"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)

Für Moritz Herrmann aus Freudental

und seine Familie

Ermordet am 19.05.1944

in Auschwitz

Er wollte nichts sein als

ein jüdischer schwäbischer Bauer


DAS URTEIL


Ganz in der Frühe war zuerst nur ein Klappern auf der Gasse, ein hölzernes Klappern, das von den Wänden der Häuser widerhallte. Es war eine Aussätzige in einer schwarzen Kutte. In der einen Hand, die sie verdeckt hielt, hatte sie einen Holznapf, in der anderen die Klapper. An jeder Enge, an jeder Biegung klapperte sie mit dem Holzklöppel, der auf das Brett schlug. Am Eingang einer breiteren Gasse blieb die Aussätzige stehen. Vom Marktplatz herauf knallten die Tritte einer Wache. Vor einem Haus, das besonders hoch aufragte, standen die Soldaten still. Sie schlugen mit den Spießen gegen die Türe. Die Aussätzige reckte den Hals. Die Türe ging auf, ein schmächtiger, langer Junge trat heraus. Er mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein und war gut gekleidet. Sein Gesicht war mager und bleich unter den schwarzen Haaren, seine Augen waren weit geöffnet. Die Soldaten umringten ihn wie einen Gefangenen, berührten ihn aber nicht. Dann marschierte der Trupp die Gasse hinauf durch ein wachsendes Gedränge zu dem dreieckigen Platz, auf dem die Gerichtstage der Stadt Stuttgart gehalten wurden.

Von Spießen umringt ging der Junge wie in einem Käfig. Einen winzigen Augenblick stand über den Dächern am Ende der Gasse eine dunstige Höhe, die den Blick begrenzte.

Heute war Gerichtstag. So war es gestern verkündet worden. Der Junge ging mit gesenktem Kopf.

Das Gedränge und Geschiebe der Menge wuchs. Die Schergen bahnten sich unerbittlich den Weg und öffneten dem Jungen das letzte Wegstück durch eine johlende Masse von Menschen mit den Schäften ihrer Spieße. Ein gleichaltriger Junge spuckte ihn an.

Er wurde vor die ernst blickenden Richter gestellt.

Ein Mann mit glatt rasiertem Gesicht, in roter und schwarzer Kleidung, stellte sich auf, die Beine gespreizt, die Arme verschränkt, zwei Knechte rechts und links. Die Zuschauer stießen sich an und wichen zurück: »Der Henker!«

Das Gemurmel schwoll an. Ein Mann wurde hereingeführt mit verwildertem Bart, die Haare ungekämmt; sein Hemd, dem man seine gute Herkunft ansah, war schmutzig, die Ärmel zerfetzt, seinen Umhang hielt er frierend zusammen. Er war nicht gefesselt.

Der Stabhalter trat ein, den weißen Stab aufrecht in der Hand. Die Richter erhoben sich. Feierlich wurde die Wahrheit gesprochen über Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt, Gewürzkaufmann in der Stadt Stuttgart. Die Wahrheit stand längst fest an diesem trüben Morgen des Jahres 1347: Seine Gewichte waren überprüft worden vom Waagemeister der Stadt, der hatte sie für falsch befunden. Der Übeltäter habe lange geleugnet, wie der Stabhalter mit lauter Stimme sagte, habe aber schließlich für das Heil seiner Seele und zur Ehre Gottes doch gestanden. Das Geständnis stand fest, der Mann musste es langsam wiederholen.

Er sprach sehr leise, aus der Menge rief einer: »Lauter!«

Und das Urteil stand fest.

Laut wurde es vom Stabhalter verkündet: »Der Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt, Gewürzkaufmann in Stuttgart, wird mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht.«

Der Junge schaute zitternd zu dem Mann, der unbeweglich stand, aber gebeugt wie unter einer fürchterlichen Last. Ein scharfes Knacken: Der Stab war gebrochen.

Da herrschte eine der Gerichtspersonen den Jungen an: »Vortreten!«

Dann war da der schwarz und rot gekleidete Mann, der mit einem plötzlichen Schritt wuchtig auf die beiden zutrat und ihnen die Hände auf die Schulter legte und da liegen ließ.

»Der weint ja.«

Sie standen lange, die Hand des Henkers auf der Schulter.

Wie eine Mauer standen die Bürger, Unruhe verbreitete sich. Wann sollte das Urteil vollstreckt werden? Was geschah mit dem Sohn? Von dem hatte der Henker auch Besitz ergriffen. Würde man gar eine Doppelhinrichtung zu sehen bekommen? Das hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Und heute noch? Worauf wartete man? – Wolken zogen auf, bald würde es regnen.

»Gewichte fälschen, damit man um sein gutes Geld betrogen wird. Das geschieht denen gerade recht.«

»Das prächtigste Haus in der Stadt!«

»Aber Gott hat sie schon lange bestraft.«

»Ja, die Frau gestorben vor zwei Jahren, dann nacheinander der älteste Sohn und die kleine Tochter. Jetzt also das schreckliche Ende. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher.« Der Mann bekreuzigte sich.

»Wie auch immer, das Söhnlein ist jedenfalls auch unehrlich gemacht. Dem darf keiner mehr die Hand geben.«

Die Richter wirkten unsicher wie sie da miteinander flüsterten. Was hatte der gräfliche Vogt so Wichtiges zu verhandeln?

Endlich, der Stabhalter trat vor. Auf dem Platz wurde es still: »Aus übergroßer Gnade hat der Graf von Wirtemberg die Strafe umgewandelt: Du, Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt, und du, Christoph Schimmelfeldt, sein Sohn, ihr werdet beide hinausgeführt vor die Stadt auf die Richtstätte, genannt die Hauptstatt, dort werdet ihr kniend um Gnade bitten, dann werdet ihr auf Befehl des Grafen auf ewige Zeiten aus der Stadt gewiesen, dass ihr sie bei hoher Strafe nie mehr betretet. Und all euer Hab und Gut, liegendes und fahrendes, verfällt dem gräflichen Haus. Gegeben am Freitag nach Mauritius 1347!«

»Das hat sich gelohnt für den Grafen«, meinte einer der Bürger enttäuscht.

»Zwei Hinrichtungen, da hätten sie geschaut in Sielmingen. Da hätte man Jahre zu erzählen gehabt.«

»Kommt, wir müssen uns beeilen. Das sieht man auch nicht jeden Tag, wie ein so reicher Bürger um Gnade bitten muss.«

»Seht mal, was macht denn der?«

Der verurteilte Kaufmann war mit einem raschen Schritt, wobei er sich unter der Hand des Henkers wegduckte, nach vorne getreten, das Gesicht schmerzverzerrt. Man sah, wie er den Herren etwas zurief. Dann hatte ihn der Henker schon gepackt und grob nach hinten gerissen. Ein Knäuel aus drei, vier Richtern bildete sich, sie steckten die Köpfe zusammen. In einer augenscheinlichen Aufregung, die nicht recht zu seiner feierlichen Kleidung passen wollte, versuchte einer der Richter hinter den Verurteilten herzurennen, die auf den Platz hinausgeführt wurden. Aber ein anderer hielt ihn zurück und redete auf ihn ein.

»Wenn man wüsste, was der zu denen gesagt hat!«

»Bedankt wird er sich nicht haben!«

»Dabei hat er allen Grund dazu. Nicht einmal am Pranger muss er stehen, wie es doch jeder Lump muss, der aus der Stadt gewiesen wird.«

»Und nicht einmal mit der Rute werden sie gestrichen!«

»Und nicht einmal gebrandmarkt.«

Die Aussätzige sah eine Flut von Menschen hinausdrängen vor das Tor. Scheu wich man ihr aus, als sie durch eine kleine Pforte hinaus zu der Hinrichtungsstätte kam. Winzig waren die beiden Verurteilten auf dem runden Hügel vor der Mauer. Sie sah, wie sich die Verurteilten neigten und niederknieten, wie der Henker ihnen mit einer Rute den Rücken berührte. Dann ging sie zurück zu der elenden Behausung der Aussätzigen weit vor den Toren der Stadt.

Ein kalter Wind war aufgekommen, als die beiden Ausgewiesenen die endlose Steige bei der Burg Kaltental hinaufstiegen. Der Vater keuchte. Es ging langsam, langsam.

Christoph war betäubt und zitterte am ganzen Leib. Sein Atem ging stoßweise und schien immer wieder aussetzen zu wollen. Er weinte nicht mehr, aber das Schluchzen, das in der Kehle lauerte, war nur schwer zu unterdrücken. Es war ihm, als müsse er laut und ununterbrochen schreien.

An einer Biegung stieg über den Baumwipfeln plötzlich fast überdeutlich die Stadt Stuttgart auf – die Türme der Stiftskirche, der Block des Wasserschlosses, Dächer, Mauertürme. Dann zog sich Dunst in das Tal und Bäume versperrten die Sicht.

Sehr langsam kamen die Gedanken. Wohin? – Es war aus mit ihnen! Keine Stadt nahm sie auf! Weit und breit war kein Bauer, bei dem sie als Knecht unterkommen konnten. Es sprach sich rasch herum, wenn jemand aus einer Stadt ausgewiesen wurde. Es war verboten, sich mit einem solchen einzulassen. Berührte man ihn, wurde man unehrlich, denn die Hand des Henkers lag unsichtbar immer auf ihm. Man konnte sie nicht abschütteln und nicht abwaschen. Die Hand des Henkers war lang und folgte mit jedem Fuhrwerk. Sie war ein Makel wie ein Brandmal. Sie war wie eine ansteckende Krankheit. Er spürte noch immer diese schwere Hand auf seiner Schulter.

Er fühlte sich unsäglich schmutzig.

Verstohlen und von der Seite schaute er den Vater an. Kreidebleich war der unter den wilden Bartstoppeln. Beängstigend weiß waren seine Lippen. Stier geradeaus gerichtet war der Blick. Er murmelte. Als der Vater einmal stolperte, griff er nach Christophs Arm, aber der Griff war seltsam unsicher. Christoph konnte das Schweigen nicht brechen. Irgendwie tat es aber gut, den Vater zu stützen.

Seine Gedanken gingen zurück.

Vor nicht einmal zwei Wochen hatte es sehr früh am Morgen, als sie noch in den Betten lagen, an die Haustüre geknallt wie heute, Soldaten kamen hereingepoltert und nahmen den Vater mit, kaum dass er sich an dem kühlen Septembermorgen einen Umhang überwerfen konnte. Christoph kam bei Nachbarn unter. Als er nach einigen Tagen in das Haus zurückkehrte, waren ihre Knechte und Mägde verschwunden.

