"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)VALENTINSTAG 1349Christoph starrte auf den Boden, Esther hielt die Hand am Mund, Abraham hatte sein Obergewand über den Kopf gezogen, Löb stand da, kreidebleich. Nachum stand mitten im Raum, seine Stimme gellte: »Seid ihr taub, seid ihr zugenagelt, habt ihr kein Hirn mehr? Was ist los mit euch? – Der allseits verehrte Herr Dopfschütz ist der Jäger Christophs, er ist der Hintermann, den wir suchen. Er ist der Mörder von Christophs Vater, er ist der Mörder der beiden Bettler. – Er ist es, der Türme zerstört und Macht haben wird. Und mit dieser Macht wird er nicht die Juden beschützen! Und Gnade Gott uns Juden in Straßburg, wenn ich Recht habe!« »Es wäre entsetzlich«, sagte Esther leise. Abraham hielt den Kopf weiter verhüllt. Christoph wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. »Ruhe jetzt, Ruhe, nichts überstürzen!« »Nicht Ruhe, Vater, wir müssen verschwinden, abreisen, nach Osten zu Elieser. Es ist höchste Zeit!« »Bitte, Nachum, lass uns nachdenken, lass uns alles überlegen. Es ist wichtig. Lass uns nichts überstürzen. Bitte. Wir haben auch Verantwortung für die Brüder.« »Bitte, Nachum«, sagte Esther tonlos. »Wir wollen alle Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten durchgehen«, begann Löb. »Er hat mich genau so beschrieben, wie ich den Bettlern und dem Gesindel von Straßburg vom Frosch beschrieben worden bin – buschige schwarze Haare und blaue Augen.« Christoph war immer noch wie gelähmt. »Es kann kein Zufall sein, Vater«, drängte Nachum. »Gut, gehen wir davon aus, dass es kein Zufall war – dann kennt er diese Beschreibung, und ich muss zugeben, dass dann eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass er selbst der Urheber der Beschreibung und damit der Mörder von Christophs Vater ist. Warum hat er sie uns dann gesagt?« »Er will mir drohen, das ist klar«, Christoph starrte auf den Boden, »und er fühlt sich sehr sicher dabei. Er spielt mit mir wie die Katze mit der Maus.« »Richtig«, überlegte Löb weiter, und seine Stimme gewann wieder an Sicherheit, »er hat es in unserer Gegenwart gesagt. Das kann zweierlei bedeuten: Erstens, dass es ihm gleichgültig ist, ob wir es hören, weil er unsere Angelegenheiten davon trennt.« »Zweitens: Dass er uns warnen will, Christoph weiter zu beschützen«, fuhr Nachum fort. Esther presste die Lippen zusammen. »Wenn es so ist, wie Nachum meint«, sagte Löb mit ruhiger Stimme. »Was will er denn mit dem vielen Geld? Weißt du das, Vater?« »Er hat es mir nie gesagt, Esther. Ich habe ihn immer wieder darauf zu sprechen bringen wollen, aber da war nichts herauszubekommen. Er wird Ware kaufen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, welche – « »Macht will er – dazu braucht er das Geld! Salpeter, Schwefel und Kohle will er kaufen!« Nachum schrie es heraus. »Dann wäre Herr Dopfschütz der Mann, der nachts – es kann einfach nicht sein.« Löb hatte seine Stirn mit den Fingern umspannt. »Aber man muss doch nur zwei und zwei zusammenzählen, Vater. Er hat die Mittel, die Macht zu ergreifen: nämlich das Substrat, das ihn unbesiegbar macht, und er hat das Geld, um diese Machtergreifung durchzuführen! Du selbst hast es ihm gegeben.« »Es passt alles sehr gut zusammen. Das muss ich sagen. Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Beschreibung Christophs nicht einen anderen Grund hat.« »Einen anderen Grund, Vater?« »Die Beschreibung lief durch ganz Straßburg, zugegeben, sie war unter den Bettlern besonders verbreitet, weil sie gezielt dort ausgestreut wurde – man hat Christoph unter den Bettlern vermutet. Aber ein Mann wie Herr Dopfschütz, der die Augen und die Ohren überall hat, kann diese Beschreibung auch von einem seiner Diener oder Knechte gehört haben. Kurz – er sieht Christoph, erinnert sich daran und macht sich den Spaß, Christoph genau so zu beschreiben wie bei den Bettlern. Er hat einen eigenartigen Humor – ich kenne ihn ja schon lange, das passt zu ihm. Man muss von den Menschen nicht immer gleich das Schlimmste denken, Nachum.« »Vielleicht wollte er damit Christoph und uns auch nur erschrecken, zur Strafe, dass wir ihm Christoph nicht vorgestellt haben.« Esther atmete auf und legte den Arm um ihren Vater. Nachum war nicht mehr so sicher: »Ich kann es nicht so recht glauben, Vater. Man sollte es genau wissen.« »Der Frosch – «, begann Löb, »aber aus dem ist nichts mehr herauszubringen.« »Doch«, sagte Christoph. Die Nachrichten aus dem Gebiet des Oberrheins waren schrecklich. Überall wurden die Juden auf die Straßen gejagt und zu den Holzgerüsten getrieben, wo sie verbrannt wurden, in Basel war es einige Tage vor Benfeld geschehen, in Zürich, in Solothurn, in Schaffhausen, in Konstanz, in Mühlhausen, in Colmar, in Schlettstadt, in Freiburg, in Speyer, in Worms, in Mainz und in vielen kleineren Städten, selbst in Dörfern verbrannte man Juden. Die Morde an den Juden verbreiteten sich vom Oberrhein aus über das ganze Reich. In Straßburg lebten die Juden wie auf einer Insel. Scharen von Flüchtlingen aus ganz Deutschland gingen heimlich in der Nacht nach Osten, wurden dennoch unterwegs ertappt, ausgeraubt und beschimpft, mit Steinen beworfen und mit Prügeln erschlagen, in Flüsse und Sümpfe geworfen. Tausende ließen auch hier noch ihr Leben. Nur ganz wenige ließen sich taufen, obwohl Maimonides, der große Vorfahr der Familie Baruch, ausdrücklich geschrieben hatte, dass dies erlaubt sei, wenn man damit sein Leben retten könne. »Aber dann geht das Judentum unter«, wiederholte Nachum die Worte seines Vaters, »dann doch lieber auswandern.« In Straßburg gab es Auflaufe der kleinen Leute. Sie schrien und johlten und forderten die Durchsetzung der Benfelder Beschlüsse auch für die Stadt Straßburg. Herr Wangenbaum hatte große Auftritte. Aber der Rat, der mehrfach tagte, lehnte die Beschlüsse ab. Herr Schwarber, Herr Dopfschütz, Herr Eisenhut und Herr Kropfgans setzten sich jedes Mal durch, vor allem mit dem Hinweis auf die Macht des Bischofs, die man stütze, wenn die Juden umgebracht oder vertrieben würden. »Der Bischof hält es mit den kleinen Leuten, er hetzt sie auf, weil er durch sie wieder Einfluss in der Stadt bekommen will«, sagte Herr Schwarber. »Wir müssen an das Wohl der ganzen Stadt denken!« So redete Herr Dopfschütz und Herr Kropfgans nickte. Herr Wangenbaum rang die Hände. In den Wirtshäusern hockten die Männer am Feierabend länger als sonst: »Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen! Man muss etwas tun!« »Die reichen Herren machen, was sie wollen. Sie machen Geschäfte mit den Juden, verdienen in einer Woche mehr Geld, als eine ganze Schmiedewerkstatt mit Meister und Gesellen in einem Jahr auffressen kann, und scheren sich einen Dreck, wie es dem einfachen Mann ergeht! Wenn dann der schwarze Tod kommt, so hauen sie ab.