"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)DER SPEICHER»Wenn du den Stein zurückgeben willst, musst du deinen Fall in Straßburg bald lösen, oder wir gehen gleich gemeinsam in den Osten, wo man dich nicht kennt. Wir kommen schon durch. Aber du darfst nicht mehr stundenlang den Stein und das Tuch anschauen.« Philo hatte seine Bälle in der Hand. Sie beschlossen nach langem Hin und Her, dass sie vorerst in Straßburg bleiben sollten: »Mein Vater ist dafür gestorben.« Vieles war seit dem letzten Frühjahr erreicht worden: Sie kannten die Mörder des Vaters, nämlich Herrn Dopfschütz und seine Verbündeten. Sie wussten, warum alles geschehen war – dass Herr Dopfschütz und einige andere Macht erringen wollten mit einem Substrat, mit dem sie ganze Türme bis auf den Grund zerstören konnten, mit dem sie vielleicht noch weitere schreckliche Dinge anrichte konnten. Sie kannten auch das Substrat und hätten es nach den damals so rätselhaften drei Zahlen und den Zutaten sogar herstellen können. Sie wussten, dass Herr Dopfschütz für diese Macht sehr viel Geld bei Löb aufgenommen hatte und sie vermuteten, dass die Juden in Straßburg wegen dieses Geldes geopfert worden waren. »Die Zinsen! Sie haben es alle wegen dem Geld und wegen der Macht getan«, sagte Christoph müde. »Der Bischof wegen seiner Macht in der Stadt und wegen seiner Schulden, der Adel und die Städte am Oberrhein wegen ihrer Schulden, Kaiser Karl IV wegen seiner Macht und seiner Schulden. Herr Dopfschütz und sein Anhang, weil sie Löb ihre Schulden samt Zinsen nicht zurückzahlen wollten. Auch ihnen ging es um die Macht. Nur die kleinen Leute, die haben es wegen der Pest getan.« »Weil man sie angelogen hat. Ob die kleinen Leute vergiftet werden, ist den großen Herren gleichgültig.« »Mein Vater ist auch verleumdet worden.« Philo schaukelte hin und her und bewegte seine Bälle: »Wie willst du die Verleumdung beweisen? Du brauchst einen Beweis, mit dem – « »Einen Beweis, mit dem ich nach Stuttgart gehen, die Ehre meiner Familie wiederherstellen kann und mit dem ich das Erbe meines Vaters zurückbekomme.« »Ja«, sagte Philo, »und es ist nicht sicher, dass es überhaupt einen Beweis gibt, und es ist ebenso wenig sicher, dass sie den Beweis – wenn du ihn findest – auch anerkennen. Denn es geht auch hier um sehr viel Geld.« »Ja, unser Besitz gehört jetzt dem Grafen von Wirtemberg. Und der wird alles tun, um den Fall zu seinem Vorteil zu entscheiden.« Christoph winkte müde ab. »Aber ich werde den Beweis trotzdem suchen. Auch wenn es keine Hoffnung gibt, ich kann einfach nicht anders. Als Kaufmann könnte ich dann im Osten leichter suchen. Niemand weiß, wie alles weitergeht.« Wo konnte man einen Beweis finden? Wie konnte ein solcher Beweis aussehen? Ein Schriftstück? Ein Brief mit verräterischem Inhalt? Ein Brief, in dem etwa stand: – bitten wir die Herren in Stuttgart, die Gewichte des Herrn Schimmelfeldt auszutauschen, ohne dass er es merkt – Aber ein solcher Brief wäre dann nicht in Straßburg, sondern in Stuttgart. Und wer würde einen solchen Brief aufbewahren? Philo hatte herumgehorcht. Es gab einen Speicherknecht des Herrn Dopfschütz, Korbinian hieß er, den sie auch Goliath nannten. Er war ein Hüne und galt als strohdumm. Einen Sack mit Mehl lud er sich wie nichts auf den Rücken. »Nimmst du mich einmal mit in den Speicher?«, fragte Philo. »Was willst du denn dort? Ich darf niemand mitnehmen. Der Herr hat es verboten.« »Ich möchte einmal sehen, wie Gold gelagert wird. Ich habe noch nie einen Goldbarren gesehen. Es heißt, Gold sei so schwer.« »He, du spinnst wohl. Da ist doch kein Gold!« »Ich glaube, du weißt viel nicht! Du weißt auch nicht, dass manche Leute Geld spucken können.« »Geld spucken?« »Weißt du das nicht aus den Märchen, dass Esel Geld scheißen, dass Vögel Goldeier legen, dass es Menschen gibt, die Geld spucken?« »Und ich soll – « »Lass mal sehen – du hast noch nie Geld gespuckt. Pass auf – so, da!« Er hatte dem Goliath blitzschnell in den offenen Mund gegriffen und zeigte ihm einen Heller. Korbinian griff nach seiner Zunge und suchte mit dem Finger in den schwarzen Zahnlücken herum: »Wo?« »Erst lässt du mich in den Speicher.« »Wann?« »Heute Nacht schließt du mich ein!