Christoph biss sich auf die Lippen. Wenige Tage vor seiner Verhaftung war der Vater im Kontor morgens schmunzelnd zu ihm an das Stehpult getreten. Er hatte den Vater seit dem Tod der Mutter nicht mehr so gesehen. »Willst du mit nach Italien? Im Frühjahr geht’s ab. Du darfst mit. Ein Kaufmann muss hinaus in die Welt, dort lernt er am meisten. Was sollst du zu Hause herumsitzen! In ein paar Jahren können wir für dich schon ein Kontor in Mailand oder Venedig einrichten. Dann wird sich unser Handel erst richtig ausdehnen.«

Italien! Christoph war sprachlos gewesen vor Glück. Und das sollte erst der Anfang sein: »Wir gehen später auch zusammen in den Orient, zum Kaiser von Konstantinopel und vielleicht noch weiter nach Osten. Wir kaufen die Gewürze möglichst nahe an der Quelle ein, wir beide!«

Schon im Frühjahr würde es nach Italien gehen! Über die Alpen! Genua, Mailand, Venedig, wo es Kirchen gab, fast ganz aus Gold. Und bald sollte er ein eigenes Kontor in Italien, vielleicht sogar im Orient bekommen. Er würde zu den Kaufleuten gehören, die am Tisch des Grafen von Wirtemberg von fremden Ländern berichteten, die einen Bisamapfel aus Elfenbein aus der Tasche zogen, als wäre es nichts. Er würde die Straßen des Gewürzhandels erforschen und die Verbindungen zu den großen Handelsgesellschaften erweitern. Noch war niemand dort gewesen, wo die Gewürze herkamen oder die kostbare Seide, in den geheimnisvollen Ländern Indien und China.

So hatten sie an den folgenden Tagen geredet. Wie schön das Leben war. Man konnte es kaum erwarten.

Er presste die Nägel in die Handballen – dann – am frühen Morgen – die Schläge gegen die Türe –

Der Vater war angeklagt, peinlich angeklagt, weil er Gewichte gefälscht habe. Auf dieses Verbrechen stand die Todesstrafe. Christoph hatte bis heute nichts mehr von seinem Vater gehört, auch besuchen durfte er ihn nicht im Turm, in den man ihn wie einen Mörder gelegt hatte. Er war einige Male barsch abgewiesen worden, nicht einmal Essen durfte er dem Vater bringen lassen.

Er hatte versucht zum Grafen vorzudringen. Aber der habe keine Zeit für einen kleinen Jungen, hatte es geheißen – kleinen Jungen! Zweimal wäre es ihm fast geglückt, den Grafen auf dem Marktplatz anzusprechen, über den er geritten war. Aber einige Bauern mit Bittschriften hatten ihre Ellbogen und Fäuste eingesetzt. Er hatte um sich geschlagen, geschrien, gedrückt, gebissen, gekrallt, aber die Bauern waren vierschrötige Klötze, die ihn weggedrückt hatten wie einen mageren Sperling.

Christoph ging mit gesenktem Kopf.

War der Vater wirklich schuldig? Es war ganz unmöglich, sich das vorzustellen. Sein Vater: ein grauhaariger, nüchterner Mann, der sich mit Härte und Mut zum führenden Gewürzkaufmann der ganzen Grafschaft Wirtemberg gemacht hatte, der als erster der Stuttgarter Kaufleute nach Italien gegangen war. Gewichte fälschen! Das passte nicht zu ihm, er war immer ein rechtlich denkender Mann gewesen, immer hatte er Christoph gesagt, dass man zwar hart sein müsse im Geschäft: »Sonst machen es andere! Aber mach es so, dass jeder, dem du einmal etwas verkauft hast, wieder zu dir kommt.«

Er konnte es nicht getan haben!

Welchen Sinn sollte es auch haben! Der Vater bestimmte weit und breit, über die Grafschaft Wirtemberg hinaus, die Preise der Gewürze. Was sollte es ihm nützen, Gewichte zu fälschen?

Es war aber auch unmöglich, sich vorzustellen, dass das Gericht sich geirrt und ein Fehlurteil gesprochen hatte. Zwar hörte man Geschichten von Menschen, die unschuldig verurteilt worden waren. Aber das waren Märchen oder die Urteile waren vor sehr langer Zeit gefällt worden. Heute gab es solche Fehlurteile nicht mehr.

Tagelang war er ruhelos durch das leere Haus gegangen: die leere Stube, die einsamen Kammern, die lauten Schritte, die Truhen, Tische und Stühle, die immer fremder wurden.

Immer war man am Abend nach Hause gegangen, einfach nach Hause. Das gab es nicht mehr! Nie mehr! Nicht mehr den vertrauten Türklopfer, die Haustüre mit ihren kunstvollen Beschlägen, die Stube mit den Holzwänden und der geschnitzten Holzdecke und den Dielen, die so vertraut geknarrt hatten. Das warme Bett, in das ihn früher die Mutter – die Mutter –

Der Wind trug erste Regenspritzer vom Wald herunter.

Der Vater murmelte. Wenn man es nur verstehen könnte! Waren es nicht Zahlen, immer dieselben Zahlen?

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – «

Was war das? – Rechnete der Vater – Christoph erinnerte sich, dass sich der Vater, als sie aus dem Gericht geführt worden waren, plötzlich umgedreht und den Richtern Zahlen zugerufen hatte.

Was war mit diesen Zahlen? Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Christoph begann zu rechnen, als könne ihn das von seinem Unglück ablenken: Gut, das ergab, wenn man sie zusammenzählte, genau hundert. Zog man von hundert die zehn ab, so erhielt man neunzig, zog man weitere fünfzehn ab, so ergaben sich, Christoph musste sehr lange nachdenken und die Hände zu Hilfe nehmen, es ergaben sich wieder fünfundsiebzig. Das war überraschend. Aber was konnte es bedeuten? Christoph konnte mehr nicht rechnen, er hätte sein Rechenbrett haben müssen.

War der Vater ein Zauberer? Einer, der mit Zahlen zauberte?

Er nahm allen Mut zusammen: »Was rechnest du da? Ich glaube, wir müssen Wichtigeres bereden.«

Es war, als hätte der Vater nur darauf gewartet, dass ihn der Sohn anredete. Christoph hörte einen heftigen Atemzug. »Es gibt nichts Wichtigeres als diese drei Zahlen!« Der Vater blieb stehen, keuchend, er griff nach der Hand seines Sohnes.

Christophs Stimme zitterte: »Vater, was ist mit diesen Zahlen?« Dann brach es aus ihm heraus: »Vater, sag doch, dass du nicht schuldig bist, sag es doch!«

»Die Zahlen, weißt du, beweisen es«, flüsterte der Verurteilte. »Diese Zahlen haben uns ins Unglück gestürzt, aber sie können uns auch wieder heraushelfen.«

Christoph stand atemlos. Hoffnung – ein winziger Spalt am Regenhimmel. Er starrte den Vater an.

»Ich habe sie ihnen gesagt, ins Gesicht gesagt. Ihnen diese Zahlen ins Gesicht gesagt.«

»Was sind das für Zahlen? Wem hast du was ins Gesicht gesagt?

Was haben diese Zahlen mit unserem Unglück zu tun?« Christoph schluckte, seine Stimme ging in Schluchzen über.

Wenn das wahr würde, wenn sie zurückkehren könnten, wenn alles wieder so werden würde, wie es noch vor wenigen Tagen gewesen war! Wieder ehrlich! Stuttgart! Italien!

Der Vater murmelte und wurde immer unverständlicher: »Den Richtern, den Kaufleuten, denen, die mich verfolgen, habe ich sie gesagt. Es sind zwei in Stuttgart, vielleicht auch vier, drei in Straßburg, wenigstens drei. Hast du gesehen, wie sie erschrocken sind: Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – «

Der Vater taumelte, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er stolperte. Christoph fing ihn auf. Es regnete.

Über die Wälder um die Glems rauschte der Regen, als es dunkel wurde. Die beiden Schafhirten, die vor einer Lehmhütte Feuer gemacht hatten und sich die Hände wärmten, sahen durch den Regen im letzten Dämmerlicht zwei Gestalten aus dem Wald kommen, eine größere und eine kleinere. Der Ältere musste gestützt werden, er wankte hin und her; der Kleinere hatte Mühe ihn vor dem Fallen zu bewahren. Die Hunde, die sie umschnoberten, beachteten sie nicht. Der Ältere ging in Lumpen, der Junge hatte eine seltsam reiche Kleidung an. Beide waren vollkommen durchnässt.

»Lasst uns die Nacht am Feuer verbringen, wir erfrieren sonst. Bitte!« Der Junge hatte eine auffallend helle Stimme.

Die Männer rührten sich nicht.

»Und vielleicht habt ihr ein Stück Brot für meinen Vater und auch für mich.«

»Wie ein Bettler siehst du nicht aus.«

»Bitte. Wir haben Hunger und wir frieren. Um Jesu Christi willen!«

Der jüngere Schafhirt, den der andere Hetz nannte, trat rasch heran, blieb aber in einem gewissen Abstand stehen. »Du«, sagte er zu dem Alten, »du, zieh deinen Umhang aus und lass uns deine Arme sehen.«

»Lass uns an das Feuer«, sagte der Junge.

»Hörst du nicht!«

Der alte Mann richtete sich auf, wobei sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. Er sagte nichts, hielt aber die Enden seines Umhangs krampfhaft auf der Brust zusammen.

Der Regen rauschte, das Feuer qualmte.

»Heute haben sie zwei aus der Stadt gewiesen«, sagte Hetz. »Zeig deine Arme!«

»Lass sie, sie haben Hunger und sind nass und frieren«, brummte der ältere Hirte.

»Und dann kommen wir in etwas hinein. Die haben Gewichte gefälscht! Der Matze hat es gesagt, der ist heute aus der Stadt heraufgekommen. Zeig deine Arme!«

Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt trat an das Feuer, krumm, hinkend und so langsam, dass es fast feierlich aussah. Umständlich öffnete er seinen Umhang, zog den Strick, der sein Hemd zusammenhielt, auseinander, dass es herabfiel und den Blick auf den Oberkörper freigab. Er hob die Arme sehr sehr langsam ein kleines Stück an.

Christoph schrie laut auf, die beiden Hirten hatten die Augen aufgerissen: Im Schein des Feuers waren Achseln und Schultern unförmig blaurot verschwollen, schwarz und dick stand es in den Achselhöhlen, eine braune Blutbahn zog sich zum Bauch hinunter.