« In Gruppen standen sie in den Gassen. Herr Wangenbaum bekam von Tag zu Tag mehr Zuhörer. Der Frosch rieb sich die Hände: diese Pest! Er hätte nie gedacht, dass eine Krankheit so einträglich sein konnte. Der Kauf der neuen Wurzeln war gut gelungen. Niemand ahnte, dass die Rüben, die er billig bei den Bauern erstand, als teuere, unfehlbare Medizin gegen die Pest auf dem Markt der Stadt Lahr angeboten wurden. Die Herstellung hatte er bedeutend verbessert. Er hatte zwar selbst noch nie eine echte Alraunenwurzel in der Hand gehabt, aber sie sahen irgendwie so echt aus, dass er selbst ganz begeistert war. Er hatte das Verfahren der Herstellung beschleunigt und war sehr zufrieden mit sich. Natürlich konnte das Ganze immer noch verbessert werden. Er steckte voller Ideen. Seinen Jahrmarktstand hatte er vergrößert. Neue Bilder waren aufgehängt, noch viel eindrucksvoller als die ersten, einen Fiedler und einen Trommler hatte er zu dem Dudelsackpfeifer engagiert. Sie konnten gemeinsam und einzeln spielen, sie konnten sich auch abwechseln. Er musste sie natürlich bezahlen. Aber das waren Hungerleider, Musikanten, die froh um jedes Stück Brot sein mussten, das er ihnen gab. So blieb für ihn selbst genügend übrig, er konnte sich ausrechnen, dass er sich in kurzer Zeit mit einer riesigen, nie geahnten Geldsumme zur Ruhe setzen konnte. Und die Pest? Der Frosch hatte vor ihr keine Angst. Er hatte das Gefühl, dass Geld der beste Schutz vor der Krankheit war. Niemals war Blutgeld besser angelegt worden. Und jetzt folgte die Krönung. Da war dieser Bote aus Straßburg, der ihn einlud zu geschäftlichen Gesprächen. Es schwindelte ihn: Er, der kleine Gauner, der Habenichts, auf dem alle herumgetrampelt waren, sollte womöglich Teilhaber werden! Teilhaber eines der reichsten Männer am Oberrhein. Zumindest würde ein wirklicher Kaufmann Geld in sein Geschäft stecken. Er konnte das Geschäft in großem Stil fortsetzen, vielleicht sogar eines Tages mit echter Mandragora handeln. Sein Erfolg hatte sich in der Geschäftswelt herumgesprochen! Schade, dass der Diener, der so reich gekleidet war, nicht den Namen seines Herrn verraten hatte. Im Geschäftsleben dürfe man nicht alles an die große Glocke hängen. Noch sei ja kein Abschluss gemacht. Der Diener hatte aber ganz locker mit ihm über geschäftliche Dinge geplaudert und gezeigt, wie gut er sich auskannte. Und er hatte ganz gut mitgehalten bei diesem Gespräch. Er hatte gleich gemerkt, dass ihm der Diener auf den Zahn fühlen sollte, und er hatte sich bestens geschlagen. Der Diener war auch befugt ihn nach Straßburg zu begleiten – ob er nicht überhaupt seinen Stand in Straßburg aufbauen wolle? So kamen sie nach Straßburg mit Dudelsackpfeifer, Trommler und Fiedler. Den Stand solle er erst nach der Unterredung aufbauen, hatte ihn der Diener angewiesen, er solle sich zuerst sehr unauffällig verhalten, weil sein Herr auf seinen guten Ruf bedacht sein müsse. Deshalb könne er ihn leider vorerst auch nicht in sein Haus aufnehmen. Der Frosch hatte aber nicht widerstehen können und auf einem kleinen Platz einen kleinen Stand, nur mit den alten Bildern und dem Dudelsackpfeifer, aufgebaut. Er verkaufte recht gut. Man konnte den Umsatz steigern, indem man in die Verkaufsrede die Juden mit einbezog, wie sie die Brunnen vergiften würden, und wie gerade die Alraunenwurzel das beste Mittel gegen dieses Gift sei. »Es ist erprobt, meine Herren und schönen Damen«, rief er, »es ist erprobt in Italien, Spanien und in der Schweiz mit den besten Erfolgen, freilich ist es nicht ganz billig und nicht jeder kann es sich leisten. So gibt es leider trotz dieses Wundermittels sehr, sehr viele Tote in den genannten Ländern. Und hier in Straßburg wird ja nichts gegen die Juden, diese Brunnenvergifter, unternommen. Kauft, ihr Leute, kauft.« Welch ein Glück, dass er in Straßburg war, wo den Juden nichts geschah. Da stand endlich der Diener seines künftigen Geschäftspartners vor ihm. Er solle heute Abend in ein von ihm genau bezeichnetes Haus kommen an der Ill, wo man miteinander reden könne, ohne dass halb Straßburg davon Wind bekomme. Sein Herr bedauere das sehr, aber er lasse ihn grüßen und hoffe, dass der Gang der Geschäfte den Herrn – wahrhaftig, er nannte ihn einen Herrn – völlig zufrieden stellen werde. Es war keine gute Gegend, wohin der Diener ihn bestellt hatte. Vom Gerberviertel herüber stank es nach Gerberlohe. Wie er diesen Geruch hasste, der ihn an seine armselige Herkunft erinnerte! Sein Vater war Gerbergehilfe in Pforzheim gewesen und hatte sein bisschen Lohn immer versoffen. Seine Mutter musste sich und ihren Sohn mit Gefälligkeiten für Männer durchbringen, wie sie das nannte. Da war kein Geld für eine Lehre gewesen. Knechtsarbeit hatte er bei den Bauern tun müssen – dann Einbruch, Wegelagerei, Raub –, ein Kumpan hatte ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Zuletzt wurden sie erwischt und in den Turm gelegt, angeschmiedet mit einer Kette – Rad oder Galgen? Bis ihn diese Kaufleute herausgeholt hatten mit dem Mordauftrag. Und jetzt – welch ein Aufstieg! Er würde vielleicht eines Tages sogar Ratsherr werden – Da war es: Ein schiefes, baufälliges Haus mit einer schwindeligen Brettergalerie am Giebel, der sich bedenklich über einen Arm der Ill neigte. Gut, dass etwas Schnee lag, man hätte sonst nicht die Hand vor den Augen gesehen. Aus der Ill schien die Kälte heraufzusteigen. Er solle die Türe öffnen und einfach hineingehen, sie sei nicht abgeschlossen. Das musste wohl ein Witz sein: Diese schiefe Türe hatte noch nie jemand abschließen können. Vielleicht müsse er etwas warten, aber der Herr werde sich beeilen. Freilich sei er viel beschäftigt und nicht immer ganz Herr seiner Zeit. Wie unangenehm die Türe quietschte! Finster war es in dem Raum, in den er trat, und bitterkalt. Es war aber nicht ganz dunkel. Dort auf dem alten Gesimse stand eine brennende Kerze. Er wurde also erwartet. Es war keine Fackel und kein Kienspan. Es war eine teuere Kerze, die da brannte, ohne zu rußen oder zu qualmen. Und sie stand in einem silbernen Leuchterlein! Er konnte beruhigt warten. Es sah sich um. Das Gebälk zum oberen Geschoss war teilweise heruntergesackt. Eine herabgebrochene Stiege hing halb im Raum. Hier, im unteren Geschoss, waren die Trümmer des Gebälks zum Teil zur Seite geräumt und der Raum war etwas wohnlich gemacht worden. Ein wackeliger Tisch stand da und eine Bank, die nur noch drei Füße hatte, weshalb eine Holzkiste unter sie geschoben worden war. Er setzte sich vorsichtig darauf. Aus der Ferne hörte er den Schlag von Turmuhren, sonst war alles totenstill, höchstens ein Knacken im Gebälk. In einem Luftzug bewegten sich die Spinnwebfahnen schwer von Staub. Die Kälte kroch an den Beinen hoch. Manchmal ließ ihn ein Rascheln auffahren, aber es war nur eine Ratte, die mit glänzend schwarzen Augen zu der Kerze hochsah und weghuschte. Nach und nach wurden ihm andere Geräusche bewusst: leises Scharren und Knirschen. Dazu kam von der herabgebrochenen Stiege her etwas wie Stöhnen und Klappern. Ein seltsames Pfeifen und Kratzen setzte ein, schwere Atemzüge. Was bewegte sich da? Hilf, Himmel, was war da noch in dem Raum außer ihm? Er hörte den schweren Atem immer deutlicher, sein Herz ging wie ein Hammer. Er presste die Hände zusammen, trotz der Kälte brach ihm Schweiß aus. Langsam erhob er sich von seinem Sitz. Das Geräusch des Atems, das im Raum hing wie von einem Tier, wurde jetzt zu einem Stöhnen, und da kam es – ein fahler schwarzweißer Schein, eine Gestalt, die langsam hinter den zerbrochenen Stiegen hervorwandelte. Ganz schwarz, nur ein grell kalkweißes Gesicht, darüber wie ein dicker Busch schwarze Haare. Der Frosch stand wie aus Stein. Auf der Brust der Gestalt schimmerte etwas. Ein Dolch steckte da! »Erkennst du mich? Schwarze buschige Haare, blaue Augen?« Die Stimme hatte nichts Menschliches an sich. Aber er erinnerte sich, er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, in einer Herberge im letzten Frühjahr – »Ja, ich bin Christoph Schimmelfeldt. Du hast mich verfolgt, du hast mich ermorden lassen. Du hast das Blutgeld für mich genommen und hast dafür getötet!« Ein Winseln kam aus der Brust des Beschuldigten. »Ich bin nicht gekommen, um zu strafen, das werden andere tun. Aber ich finde die ewige Ruhe nur in der Wahrheit.« Die Gestalt schwebte näher: »Wer hat dir das Blutgeld gegeben? Du musst es mir sagen.« Der Frosch hatte einen trockenen Mund, er versuchte zu sprechen, aber er brachte nur ein Würgen, ein Ächzen heraus. »Es ist mir Macht gegeben über dich«, redete die furchtbare Gestalt weiter, indem sie näher schritt, »wenn du die Wahrheit nicht sagst, breche ich dir das Genick!