« Philos Füße knirschten im Kot der Fledermäuse, die unsichtbar über ihm in Trauben an den Dachlatten hingen. Er war mit einer Fackel Leitern hochgestiegen und über Balken des Dachstuhls geturnt. Er war über hochgetürmte Ballen geklettert. Er balancierte über Balken und Bretterlagen, auf denen dicke Schichten von Vogel- und Fledermauskot lagen – manchmal rutschten seine bloßen Füße aus und er konnte sich gerade noch an irgendeiner Stange festhalten. Einmal musste er abspringen und landete auf einem Ballen. Wie hart Leder sein konnte! Er durchstöberte hier oben alle Verschläge und Winkel, quetschte sich mit angehaltenem Atem zwischen Warentürmen hindurch, rutschte über staubige Bretter abwärts, hangelte sich an Stangen entlang, ließ sich an Seilzügen herunter und hing einmal kopfüber an einem Gestänge, das über die Ballen gelegt war. Manchmal fetzte er mit dem Gesicht durch ein Gestrüpp von Spinnweben und wirbelte ständig solche Wolken von Staub auf, dass er kaum Luft bekam. Aber nirgendwo war etwas Verdächtiges. Er zählte die Glockenschläge vom Turm der Thomaskirche, in einer halben Stunde würde der Goliath die drei vereinbarten Klopfzeichen am Tor machen und ihn wieder hinauslassen – und dann? – Er würde dem Goliath zeigen müssen, wie man Geld spuckt – davor hatte er keine Angst. Aber er hatte nichts gefunden. Oder doch? – Im vierten Quergang ganz unten auf dem gepflasterten Grund angefügt an eine Holzsäule war ein Verschlag, ein Gitter aus starken Latten, das mit einer Kette und einem Vorlegeschloss gesichert war. Dahinter konnte er eine massive eisenbeschlagene Holzkiste erkennen. Sie war umspannt von zwei sich überkreuzenden Schnüren, die mit einem Siegel verbunden waren. Es klopfte vom Tor her drei Mal und man hörte ein leises Pfeifen: Goliath. Jetzt schont Konnte es wirklich schon so spät sein? Er brauchte Werkzeuge. Korbinian musste ihn ein weiteres Mal – Er klopfte leise ebenfalls drei Mal am Tor. Durch die Ritzen schimmerte ein seltsam heller Lichtschein. Das schwere Tor öffnete sich langsam – da stand der Goliath und hielt eine Fackel und daneben stand mit einem seltsamen Lächeln Herr Dopfschütz. Wie zerfetzte Fahnen nach einer verlorenen Schlacht, schwer von Staub, hingen die Spinnweben vom Gebälk herab. Manchmal wurden sie von einem Luftzug träge bewegt. Christoph ging auf und ab – der Tisch mit den drei Beinen, die beiden wackeligen Stühle, ein Talglicht. Die herabgebrochene Stiege, die in den Raum hineinhing. Überall Schmutz, Ratten, Gestank und Abfall. Wenn es regnete, tropfte es durch das Dach, nur ein schiefer Zwischenboden aus dicken Bohlen hielt noch dicht. Es war endlich wärmer geworden, mit dem März war die Sonne gekommen, aber damit stieg auch die Angst vor der Pest. Seit vier Tagen war Philo verschwunden. Spurlos. Es gab niemand, den er hätte fragen können. Beim Haus des Herrn Dopfschütz konnte Christoph sich nicht blicken lassen. Er bückte sich plötzlich nach einem Mörtelbrocken, der aus der Wand gefallen war, und schleuderte ihn mit aller Kraft nach einem verschobenen Ständer. Eine Wolke von Staub flog auf. Nach einiger Zeit stand er auf und ging hinaus. Im schwarzen Mühlkanal stand das aufgestaute Wasser. Illabwärts hockte das dunkle Schiff der Thomaskirche. Das Stampfen der Mühlen ließ den Boden dumpf vibrieren. Der Gestank der Tierhäute kam mit einem Windstoß über die Ill. Christoph ging über die Schindbrücke mit ihren verschlossenen Buden und vorbei am rötlichen Stumpf des Münsters. Er begann mit sich selbst zu reden. Das Viertel der Juden war leer. Einige bleiche Gesichter schauten aus den Türeingängen der getauften Juden. Christoph trat auf die Pflastersteine, als wäre es das Gesicht des Herrn Dopfschütz. Lange stand er vor dem Hause Löbs. Die Türe war versiegelt. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Türpfosten war aufgehackt, die Mesusa herausgerissen, der Segen des Hauses – Du sollst den Herrn, deinen Gott – Er scharrte in den Splittern der zerstörten Fenster der Synagoge – Er blickte trostlos durch die Fensterlöcher in die verwaiste Cheder hinein mit ihren Tischchen und Bänkchen, die alle Kindergröße hatten und über die man so herzlich hatte lachen können. Jetzt waren viele der kleinen Möbel zerhackt und teilweise als Brennholz neben der eingeschlagenen Türe aufgestapelt – Er sah den Brunnen, den jetzt niemand mehr bewachte. Die Eimer hingen daran noch in Reihen – Auf dem Markt begegnete ihm ein seltsamer Zug. Feierlich schritten Männer in einer langen Prozession, sie trugen kuttenartige Gewänder, von deren Gürtel eine lange Peitsche mit vielen Riemen herabhing. Ihr Gesang