Schweigen.

»Aufgezogen haben sie dich«, sagte Hetz langsam, »die Arme auf den Rücken gebunden und dann hochgezogen, erster Grad, dann ein Gewicht an die Füße gehängt, zweiter Grad, dann schwereres Gewicht, dritter Grad – «

Christoph stand und starrte noch immer.

Der ältere Hirte sagte mit unsicherer Stimme: »Setzt euch an das Feuer. Hier unter das Vordach, da kann der Wind den Regen nicht so hinwehen.«

Hetz stand auf: »Aber das sage ich euch, was ihr esst, wird bezahlt! Dass das klar ist.«

»Lass sie zufrieden. Die haben doch kein Geld!« Die beiden bekamen zu essen und zu trinken. Aber keiner der beiden Hirten berührte sie.

Der Regen rauschte in den Bäumen.

Die Kerzen flackerten in dem kostbaren Zimmer. Man hörte, wie der Regen von den Dächern tropfte. Ein kühler Luftzug war im Raum. Einer der beiden Kaufleute schloss das Fenster.

»Er weiß alles und er lebt!«

»Er lebt als Gerichteter, als Geächteter. Er kann uns nicht mehr schaden als ein Toter.«

»In diesem Fall habe ich auch Angst vor Toten.«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Der Graf.«

»Der weiß nicht, was er tut.«

»Er ist ihm dankbar, weil er ihm vor drei Jahren Geld geliehen hat.«

»Hör zu. Er lebt und wir haben versprochen, dass er sterben wird.«

Ganz nah hörte man eine Glocke von der Stuttgarter Stiftskirche läuten.

»Du wirst doch nicht – «

»Wir haben versprochen, dass er stirbt. Und als wir das versprochen haben, wussten wir noch nicht einmal, was er wirklich wusste.«

»Wir hatten nur den Verdacht.«

»Jetzt wissen wir es genau, er hat die Zahlen gesagt, er hat sie uns zugerufen. Unser Schlag muss überraschend erfolgen. Also?«

»Ja, wenn es nicht anders geht.«

»Es geht nicht anders.«

»Du weißt, wovon du redest?«

»Du weißt, dass du es nicht selbst machen musst.«

»Ja dann – und wo? Wo sind sie hingegangen?«

»Du weißt es.«

Stille.

»Wo würdest du hingehen? Er kennt die Zahlen.«

»Ja, du hast Recht.«

»Halt! Wir müssen alle beide –!«

»Er ist doch aber noch ein Kind.«

»Aber er weiß. Der Vater sagt es ihm.«

»Also beide.«

Der Nebel hing in den silbernen Spinnennetzen und in den gelben Bäumen.

Der Alte schien sich in der Nacht etwas erholt zu haben, er wirkte lebendiger als am Abend. Dennoch war jede Bewegung sehr mühsam. Aber sein Gesicht war nicht mehr so bleich und steinern. »Könnt ihr uns etwas mitgeben für den Tag, etwas Brot und vielleicht auch etwas Käse?« Die Stimme zitterte.

Nur Hetz war da. »Wie wär’s denn mit einer gebratenen Gans für die Herren oder mit einer Bratwurst? Darf es auch ein Schluck Wein sein? – Oder wie wär’s mit einer Pastete? Das seid ihr Herren doch gewohnt.«

»Man soll Unglück nicht verhöhnen!«

»Des einen Unglück ist des anderen Glück: Ihr werdet bezahlen für Speis und Trank, für jeden Brotkrümel, meine Herren.«

»Wir können nicht bezahlen.«

»Aber sicher doch. Was hat denn das Söhnchen da für ein hübsches Wämschen an. So eines wollte ich schon lange haben.«

Der Alte richtete sich auf. Christoph; dem das Blut ins Gesicht geschossen war, und der bereits abschätzte, ob er mit dem Hirten fertig werden konnte, staunte: Es war fast so, als wäre der Vater heil und unversehrt.

»Gut, dann machen wir einen Handel«, sagte der mit fester Stimme und ging auf den Hirten zu, wobei sich sein Gesicht etwas verzog, »das Wams wird dir kaum passen!« Der zottige Hund knurrte.

»Passen oder nicht, meinst du, ich hüte darin die Schafe? Das wird so schnell wie möglich verkauft und läuft durch die Gurgel. Her damit! Er kann mein altes Zeug dafür haben.«

Immerhin schlug der alte Kaufmann noch einen Laib Brot, ein Stück Käse und ein Säckchen mit Hafer heraus. Und als Hetz verschwunden war, stellte Christoph fest, dass er die Schuhe behalten hatte.

»Jetzt sind wir wirkliche Bettler«, sagte der Vater.

Wieder ging er nur sehr langsam weiter.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Christoph zögernd, der in der Nacht am Feuer sehr unruhig geschlafen hatte. Einmal hatte er sich aufgerichtet und die vom Feuer beleuchteten Bäume gesehen. Er hatte sich lange nicht zurechtgefunden. Noch nie in seinem Leben war er in der Nacht im Freien gewesen. Nachts sollten die bösen Geister unterwegs sein. Der Regen hatte aufgehört, er sah über sich den Sternenhimmel. Die Glut des Feuers wärmte, seine Kleider waren fast trocken.

Dann hatte er den Vater sitzen sehen. Unbeweglich, den Blick hinaufgerichtet zu den Sternen. Seine Lippen bewegten sich. Aber es gab doch Hoffnung! Er hatte sich vorgenommen den Vater gründlich auszufragen. Wenn der nur nicht wieder so seltsam war.

Auch jetzt schien der Vater irgendwie entrückt: »Die Zahlen, wir folgen einfach den Zahlen.«

Christoph wurde es unheimlich. War der Vater krank? Hatte die Folter ihm den Verstand genommen? Er hatte schon davon gehört, dass Leute unter der Folter den Verstand verloren hatten. Was sollten diese Zahlen? Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Die Hoffnung von gestern erschien ihm auf einmal fern und sinnlos.

»Man kann doch keinen Zahlen folgen!«

»Man kann, ich kann.«

Der Vater sah Christoph an. Es war, als würde er ihn seit ihrer Ausweisung aus Stuttgart zum ersten Mal wirklich sehen, sein Blick schien zurückzukehren wie aus sehr weiter Ferne. Dann sagte er nach langer Stille: »Christoph, glaubst wenigstens du mir, dass ich unschuldig bin, dass ich die Gewichte nicht gefälscht habe?«

»Ja, aber warum sind wir dann hier, Vater? Warum hat man dich zum Tode verurteilt? Und warum hat man uns ausgewiesen?« Er konnte ein Schluchzen nur schwer unterdrücken.

Der Vater fasste ihn am Arm, wobei er fast nur den Unterarm gebrauchte – die Schulter schien seltsam steif – eine Bewegung, die sehr schmerzhaft sein musste, wie Christoph merken konnte. »Ich weiß es nicht und ich weiß es. Aber ich kann dir nichts Sicheres sagen. Eines weiß ich gewiss, wir sind beide keine Verbrecher. Nicht jeder, den sie verurteilen, ist ein Verbrecher.«

»Aber die Gewichte! Der Waagemeister hat sie doch geprüft – sie waren doch falsch!« Es fiel ihm schwer, den Satz auszusprechen.

»Kind?«, der Vater keuchte und drückte die Hand auf die Brust, aber auch das schien mit großen Schmerzen verbunden, »man kann falsche Gewichte unterschieben. Man kann nachts in mein Warengewölbe einsteigen, man kann die Kästen mit den Gewichtssätzen öffnen und kann die Gewichte vertauschen. Das alles kann man.« Die Stimme des Vaters klang gepresst, als bereite ihm auch das Sprechen große Qualen.

»Und dann zuschauen, wie sie einem alles wegnehmen, wie sie dich zum Tode verurteilen, wie sie uns aus der Stadt ausweisen, wer kann das?« Christoph schüttelte es.

Der Vater ging immer langsamer.

Christoph sah, dass seine Arme eigenartig steif an den Körper gelegt waren. »Hat man das alles mit dir gemacht, was der Hetz gesagt hat?«

Der Vater atmete sehr hart beim Gehen, wieder stand ihm Schweiß auf der Stirn. »Es ist wie die Hölle. Man kann sich nicht vorstellen, was die Menschen für Teufel sein können. Damit meine ich nicht den Henker. Der tut seine Pflicht und hat es schwer genug. Ich meine die, welche daneben stehen und sagen: ›Weiter! Noch einen Grad, ein schwereres Gewicht! Noch einen Grad! Gesteh endlich, du Schwein!‹«

Lange Zeit war Stille. Christoph konnte nicht sprechen. Er hatte die Hand vorsichtig auf den Arm des Vaters gelegt, aber der war selbst bei der leichten Berührung zusammengezuckt.

»Sie müssen mir die Gewichte vertauscht haben, als ich noch in Pforzheim war vor ein paar Wochen, nachts, ohne dass es jemand gemerkt hat. Wer konnte sich das auch vorstellen!«

»Aber warum? Warum? Was haben sie davon? – Und wer?«

»Ich weiß wenig, fast gar nichts. Aber ich weiß die Zahlen, und weiß sicher, dass ich wegen ihnen verfolgt werde. Ich habe die Gewissheit erhalten, als ich gestern diese Zahlen gerufen habe, bevor wir zum Richtplatz geführt worden sind. – Ich habe große Schmerzen. Lass uns dort auf den Steinriegel sitzen.«

Christoph musste den Vater wie am Abend stützen, als er sich umständlich und steif und sehr langsam an den Steinhaufen mehr lehnte als setzte.

»Als ich vor zehn Wochen in Straßburg war – mein Gott, das ist ja schon ein ganzes Menschenleben her –, da kam abends ein Bürger, ein einfacher Mann, vielleicht ein Schmied, er hatte rußige Hände, in meine Herberge und wollte mich unter vier Augen sprechen. Ich war aber nicht allein. Ich trank mit einigen Straßburger Geschäftsfreunden Wein und wir redeten über den Handel. Du weißt, dass man in einer solchen Runde die besten Geschäfte machen kann.«

Christoph sah den Vater vor sich, wie er ihn oft gesehen hatte: den stattlichen Kaufmann, den jedermann grüßte in seinem reichen Gewand. Er erinnerte sich noch, wie der Vater damals weggeritten war, begleitet von zwei Knechten, und wie eine Nachbarin gesagt hatte: »Du kannst stolz sein auf deinen Vater, ein prächtiger Mann, er sitzt zu Pferde wie ein Ritter.« Und jetzt –

»Nun, ich wies den Mann ab.«

Der Vater hustete, wobei er die Hand zum Mund führen wollte, es aber vor Schmerz nicht konnte. Auch das Husten musste schrecklich sein. Er war bleich geworden und die Stirn war bedeckt von Schweißtropfen.