« Da löste sich etwas: »Ich war es nicht, ein Bettler hat dich getötet – er ist schon bestraft«, krächzte er, und als ihn die Gestalt schon fast erreicht hatte, brach es aus ihm heraus: »Es war der Herr Dopfschütz. Herr Dopfschütz hat das Blutgeld bezahlt, ich schwöre es. Er hat mich sogar um das vereinbarte Geld beschissen. Nur darum habe ich – « Aber schon bewegte sich die geheimnisvolle Gestalt rückwärts unter den Vorsprung der Stiege und verschwand in der Nacht. Der Frosch begann zu lachen. Er lachte und lachte – »Es ist unglaublich!« Herr Dopfschütz stapfte im Saal seines großen Hauses herum. »Jetzt, da wir am wenigsten ein Störung brauchen können, kommt es gleich doppelt: Dieser Schimmelfeldt, längst totgesagt, erstochen, in die Ill geschmissen, das Blutgeld für ihn bezahlt, taucht wieder auf – frisch und lebendig, als hätte er nicht tot an einem Fischerpfahl gehangen, wie mir versichert wurde. Und bei wem finde ich ihn? – Beim Juden! Und damit nicht genug: Dieser Betrüger, der ihn erstochen gesehen haben will, der das Blutgeld kassiert hat, lässt sich auf einmal wieder mit seinem widerlichen Handel von falschen Mandragorawurzeln in der Stadt blicken.« »Was können die beiden uns – « Herr Eisenhut fasste nach dem Arm des Herrn Dopfschütz. »Was können die beiden uns? Herr Eisenhut, höre ich schlecht? Was können die beiden uns? Was musstet Ihr den Betrüger auch mit hinzunehmen in das beleuchtete Haus! Jawohl, der lebt nicht mehr, den habe ich das Schwimmen gelehrt in der Ill, der ist baden gegangen – den habe ich erstechen lassen. Zuverlässig!« »Und der andere?«, fragte Herr Eisenhut. »Jetzt sind wir viel weiter, bis jetzt hat er uns ja nicht geschadet. Man wird sehen. Er ist bei den Juden. Dort ist er untergeschlüpft, wir können vielleicht etwas daraus machen.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, Herr Kropfgans, dass wir eins und eins zusammenzählen. Was besagen will, dass wir feststellen, wo wir sind. Das Geld ist da, meine Herren, ich habe es vor zwei Tagen bekommen!« »Wann kann dann die ganze Sache losgehen?« Herr Eisenhut hatte seinen dürren Hals nach vorne gestreckt, dass er aus seinem pelzverbrämten Gewand ragte wie der Kopf einer Schildkröte. »Wie weit sind wir mit den Versuchen?« »Wir haben den kleinen Turm in die Luft fliegen lassen und es hat viel Rätselraten in der Stadt gegeben. Herr Wangenbaum hat den Verdacht auf die Juden gelenkt und uns damit sehr geholfen, ohne es zu wissen.« Er lachte, Herr Eisenhut schloss sich an, während Herr Kropfgans misstrauisch von einem zum andern blickte. »Wir haben in den Vogesen einige dicke Bäume entwurzelt, und das hat in der Stadt niemand bemerkt. Es sind dort auch einige Felsen zertrümmert worden, wobei zwei Bauern und ein Minenarbeiter um das Leben gekommen sind.« »Schlimm!«, sagte Herr Kropfgans. »Es müssen Opfer gebracht werden auf unserem Weg, Herr Kropfgans, das haben wir von Anfang an gewusst.« »Was ist mit dem Schießen?«, fragte Herr Eisenhut, ohne sich um Herrn Kropfgans zu kümmern. »Einige Rohre sind fertig«, freute sich Herr Dopfschütz, »die Schwierigkeit ist aber, dass man immer noch nicht genau weiß, wie viel von unserem Schießpulver in das Rohr muss, um das Geschoss hinauszutreiben, ohne dass es das Rohr zerreißt. Auch hier sind Menschen gestorben, meine Herren, aber wir sind auf gutem Wege. Die letzten Versuche waren sehr ermutigend. Man kann mit dickeren und dünneren Eisenrohren Mauern und Menschen zusammenschießen. Eine große Zahl von Schmieden arbeitet für uns. Und wir haben gelernt: Kein Schmied weiß, woran er arbeitet. Demnächst wird auch in Stuttgart für uns geschmiedet. Unsere Verbündeten sind benachrichtigt und leiten alles in die Wege. Haben wir das Elsass und die Grafschaft Wirtemberg, so haben wir fast ganz Schwaben, die wichtigste Voraussetzung, um unser Ziel zu erreichen.« »Die Rohstoffe?« »Kein Problem, Herr Eisenhut. Den Salpeter bekommen wir aus Venedig, er kommt aus dem Orient, das Geld liegt dafür am Rialto bereit – einiges gewinnen die Leute auch aus Ställen. Den Schwefel haben wir aus Italien, gut, billig. Die Kohle aus dem Schwarzwald – wir brauchen beste Qualität!« »Also, Herr Dopfschütz, Herr Kropfgans, wir haben unser Geld in eine gute Sache gesteckt.« Herr Eisenhut nickte befriedigt. »Wir werden dann – « »Noch nicht, meine Herren, gerade das Finanzielle macht mir Sorgen.« Herr Dopfschütz wiegte bedenklich den Kopf. »Habe ich recht gehört?«, fragte Herr Eisenhut. »Ihr habt doch das Geld von dem Juden bekommen.« »Ja«, lächelte Herr Dopfschütz, »alles! Es ist eine riesige Summe, wie ich sie noch nie zusammen gesehen habe, meine Herren. Und mit Ihren Einlagen, meine Herren, vor allem von Herrn Kropfgans, wird es reichen.« »Dann ist doch alles in Ordnung«, freute sich Herr Kropfgans, und Herr Eisenhut rieb sich die Hände. »Die Zinsen, meine Herren, ich dächte, Sie wären Kaufleute. Die Zinsen, meine Herren, lassen uns wenig Spielraum, viel weniger, als wir gedacht haben. Sie fressen uns auf.« Herr Kropfgans fuhr auf: »Soll das heißen, dass wir – ohne mich!« Herr Dopfschütz hatte Geduld: »Sie müssen dran, die Juden. Es gibt keinen Ausweg. Ihr wisst, ich bin der Letzte, der – « »Benfeld – « »Herr Kropfgans, hätten wir in Benfeld zugestimmt, dann hätten wir das Geld niemals zusammenbekommen, das wisst Ihr so gut wie ich.« »Aber ich meinte, dass die Juden – « Herr Kropfgans kratzte sich am Kopf. »Auch wir, Herr Kropfgans, auch wir, nicht wahr, Herr Eisenhut, auch wir wollen es nicht. Ihr habt gehört, wie wir in Benfeld alles niedergestimmt haben. Wir haben gedacht, es ginge. Aber wenn ich Euch die Zinssätze sage, Herr Kropfgans – es geht nicht!« »Dann – « »Dann wollen wir nichts überhasten, nicht wahr, Herr Kropfgans, die Stimmung im Rat kippt ohnehin, wir sind die Letzten, die für die Juden eintreten, man muss auch an die Angst der kleinen Leute denken. Herr Wangenbaum will – « »Herr Schwarber – « »Der Schwarber ist isoliert. Ich schätze ihn ohnehin ein wie den Herrn Schimmelfeldt, und auch da waren wir uns immer einig.« Herr Kropfgans verzog wehleidig das Gesicht. »Es geht um das Ziel, meine Herren, ich sage es noch einmal – es geht um den Frieden, den wir herstellen können, wenn wir die Macht haben. Wir wollen die Macht ja nicht für uns. Darüber waren wir uns einig – leider, Herr Kropfgans, nun auch die Juden!« »Wann?«, fragte Herr Eisenhut. »Die Juden gleich, die Macht im Sommer, der ewige Friede, ich würde sagen, in drei Jahren!« Am Dienstag vor Valentin des Jahres 1349 standen die Herren im Ratssaal der Stadt Straßburg. »Herr Schwarber, gebt auf. Ihr könnt nichts mehr machen. Wenn Ihr aus dem Fenster schaut – « Von oben sah es aus, als könne man über die Köpfe gehen, so dicht stand die Menge auf dem Markt. Wie am Vortag hatten sich die Metzger und die Gerber der Stadt zusammengerottet, die Luft dröhnte von ihrem Ruf: »Juden weg! Schwarber weg! Dopfschütz weg! Juden weg! Schwarber weg! Dopfschütz weg!« »Verstehe ich recht? Auch Ihr wollt, dass die Juden – « Herr Schwarber sagte es leise. »Wir können uns nicht immer gegen das Volk stellen, Herr Schwarber, wir sind da, das Wohl der Stadt zu befördern!«, sagte Herr Dopfschütz laut und wiegte bedauernd den Kopf. »Die Juden sind doch auch das Wohl der Stadt, Herr Dopfschütz. Sie sind doch auch Bürger unserer Stadt.« »Verbrecher sind das, Brunnenvergifter!«, mischte sich Herr Wangenbaum ein. »Das sind keine Bürger. Verurteilt gehören sie. Die Juden sind unser Unglück! Wie lange muss man das noch sagen.