hallte dumpf von den Häusern wider. Ganze Trauben von Menschen standen um sie herum oder zogen neben ihnen her. Frauen liefen mit, ihre Kinder auf dem Arm. In der Menge wurde Schluchzen hörbar. Rufe wurden laut, wie Herr erbarme dich. Verschone uns vor dem schwarzen Tod! Weshalb haben sie Angst?, dachte Christoph zornig. Sie haben doch die Brunnenvergifter umgebracht. Es kann doch gar keine Pest mehr geben! Der Älteste der Geißler, ein riesiger, hagerer Mensch, der den Zug anführte, erhob die Stimme zu einem heiseren Singsang: »Lasset uns beten zu dem Ende, dass Gott das große Übel gnädig von uns wende. Ihr habt zwar die Juden verbrannt, aber ihr habt eure Sünden nicht bekannt. Tut Buße, damit der Herr euch nicht schlägt und der Engel nicht den schwarzen Tod erregt! Der Untergang der Welt ist nah! Wie die Sintflut ist er da. Hebet die Arme zu Gott, dass er uns verschone vor Weltuntergang und dem schwarzen Tod!« Sein langer, dünner Bart wehte im Wind. Dann schritten die Geißler langsam im Kreis mit erhobenen Armen. Sie sangen ein Lied, das endete: Sie warfen sich so auf den Boden, dass immer zwei kreuzförmig übereinander zu liegen kamen. Mit Gebärden zeigten sie verschiedene Laster an, zu denen sie sich damit schuldig bekannten. Der Älteste der Geißler schritt über sie hinweg und schlug ihren Rücken mit seiner Geißel und sprach: Worauf sie wieder aufstanden. Als alle im Kreis standen, begannen sie sich zu peitschen, dass es schauerlich klatschte. Sie geißelten sich, bis das Blut herunterlief. Der Älteste forderte die Bürger Straßburgs auf in seinen Orden einzutreten. Viele ließen sich einschreiben. Christoph glaubte erstaunt Herrn Kropfgans bei den Geißelbrüdern gesehen zu haben. »Wir müssen alles verschieben.« Herr Dopfschütz wanderte in seiner Stube auf und ab. »Ist denn nichts zu machen?«, fragte Herr Eisenhut. »Es ging doch bis jetzt alles nach Wunsch.« »Die Leute laufen weg, alles ist unzuverlässig. Wo ist denn der Kropfgans? Da habt Ihr es schon! Schlag drei wollten wir uns hier treffen. Aber er kommt und kommt nicht, jetzt hat es schon vier geschlagen!« »Wie gesagt, zu den Geißlern sei er gelaufen. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber es wird schon stimmen, er ist ein Schwächling.« Herr Dopfschütz blieb mit einem Ruck stehen: »Aber reich!« Dann setzte er seinen Schritt fort: »Man sollte diese Brut verbieten. Sie machen die Leute vollends verrückt. Was die Angst vor der Pest nicht schafft, das schaffen sie. Ich bitte Euch, ein gestandener Kaufmann – einer der reichsten und angesehensten Männer – rennt zu diesem Volk und peitscht sich womöglich den Rücken blutig. Ich bitte Euch, Herr Eisenhut. Ich bitte Euch.« Herr Eisenhut verzog die Lippen: »Er ist ja nicht der einzige Schwächling unter den Kaufleuten. Ich sage nur: Rulmann Merswin!« »Richtig, der Merswin! Zu dem Bettelpack von kleinen Leuten ist er gelaufen und hat sein Geschäft ruiniert. Juden und Anhänger Mohammeds könnten auch in den Himmel kommen, nicht nur Getaufte, sagt er. Freunde Gottes nennt sich dieses Gesindel. Ich bitte Euch, Herr Eisenhut. Schöne Freunde, die sich der liebe Gott da aussuchen soll!« »Der Bischof hat ihm verboten zu predigen. Aber er lässt es nicht. Jetzt die Geißler, dasselbe Pack.« »Wo soll das alles hinführen? Die Kirchen sind voll heulender Weiber und die Wirtshäuser voller saufender Männer. Jede Ordnung zerfällt. Es geht nicht anders, Herr Eisenhut, bis die Seuche vorüber ist, müssen wir unseren Plan verschieben. Das wird im Herbst sein, wenn die Gelehrten Recht behalten.« Herr Dopfschütz nahm die Wanderung durch die Stube wieder auf: »Da war ein seltsamer Vorfall. Ihr wisst, dass ich den großen Speicher im Viertel der Gerber mit Waren belegt habe, bis wir ihn als Arsenal brauchen. Seit alles so unsicher ist, lasse ich ihn bewachen. Ich habe vor ein paar Tagen ausgerechnet in diesem Speicher einen komischen Vogel erwischt. Er hat sich in der Nacht von einem Speicherknecht einschließen lassen. Er muss ihm mit irgendeiner Dummheit das Maul wässrig gemacht haben. Der dumme Kerl, sie nennen ihn Goliath, hat ihn am Abend in den Speicher gebracht und am Morgen wieder herauslassen wollen. Aber die Wache hat einen Lichtschein gesehen und mir gemeldet. Ich habe den Kerl, den er eingelassen hat, morgens tatsächlich im Speicher erwischt und erst einmal eine Woche bei Wasser und Brot eingesperrt, um ihn weich zu kochen. Dann habe ich ihn verhört.