»Es war schwer, ihn abzuweisen: Es sei ganz außerordentlich wichtig, wenn ich ihn nicht anhöre, geschehe ein schreckliches Unglück. Er kam mir wirklich sehr ungelegen, ein größeres Geschäft stand unmittelbar vor dem Abschluss – weshalb ich ihn nun mit deutlichen Worten abwies, man kann fast sagen, hinauswarf. Weshalb sollte ich mich stören lassen? Er beschwor mich geradezu, ich solle ihn doch um des Himmels willen anhören, alles Glück der Welt stehe auf dem Spiel. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich auf die Knie geworfen.«

Er hielt erschöpft inne und atmete schwer.

»Und weiter? Was wollte der Mann sagen?«

»Ich weiß es nicht. Aber die Kaufleute in meiner Kammer waren aufmerksam geworden. Als jetzt einer herauskam mit offenem Mund – wie es mir schien, zu Tode erschrocken –, wandte sich der Mann rasch zur Türe. Aber der Kaufmann sprang blitzschnell auf ihn zu und wollte ihm einen Pergamentstreifen, den ich gar nicht bemerkt hatte, aus der Hand reißen. Der fiel zu Boden und ich habe ihn aufgehoben. Sofort wurde er mir aus der Hand gerissen.

Meine Gäste waren wie verwandelt: Das Geschäft, das kurz vor dem Abschluss stand, kam nicht zustande und sie verabschiedeten sich schnell.

Am anderen Tag war ein Essen in der Straßburger Kaufmannsgilde, wo ich schon oft zu Gast war. Ich sage dir: Schlechter ist noch kein Gast behandelt worden. Nun, sie waren höflich. Daran fehlte es nicht. Aber es war eine kalte Höflichkeit, die einem den Atem benahm und den Appetit verdarb. Es ging von wenigen führenden Kaufleuten aus, drei waren aus Straßburg. Zwei waren aus Stuttgart. Und beide haben mich gestern als Richter zum Tode verurteilt.«

»Aber warum das alles? Was war das für ein Schmied? Was war das für ein Pergament, stand etwas darauf?«

»Den Schmied habe ich nicht mehr gesehen. Man drängte auf meine Abreise. Ich habe es zuerst gar nicht bemerkt. Ein Geschäft wurde mir empfohlen auf dem Heimweg in Pforzheim abzuschließen, das sei sehr lohnend, aber eilig. Überflüssig zu sagen, dass da nichts war in Pforzheim.«

»Und der Pergamentstreifen?«

»Den konnte ich lesen, als ich ihn vom Boden aufhob. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für Zahlen, wie jeder Kaufmann, deshalb habe ich mir die Zahlen gemerkt. Es standen auch Wörter dabei, aber ich habe nur auf die Zahlen geachtet.«

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn.«

»Ja.«

Der Vater atmete schwer.

»Und was bedeuten diese Zahlen?«

»Wenn ich das wüsste. Schade, dass ich die Wörter, die bei den Zahlen standen, nicht gelesen habe, es war eine flüchtige, schwer lesbare Schrift – ich konnte ja nur einen winzigen Blick auf das Pergament werfen. Aber offenbar ist es etwas sehr, sehr Wichtiges und etwas sehr Geheimes, wenn sie dafür nachts gefälschte Gewichte austauschen und Menschen hinrichten lassen.«

»Kann es so etwas überhaupt geben?«

Langes Schweigen.

»Du kannst mir glauben, ich habe mir im Gefängnis den Kopf zermartert, dass ich schier wahnsinnig geworden bin. Aber ich bin keinen Schritt weitergekommen.«

»Zauberei?«

»Weißt du, ich kann nicht so recht glauben an Zauberei. Was könnte es sonst sein? – – Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn.«

Er schwieg wieder lange.

»Mit Zahlen soll man ja zaubern können – «

»Es wird gesagt. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der wirklich zaubern konnte.«

»Werden Zauberer nicht verbrannt? – Es heißt, dass die Templer in Frankreich, die sie vor vierzig Jahren verbrannt haben, hätten zaubern können«, sagte Christoph.

»So heißt es. Andere aber sagen, dass die Templer sehr reich gewesen seien und dass sie dem König von Frankreich zu gefährlich geworden seien. Deshalb habe er mit dem Papst zusammen eine Anklage erfunden, eben Zauberei, und sie seien dann wegen ihres Reichtums und ihrer Macht hingerichtet worden.«

Die beiden schwiegen und sahen einem Schwarm Krähen nach, der über die Stoppeläcker flog. Man hörte die Krähen schreien. Im dürren Gras in der Nähe raschelte der Wind.

Dann begann der Vater wieder: »Eines ist aber doch sehr seltsam gewesen mit den Templern. Der Oberste des Ordens hat auf dem Scheiterhaufen, als das Feuer schon brannte, mit lauter Stimme geredet. Er hat den König von Frankreich und den Papst angeklagt wegen Betrugs, Verleumdung und Mord: ›Ich rufe euch, König und Papst, vor Gottes Gericht, der soll richten zwischen euch und mir. Ich rufe euch, wie es der Brauch ist, binnen vierzehn Tagen vor den Richterstuhl Gottes!‹«

Der Vater presste die Lippen so hart zusammen, dass sie dünn wurden wie ein Messer und fast schneeweiß.

»Und dann?«, fragte Christoph atemlos.

»Beide, der Papst und der König von Frankreich, sind innerhalb von vierzehn Tagen gestorben! Es hat, als ich so alt war wie du, ein Kaufmann bei uns daheim erzählt. Der war selbst dabei, als sie den Ordensmeister verbrannt haben, und er hat die Forderung mit eigenen Ohren gehört.«

»Dann hat der Ordensmeister doch zaubern können.«

»Kind, ich weiß es nicht.«

Der Nebel hatte sich aufgelöst, der Himmel hatte sich weiß bezogen, ein kühler Wind war aufgekommen. Sie sahen Felder und Wälder bis zum Horizont. Ab und zu stach ein Kirchturm aus den Mulden. Irgendwo läutete eine Glocke. Zwischen langen Steinriegeln an den Abhängen wuchsen Hecken. Eine Schlehenhecke, schon kahl, stand an ihrem Kopf, und Christoph sah einen dicken, schwarzen Käfer, aufgespießt an einem langen Dorn.

»Das macht der Neuntöter«, sagte der Vater, der dem Blick des Jungen gefolgt war, »so komme ich mir auch vor.«

Dann stand er auf: »Wir müssen nach Straßburg, wir müssen den Zahlen nach.«

»Was heißt das?«

»Wir wollen unser Haus wiederbekommen und du sollst später mein Geschäft fortsetzen.«

»Wir sind ausgewiesen«, sagte Christoph leise, »wir können nie mehr zurück nach Stuttgart.«

»Doch, ich weiß es und du musst es mir glauben: Wir werden die Täter überführen, dann wird das Urteil aufgehoben, und wir können in unser Haus zurück und in das Geschäft.«

Christoph biss sich auf die Lippen. »Wenn du nur Recht hättest – sie sind stärker als wir. Wir dürfen die Stadt Straßburg nicht einmal betreten. Wenn sie uns erwischen, werden wir hinausgepeitscht.«

Der Vater sah ihm ins Gesicht. »Die Stadt Straßburg ist groß. Die Schwachen können auch die Starken sein. Wenn ein Starker in die Stadt kommt, dann merkt man es, einen Schwachen übersieht man leicht. Und merk dir, die Schwachen halten eher zusammen, die Starken bekämpfen sich, weil jeder der Stärkste sein will. Freilich, wenn es um das nackte Leben geht, werden auch die Schwachen zu Mördern.«

Nur die Tatsachen zählen, hatte der Vater immer gesagt, lass die anderen spekulieren, wie sie wollen, zähl immer nur zwei und zwei zusammen, lass nichts sonst gelten. Das und Mut, das sind die Geheimnisse des Erfolgs. Christoph blickte hinauf zum Gesicht des Vaters. Wenn der Vater es wusste, dass sie gerettet werden konnten –

Welche Kraft ging von ihm aus! Er konnte kaum noch gehen, aber er redete trotz seiner schwachen Stimme so sicher wie zu Hause im Kontor, wenn er mit anderen Kaufleuten verhandelt hatte: »Ich kenne diese Männer, die mir ans Leben gehen wollen, ich weiß, wie ich sie anpacken kann.« Die Augen des Vaters schienen wieder Glanz zu bekommen.

Nach langer Zeit sagte der Vater: »Lass uns zusammenzählen, was wir wissen – alles, was uns irgendwie nützen kann.«

»Da sind die drei Zahlen, mit denen offenbar alles angefangen hat.«

Der Vater nickte.

»Wenn wir auch nicht wissen, was sie bedeuten.«

»Aber wir wissen, dass sie unvorstellbar wichtig sein müssen – so wichtig, dass man dafür Menschen umbringt.« Der Vater stolperte, Christoph konnte ihn gerade noch an einem Arm auffangen und der Vater stöhnte laut.

Der Vater fuhr mit bebender Stimme fort: »Wir wissen auch, wer die Täter sind, wenigstens einige von ihnen: Drei Straßburger Kaufleute kenne ich namentlich. Dazu kommen die zwei Stuttgarter Richter von gestern. Sie alle waren beteiligt. Mindestens fünf Täter.«

»Wie heißen sie?«

»Ich sage dir die Namen erst, wenn wir in Straßburg sind.«

»Warum?«

»Damit du sie nicht weißt, wenn du gefragt wirst.«

»Ich sage sie niemandem.«

»Sicher, aber du weißt nicht, wie sie fragen können!«

»Wir wissen nicht, was sie über uns wissen. Wir müssen es herausfinden.«

»Sie wissen, dass wir die Zahlen kennen. Sie wissen nicht, ob wir noch mehr wissen. Der Schmied hätte am Tag meiner Abreise bei mir sein können, ohne dass sie das gemerkt hätten.«

Christoph war stehen geblieben, sein Mund war plötzlich trocken: »Vater, wenn sie dich schon wegen der Zahlen und auf Verdacht hin, dass du mehr weißt, umgebracht hätten, dich schon zum Tode verurteilen ließen, uns beide aus der Stadt ausgewiesen haben und wir leben – aber dann – dann – «

Der Vater lehnte sich an einen dürren Baum: »Ich wollte dich schonen, aber du musst es aushalten. Unser Leben ist immer noch in allergrößter Gefahr.«

Die großen Handelsstraßen führten über Pforzheim oder Horb in das Rheintal und dort nach Straßburg. Beide waren zu gefährlich. Sie mussten auf heimlichen Pfaden über den Schwarzwald gehen.