« Die Lippen von Herrn Eisenhut waren wie zwei Messer. »Ihr wisst so gut wie jeder andere, dass man das Volk aufgehetzt – « »Weiß man das, Herr Schwarber? Ihr wisst, ich bin ein Mann der Ordnung und der Gesetze! Ihr seht selbst: Wie wollt Ihr die Ordnung in der Stadt aufrechterhalten, wenn Ihr Euch weiter gegen unsere fleißigen Handwerker stellt!« Herr Wangenbaum hörte atemlos zu. »Aufgehetzt sind die Bürger vom Bischof und seinem Anhang.« Herr Schwarber schaute von Herrn Dopfschütz zu Herrn Wangenbaum. »Wir waren uns einig, Herr Dopfschütz, dass die Macht des Bischofs nicht – « »Ich bin ein frommer Mann, Herr Schwarber, das seid Ihr doch auch, ich gehe jeden Sonntag in die Kirche!« »Herrgott, darum geht es doch nicht, Herr Dopfschütz, ich bitte Euch. Den meisten geht es doch um das Geld, sie sind verschuldet bei den Juden, auch Ihr, das – « »Herr Schwarber, ich muss doch sehr bitten! Das ist eine beleidigende Unterstellung, die Ihr nicht beweisen könnt, die ich mir verbitte und die Ihr schnell zurücknehmen solltet!« »Ihr redet immer von den Statuten der Stadt, Herr Dopfschütz, die Statuten sagen – « Die Rufe von außen schwollen an. »Statuten sind kein vom Himmel gefallenes Evangelium, Herr Schwarber. Ihr wisst, ich denke immer rechtlich, aber das Recht muss man manchmal auch den Bedürfnissen anpassen. Und das ist jetzt, ich muss es sagen, Herr Schwarber, das ist jetzt leider der Fall.« Herr Kropfgans, der neben Herrn Dopfschütz stand, verzog das Gesicht wie ein Kind. Herr Schwarber war bleich: »Es gibt ein Recht, Herr – « Ein Bote meldete, auch der ganze Münsterplatz stehe jetzt voller Menschen. Das Gebrüll vom Marktplatz her wurde lauter. »Herr Schwarber«, sagte Herr Dopfschütz höhnisch, »die Statuten sagen, dass im Rat die Mehrheit regieren soll, ich darf Euch daran erinnern. Wenn Ihr es nicht selbst merkt: Ihr habt die Mehrheit verloren, Herr Schwarber!« Der Vater hatte Christoph vom Valentinstag in Frankreich erzählt. Junge Leute, die sich liebten, durften an diesem Tag ganz ernsthaft eine Verlobung auf Probe eingehen, die ein Jahr lang galt. Sie durften sich dann ein Jahr lang in aller Öffentlichkeit zeigen und galten als Paar. Das war bei Esther und ihm unmöglich. Sie brauchten noch viel Zeit. Abraham hatte es gesagt, Löb hatte es gesagt. Esther hatte es gesagt. Esther ging ihm nicht aus dem Weg, aber sie hielt sich zurück – sie lächelte ihm zu. Zum Chanukkafest hatte sie ihm ein kunstvoll mit Goldfäden verziertes Käppchen geschenkt, wie es Abraham, Löb, Elieser und Nachum trugen. Sie hatte es selbst bestickt. Im goldenen Muster war ein Elefant. Der Tag des heiligen Valentin würde dieses Jahr auf einen Sabbat fallen. Hatte nicht sein Vater der Mutter einmal am Valentinstag eine Rose mitgebracht, und niemand erfuhr jemals, woher er sie hatte mitten im Winter! Konnte Christoph jetzt im Februar eine Blume bekommen? Es wurde früh dunkel am Abend vor dem Tag des heiligen Valentin. Und es war viel später als sonst vor dem Sabbatmahl. Christoph fand keine Ruhe. Er hatte sich kein Licht geholt. Er ging in der dunklen Kammer auf und ab, dann schaute er wieder in das letzte Dämmerlicht hinaus. Alles war still. Auflaufe waren gewesen in der Stadt: Am Markt und am Münsterplatz hatten Menschenmassen gestanden und brüllend die Befolgung der Benfelder Beschlüsse verlangt. Aber das war schon ein paar Tage her. Die große Stadt war wieder zur Ruhe gekommen, ohne dass den Juden etwas geschehen war. Er dachte an ein Gespräch am Vorabend. Nachum hatte wieder dringend die Flucht gefordert. Dabei hatte er gesagt: »Wir sind das auserwählte Volk Gottes. Wir müssen dafür sorgen, dass wir gerettet werden!« »Wenn er uns retten will, wird Gott dafür sorgen«, hatte der alte Abraham strenger gesagt, als man es von ihm gewohnt war. Löb lehnte sich zurück: »Die Väter lehren, dass wir das auserwählte Volk Gottes sind, aber das heißt nicht, dass wir besser sind als andere, es heißt nur, dass Gott auf uns ein besonderes Augenmerk hat, dass er unsere Sünden besonders rächt. Auserwähltsein heißt Pflicht, Nachum.« »Es heißt auch, dass Gott uns dafür ein Land verheißen hat.« Nachums Augen blitzten. »Und dass er es um unserer Sünden willen wieder weggenommen hat«, sagte Löb trocken. »Freilich kann er es uns auch wiedergeben, wenn er will«, sagte Abraham leise. »Denn uns ist der Messias verheißen.« Nachum warf den Kopf zurück. »Ja, der Friedenbringer. Er soll der Welt den Frieden bringen, Nachum, und nicht den Streit«, sagte der alte Abraham und erhob sich. »Für uns ist das Jesus Christus«, hatte Christoph zaghaft eingeworfen. »So sagen es die Priester und Mönche.« »Du darfst das gerne glauben«, erwiderte Löb, »aber den Frieden hat er nicht gebracht, bis jetzt wenigstens noch nicht.« »Streit bringt er und Verderben.« Nachums Augen blitzten wieder. »Nicht er«, hatte Abraham kaum hörbar gesagt, »er war ein Jude, sehr sanft und voller Liebe, Nachum.« In wenigen Minuten würden sich alle begrüßen: »Schabat Schalom!«, und dann zusammen den Beginn des Sabbats feiern. Die Frauen hatten das Essen vorbereitet, den Tisch gedeckt, die Kerzen angezündet, bis die Männer aus der Synagoge zurückkämen. Alle würden sich in der Küche die Hände waschen wie vor jeder Mahlzeit, die linke Hand, die rechte. Die Frauen würden das Essen auftragen und sich zu den anderen an den Tisch setzen. Der alte Abraham würde den Tallit, den Gebetsmantel mit den Gebetsschnüren, tragen. Er würde den Becher mit Wein segnen, das Salz über die Challot streuen, die beiden geflochtenen Brote, von denen Christoph mitessen durfte. Er kannte sogar oft die hebräischen Worte. Es klopfte an seiner Türe. Esther? Zu seiner Verwunderung war es Abraham: »Wir brauchen kein Licht.« Er drückte ihn in der Dunkelheit auf einen Stuhl. »Lieber Christoph, Löb bittet dich durch mich. Es ist fast zu viel verlangt, das wissen wir – « Er redete etwas hastiger als sonst, auch ging sein Atem schwer. Aber seine Stimme, die das Einzige war in der Dunkelheit, war wie immer warm und umgab Christoph wie ein Mantel. »Es kann doch nichts zu viel sein!« Christoph schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. »Du sollst für uns noch heute einen Botengang nach Schlettstadt machen. Das ist sehr weit.« »Darauf freue ich mich schon.« »Es ist aber eilig – du musst sofort aufbrechen.« »Gleich jetzt?« »Ja, es ist wirklich sehr eilig, noch vor dem Essen. Wir geben dir Essen für unterwegs mit. Du wirst morgen früh bei Tagesanbruch in Schlettstadt sein und Herrn Twinger, einen Kaufmann, den Schwager des Herrn Schwarber, aufsuchen. Er wird dich schon erwarten. Noch einmal, es duldet keinen Aufschub, du musst jetzt sofort aufbrechen!« Herrn Twinger solle er ein Päckchen und einen Brief abgeben, auf Antwort warten und mit dieser Antwort wieder zurückkommen. Seine Anstrengung werde belohnt. »Ich will doch keinen Lohn!« Abraham drückte ihm ein versiegeltes Bündel in die Hand. Es war das erste Mal, dass die Familie etwas Größeres von Christoph verlangte. Ein winziges Schluchzen schien in der Stimme des alten Abraham. »Weißt du, es ist Sabbat«, er legte den Arm um Christoph und drückte ihn lange an sich, »du weißt, dass wir Juden an diesem Tag manchmal ganz auf euch Christen angewiesen sind.« Christoph solle sich warm anziehen, es liege schon alles bereit, auch neue Sachen. Denn es sei kalt und er müsse die ganze Nacht hindurchwandern, bis er bei dem Geschäftsfreund unterkomme. Der warte schon vor Sonnenaufgang auf ihn, dort könne er sich ausruhen und am Tag zurückwandern. Frühestens gegen Abend oder übermorgen sei er dann wieder in Straßburg. Schade, dass es am Valentinstag sein muss, dachte Christoph, als er in die warmen Sachen schlüpfte. Aber endlich kann ich etwas für die Familie tun. Es war wie eine Erlösung. Er versuchte noch ein Wort von Esther zu erhaschen, aber die war in ihrer Kammer. Der alte Abraham segnete Christoph unter der Schwelle: »Der Herr segne deinen Eingang und Ausgang, er behüte dich auf allen Wegen!