« »Im Speicher ist doch noch nichts, was uns verraten könnte?« »Noch kein einziges Eisenrohr, auch kein Körnlein Schießpulver. Aber die Schnüffelei wollen und können wir nicht dulden, Schaden hin, Schaden her. Ich habe den komischen Vogel verhört. Ich habe ihn also gefragt, was er in meinem Speicher zu suchen habe und dazu noch in der Nacht. Oh, das sei leicht zu erklären, hat er geantwortet, übrigens mit einer erstaunlichen Sicherheit – nach einer Woche Eingesperrtsein ist das keine Kleinigkeit. Er heiße Philo – habt Ihr schon einmal einen solchen Namen gehört? –, er sei eigentlich Gaukler und lebe vom Seiltanzen und davon, den Leuten Dinge aus der Nase zu ziehen, die gar nicht darin seien, und dergleichen Sachen. Es sei schon fast Frühling und er habe dieses Jahr nicht mit seinen Freunden in ein Winterquartier gehen können, aber ein Gaukler müsse in Übung bleiben. Was es in meinem Speicher zu üben gebe?, habe ich gefragt. Das Gebälk und die Staffagen, die über den Ballen lägen, auch die Seilaufzüge und noch vieles, das es in anderen Gebäuden nicht gebe, das alles sei für ihn zum Üben geeignet. Gerade in der Dämmerung verschaffe man sich besondere Sicherheit. Sogar in der Nacht könne man viele Dinge üben, wenn man wirklich gut sei. Er könne mir gerne eine Gratisvorstellung geben – bei Nacht, sagte er grinsend, und mir zeigen, wie er mit einer Fackel in der Hand über Seile und Stangen gehen könne, so hoch ich wolle, und dabei noch einen Purzelbaum machen mit der Fackel in der Hand oder im Mund.« »Und Ihr – Ihr habt ihm doch nicht geglaubt?« »Was soll ich sagen – während er noch redete, hat er einige bunte Bälle aus der Tasche gezogen und sie alle gleichzeitig in die Luft geworfen und gefangen und durcheinander wirbeln lassen, wie ich es noch nie gesehen habe. Kein Ball – es waren wenigstens sechs – ist auf den Boden gefallen; dabei hat er mit völlig normaler Stimme weitergeredet. Zwar halte ich nichts von derlei brotlosen Künsten, aber glaubt mir, ich konnte die Augen nicht abwenden. Es war unvorstellbar.« »Aber, Herr Dopfschütz, die Betrügereien der Gaukler! Da sollten wir – « »Gut, habe ich zu ihm gesagt, aber um das mit den Bällen zu üben, dazu brauchst du keinen Speicher, und habe ihn in den Speicher geführt. Du bist ein Dieb, habe ich gesagt, der mich bestehlen wollte, und du wirst hängen. Herr Eisenhut, vergesst alles, was Ihr jemals auf Jahrmärkten an Gaukeleien gesehen habt. Freilich brotlose Künste! Aber wie der Kerl kopfüber und kopfunter an den Balken und Stangen hängt, wie er plötzlich an einem Seilzug herunterschnurrt, wie er über die dünnsten Gestänge läuft, als wäre es der Marktplatz, und dabei noch mit Bällen jongliert, wie er auf den Händen in schwindelnder Höhe über meinem Kopf über einen Querbalken rennt, wie er darauf – so wahr ich lebe, haushoch über dem Steinpflaster ein Rad schlägt! Wie er unvermittelt eine Flöte aus dem Gürtel zieht und auf einer Stange, dünner als mein Arm, nach seinem eigenen Spiel anfängt zu tanzen – vor – zurück – Drehung – und dabei herunterruft, das sei noch gar nichts, auf einem Seil sei das viel schwerer! Wie er auf einmal aus schwindelnder Höhe abstürzt, sich dabei an einem Strick, den ich gar nicht bemerkt hatte, wieder fängt, wie er – ach, man könnte stundenlang davon reden und man hätte stundenlang zusehen können.« »Aber Herr Dopfschütz, Ihr seid ja – « »Richtig, Herr Eisenhut, richtig. Der Kerl gehört an den Hof des Kaisers! Und das habe ich ihm auch gesagt. Aber ich glaube, er war schließlich froh, dass ich ihn laufen ließ.« »Ihr habt ihn…?« »Zum Abschied hat er mir höflich meine eigene Geldkatze überreicht, die wohl verwahrt an meinem Gürtel hängt. Wie er daran gekommen ist, weiß ich freilich nicht. Man müsste schon – wisst Ihr. Aber, Herr Eisenhut – die bevorstehende Pest –, es ist vielleicht besser, wenn man erst einmal nachsichtiger ist.« Herr Eisenhut schüttelte den Kopf und lenkte das Gespräch wieder auf Herrn Kropfgans: »Ihr habt Recht, ohne sein Geld werden wir kaum durchhalten. Wir müssen mindestens fünfhundert Männer bezahlen und nicht nur bezahlen, sondern auch ausrüsten, und das ist erst der Anfang!« »Im Herbst sehen wir weiter, wir haben das Geld des Juden, zinslos und ohne Tilgung, vergesst das nicht. Ein Jahr Aufschub tut der Sache keinen Abbruch, Herr Eisenhut, wir sind schon sehr weit. Im Herbst wird der Kropfgans wieder vernünftig.