Er merkte, wie die Schultern langsam steif wurden. Beide Schultern waren bei der Folter ausgerenkt worden, zwar hatte sie ihm einer der Henkersknechte mit groben Griffen wieder eingerenkt, aber er konnte die Arme kaum bewegen. Und das wurde von Tag zu Tag schlimmer, bald würde er nur noch die Unterarme bewegen können.

Schon beim sechsten Grad hatte er gestanden. Die Last, die sie ihm an die Füße gehängt hatten, war entsetzlich. Er war ohnmächtig geworden, und als er wieder zu sich kam, mit Höllenqualen in den Schultern, nass und frierend auf dem Steinboden liegend – offenbar hatte man einen Eimer mit kaltem Wasser über ihn gegossen –, und der siebte Grad angekündigt wurde, da hatte er gestanden.

Es war von vornherein sinnlos gewesen, nicht zu gestehen. Sie hatten die Gewichte bei ihm gefunden! Es war der Waagemeister selbst, der gegen ihn aussagte. Der Waagemeister war ein Mann von untadeligem Ruf. Zudem wusste in Stuttgart jeder, dass er der Familie Schimmelfeldt viel zu verdanken hatte: Wenn gerade der Waagemeister gegen ihn aussagte, so musste jeder Heinrich Schimmelfeldt für schuldig halten. Der Betrug war mit großer List angelegt worden.

Nach Tagen einer Betäubung, die ihn eingehüllt hatte wie eine Binde, schien er langsam zu erwachen. Er erinnerte sich kaum an den ersten Tag nach der Verurteilung. Es war wie eine lange und grauenvolle Nacht gewesen. Jetzt war er erwacht. Da war sein Sohn, der ebenfalls zum Bettler geworden war. Aber sein Sohn war der einzige Mensch, der ihm glaubte, dass er unschuldig war. Er sah ihn an: einen aufgeschossenen Jungen, mager und sehnig. Das Gesicht schien eher zart, aber er wusste, dass er kräftiger und zäher sein konnte, als es den Anschein hatte. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich. Er hatte die üppigen, dicken schwarzen Haare seiner Mutter und ihre blauen Augen. Sie waren bei ihm etwas wässeriger als bei ihr, aber es waren die Augen von Heinrich Schimmelfeldts Frau, die ihn ansahen, wenn der Junge zu ihm aufblickte.

Er hatte den Blick des Jungen noch vor Augen, als er ihm von der Möglichkeit einer Rückkehr nach Stuttgart gesagt hatte – voller Vertrauen und gleichzeitig voller Angst! Christoph war etwas verwöhnt, das wusste er. Vor allem nach dem Tod der Mutter hatte er dem Jungen zu oft nachgegeben. Er hatte nicht unbedingt den starken Willen des Vaters, aber der glaubte zu wissen, dass Christoph durchhalten konnte, wenn es darauf ankam. Der Junge sollte wieder lachen können. Und sie würden gemeinsam das Geschäft wieder aufbauen, wie es vorher gewesen war!

Nur als Bettler hatten sie eine Chance. Als Bettler erkannte ihn vielleicht niemand, er konnte sich umhören: Er kannte die Namen, nach denen er fragen musste. Er konnte seine Gegner heimlich beobachten.

Die drei Zahlen sagten ihm nichts und im Gegensatz zu Christoph hielt er es für völlig sinnlos, über ihre Bedeutung zu grübeln. Christoph war voller Hoffnung, es herauszufinden, und sprach fast über nichts anderes. Er war so eifrig, wenn er darüber sprach. Seine Augen glänzten dann. Es war schön zu hören und zugleich schmerzlich.

Was für Motive konnten die Kaufleute haben, einen Konkurrenten umzubringen? Es ging hart zu im Geschäftsleben. Aber es gab unter Kaufleuten eine Grenze, die niemand überschritt. Ja, es war üblich, dass Kaufleute einander halfen, und Kaufleute aus einer anderen Stadt galten den Einheimischen als Gäste. Jeder Trick war recht dem anderen ein Geschäft wegzunehmen, ja, ihn sogar geschäftlich zu ruinieren, wenn er dumm genug war. Aber ihn körperlich zu vernichten, das vertrug sich nicht mit der Ehre des Kaufmannstandes. Das war ganz undenkbar.

Dennoch war es hier geschehen.

So reichte das Streben nach Gewinn nicht als Erklärung aus. Es war auch kein Geschäft zu erkennen, das sie damals auf seine Kosten hätten machen können, indem sie ihn ausschalteten. Er überschaute alle wichtigen Geschäfte, die es damals gab, aber keines würde ein solches Verbrechen erklären. Sein geschäftlicher Tod schaffte vielen Kaufleuten einen gefährlichen Konkurrenten vom Hals, viele schuldeten ihm Geld. Dennoch musste noch sehr viel dazukommen, bis ein derartiges Verbrechen geschah.

Was war das Hauptmotiv des Verbrechens? Da konnte er sich nur Macht denken! Nach Reichtum streben durfte jeder Mensch, wenn auch nicht auf verbrecherische Weise. Auch nach Macht durfte man streben, vor allem wenn man ein Fürst oder ein hoher Kleriker war. Aber Streben nach Macht, um Reichtum zu erlangen, oder Reichtum, um Macht zu erlangen – das sah er deutlich: Das konnte jeden zum Verbrecher machen. Ein solches Streben nach Macht musste hinter den drei Zahlen stecken.

Es musste eine gewaltige, eine riesengroße Macht sein, wenn solche Verbrechen dafür begangen wurden.

Das Wort Schwarzwald klang gefährlich. Christoph kannte selbst die Wälder um Stuttgart kaum. Es sollte dort tiefe, geheimnisvolle Stellen geben, die man besser mied. Kinder seien dort am hellen Tag einfach verschwunden, erzählte man sich. Schlief man ein im Wald, so kamen Libellen und nähten einem Lippen und Nase zu, dass man ersticken musste. Auch in den Feldern um Stuttgart konnte es gefährlich sein. In den Ährenfeldern lauerte die Kornmuhme und zog einen unter die Erde. Die Regenfrau sang in den Wiesen am Neckar und verwirrte die Wanderer.

Viel wurde vom Schwarzwald erzählt. In den großen Waldschluchten lebten gefährliche Tiere, wie Wölfe, Bären, Luchse, Füchse und Wildschweine, die Menschen fraßen. In solchen Wäldern hausten böse Geister. Zwerge saßen an den Wurzeln der Bäume und führten Wanderer in die Irre, ebenso wie die Irrlichter, die bei nächtlichen Gewittern in den Mooren tanzten. Riesen brachen nachts Bäume und stürzten sie auf Menschen. In den Klüften hausten Dämonen, die Kinder einfach mitnahmen, durch die Lüfte entführten und sie in einem fernen Land zu Sklaven machten. Nachts brannten in diesem riesigen Wald geheimnisvolle Feuer, von denen niemand wusste, wer sie angezündet hatte und wozu. Er wusste vom Mummelsee, einem pechschwarzen See, unter dessen Wasseroberfläche man am hellen Tag die Hände von Geistern rudern sehen konnte. Warf man einen Stein in diesen See, so brachen fürchterliche Unwetter los.

Er war kein Kind mehr und er wusste, dass nicht alles stimmte, was in den Märchen und Geschichten zu hören war. Aber sicher war vieles richtig.

So war es auch mit diesen rätselhaften Zahlen. Es konnte sich ja nur um Zauberei handeln – was der Vater unbegreiflicherweise bezweifelte. Aber wer zaubern konnte, der hatte Macht über Geister und Menschen. Wenn er, Christoph Schimmelfeldt, zaubern könnte! Zuerst würde er den Vater gesundzaubern, dann würde er schlimme Krankheiten auf die Menschen hetzen, die sie zu Bettlern gemacht hatten und die sie umbringen wollten und vielleicht auch jetzt noch umzubringen versuchten. Wenn man doch nur schon in Straßburg wäre!

»Vater, wann sehen wir denn die ersten Berge, die zum Schwarzwald gehören?«

»Wenn wir von Straßburg aus kommen würden, dann stünden sie längst wie eine mächtige Wand vor uns. Aber von dieser Seite hier gehen wir in den Schwarzwald eigentlich zuerst hinunter, weil wir höher sind als die Täler des Schwarzwalds.«

»Müssen wir durch den ganzen Schwarzwald?«

»Ein großes Stück, weil wir uns verstecken müssen.«

»Ist es im Schwarzwald wie in der Via Mala, von der du uns so oft erzählt hast?«

»Es gibt auch im Schwarzwald Schluchten. Aber sonst ist der Schwarzwald ganz anders als die Alpen und die Via Mala. Die Berge im Schwarzwald sind anders, nicht spitz, sondern lang gestreckt wie Särge. Felsen gibt es kaum.«

»Und Räuber?«

»Alle Menschen meinen seltsamerweise, dass die bösen Menschen in den Wäldern seien. Ich möchte nicht sagen, dass es im Schwarzwald ganz ungefährlich ist, aber ich habe die schlimmsten Menschen in Städten getroffen.«

»Ich war noch nie allein im Wald!«

»Du wirst auch jetzt nicht allein sein.«

Der Ausblick war gewaltig. Unter einem düsteren Himmel stiegen Rauchsäulen über Waldschluchten und Tälern in die graue Luft. Der Rauch hockte zwischen den Bäumen und lastete auf den Lungen. Der Blick war trotz des Dunstes und der rauchigen Luft weit. Hintereinander lagerten sich fahle Höhenzüge. Am äußersten Rand war ein gelber Streifen.

Tagelang waren sie im Nebel gewandert. Zuerst ging es endlos hinab, Christoph musste den Vater stützen, dann kam ein furchtbarer Anstieg, der den Vater fast alle Kraft gekostet hatte. Zwei ganze Tage waren sie anschließend auf schmalen Pfaden durch endlose Wälder und große Moore gegangen. Christoph glaubte, sie hätten damit den Schwarzwald überwunden. Aber der Vater sagte, die höchsten Bergkämme lägen noch weit vor ihnen.