« Das Bündel war sehr leicht, er spürte es überhaupt nicht – es waren wohl – nur einige Schriftstücke, vielleicht ein Vertrag. Christoph glaubte den festen Kern eines Siegels ertasten zu können. Die Stadt war eigenartig unruhig – Er achtete nicht darauf, auch nicht auf die große Zahl von Fuhrwerken, die jetzt noch am Abend in den Gassen fuhren. Er staunte über die vielen Fackeln, deren Licht durch die dunstige Luft flackerte. Er musste sich wegen einiger Karren eng an einem der Münsterportale vorbeidrücken. Im Schein einer Fackel sah er auf einmal eine Steinfigur, die er noch nie beachtet hatte. Im Licht stand die Gestalt eines Königs, der einen Apfel vor sich hielt. Er hatte einen Blick, als gehöre ihm die ganze Welt. Aber der erschrockene Blick Christophs fiel auf seinen Rücken: Da hockten im rötlichen Schein des Feuers steinerne Kröten und Schnecken und fraßen sich Würmer hinein. Er verließ die Stadt durch das Elisabethentor nicht weit entfernt von Philos Versteck. Er hatte kurz gezögert, aber Abraham hatte nichts von Philo gesagt. Eigentlich war er froh, endlich etwas alleine machen zu können. Der Torwächter hatte nach seinem Ziel gefragt und zu seiner Antwort laut gegähnt. Schnell war es dunkel geworden, aber der Weg war leicht zu finden. Auf halbem Weg lag Benfeld. Hoffentlich wird der Nebel nicht zu schlimm, dachte Christoph. Es war eigenartig, in dem dünnen Nebel so alleine zu wandern. Wegsteine und hohe vertrocknete Distelgruppen kamen ihm langsam entgegen und glitten vorbei. Wie Schatten lösten sich Bäume und Wegkreuze aus der Dunkelheit. Irgendwo musste der Mond sein. Sonst wäre es ganz dunkel gewesen. So waren wenigstens die vielen Wagenspuren und die in den Boden gedrückten Schotterflächen etwas zu erkennen. Vor einigen Tagen hatte es geregnet und der Schnee war vergangen. Die Müdigkeit, die ihn überfallen wollte, überwand er leicht. Zuerst war er an einigen Herbergen vorbeigekommen, aus deren Toreinfahrten Licht schimmerte. Dann war er lange auf freiem Feld. Durch einige Dörfer würde er kommen, dann nach vielen Stunden Benfeld erreichen, dann weitere Dörfer, und nach über zehn Stunden wäre er in Schlettstadt. Vielleicht überholt mich ja ein Fuhrwerk, auf dem ich aufsitzen kann, dachte er und griff bei jedem Schritt weit aus, aber offenbar wollte jetzt zu Beginn der Nacht niemand mehr nach Schlettstadt fahren. Viele Fuhrwerke kamen ihm entgegen und strebten dem Schutz der Stadtmauern zu. Meist aber war er allein. Dörfer durchquerte er, deren Namen er nicht kannte. Die Häuser kamen aus dem Dunkel und zogen vorbei, Hundegebell, Klirren und Schnauben aus den Ställen. Er wusste, dass es auf der ganzen Strecke keinen einzigen Berg gab, so war das Wandern in dieser windstillen Nacht nicht schlimm. Eine Geschichte fiel ihm ein, die Regine einmal erzählt hatte, den Schluss wusste er nicht mehr, hatte sie ihn nicht erzählt? Oder gab es keinen? Jeden Tag stieg der Gaukler auf das Seil und tanzte. Er war ein großer Seiltänzer, dem die Leute zujubelten. Er verdiente viel Geld. Und er konnte viel auf dem Seil, vielleicht war er der Beste. Aber er wollte noch viel lernen: die Purzelbäume noch schneller schlagen, das Seil noch höher spannen, die Sprünge noch weiter machen. Eines Tages sah er von seinem Seil aus einen Mann in der Menge stehen, der jubelte nicht und lachte nicht. Mit unbewegtem Gesicht blickte er zu ihm herauf. Ich bin der Tod, sagte der Mann, der auf ihn gewartet hatte, ich bin gekommen, dich zu holen! Was kann ich machen, dass du mich nicht holst?, fragte der Gaukler. Nichts, sagte der Tod, ich hole dich auf jeden Fall. Aber du kannst mit mir wetten, dass ich dich nicht hole, da hast du immerhin Hoffnung. Der Gaukler schlug eine Wette vor: Du holst mich nicht, wenn ich auf dem Seil ein Rad schlage. Ich hole dich, wenn du es nicht kannst. Der Gaukler schlug ein Rad. Nach sehr langer Zeit – ihm war es gewesen, als hätte er eine weit entfernte Kirchturmuhr viele Stunden schlagen hören – wurde es heller und ein milchiger Mond war zu ahnen. Kein Stern war zu sehen. Das Land um ihn weitete sich, ganz rechts glaubte er die schwarze Masse der Vogesen zu sehen. Bald musste er in Benfeld sein. Die Beine waren schwer und er trottete fast im Schlaf. Über den Feldern lag eine flache Nebelschicht, die sich manchmal über seinen Weg dehnte, dann befand er sich in einem Zwielicht und sah kaum die Hand vor den Augen. Es war kalt geworden, seitdem der Mond schärfer hervortrat. Dann, als er fast ganz aus dem Nebel trat, sah er vor sich, offenbar an einer Wegekreuzung, eine Gruppe von drei Kreuzen aufragen. Zu ihren Füßen war eine Steinbank, auf der eine Gestalt kauerte. Christoph erschrak und verzögerte unwillkürlich den Schritt. Im Nähertreten sah er, dass die Gestalt auf den Knien lag und betete – ein Mönch, wie ihm schien. Der Mönch betete, seine Stimme war undeutlich, als spreche er im Schlaf: »Herr Gott, des die Rache ist, erscheine. Erhebe dich, Du Richter der Welt; vergilt den Hoffartigen, was sie verdienen.« Die Gestalt richtete sich auf, als Christoph an ihm vorbeiging. »He, du!« Christoph ging rascher. Der Mönch war aufgestanden und begann hinter ihm herzulaufen. Christoph ging noch schneller – was wollte der von ihm? »Ich habe keine Zeit!«, schrie Christoph und begann zu laufen. »Wir müssen zum Bischof«, hörte er. »Du musst mit mir zum Bischof.« Zum Bischof! Wie konnte man in der Nacht zum Bischof wollen, wenn alles schlief? Es war ja am Tag kaum möglich, wenn man kein Graf oder wenigstens ein Ritter war. Das war ein Wahnsinniger. Es konnte nicht anders sein, jetzt mitten in der Nacht auf freiem Feld! Christoph hörte das Rufen noch lange. Es verlor sich erst, als er die Mauern von Benfeld erreichte, die er umging, weil es ihm viel zu lange dauerte, bis der Torwächter die Pforte öffnen und ihn nach endloser Fragerei durchlassen würde. Er sah die Kirchtürme und das hohe Dach der Residenz des Bischofs wie Silber glänzen und dachte an das, was in diesem Hause Grausiges beschlossen worden war. Er dachte an den schrecklichen Herrn Dopfschütz, der seinen Vater verfolgt hatte und vielleicht auch ihn noch verfolgte, Herrn Dopfschütz, der offenbar die Macht hatte einen steinernen Turm mit einem Knall in die Luft zu jagen und der das Geheimnis, wie er das machte, mit Mord und Totschlag verteidigte, und der seltsamerweise der Beschützer der Straßburger Juden war. Viele Stunden später war der Mond untergegangen und ein fahles Licht von Morgen her kündigte den Sonnenaufgang an. Es war bitterkalt geworden. Auf den Feldern ringsum lag der Reif wie Asche. In der Ferne hoben sich graue Türme über den Dunststreifen, die sich über die Felder zogen – Schlettstadt. Er konnte kaum mehr stehen, als er die Torwache nach dem Haus des Kaufmanns Twinger fragte. Christoph wartete frierend, bis ihm geöffnet wurde. Die Füße brannten, er konnte die Augen schwer offen halten. Als Herr Twinger endlich verwundert die Türe öffnete, sah er nicht aus, als hätte er jemand erwartet. Es schien Christoph, als lese der Kaufmann den Brief, den er ihm mit dem Bündel gab, erstaunt und dann sehr bedrückt. Einige Male schaute der Kaufmann ihn über den Brief hinweg mitleidig an. Es sei sehr, sehr wichtig, und Herr Twinger, der seltsam unsicher wirkte, sei dankbar, dass er den weiten Weg in der Nacht gemacht habe. Die Antwort an seinen Freund Löb Baruch brauche viel Zeit. Frau Twinger kam und wurde von ihrem Mann am Arm auf die Seite gezogen, worauf er mit ihr flüsterte. Sie blickten dabei mehrfach zu Christoph. Sie war eine rundliche Frau mit mütterlichem Gesicht. Zuerst schaute sie Christoph nicht recht in die Augen, war dann aber besorgt um ihn – ob der Weg nicht zu weit gewesen sei und dazu in der Nacht, ob er denn keine Angst gehabt habe. »Jakob, wir müssen – « Sie stockte mitten im Satz. Er bekam zu essen und zu trinken, er durfte sich ausruhen: »Du hast noch viel Zeit, bis alles vorbereitet ist und du nach Straßburg zurückwandern kannst. Ruh dich aus, du kannst den verlorenen Schlaf in der Kammer nachholen, dann hast du Kraft für den Rückweg.