« »Und die Pest?« Gegen Abend war ein Auflauf auf dem Münsterplatz. Christoph hörte grelle Stimmen, Johlen und Schreien: »Betrüger, Zauberer! Verbrennt sie, hängt sie auf!« Zwei Stadtwachen drängten sich durch die Menge. Christoph, von einer plötzlichen Unruhe ergriffe? drängte nach: Eingekeilt zwischen schimpfenden und höhnenden Menschen, sah er zu seinem Entsetzen Balthas und Regine. Eine ganze Traube von Straßenjungen hatte sich an sie gehängt. Drei Schmiede hielten beide an den Armen und Händen fest. »Es sind Betrüger!«, schrie eine Frau mit einem Pelz um die Schultern und hielt sich ein Tuch vor Mund und Nase. »Zauberer sind es. Ich habe gesehen, wie der Dicke einem Kind Geld aus den Ohren gezogen hat. Steine sollte man nehmen!« »Verbrennen sollte man sie – Zauberer gehören verbrannt!« Balthas wirkte ruhig, Regine hatte runde Augen, ihr Mund war offen. Christoph sah, wie sich ihr Mund bewegte, aber ihre Stimme ging im Geschrei unter. »Beide mitkommen!«, sagte der eine der beiden Stadtknechte und griff nach ihren Schultern. Der andere senkte seinen Spieß und zielte vor allem auf die Brust von Balthas. Der drückte den Spieß ruhig auf die Seite: »Du brauchst den Spieß nicht, wir gehen auch so mit, lasst vor allem die Frau los!« Seine tiefe Bassstimme klang wie immer. »Wir haben nichts anderes getan, als wir es schon seit Jahren machen, jeder konnte es sehen in Straßburg. Es ist keine Zauberei und kein Betrug: Die Dinge, die wir finden, tragen wir bei uns. Niemand verliert etwas und wir nehmen niemand etwas weg.« Man hörte lachen. Ein Straßenjunge pfiff auf den Fingern und streckte die Zunge heraus. Christoph ging in der Menge mit, welche die beiden zum Rathaus begleitete. Dort aber stand eine Doppelwache am Portal und kreuzte die Spieße. Der Rattenschwanz von Menschen war immer länger geworden, als sich der Zug das kurze Stück vom Münsterplatz zur Pfalz, dem Rathaus der freien Reichsstadt Straßburg, bewegt hatte. Christoph stand eingezwängt und wartete. »He«, flüsterte es da neben ihm, »he, du kannst ruhig zu mir herblicken, was ist hier eigentlich los?« Es war Philo, der nach seinem Arm griff. »Wo warst du denn?«, fragte Christoph atemlos und froh. »Das dauert länger, erzähl erst du.« Er schüttelte den Kopf, als er erfuhr, weswegen sich die Menge vor dem Rathaus staute: »Das ist doch Unsinn. Die machen das seit Jahren hier in Straßburg. Wenn ich bloß wüsste – so früh im Jahr waren wir noch nie hier.« Stunden vergingen. Der trübe Tag ging in Dämmerlicht über. Die Menge hielt aus, obwohl ein feiner Nieselregen eingesetzt hatte. »Als hätte niemand etwas zu tun als zu gaffen«, sagte Christoph und stampfte mit dem Fuß auf. Von unten herauf kroch die Kälte. Gut, dass er noch die Schuhe hatte, welche Hannah ihm gegeben hatte. »Aber erzähl endlich.« »Viel ist nicht zu erzählen«, sagte Philo leise. »Ich war Gefangener unseres Herrn Dopfschütz, er hat mich bei Wasser und Brot eine ganze Woche lang eingesperrt in einem winzigen Dachkämmerlein.« Christoph schaute ihn entsetzt an. »Nicht so schlimm. Ich hätte nur ein paar Dachziegel anheben müssen, dann wäre es eine Kleinigkeit gewesen, über das Dach zu verschwinden, aber dann hätte das Verhör nicht stattgefunden. Und niemand verrät sich mehr als einer, der einen anderen verhört, sagt Balthas immer. Es kam aber nichts dabei heraus.« »Warum warst du denn gefangen?« Philo berichtete. »Ich hatte nur Angst davor, dass er mich foltern lässt.« »Und alles wegen mir. Du hast unglaubliches Glück gehabt.« »I wo, ich war sehr gut!« »Das war Herr Dopfschütz, der meinen Vater umgebracht hat, Herr Dopfschütz, der die Juden verraten hat!« »Aber Herr Dopfschütz hat jetzt Angst wie alle«, sagte Philo. »Vor der Pest?« »Er ist ein Mörder, denk an die Juden. Im Sommer kommt der schwarze Tod – er hört die Hölle schon pfeifen!« Der Nieselregen war zu einem richtigen Landregen geworden, als sie am nächsten Morgen wieder vor der großen Freitreppe standen, die zum Gerichtssaal hinaufführte. Nur wenige Leute standen auf dem Markt. »Hinausgepeitscht werden sie, das ist das Mindeste.« Die Frau, eine Marktfrau mit einem Sack über dem Kopf, sagte es, als hätte sie einen persönlichen Anspruch darauf, dass Balthas und Regine aus der Stadt gepeitscht wurden. Eine Strafe, die mit ewigem Stadtverweis verbunden war. »Ich kenne mich da aus«, sagte Christoph. Philo war unruhig: »Wenn man sie nur nicht foltert. Folterung und dann Stadtverweis – das ist tödlich: Kein Gefolterter kann in unserem Beruf weiterarbeiten!