Immerhin hatten sie zum ersten Mal freien Blick.

Wo sie standen, war Viehweide mit schwarzen Pfützen und verwelkten Stauden und Kräutern. Am Abhang, über den sie hinunterschauten, wuchs ein schütterer Wald mit Dickicht von Büschen. Noch weiter unten ragten breite Kronen von dunklen Tannen. Wo die Rauchsäulen aufstiegen, war ab und zu Licht von Feuern.

Christoph fragte atemlos: »Die vielen Feuer, was ist das?«

Er erinnerte sich an die Bäche, die ihnen hangaufwärts entgegengeströmt waren: Ihr Wasser war nicht hell wie das des Neckars. Es hatte eine ungesunde schwarzbraune Farbe, die eher an Jauche erinnerte. Christoph hatte sich fest vorgenommen, von diesem Wasser um keinen Preis zu trinken.

Der Vater war wie so oft ganz abwesend: »Die Feuer, da brauchst du keine Angst zu haben, das sind Köhler, die brennen Kohle. Du kennst ja die schwarzen Kohlenstücke, die auf dem Stuttgarter Markt verkauft werden. Man macht sie aus Holz. Weiter im Süden machen sie auch Glas, auch da gibt es viele Feuer. Fast der ganze Schwarzwald ist voller Rauch.«

»Und das dunkelbraune Wasser, kommt das auch von den Köhlern?«

»Ja, man könnte meinen, es sei Ruß darin. Aber es läuft so aus dem Boden.«

»Ich trinke keinen Schluck davon.«

»Dann musst du verdursten. Es gibt im Schwarzwald kein anderes Wasser, das kommt von den vielen Mooren.«

Christoph erinnerte sich an die gefährlichen Wanderungen über die Moore auf den Höhen. Düster war es gewesen, keinen Schritt durfte man von einem Weg aus Knüppeln abweichen, sonst wurde man vom Moor verschluckt. Weißlicher Dunst stand zwischen den Bäumen. An vielen Stellen war offenes Wasser, schwarz, dazwischen schimmerten die Skelette abgestorbener Bäume. Manchmal flatterte plötzlich ein Wasservogel auf.

Ein Kerl, von Kopf bis Fuß rabenschwarz, kam den Hang heraufgestiegen. Das Gesicht war so schwarz, dass die Augen darin weiß leuchteten, ein schrecklicher Anblick. Christoph blieb stehen.

»Keine Angst, das ist nur ein Köhler.«

Auch der Köhler war stehen geblieben und blickte ihnen unsicher entgegen. Offenbar erwartete er nicht, dass jemand hier von der Höhe herabstieg.

»Ist es weit bis Forbach?«, fragte der Vater.

Der Köhler hatte sich ganz an die Seite des Wegs gedrückt und musterte die beiden von oben bis unten. »Eine gute Stunde, wenn ihr rasch ausschreitet.«

»Und wenn wir nicht nach Forbach hineinwollen?« Die Stimme des Vaters klang belegt.

»In einer Stunde ist es Nacht. Wo wollt ihr denn hin?« Man sah ihm an, dass seine Angst gestiegen war. »Ihr seid Bettler, aber du redest nicht wie ein Bettler.«

»Wir sind friedliche Leute und vertrauen dir. Wir brauchen deine Hilfe.«

Der Köhler schwieg unsicher.

»Hat jemand nach uns gefragt? Nach einem Alten und einem Jungen? Es ist sehr wichtig.«

Der Köhler schien mit sich zu kämpfen, dabei schaute er dem Alten gerade ins Gesicht: »Kommt mit, ihr beiden. Ja, es wurde nach einem Alten und einem Jungen gefragt, schon vor ein paar Tagen.«

Wieder zögerte er, dann sagte er entschlossen: »Ich heiße Lukas.«

Die Köhlerhütte war aus Holz, Schindeln und Moos. Sie stand neben einem eigenartigen Holzberg, von dem eine Rauchsäule aufstieg.

Schon beim Abstieg hatte der Köhler bemerkt, dass der Vater nur sehr langsam vorankam und sich an dem steilen Hang nicht halten konnte.

»Bist du krank? Hast du die Gicht?«, fragte er und setzte dann sehr leise hinzu: »Oder seid Ihr gefoltert worden?«

»Sag ruhig weiter du zu mir. Ich bin nur ein Bettler.«

Im Köhlerhaus gab es eine schwarze Köhlerfrau und drei ebenso schwarze Köhlerkinder. Die Köhlerfrau gab den Gästen Milch, Brot und etwas Käse, später brachte sie noch einen Brei, der fast schwarz aussah und aus Haferschrot gekocht war. Dazu gab es für jeden einige getrocknete Heidelbeeren. Gegessen wurde von schwarzen Holztellern mit Holzlöffeln. Niemand sprach ein Wort.

Die Kinder starrten die Gäste mit großen Augen an. Als Christoph zu einem etwa sechsjährigen Mädchen etwas sagen wollte, steckte es den Finger in den Mund und schaute auf den Boden. Beim Essen überlegte er sich, ob die Kinder und auch ihre Eltern jemals wieder sauber werden würden. War die dicke Rußschicht schon angewachsen? –

Nach dem Essen wurden die Frau und die Kinder hinausgeschickt.

»Ich weiß nur Schlechtes über euch«, sagte Lukas, »aber die, welche nach euch gefragt haben, sahen schlimmer aus als ihr. Ich meine, euch kann man eher vertrauen, ihr könnt einem gerade und ehrlich in die Augen schauen. Die anderen habe ich nicht einmal in mein Haus gelassen.«

»Wie viele waren es? Was haben sie gesagt?«

»Es waren drei Männer. Sie haben gesagt, dass ihr beide in Stuttgart Gewichte gefälscht habt und zum Tode durch das Schwert verurteilt worden seid. Am Tage vor eurer Hinrichtung seid ihr aus dem Gefängnis ausgebrochen. Und jetzt lässt die Stadt euch überall suchen, vor allem im Schwarzwald, weil eure Spur hierher führt.«

Der alte Kaufmann erzählte ihre ganze Geschichte, verschwieg aber die Zahlen. »Ich möchte dich bitten, Lukas, uns vielleicht mit Freunden zusammen durch den Schwarzwald bis zum Rhein zu führen. Du kennst doch bestimmt Wege, wo sie uns nicht finden.«

Der Köhler überlegte. Er ging in der Hütte auf und ab.

Endlich gab er sich einen Ruck: »Es ist Christenpflicht. Ich helfe euch.« Schließlich setzte er entschlossen hinzu: »Ich rede heute noch mit meinem Schwager und mit noch zwei anderen zuverlässigen Männern, Köhler wie ich.«

»Ich kann euch erst bezahlen, wenn wir wieder im Recht sind. Ihr müsst es zunächst für Gottes Lohn machen. Aber ihr helft der Gerechtigkeit.«

Der Alte streckte mühsam seine Hand vor, aber Lukas übersah sie. Die Hand des Henkers wirkte auch hier.

Es gab einen Schweinestall neben der Hütte des Köhlers, in dem sie schlafen durften. Wohlig grub sich Christoph in das Stroh ein, das man ihnen aufgeschüttet hatte. Die Tage zuvor hatten sie in Feldscheunen geschlafen, kein Bauer hatte sie aufgenommen. Jetzt bekamen sie Hilfe. Christoph fühlte sich schon halb gerettet.

Der Alte wusste, dass der Köhler das Stroh am anderen Tag verbrennen würde.

Lukas, sein Schwager und ein Nachbar, alle Köhler wie er, beratschlagten.

»Bald wird es schneien, der Weg über die Grinde zum Kniebis ist dann unmöglich zu gehen.«

»Der Schnee liegt da oben dann meterhoch, meist ist er verweht, dazu stürmt es gerade jetzt vor Weihnachten besonders oft. Da kommt kein Gefolterter durch.«

»Noch hat es keinen Schnee. Der Schnee, der letzte Woche weit oben gefallen ist, ist wieder getaut.«

»Mein Hieronymus ist krank, er ist vier. Ich kann nicht den ganzen Weg mitgehen.«

Es stellte sich heraus, dass das niemand konnte, den sie fragten: Bei einem war die Frau im Wochenbett, beim anderen war ein Kind krank. Die Meiler mussten beschickt werden, eine sehr schwere Arbeit, die man den Frauen nicht alleine zumuten konnte.

»Ihr könnt uns den Weg genau beschreiben und wir gehen alleine.« Aber der Alte wusste selbst, dass das nicht möglich war.

Jetzt im Winter musste man sich sehr gut auskennen, um über das höchste Gebirge zu wandern. Und wenn der Alte zu schwach wurde und nicht mehr weiterkonnte –

»Die Gegend da oben, vor allem um die Grinde, da gehen wir nicht gerne hin: Da ist der Mummelsee mit den Geistern, die das Wetter machen. Kein Mensch geht freiwillig zum Mummelsee.«

Christoph war es heiß: Es stimmte also.

Schließlich fanden sich doch zwei Männer, die dazu bereit waren, ihre Kohle so spät im Jahr noch und zwar über das Gebirge zu tragen und die beiden Verfolgten mitzunehmen.

Die beiden Männer kamen am Nachmittag, als der Himmel dunkel wurde und in den Tannen vor der Hütte ein Wind zu sausen begann. Es war aber ein warmer Wind, der an den Bäumen rüttelte.

»Hoffentlich wird kein Föhnsturm daraus, der die Bäume herausreißt.«

Die beiden Männer, Florian und Melchior, schwarz wie die anderen, hatten große Tragkörbe voller Kohlenstücke auf dem Rücken.

Christoph hatte in der Zwischenzeit von den Kindern herausgebracht, dass sie zu Weihnachten gewaschen wurden und eine helle Haut hatten wie er.

»Der Fridolin hat sogar ganz helle Haare, fast weiß«, wurde ihm mitgeteilt, bevor die Mutter die Kinder wegzerrte mit einem schiefen Blick auf den Jungen, auf dessen Schultern die Hand des Henkers geruht hatte.