« Frau Twinger strich Christoph über die Haare, als sie die Türe zu einer kleinen Kammer öffnete. Christoph schlief ein, während er noch kaute. Er sah den Mönch, der bei Benfeld im Mondlicht unter den drei Kreuzen gebetet hatte. Der Mönch selbst war der Gekreuzigte und es war, als wolle er ihm mit den ausgespannten Armen etwas zeigen. Christoph war es aber unmöglich, dorthin zu blicken, wohin der Gekreuzigte deutete. Etwas Entsetzliches, etwas völlig Unerträgliches musste dort sein. Sein Herz klopfte so stark, dass er erwachte. Das Grauen, das er im Schlaf empfunden hatte, war geblieben. Er hatte nicht lange geschlafen, kaum eine Stunde, wie Frau Twinger besorgt feststellte. Aber um keinen Preis wollte er noch einmal zurück in die Kammer. Er sei nicht mehr müde und habe genug geschlafen, sagte er mit brennenden Augen und steifem Genick und unterdrückte ein Gähnen. Er wolle sich in Schlettstadt umsehen, meinte er schließlich, als Herr Twinger von einigen Stunden sprach, die er noch warten müsse. Der Himmel war weiß. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die Gassen waren grau. Christoph fror so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, damit sie nicht klapperten, als er zur Kirche und zum Rathaus schlenderte. Dabei war der Reif schon wieder getaut. Er nahm wenig wahr von der Stadt. Der prächtige Eindruck der Kirche verflog gleich wieder; es fiel ihm schwer, seine Gedanken auf etwas Bestimmtes zu richten. Er schob es auf die Müdigkeit; es war schließlich keine Kleinigkeit, eine ganze Nacht hindurch ohne Schlaf zu wandern. Abraham und Herr Twinger konnten mit ihm zufrieden sein. Obwohl er fror, setzte er sich auf eine steinerne Bank beim Rathaus und schlief offenbar sofort wieder ein. Als er frierend erwachte, fuhr er heftig zusammen. Ein Mönch saß neben ihm. Er wollte sofort aufspringen und weggehen. Aber eine eigenartige Neugier zwang ihn auf seinem Platz zu bleiben. Der Mönch beachtete ihn nicht. Er flüsterte vor sich hin. Christoph, der ihn von der Seite ansah, war überzeugt, dass es der nächtliche Mönch war, den er auch im Schlaf gesehen hatte. Die Kutte war braun, die bloßen Füße verkrustet von Schlamm und Staub; er hatte einen Stab neben sich liegen. Sein Gesicht, das er im Mondlicht bei Benfeld deutlicher gesehen hatte, konnte er jetzt nicht recht erkennen, weil dem Mann die Haare ins Gesicht fielen, auch hielt er den Kopf gesenkt. Sein wirrer Bart lag auf einer Kutte, die speckig war und voller Flecken. Christoph versuchte das Gemurmel zu verstehen – das meiste war lateinisch, was Christoph nicht so schnell übersetzen konnte. Dazwischen waren deutsche Brocken gemischt: »Herr, wie lange sollen die Gottlosen prahlen? Witwen und Fremdlinge erwürgen sie und töten die Waisen und sagen: Der Herr sieht es nicht und der Gott Jakobs achtet es nicht.« Seine Stimme blieb leise, als er sich zu Christoph drehte: »Sie hören nicht das Weinen der Kinder und nicht die Schreie der Mütter. Was hören sie überhaupt? Sie hören nichts!« Sein Gesicht war ungesund weiß und voller Falten. Aber es war nicht mehr unheimlich wie in der Nacht. Die Augen waren blutunterlaufen. Er ließ den Kopf wieder fallen und sagte leise und wie erschöpft: »Sie reißen die Säuglinge den Müttern von der Brust. Sie schichten Holz auf, sie schleppen die Menschen, jetzt, jetzt – « Christoph überlief es: Wovon redete der? Der Mönch sprach weiter sehr leise: »Alle verstehen es, wenn sie nur guten Willens sind – bonae voluntatis.« Christoph zwang sich sitzen zu bleiben. »Sie kreuzigen Jesus Christus ein zweites Mal.« Er machte eine lange Pause, der Kopf blieb gesenkt, dann flüsterte er: »Sie morden für sich selbst. Und sie sagen, es sei für Gott. Sie hören nicht das Wimmern der Säuglinge, sie hören nicht das Weinen der Kinder, sie hören nicht die Schreie der Mütter, sie achten nicht die Leiden der Väter. Sie quälen, wo sie lindern sollten. Sie fluchen, wenn sie Erlösung predigen. Sie streuen Hass, wo sie Liebe säen sollten. Sie ernten Tränen statt Lachen. Und alles geschieht beim Schein der Sonne!« »Wo?« Christoph schrie es. Er war aufgesprungen. Es war, als hätte ihn eine gewaltige Faust gepackt. »Wo schichten sie Holz auf? Jetzt! Wo ist das?« Freilich, das konnte am ganzen Oberrhein sein. Aber gab es überhaupt noch eine Stadt, wo das nicht schon geschehen war? »Straßburg?« Er schrie es mit fremder Stimme. Der Mönch fasste ihn am Arm: »Die Macht und das Gel?«, sagte er vertraulich, seine Stimme hatte nichts Ungewöhnliches mehr, »es gibt viele wie mich in der Kirche Gottes. Aber sie hören uns nicht, sie sagen, wir seien schädlich – « Er schaute Christoph voll ins Gesicht: »Ich war Abt in einem Kloster bei Colmar. Dann haben sie in Benfeld beschlossen die Juden zu ermorden. Der Bischof selbst hat es vorgeschlagen.« Seine Stimme wurde etwas lauter: »Ich habe dagegen gepredigt und Berthold von Buchegg, dem Bischof von Straßburg, einen Brief geschrieben: Die Juden sind Ungläubige, aber die Liebe ist größer als der Glaube – die Liebe ist das Größeste unter allem, sagt Paulus. Christus war sehr sanft und voller Liebe – die Liebe ist duldsam, die Liebe ist langmütig, die Liebe eifert nicht, die Liebe tötet nicht. Der Herr Bischof hat mich abgesetzt und sie werden mich als einen Ketzer verbrennen. Ich wollte heute Nacht zu ihm. Sie morden, wo sie Leben bringen sollten.« Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Es war nicht möglich. Von den Türmen der Stadt hörte man den Stundenschlag. Von Entsetzen geschüttelt packte Christoph den Mönch: »Wo ist das? Wo geschieht das alles?« Aber er wusste es ja, es war ja keine Stadt mehr übrig am Oberrhein. Er wusste es, als er zum Hause des Herrn Jakob Twinger rannte. Er hatte es ihnen ins Gesicht gesagt. Er hatte gehofft, dass sie es verneinen würden, aber Herr Twinger hatte ihm die Hand auf den Kopf gelegt und Frau Twinger hatte ihm die Wange gestreichelt. Sie hatten Tränen in den Augen. Sie hatten ihm das Bündel wiedergegeben. Er kümmerte sich nicht um die Torwache, die nach dem Wohin fragte. Frau Twinger hatte ihm zu dem Bündel ein leinenes Säckchen in die Hand gedrückt, darin sei Essen. Er hatte nicht darauf geachtet. In seinem Kopf war ein schriller Ton. Eine Glocke läutete unentwegt. In seinem Hals würgte Weinen. Streckenweise rannte er, dann ging er wieder atemlos. Er würde kaum vor Einbruch der Dunkelheit in Straßburg sein. Er rechnete es aus, als es ihm langsam gelang, seine Gedanken zu ordnen. Er musste sich mit Gewalt zwingen die Bilder abzuweisen, die sich ihm aufdrängten – die Juden in den Gassen der Stadt, wie sie, eingequetscht in die johlende, höhnende und spottende Menge, stumm dahinzogen. Esther! Weshalb war er nach Schlettstadt geschickt worden? Erst langsam stellten sich die Fragen ein. Allmählich wurde klar: Abraham hatte ihm das Leben gerettet! Und es war sicher, dass dies im Einvernehmen mit Löb geschehen war. Aber weshalb ihm, weshalb nicht Esther und Nachum? Weshalb hatte sich nicht die ganze Familie gerettet, da sie doch offenbar am Vorabend vor dem Valentinstag von dem bevorstehenden Unheil wussten? Wusste es auch Esther? Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet! War ihr das zu schwer gefallen? Schmerzlich sicher war, dass er ausgegrenzt worden war. Er sollte nicht mit ihnen sterben. Als der Hunger überhand nahm und er vor Schwäche kaum mehr gehen konnte, aß er im Gehen. Der Himmel war weiß. Er hörte nur sein eigenes Keuchen. Straßburg war die einzige Stadt am Oberrhein, in der die Juden verschont worden waren. Herr Dopfschütz und andere hatten die Juden geschützt. Die Auflaufe! Was war geschehen? Die Fuhrwerke, die ihm auf der Straße entgegenkamen, und die Menschen, die er überholte, sah er kaum. Manchmal verzögerte er den Schritt: Es hilft ja doch nichts. Bis ich in Straßburg bin, ist alles vorbei! Dann rannte er wieder los. Kurz hinter Benfeld, als die Beine längst zu Bleiklumpen geworden waren und er im Gehen fast einschlief, überholte ihn ein Fuhrwerk, das ihn mitnahm. Der Fuhrmann wies mit dem Peitschenstiel nach hinten auf die Ladung aufeinander gestapelter Tierhäute, die zum Gerber gefahren wurden. Hier konnte er die wunden Beine ausstrecken und schlief sofort ein. Als er erwachte, war tiefe Nacht. Der Fuhrmannskarren stand im Hof einer Herberge. Nicht lange nach Sonnenaufgang war er in Straßburg. Die Luft war erfüllt von Glockenklang, die Gassen lagen friedlich im Morgenlicht. Richtig, heute war Sonntag. In der Spitalkirche sangen Mönche, über die Ill herüber trug die laue Luft Gesang aus der Thomaskirche, die Portale der Nikolauskirche standen offen, die Leute trugen Sonntagskleidung und gingen zum Gottesdienst. Aus den Häusern hörte man Lachen und Kinderweinen, es roch nach frischem Gebäck und nach heißer Milch. Die Schornsteine rauchten. An den Ufern der Ill schnatterten die Gänse und plusterten sich die Enten, die Weiden hatten bereits einen grünen Schimmer, silberne Kätzchen traten an den Zweigen hervor. Alles war gut! Nichts war geschehen. Die guten Mächte hatten sich durchgesetzt und hatten die Juden behütet. Die Erzengel und Propheten waren von ihrer Säule im Münster herabgestiegen und hatten sich vor die Synagoge gestellt. Das Auge des Münsters hatte wie seit hundert Jahren über der altehrwürdigen Stadt gewacht. Niemand hatte den Juden ein Leid zugefügt. Esther würde ihm zulächeln, Abraham und Löb würden ihn loben. Er tastete nach dem Bündel, das er dem alten Abraham zurückbrachte, es war sehr leicht – sicher ein wichtiger Brief, ein Vertrag vielleicht, den Herr Schwarber unterschrieben hatte und der sehr eilig gewesen war, man konnte den Knoten eines Siegels spüren. Die Geschäfte gingen weiter. Der Magen knurrte. Alles würde sein wie immer! Unter einem Baum spielten Kinder. Zwei kleine Jungen und ein noch kleineres Mädchen rauften um etwas Buntes. Die Jungen schrien und zogen sich an den Haaren. Das Mädchen weinte, einer der Jungen trat nach dem anderen mit den Füßen: »Gib das sofort her! Es gehört mir!« Christoph trat näher. Die Kinder stritten sich um ein großes abgerissenes Stück Pergament. Zeichen waren darauf, kostbare goldene, blaue und rote Schriftzeichen. Die Schrift war hebräisch! Die Welt begann sich zu drehen – Totenstille. Rauch stand in den Gassen im Judenviertel. Im Dreck lag eine winzige Holzpuppe. Die Pergamentfüllungen der Fenster waren eingedrückt, die Türen eingeschlagen. Vor der Synagoge verkohlte Fetzen von Pergament – halb verbrannte Bücher, die Türen zerhackt, die bunten Fenster knirschten unter den Schuhen. Im Hause Löbs kein Laut – die Wände waren kahl, Stühle und Tische umgestürzt, Truhen offen und leer. Überall Rauch und Kalkstaub. Mitten in der großen Stube schwelte ein Aschenhaufen – die Dielen waren verkohlt, halb verbrannte Gegenstände waren verstreut, überall Fetzen von Büchern. Das Bücherbord war von der Wand gerissen. Die Thorarolle lag zerfetzt. Der Leuchter war umgestürzt. Die Fenster waren eingeschlagen, das Geschirr zertrümmert – Scherben mit vertrauten Mustern, Scherben. Die Wandvertäfelung war an vielen Stellen herausgerissen, aufgebrochen, zerhackt. Seine Augen brannten. Christoph hockte auf dem Boden und starrte vor sich hin. Irgendwo steckte ein Klotz, der seine Fäuste zusammenballte. Schreien, schreien! Seine Lippen formten nur ein Krächzen. Ein Luftzug spielte mit Asche und verkohltem Stroh. Es war kalt. Nach langer Zeit ging er die Stiege hinauf zu seiner Kammer. Auch hier war alles um und um gekehrt. Die Füllung des Bettes herausgerissen, seine Kleider verschwunden. Die Truhe hatte man zerhackt. Selbst der Putz der Wände war an vielen Stellen aufgeschlagen. Die Tonplatten des Fußbodens waren überall aufgebrochen. Die Türe zur Kammer Esthers war die einzige unversehrte im ganzen Haus, ihr Anblick war so vertraut, dass er unwillkürlich anklopfte, bevor er hineinging. Aber innen war es wie überall, auch bei Nachum und in den anderen Kammern. Kein Laut, kein Mensch. Rauch und das Rascheln von Stroh auf dem Fußboden, wenn der Durchzug durch die zerschlagenen Fenster stärker wurde. Eine schwarze Ratte hockte mitten in der Stube und nagte an einem Fetzen eines Buches. Christoph schrie sie an, er trat mit den Füßen nach ihr. Sie wich seinen Tritten aus, indem sie zur Seite glitt, dann nagte sie weiter. Er trampelte, er brüllte, er warf nach ihr, er schlug mit einem Stuhlbein. Aber die Ratte wich immer aus. Philo berichtete: Löb, Abraham und die alte Esther seien tot. Von Esther und Nachum wisse er nichts. Er erzählte, wie schon vorgestern gegen Abend die Unruhe in der Stadt zugenommen habe, wie er sich zuerst gewundert habe über die vielen Holzkarren, die seit dem Nachmittag in die Stadt gekommen seien. Wie er noch spät zum Hause Löbs gerannt sei, um sie zu warnen, denn es sei jetzt auch geredet worden in der Stadt: Die Leute hätten sich die Hände gerieben und sich gefreut wie auf ein Fest. Wie aber die Türe bei Löb nicht geöffnet worden sei und wie ihm eingefallen sei, dass es der Vorabend zum Sabbat war, an dem nur ungern Besuch empfangen wurde. Wie er in seiner Verzweiflung gerufen und mit Fäusten gegen die Türe getrommelt habe und mit den Füßen gegen die Türe getreten sei. Nichts habe sich gerührt im Hause, in den Fenstern aber sei Licht gewesen. Wie er gedacht habe, dass die Familie bereits geflohen sei und Christoph mitgegangen sei, wie er immer gesagt habe. Er habe geglaubt, dass sie das Licht im Hause zur Täuschung hätten brennen lassen. Zu denken, dass sie sein Klopfen und Rufen gehört haben mussten – »Weißt du, ich war traurig, dass du ohne Abschied gegangen bist. Vielleicht wäre ich ja sogar mitgegangen – wir Gaukler lieben das Wandern. Aber letztlich war ich froh, dass ihr alle wenigstens in Sicherheit seid.« Christoph lächelte trüb. »Das haben sie sich gut ausgedacht im Rat dieser altehrwürdigen Reichsstadt! Die Juden waren alle in ihren Häusern – dieser Tag des heiligen Valentin war ja ein Sabbat. In der Nacht haben sie das Viertel der Juden mit Barrikaden verrammelt. Am Morgen des Sabbats haben sie die Juden aufgefordert herauszukommen, der Rat würde sie vor dem Pöbel schützen, wie es in den Statuten der Stadt vorgesehen sei, und ihnen die Flucht zuerst auf Schiffen über den Rhein und dann nach dem Osten ermöglichen. Es sei alles vorbereitet, sie müssten nur Vertrauen haben. Herr Dopfschütz und Herr Eisenhut haben das gesagt, von denen man wusste, dass sie die Juden immer beschützt hatten. Ich habe es selbst gehört. Sie haben sich auf die Barrikade gestellt und zu den Ältesten der Gemeinde gesprochen; bei denen war auch Löb. Aber ich war ja außerhalb der Barrikade und habe gesehen, wie sich der Pöbel bereithielt. Weißt du, sie haben sich zusammengerottet wie gegen Räuber. Wie gegen Diebe mit Schwertern und mit Stangen sind die Leute vor das Viertel der Juden gezogen, die Gassen waren schwarz vor Menschen. Die Leute waren ausgelassen wie bei einem Volksfest. Es wurde gejohlt, gegrölt und gelacht. Einige führten Fässchen mit Bier und Schnaps auf Karren bei sich. Es wurde gesoffen, gebrüllt und getobt, Schandlieder wurden gesungen. Eine Gruppe schrie immer im Takt: Juden raus! Juden raus! Juden raus!