« Das Portal öffnete sich. Zuerst traten Wachen heraus. »Das sieht nicht gut aus«, flüsterte Christoph. Dann kam Balthas. Er sah aus wie immer, breit auf der Brust lagerte sich sein Prophetenbart; ja er schien etwas zu lächeln. Nach ihm kam Regine die Treppe herab. Unten wurden beide von den Wachen in die Mitte genommen. Schon standen Philo und Christoph bei ihnen. »Wegen euch sind wir so früh in die Stadt gekommen«, redete Balthas mit seiner lauten Bassstimme. »Jetzt haben sie uns wegen Zauberei und Betrug auf ein Jahr der Stadt verwiesen. Danke schön, wir wollten sowieso gehen und erst in einem Jahr wiederkommen.« »Aber wir sind hergekommen, um euch mitzunehmen«, fuhr Regine fort, »wir warten alle gemeinsam im Schwarzwald die Pest ab. Dort ist es am sichersten.« Sie waren nicht mitgegangen. »Ich bleibe bei dir, ich bin ja nicht der Hellste. Weiß der Teufel, warum ich bleibe und dir helfe, aber versprochen ist versprochen, du kannst dich darauf verlassen, trotz Pest und Dopfschütz.« Vor wenigen Tagen war der Ofen zusammengebrochen. Er hatte im Winter gequalmt und gestunken, aber doch etwas Wärme abgegeben. Der April war kalt und sie froren. Aber es war besser als unter einer der Brücken, unter denen die Bettler an ihren Feuern hausten, und viel besser als in Philos nasser Höhle an der Ill. »Warum haben sie Balthas und Regine nicht hinausgepeitscht oder auf ewig aus der Stadt gewiesen wie meinen Vater und mich?« »Sie haben sich selbst angelogen und jetzt merken sie es. Sie haben die Juden verbrannt, damit die Pest nicht kommt, sie haben dennoch Angst vor der Pest, jetzt haben sie aber dazu noch ein schlechtes Gewissen. Deshalb haben sie zwar Balthas und Regine verjagt, aber sie haben sich nicht getraut wirklich hart durchzugreifen.« Philo versuchte einen Laden mit einem Holzkeil zu befestigen. Draußen prasselte ein Graupelschauer gegen die brüchigen Wände. Vom Dach tropfte es herab, obwohl sie versucht hatten die Löcher zwischen den Ziegeln zu verstopfen. Philo hatte sogar einige Dachziegel angeschleppt, aber nur auf dem kleinsten Teil des Daches waren Ziegel. Der größere Teil war mit vielen Lagen von zerfetztem und fauligem Stroh gedeckt und hier war jede Mühe vergebens. Sie hatten an manchen Stellen Bretter dazwischengeschoben, der Regen rann durch die Spalten. Bald würde mit dem Mai die warme Jahreszeit beginnen. Aber mit der Wärme komme die Pest, hieß es. »Vielleicht schaffen wir es ja noch vor der Pest. Dann gehen wir zu Regine und Balthas und warten dort ab«, sagte Christoph zuversichtlich. »Ich bin überzeugt, dass der Beweis, den wir suchen, im Speicher des Herrn Dopfschütz ist, und zwar in dem verschlossenen Lattenverschlag, von dem ich dir erzählt habe. Also müssen wir in den Speicher.« »Was kann es sein?« »Keine Ahnung. Auch mein Verhör hat darüber keinen Aufschluss gebracht.« »Vielleicht sind es Briefe von den Stuttgarter Kaufleuten, die meinen Vater verraten haben.« »Würde er die in einem Speicher aufbewahren?« »Würde er sie überhaupt aufbewahren?« Christoph überlegte. »Ja, ich glaube schon. Mein Vater hat immer gesagt: Ein guter Kaufmann wirft niemals etwas weg, vor allem nichts Geschriebenes.« »Vielleicht ist es etwas Schweres oder etwas Sperriges, etwas, das man in einem Haus nicht leicht verstecken kann, wenn es notwendig wird.« Wie sehr sie auch grübelten, sie konnten sich nicht vorstellen, was sie in dem Speicher finden könnten. Manchmal stand Christoph allein auf der morschen Brettergalerie ihres schiefen Hauses. Stimmen waren dann zu hören, die leise Stimme Abrahams, die ernste Stimme Löbs, die trotzige von Nachum und das Lachen von Esther. Wenn man die Augen zumachte, war dieses Lachen ganz nah. Esther sagte: ›Christoph, mein weißer Elefant‹. Spürte er nicht ihre Hand und ihren Atem! Ganz still musste man stehen. Man konnte mit diesen Stimmen reden. Man konnte die Menschen sehen: Lächelnd kamen sie um die Ecke bei der Synagoge und beim Judenbad. Sie saßen am Vorabend des Sabbats um den Tisch in der großen Stube und tranken ihm zu, auch sein Vater saß dabei, fröhlich und mit erhobenen Armen. Es war dann auch manchmal das Klingen der Goldstücke im Rauschen des Regens zu hören. Oft konnte er nur einschlafen, wenn er Esther fest an sich drückte, wenn er ihren Atem hörte, wenn er still weinte. Es gab auch Tage, da