Florian hatte die anderen auf die Seite gezogen: »Da waren Männer. Sie haben Geld geboten, viel Geld, drei Gulden!«

»Das sind dreißig Schillinge, dreißig Silberlinge wie beim Judas«, sagte Lukas mit rotem Kopf. »Es sind meine Gäste – wehe, es wird ihnen auch nur ein Haar gekrümmt!«

»Man redet ja nur, ist ja schon gut!«

Dem Vater gefiel nicht, wie die Männer zusammen tuschelten, er trat zu ihnen: »Es ist Geld auf unseren Kopf ausgesetzt worden, nicht wahr? – Wie viel ist es denn? – Sind wir ihnen eines oder zwei Goldstücke wert?«

»Drei!«, sagte Lukas. »Aber du bist bei uns sicher. Es ist viel Geld, aber es gibt hier keinen Judas.«

Noch bei Dunkelheit brachen sie am nächsten Morgen auf. Die schwarze Frau hatte für alle einen heißen Brei gekocht und zeichnete auf die Stirn von Lukas das Kreuz. Dann zögerte sie etwas und schlug das Kreuz über die beiden Gäste, die in Lebensgefahr schwebten. Sie schaute dabei auf die Seite und achtete sorgsam darauf, sie nicht zu berühren.

Die drei Begleiter trugen zu ihren Kohlelasten Leinenbündel mit Brotlaiben und Käse. Alle hatten dicke Stöcke und hatten auch den beiden Stöcke gebracht. Aber es zeigte sich, dass der Alte sich nicht aufstützen konnte.

Christoph trug ebenfalls einen Leinensack mit Nahrung. Er war das Wandern schon besser gewohnt als in den ersten Tagen, aber jetzt sollte es sehr hoch hinaufgehen.

Wie schwach, alt und zittrig der Vater in den letzten Wochen geworden war!

Es ging stetig bergauf, manchmal unter riesigen Tannen einen Bach mit dunklem Wasser entlang, der Schwarzenbach hieß. Es gab keinen richtigen Weg, meist nur einen Saumpfad, wie ihn Händler benutzten, die ihre Last auf dem Rücken über das Gebirge trugen. Vor allem Vieh wurde auf diesem Weg getrieben, denn oben auf den Hochflächen waren Viehweiden. Die Hufe der Tiere hatten den Pfad festgetreten, so konnte man ihm gut folgen. Zwischen mächtigen Steinblöcken wand er sich hoch.

An manchen Stellen wurde der Weg so steil, dass die Männer ihre Lasten absetzten und den alten Kaufmann trugen. Das geschah auch, wenn ein umgestürzter Baum den Weg versperrte. Zwei der Männer hielten dann eine grobe Pferdedecke zwischen sich, auf die sich der Alte setzte. Sein Gesicht war dann verbissen, bleich und voller Schweiß. Die Köhler bemühten sich den Gefolterten nicht zu berühren. Sie brauchten lange, lange.

Die Männer wussten Hütten für die Hirten auf der Sommerweide. Da schliefen sie.

Abends wurden Geschichten erzählt.

Melchior erzählte vom Nebelriesen, der oben auf den höchsten Kämmen des Schwarzwalds haust. »Ich bin ihm selbst schon begegnet. Ich war auf dem Rückweg von Straßburg, wo ich Kohle auf dem Markt verkauft habe, oft gehe ich im Sommer über das Gebirge. Es ist näher, aber unheimlich.«

Die Männer bekreuzigten sich.

»Ich ging über den Kniebis und die Grinde so wie wir jetzt, nur in umgekehrter Richtung. Ich kam nicht so schnell vorwärts, wie ich wollte. In der Richtung der Ebene war es hell und die Sonne schickte sich an, so gelb unterzugehen, wie ich es noch nie gesehen habe. Nach Morgen hin, wo sonst endlose Wälder sind, war eine einzige Nebelwand. Gnade mir Gott, wenn ich in diesen Nebel komme, denke ich. Ihr müsst wissen, dass gerade im letzten Jahr ein Händler, ein Jude, sich im Nebel verirrt hat. Der Nebel hat Wochen gedauert und man hat ihn erst viel später gefunden – tot und von wilden Tieren halb aufgefressen. Wie ich da so stehe und in den Nebel starre, steht drüben einer am anderen Hang. Ich rühre kein Glied. Der Kerl ist riesengroß. Das Seltsame ist, dass er einen Schein um den Kopf hat, als sei er ein Heiliger. Er ist wie ein Schatten mit regenbogenfarbenen Strahlen um das Haupt, turmhoch, aber er hat kein Gesicht! Ich wage kaum zu schnaufen. Der Kerl mit der Strahlenkrone steht genauso unbeweglich und steif und schaut mich an. Schließlich, voller Grausen, fasse ich Mut und hebe den Arm – der Kerl hebt auch den Arm! Ich winke – der Kerl winkt! Da renne ich weg, im Umdrehen sehe ich, dass er mir nachrennt. Ich laufe und laufe, ohne zu wissen wohin. Als ich schließlich keine Luft mehr bekomme, rauscht ein riesiger schwarzer Auerhahn aus dem Gebüsch vor mir.«

»Das war er. Das sagen viele, dass sich die Riesen in Auerhähne verwandeln.«

»Mancher hat ihn schon gesehen«, sagte Florian, »immer wieder wird davon erzählt.«

»Und wir wissen nicht, wer ihn schon alles gesehen hat und nicht mehr davon erzählen kann.«

Oft waren die Hänge, unter denen sie höher zogen, kahl gefressen vom Sommervieh. Dann ging es immer wieder hinein in schwarze Tannendurchgänge. Den Wind spürte man hier unten in der Schlucht wenig, sie sahen ihn, wie er hoch über ihnen die Bäume beugte und bog, und man hörte ihn tosen wie große Wasserfälle.

»Föhnsturm«, sagte Melchior.

»Dort hinten ist der Mummelsee.« Lukas flüsterte und nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf.

»Der See ist am Fuß der Grinde, über die wir gehen müssen, weil wir seitlich nicht daran vorbeikommen. Vorne ist der Wald zu dicht und hinten am Mummelsee bringen mich keine zehn Pferde vorbei«, sagte Melchior.

Der alte Kaufmann veränderte sein Aussehen. Sein Bart, der immer wilder wurde, und zwei scharfe Falten, die sich tief von seinen Mundwinkeln abwärts eingruben, gaben ihm ein fremdartiges Aussehen. Er ging schwerer, sein Schritt wurde langsamer, aber sein Kopf war aufrecht, geradeaus gerichtet. Die Augen, die in ihren Höhlen zu versinken drohten, waren in die Ferne gerichtet. Manchmal, wenn er stolperte oder jemand an ihn stieß, ging sein Atem heftiger. Aber man hörte keinen Seufzer.

Nach mehreren Tagen gelangten sie gegen Abend endlich auf die Hochfläche. Es war kahl, wohin man sah: Nur braunes Gras und gelblicher Farn standen schütter zwischen Steinblöcken, die aussahen, als hätten Riesenkinder mit ihnen gespielt und sie über die ganze Fläche verstreut. Dazwischen krochen wie Bettler verkrüppelte Sträucher.

Der Blick von der Gipfelfläche der Grinde, für die sie noch einmal einen ganzen Tag brauchten, ging hinaus in ein grellgelb beleuchtetes, dunstiges Land, eine Ebene, die in der äußersten Ferne grau begrenzt wurde.

»Das Elsass, da hinten sind die Vogesen. Wenn ihr genau hinschaut, seht ihr gerade in der Mitte hinter dem dunklen Streifen die Stadt Straßburg. Der dunkle Block, das ist das Münster. Der schwarze Streifen davor, das sind die Wälder um den Rhein, und es wäre besser, wenn der schon zugefroren wäre.«

Einfach hinfliegen!

Es war übertrieben warm, die Luft stand völlig still.

»Das Wetter gefällt mir nicht«, sagte Lukas.

»Es könnte doch nicht besser sein – kein Schnee, kein Sturm, wir kommen über den Schwarzwald ganz ungeschoren«, meinte Christoph.

»Das Wetter wird sich nicht lange halten – so oder so.« Wie dünn die Stimme des Vaters geworden war.

Auf den fragenden Blick von Christoph erwiderte Lukas: »Dein Vater hat Recht. Das warme, windstille Wetter bedeutet, dass es bald recht kalt werden wird, so ist es immer hier im Gebirge. Und vergiss nicht, für unsere Feinde ist auch gutes Wetter. Solange es warm bleibt, müssen wir auch hier oben mit ihnen rechnen.«

Tief unter ihnen, als sie den Abhang hinunterstiegen, lauerte ein schwarzes Auge, lang gezogen und halb versteckt unter Tannenwipfeln.

»Der Mummelsee.«

Am anderen Morgen war Florian verschwunden.

»Wenn Schnee wäre, könnten wir seiner Spur nachgehen«, stellte Christoph fest.

Der Vater stand verloren am Rand eines Abgrunds, die Lippen zu einem messerscharfen Grat zusammengepresst: »Das würden wir schön bleiben lassen.«

Lukas nickte.

»Die, die er sucht, können weit weg sein.«

»Ja, aber wir wissen nicht, wann er weggegangen ist. Oder hat ihn heute Nacht noch jemand gesehen?« Die Stimme des Vaters hatte fast keinen Ton.

»Den Weg, den wir gehen, kennt seit dem Abstieg von der Grinde kaum jemand.«

»Florian kennt ihn, der Lump. Sie können überall auf uns lauern.« Melchior hatte die Fäuste geballt.

Als die beiden den Vater an einer sehr steilen Stelle tragen mussten, sah Christoph mit Erstaunen, wie erst Lukas, dann Melchior, als gebe es ein geheimes Einverständnis, den Arm um die Schulter des Gefolterten legten. Als der Vater zu rutschen drohte, ergriff Lukas seine Hand. Als der Alte bei einer harten Bewegung stöhnte, legte ihm Lukas die Hand an die Wange.

Ein Kopf erschien über den Baumwipfeln, rot beleuchtet von der untergehenden Sonne über den schwarzen Tannen. Er wandelte durch die Lüfte wie ein Vogel, aber langsam, fast feierlich.

Gaukler hatten ihr Seil hoch über die Baumwipfel gespannt von der einen Schluchtwand zu einem Felsen an der anderen. Sie übten.

Philo hieß der Seiltänzer. Er verzögerte plötzlich den Schritt, dann ging er rascher weiter und stieg am Steilhang der Schlucht vom Seil. Auf dem Hosenboden, der aus Leder war, rutschte er mit Bewegungen den Hang hinunter, die zum Lachen reizen konnten.

»He, Balthas, da sind Leute oben im Wald, am Grunde der Schlucht. Ich glaube, sie kommen hierher.«

»Lass sie kommen«, brummte ein sehr dicker Mann mit einem prächtigen Prophetenbart und einem seltsam geflickten Wams, »lass sie kommen, dann sehen wir, wer sie sind. Kein Grund vom Seil herabzusteigen. Du hast den Purzelbaum noch nicht geübt, wie ich dir gesagt habe.«

»Dabei bricht man sich so leicht den Hals!«

»Eben deshalb muss man ihn üben«, behauptete Balthas ungerührt.

