wir haben ’ne ganz tolle. Bei Luigi. Ich hab nur gedacht … ich dachte … e#223;t ihr nicht japanisches Essen?«
Masao lachte. »Jeden Tag. Aber ich mag auch Hamburgers und Hot Dogs und Pizza.«
»Klasse, Mann. Komm mit!«
Bei Luigi war es voll und laut, schwatzende Obersch#252;ler, die lachten und sich viel zu erz#228;hlen hatten. Masao kriegte Heimweh. Er war ein Fremder in einem fremden Land, und er hatte niemanden, mit dem er wirklich reden konnte.
Jim Dale sah ihn neugierig an. »Stimmt was nicht?«
Masao zwang sich ein L#228;cheln ab. »Doch. Alles in Ordnung. Die Pizza schmeckt herrlich.«
»Du kannst aber auch was wegstecken«, sagte der blonde Junge.
»Ich versteh dich nicht.«
»Ich meine, du hast ’n guten Appetit. Sch#228;tze, das kommt vom Wettrennen.«
Das Wort Rennen brachte Masao schlagartig in die Wirklichkeit zur#252;ck. Eine ganze Weile hatte er seine Probleme vergessen, aber jetzt st#252;rzten sie wieder wie ein Wasserfall auf ihn nieder. Jim w#252;rde hinterher, nach dem Essen, nach Hause gehen – zu seiner Familie, wo er gesch#252;tzt und sicher war. F#252;r Masao gab es nirgendwo Sicherheit. Er mu#223;te weiter fliehen. Je weiter er von der Jagdh#252;tte und seinem Onkel fortkam, desto besser f#252;r ihn. Hier war es zu gef#228;hrlich f#252;r ihn. Es war ein kleines St#228;dtchen, und als Fremder fiel er hier auf. Er mu#223;te in eine gro#223;e Stadt fahren, wo er in der Menge untertauchen konnte.
»Wie weit ist es bis nach New York City?« fragte Masao.
»Nur ein paar Stunden von hier, mit dem Zug.« Jim Dale schaute auf die Uhr. »In zwanzig Minuten f#228;hrt einer.«