konnte er nicht hören, wie Esther ›Christoph‹ sagte. Er horchte dann und horchte und formte ihre Worte mit seinem Mund, aber er konnte sie nicht hören. Wenn er sie nie mehr sehen würde – Die Leere in ihm war dann wie eine offene Wunde. Der Mai war regnerisch und kalt und kam und ging, und die Pest blieb aus. Aber mit der steigenden Sonne stieg die Angst. Der Juni brachte einige glühend heiße Tage, welche die Angst aufkochten, aber dann kam die Schafskälte und hielt die Pest fern. Wie unter einem unausweichlichen Schlag, der nicht fallen wollte, war die Stadt geduckt. Die Geißler waren allgegenwärtig. Auf allen Straßen waren Gruppen von ihnen mit ihrem Singsang, umstanden von weinenden Frauen mit ihren Kindern. Es hieß, ihre Zahl gehe bereits in die Tausende. Die Kerzenmacher und Wachszieher machten große Geschäfte: Die Kirchen waren überfüllt und voller Kerzenqualm und Weihrauch. Es gab Menschen, die auf einmal so fromm wurden, wie es niemand von ihnen gedacht hätte, und es gab Fromme, die nur noch in den Wirtshäusern hockten und ihr Geld verspielten. Viele Häuser waren leer – viele Menschen waren geflohen: in die Vogesen, in den Schwarzwald, nach Speyer, Worms, Freiburg, Basel, obwohl jeder wusste, dass dies Unsinn war, weil die Pest in alle Städte kommen würde. Wer nicht geflohen war, nicht im Wirtshaus saß oder nicht in einer Kirche betete oder abwechselnd das eine und das andere versuchte, den litt es trotzdem nicht zu Hause. Man trieb sich auf den Straßen herum, immer begierig das Neueste zu hören. Mit Herzklopfen wartete man auf die ersehnte Nachricht, die Pest sei jetzt heilbar. Und man hörte diese Nachricht jeden Tag in immer anderer Gestalt an jeder Straßenecke, aber niemand glaubte sie wirklich. Dennoch stand man gleich darauf schon wieder an der nächsten Ecke und hörte einem Wichtigmacher zu: So und so könne man den schwarzen Tod leicht heilen. Berge von Gold hätte der Frosch mit seinen falschen Alraunen verdienen können. Christoph und Philo hielten vergebens nach ihm Ausschau. Von Menschen wurde berichtet, die von der Pest befallen und wieder gesund geworden seien. Alle hörten gebannt zu, alle wollten es glauben, niemand glaubte es wirklich und doch klammerte sich jeder daran. Christoph wusste von Abraham und der alten Esther, dass in Spanien tatsächlich von der Pest befallene Menschen wieder gesund geworden waren. Auf allen Straßen und Plätzen der Stadt drängten sich die Massen wie bei einem Jahrmarkt. Nachts wälzten sich die einen schlaflos im Bett, die anderen lagen bewusstlos im Alkoholrausch. Die Stadthuren in der Paradiesgasse hatten Zulauf wie noch nie. Die Leute standen in langen Reihen vor den Buden der Wahrsager. Jeden Tag wurden Wahrsager vom Rat aus der Stadt gewiesen, aber am anderen Tag waren sie wieder da und lasen den Leuten aus der Hand, aus gläsernen Kugeln oder aus Ruß. Hoffnung hatte, wer sie verließ – aber am nächsten Tag war diese Hoffnung schon vergangen und der Verängstigte hockte bei einem anderen Wahrsager. Wer Schuhe zum Flicken gab, wusste nicht, ob sein Flickschuster am anderen Tag noch in der Werkstatt war, ebenso war es bei den Bäckern und Metzgern. Die Metzig, das große Schlachthaus an der Schindbrücke, auf der es immer nach Blut roch, hatte tageweise geschlossen. Das Kaufhaus war verrammelt. Die Brotbänke beim Rathaus standen zum großen Teil leer, die Buden auf der Schindbrücke waren fast alle geschlossen. Die Wirtshäuser waren überfüllt, der Rat erließ immer neue Verbote, die niemand mehr beachtete und die kaum mehr kontrolliert wurden. Betrunkene taumelten durch die Gassen. Die Bettler bekamen ganze Hände voll Geld, Silber und Gold, als wollten sich die Reichen vom Tod freikaufen. Nachts, so hörte man, wurde in die Häuser der Geflohenen eingebrochen. Die Diebe hatten eine große Zeit. Die reichen Kaufleute ließen ihre Speicher bewachen, denn die Speicher waren gefüllt, weil der Handel durch die drohende Pest zunehmend zum Erliegen kam. Aber oft liefen die Wachen davon oder sie selbst plünderten die Speicher aus, die sie bewachen sollten. Prediger standen an den Ecken der Gassen und Straßen, Mönche, Bettler, Bürger, und verkündeten das Ende der Welt. Im Gewimmel der verängstigten Stadt wirkten die Gassen um den Speicher des Herrn Dopfschütz wie ausgestorben. Bewaffnete schritten langsam auf und ab. Immer zwei standen am Tor und wurden in der Nacht abgelöst. »Herr Dopfschütz ist vorsichtig«, nickte Christoph anerkennend, »bei ihm ist nie eine Wache allein, so können sie sich gegenseitig kontrollieren.