»Wo kommen Leute und was wollen die im Winter in dieser Wildnis?« Ein sehr dickes Frauengesicht schaute aus einem Zelt.

»Die Leute kommen da oben die Schlucht herab, Regine, ich habe sie vom Seil aus gesehen und bin gleich herabgestiegen, um euch zu warnen. Es sind drei Männer und ein Junge. Einer der Männer wird getragen.«

»Ist ein Wolf dabei, dass du uns warnen willst?«, fragte der dicke Balthas und zog an seinem Bart und rollte die Augen so grässlich, dass Philo halb lachend, halb ernst aufschrie.

»Der Wolf ist hier! Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Schlimmeren als dich, der arme Gaukler auf das Seil und in den Tod treibt!«

»Wölfe tragen einander nicht, also sind das keine Wölfe. Und ich ertrage dich, also bin ich auch kein Wolf.«

Regine trat aus dem Zelt: »Dann schürt das Feuer und setzt Essen auf; die werden Hunger haben, wenn sie von da oben kommen.«

»Ja, Regine, und sie werden in Schwierigkeiten sein und Hilfe brauchen – wer kommt sonst auf solchen Wegen vom Gebirge herab!«

Ein Wind war aufgekommen. Man hörte ihn oben, außerhalb der Schlucht in den Wipfeln rauschen, und man spürte ihn jetzt auch unten am Grunde der Schlucht, sodass das Feuer, das Frau Regine in einem eisernen Gefäß aufbewahrte, in Funken davonstob, als es an das Stroh unter einem kleinen Holzstoß gehalten wurde. Dann aber mit einem Prasseln wurden Stroh und Reisig von den Flammen ergriffen, die der Wind mit sich fortriss.

»Na, Philo, wo bleiben denn die Wandersleute, die du gesehen haben willst von deinem Seil aus, anstatt Purzelbäume zu schlagen?« Der dicke Balthas stieg mit überraschender Beweglichkeit in die Schlucht hinein: »Ich kann mir schon denken, was los sein wird, komm mit!«

Tatsächlich hörten sie bald das Krachen von Zweigen, Scharren von Stiefeln und das Keuchen mehrerer Männer, die aus der engen Schlucht hangaufwärts hinausstrebten, nachdem sie die Menschen weiter unten in der Schlucht bemerkt hatten.

Schon war Philo seitwärts aus der Schlucht aufwärts gestiegen und hatte die Fremden überholt. Dann ließ er sich wie vorher auf dem Hosenboden zu den Ankömmlingen hinabgleiten und schnitt solche Grimassen, dass Christoph laut lachen musste, obwohl sein Herz hämmerte.

Lukas und Melchior, die den Vater trugen, waren stehen geblieben, als der dünne Mensch, dessen Gesicht sie von weiter oben plötzlich über den Baumwipfeln gesehen hatten, schließlich mit lauter Purzelbäumen vor sie hinrollte. Der dünne Mann war barfuß und trug eine verwaschene, graue Kleidung, die sich kaum von der eines Bauern unterschied, in seinem Gürtel steckte eine Flöte.

»Bist du ein Bewohner der Luft?«, fragte Melchior, dem immer noch der Atem wegblieb vor Eile am Hang und vor Schreck, als da offenbar einer der Geister über der Schlucht in den Lüften schwebte.

»So halb und halb, meines Namens Philo, dem Namen nach also ein Mensch«, sagte der dünne Mann beim Abstieg, »wenn auch nicht immer behandelt wie ein Mensch von Balthas, den ich euch hiermit vorstelle, dem Anführer unserer Gauklertruppe: ein Mann, eine Frau, ein Junge, das bin ich, wenn auch eigentlich schon zu alt für diese Rolle.«

»Halt’s Maul, du Nichtsnutz«, antwortete Balthas mit einer ruhigen Bassstimme. »Kümmert euch nicht um ihn. Sein Mundwerk ist rascher fertig als sein Hirn. Es muss auch solche Leute geben. Was ist mit euch? Aber kommt erst ans Feuer.«

Aber bald brach der Sturm los und stieß gegen sie wie eine Wand, dass man am Feuer nicht mehr sitzen konnte. Sie mussten in das Zelt.

»Und wenn es nicht am Grunde der Schlucht stehen würde, so würde es der Sturm glatt umreißen«, sagte Balthas, der mit seiner Leibesfülle jedem Sturm zu trotzen schien.

Bald war alles erzählt, auch die Zahlen. Draußen tobte der Sturm, dass die Zeltwände flatterten, er blies, als der Eingang bei einem besonders heftigen Stoß aufklaffte, mit einem Schwall kalter Luft eine Wolke von Schneeflocken herein.

Balthas löschte die Laterne.

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – ich meine, ich hätte die Zahlen schon einmal gehört. Es hatte etwas mit Feuer zu tun, glaube ich«, sagte Balthas in das Dunkel hinein. Die Zeltwand knallte.

»Gnade uns Gott, wenn uns das Unwetter auf der Grinde erwischt hätte«, sagte Lukas leise.

»Jedenfalls hätte dann der Florian nicht abhauen können«, vernahm man die Stimme von Melchior.

»Brusthoch schmeißt das heute Nacht den Schnee hin, dass kein Mensch mehr durchkommt.«

»Hört ihr, der Philo ist der Schlauste, der schnarcht schon.« Regines Stimme klang müde.

»Du hast die Zahlen schon einmal gehört?« Die Stimme des Gefolterten zitterte.

»Wie es draußen heult! Morgen früh ist es so kalt, dass die Bären erfrieren, wenn du sie aus ihrer Höhle gräbst.« Melchior gähnte.

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn«, sagte Balthas mit abwesender Stimme.

»Es kann tagelang weiterstürmen. Und je länger es stürmt und schneit, desto kälter wird es.« Melchior ließ sich nicht abbringen.

Balthas fuhr fort: »Man zaubert damit. Es hat mit Feuer zu tun. Es ist wie ein Feuer, mit dem man zaubert.«

Christoph klammerte sich an den Ärmel des Vaters.

»Es ist Zauberei. Irgendwann habe ich von diesen Zahlen gehört, aber ich weiß nicht, wann und wo.« Eine Bö drückte die Zeltwand weit nach innen, sie knatterte, dass man Balthas kaum verstand.

»Was kann man denn damit zaubern?«, fragte Christoph atemlos.

»Gaukelei – nichts als Gaukelei.« Die Stimme des Vaters war angestrengt und gepresst, er hatte schon lange nicht mehr so laut gesprochen. Es lag Ungeduld in ihr: »Verzeihung, aber diese Gauklergeschichten bringen uns keine Handbreit weiter.«

Ein Gaukler in der Einöde hat schon von diesen Zahlen gehört!, dachte Christoph überrascht. Warum verfolgt man dann gerade uns so schrecklich?

»Sie haben es auf den Marktplätzen gebraucht, aber ich weiß nicht, wie und wo. Es muss sehr erfolgreich gewesen sein: Wer es wusste, hat das Geheimnis nicht weitergegeben. Irgendeine Zauberei!«

»Die Kaufleute von Straßburg machen keine Gauklervorstellungen auf Jahrmärkten!« Die Stimme des Vaters, so dünn sie geworden war, klang grob, fast höhnisch, begleitet von diesem Keuchen und diesem seltsamen Pfeifen, das in den letzten Tagen immer schlimmer geworden war.

Christoph starrte in das Dunkel. Draußen heulte der Sturm. Durch die Ritzen herein stieß immer wieder ein schneidend kalter Luftzug. Aber sonst war es hier behaglich. Die sieben Menschen machten den Raum angenehm warm. Er lag eng an den Arm seines Vaters geschmiegt.

Der Vater hatte nicht geantwortet; als er ihn gefragt hatte, ob das wehtun würde. Er hörte seinen keuchenden Atem neben sich.

Christoph hatte sich oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man sie hingerichtet hätte: Das Elend, die tägliche Angst, die Demütigungen, wenn einem die Leute aus dem Weg gingen. Oft war es ihm, als wolle etwas in ihm losweinen. Aber der Vater weinte nicht, nie. Er lachte auch nicht mehr.

Wie war früher das Leben schön gewesen! Christoph hatte alles gehabt, was er nur brauchte und haben wollte. Gutes Essen, nie Hunger, nie Kälte, schöne Kleider, ein eigenes Pferd. Die Mutter hatte viel gelacht. Jetzt war sie schon so lange tot.

Der Vater war oft auf Reisen gewesen, aber er hatte ihm immer etwas mitgebracht, der Mutter, ihm und den Geschwistern, seltene und kostbare Dinge, die von sehr weit her kamen. Der Mutter hatte er einmal eine kunstvoll durchbrochene elfenbeinerne Kugel geschenkt mit einem fremdartigen Muster, die alle bewundert hatten. In ihr war wieder eine durchbrochene Kugel mit demselben Muster und darin wieder eine und so fort, und alle Kugeln ließen sich bewegen.

Christoph ging über den Schwarzwald, er schritt von Wipfel zu Wipfel. Tief unter ihm lag das schwarze Auge des Mummelsees. In den Wäldern ringsum brannten Feuer, feierlich stiegen Rauchsäulen auf in den weißen Himmel. Er wusste, dass er tief hinabtauchen musste in den schwarzen See. Dann würde er die Zukunft erfahren. Er konnte aber nicht schwimmen. Da flatterten wirre Schwärme von Krähen auf, heiser krächzend flogen sie über den Wald in das Land hinaus. Sie verdunkelten den Himmel. Sie krächzten so laut, dass man es auf der ganzen Welt hören musste. Etwas Kaltes presste gegen sein Gesicht.

Davon wachte er auf.

Er kam nur sehr langsam zu sich. Es war noch fast dunkel. Irgendwo von oben kam ein fahles Licht. Die Zeltwände waren weit nach innen gedrückt und glitzerten vor Reif. Der Vater schlief. Alle schliefen noch, man hörte sie schnarchen oder gleichmäßig atmen. Die Luft war schwer. Der Vater neben ihm war eigenartig steif und unbeweglich. Christoph stieß ihn leise an. Der Vater rührte sich nicht.

Christoph wurde es heiß. »Vater!«, flüsterte er zuerst, dann wurde seine Stimme lauter und begann zu zittern. Jetzt sah er das Gesicht des Vaters.

Der Vater war tot.