« »Für uns ist das schlecht. Aber wir müssen in diesen Speicher hinein, und mit Goliath geht es nicht mehr.« Tags war es unmöglich. Aber auch nachts war es gefährlich. Christoph konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie man in ein so festes und bewachtes Gebäude kommen konnte. Philo schlug vor die Umgebung genau zu betrachten. Der Speicher stand im übelsten Teil des Gerberviertels, einem kleinen tief gelegenen Areal, das oft überschwemmt wurde und das der Rat deshalb abreißen lassen wollte, um das ganze Gebiet aufzuschütten und neu zu bebauen. Er lag auf bereits aufgefülltem Grund und war ein grauer, massiver, recht hoher Steinbau mit einem steilen Dach, das von langen Reihen unzähliger Gauben besetzt war. Er war ganz vergittert, die Fenster hinter den Eisengittern oft mit Brettern verschlagen. Es hieß, Herr Dopfschütz habe ihn vor kaum zwei Jahren von der Stadt gekauft. Jeder habe sich gewundert, weil er für die Zwecke eines Kaufmanns viel zu groß sei. Eine kurze gepflasterte Gasse führte als Zufahrt aufwärts zu seinem eisenbeschlagenen Portal. Hier stand die Doppelwache. »Von hier aus ist nichts zu machen.« Dieselbe Gasse ging dann an der Längsseite des Speichers entlang und mündete auf der Rückseite des lang gestreckten Gebäudes in eine andere Gasse. Beide Gassen waren dunkel, umstanden von längst unbewohnten Häusern, in deren Fensterhöhlen Unkraut wucherte, von Bretterverschlägen und Gerberschuppen. Überall waren noch die Stangen und Seile zu sehen, an denen einst Tierhäute zum Trocknen aufgehängt worden waren, aber alles war längst unbrauchbar geworden, die Stangen durchgebrochen, zerfetzte Seile hingen herab. Abfälle und Kot hatte man bedenkenlos hingeworfen, überall faulte es, wuchsen Gras und Unkraut, Ratten huschten durch die Nässe. Nur die Zufahrt zum Speicher war gesäubert. Dunkel war auch der Hof, der sich auf der anderen Längsseite des Speichers zu einem finsteren Gebäude hinzog. Es war die Rückseite eines sehr großen, baufälligen Hauses, das mit seinem Giebel fast rechtwinklig so an die Seite des Speichers stieß, dass die Dächer der beiden Gebäude miteinander verbunden waren. In dem Hof, in den das ganze Jahr kein Sonnenstrahl fallen konnte, stand allerlei unbrauchbar gewordenes Gerät. Sie wussten, dass hinter diesen Gassen nach wenigen Reihen ebenso verfallener Häuser Gemüsegärten kamen, die sich bis an die Stadtmauer zogen. Der Vordergiebel des finsteren Hauses schaute auf eine ganz andere Gasse. Sie war gepflastert und viel breiter, hier waren die Häuser in besserem Zustand, die meisten bewohnt. Hier in der Nähe der Ill war Leben. Die düstere Vorderseite des leeren Hauses mit seinen vernagelten Fenstern passte nicht zur freundlicheren Umgebung. Man sah, dass es ursprünglich ein Adelssitz, ein Kaufmannshaus und erst dann wohl ein Gerberhaus gewesen war: Am steinernen Torbogen war ein verwaschenes Wappen eingemeißelt. Im Giebel waren Holzgalerien, die aus irgendeinem Grund zugemauert worden waren. An einer Stelle war die Last der Steine zu schwer geworden und das morsche Gebälk war heruntergebrochen, die Mauer war nachgerutscht, sodass an dieser Stelle eine Menge Steine in der Wand fehlten, die wohl auf die Gasse gestürzt waren. Seile und Stangen gingen von den vermauerten Galerien über die Gasse hinüber zum Nachbarhaus, von wo aus sie mit Tierhäuten behängt wurden. Christoph und Philo waren von den Wachleuten misstrauisch beäugt worden, als sie mehrfach um den Speicher strichen. Aber keiner hatte sie angesprochen. »Ich hätte schon eine Ausrede gewusst«, sagte Philo. »Ich hätte einfach erzählt, dass meine Tante hier im letzten Sommer eine kostbare Schmucknadel mit Juwelen verloren habe und immer noch suchen lasse. Natürlich gegen Belohnung, und da ich gerade kein Geld hätte – « »Hör auf«, lachte Christoph und hielt sich die Ohren zu. »In dem hinteren Hof mit dem Gerümpel und dem verlassenen Haus müssen wir ansetzen«, schlug Philo vor. »Vielleicht gibt es einen Zugang von diesem Haus zu dem Speicher, sie sind ja zusammengebaut.« »Es ist möglich. Wir werden sehen, heute Nacht gehen wir in das verlassene Gerberhaus und versuchen von dort in den Speicher zu kommen.« »Denn da vorne an der breiten Gasse steht keine Wache.« |
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