« Christoph presste sich die Fäuste ins Gesicht. »Noch schlimmer waren die Frommen, die unter der Anführung von schwarzweißen Mönchen Lieder sangen und Litaneien beteten. Sie führten sogar Fahnen mit Heiligenbildern mit sich.« »Und weiter?« »Dann sind die Juden still aus ihren Häusern herausgekommen. Sie hielten sich an den Händen und gingen ruhig, viele sangen oder beteten Psalmen. Familie um Familie kam. Viele weinten leise vor sich hin, nur die Kinder schrien und weinten laut, die Augen weit aufgerissen. Ich nehme an, dass die meisten wussten, was jetzt kam. Johlend und jubelnd wurden die Juden von ihren Mitbürgern auf der anderen Seite der Barrikade begrüßt. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten. Wie Tiere haben sie sich auf die armen Menschen gestürzt, die Familien auseinander gerissen, ihnen die Kleider vom Leib gezerrt und nach Geld durchsucht! Es gab Betrunkene, die sich an den Händen gefasst hielten und um die Juden herumtanzten. Straßenjungen schrien Schimpfwörter und spuckten sie an. Faulige Eier flogen, verdorbenes Gemüse prasselte auf sie herunter. Andere schrien auf sie ein und viele ganz entsetzliche Menschen schlugen mit Prügeln und mit Stangen und Latten auf sie los.« »Und die Familie Löbs?« Christoph weinte. »Der alte Abraham ging aufrecht und so voller Würde, dass ihn niemand anfasste, es entstand ein freier Raum um ihn. Ähnlich war es mit der alten Esther. Anders war es bei Löb, bei ihm hatten viele Schulden.« Philo schwieg. »Esther und Nachum – « »Ich bin den ganzen schrecklichen Zug auf und ab gegangen, oft und oft, aber ich habe beide nicht gesehen. Ich bin sicher, dass sie nicht dabei waren.« »Ganz sicher?« »Ich habe gehört, dass sich einige in der Mikwe, dem Bad tief unter der Erde, versteckt hatten. Aber Männer sind hinabgestiegen und haben sie herausgeholt.« »Waren Esther und Nachum nicht dabei?« »Sicher nicht. Ich habe zwar die Menschen, die sich in der Mikwe versteckt hatten, nicht gesehen – es seien vor allem Frauen gewesen –, aber Esther und Nachum waren nicht dabei, ich hätte sie sonst in dem Todeszug wieder sehen müssen. Das ist die Wahrheit.« Er schwieg. »Du verschweigst mir etwas.« »Es gibt etwas, das kann man kaum erzählen. Man schämt sich: Sie haben junge Mädchen und Frauen aus dem Zug herausgeholt und trotz ihres Sträubens in Hauseingänge geschleppt – « Er schwieg wieder. »Aber auch sie wurden dann meist umgebracht. Manche haben vielleicht überlebt. Vor allem, wenn sie sich taufen ließen.« Es war wie in den anderen Städten. »Kann Esther nicht bei diesen Frauen gewesen sein?« Sollte man es wünschen? »Nein. Ich stand zuerst direkt an der Barrikade nicht weit vom Haus der Familie und habe gesehen, wie sie herausgekommen sind. Ich habe den Rabbiner David Walch gesehen, den du kennst, und den Kantor Meiger, den du auch kennst. Auch sie schritten mit großer Würde, dennoch wurden beide beschimpft und sehr misshandelt. Esther und Nachum waren nicht dabei! Auch Rebekka, die Freundin Esthers, habe ich nicht gesehen.« Er schwieg wieder lange. »Fast schlimmer als alles andere waren die Frommen mit ihren Fahnen und Litaneien – wie Geier stürzten sie vorwärts, wenn sie einen Säugling sahen, und rissen ihn seiner Mutter aus dem Arm. Sie wollen sie taufen und in Klöstern christlich erziehen. Es gab richtige Kämpfe um die Kinder. Sie halten es für ein gottgefälliges Werk.« »Und – « »Das Ende kam nach Stunden voller Quälereien und Gemeinheiten, die man nicht erzählen kann. Wie das Vieh haben sie die armen Menschen nach Rotenkirchen getrieben, dort bei dem Haus der Aussätzigen hatten sie in der Nacht Scheite und Reisigbüschel geschichtet und darüber auf Holzgerüsten Hütten aufgeschlagen. Du kennst das ja alles, wie es aus Basel berichtet worden ist. Sie haben die Juden, Männer, Frauen und Kinder, in die Hütten gesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Als das Feuer aufloderte, krochen manche mit rauchenden Kleidern aus der aufflackernden Glut. Sie wurden vor meinen Augen mit Äxten und Prügeln totgeschlagen.« Philo weinte. »Weißt du, es gab sehr viele, die nicht einverstanden waren mit dem, was da geschah – manche weinten. Aber keine Hand hat sich gerührt für die armen Menschen.« Er schwieg lange. »Auch ich habe keine Hand gerührt.« Am Tag darauf verkündigte der Rat, dass alle Schulden an die Juden nichtig seien. Das Geld der Juden werde an die Zünfte verteilt. Aber es gab noch lange Streit darüber, ob die Schulden an die Juden jetzt von der Stadt oder vom Bischof eingetrieben werden durften. Viel von dem Geld der Juden bekamen die schwarzweißen Mönche. Während die Juden zum Tode geführt wurden, hatte man ihre Häuser ausgeraubt. Manche waren angezündet worden, auch die Synagoge und die Cheder. Aber es kamen Männer vom Magistrat, die sofort befahlen zu löschen, damit das Feuer nicht auf die umliegende Stadt übergriff. Wenige Wochen später war ein Fest in Straßburg: Ein Brief des Kaisers, der sich gerade in Speyer aufhielt, gewährte allen Bürgern der Stadt Straßburg Straffreiheit für den Mord an den Juden. Er wurde auf allen Plätzen der Stadt vorgelesen und die Menschen jubelten und schrien: »Jetzt ist es gewonnen, jetzt kann uns nichts mehr geschehen!« Ihre Stimmen waren grell, ihre Gesichter verzerrt. Nachrichten kamen aus dem ganzen Reich – überall hatten die Bürger in den Städten ihre jüdischen Mitbürger, mit denen sie meist Jahrhunderte friedlich zusammengelebt hatten, ermordet. Hunderte jüdische Gemeinden waren ausgerottet worden, so wurde triumphierend berichtet. Man stieß in den Wirtshäusern darauf an. Nur in Mainz, so hörte man, hatte der Bischof die Juden schützen wollen, aber der Pöbel, aufgestachelt von Adeligen, Schuldnern der Juden, hatte den Palast des Bischofs gestürmt und die Juden erstochen, verbrannt, im Rhein ertränkt. Die Männer an den Biertischen und die Leute auf der Straße johlten und klatschten Beifall, wenn solche Dinge von Fahrenden in Liedern besungen wurden. In Regensburg freilich waren die Leute verblendet: Der Rat und der Bischof hatten beschlossen die Juden zu schützen. Ähnlich war es wohl in Prag, wo die Juden auch geschützt wurden. Die armen dummen Menschen, hörte man in Straßburg. Christoph und Philo zogen wieder in die alte Behausung an der Ill mit der schiefen Holzgalerie. Das Judenviertel war abgesperrt worden. Sie erfuhren, dass in einigen der ärmsten Häuser noch die wenigen Juden hausten, die sich hatten taufen lassen. Versteckt hatten sich dort auch einige Frauen und Mädchen, die vergewaltigt worden waren. »Das heißt, dass man sie erst missbraucht, dann getauft und jetzt ausgestoßen hat«, sagte Philo grimmig. Aber die wenigen Juden, die vom Feuer verschont geblieben waren, konnte man nicht ansprechen, scheu drückten sie sich in der Judengasse an die Seite. Es war sinnlos, sie nach Esther oder Nachum zu befragen. Christoph hatte lange gewartet, bis er eines der unglücklichen Geschöpfe traf, Tochter, Braut oder junge Mutter – sie hatte Kopf und Gesicht mit einem langen schwarzen Tuch verhüllt. Er sah einen winzigen Augenblick verschwollene und verängstigte Augen. Es war ein junges Mädchen, das Esther mit Sicherheit gekannt hatte. Aber das Mädchen blieb stumm. Die Synagoge werde zu einer Marienkapelle gemacht, hieß es, in die größten Häuser zögen jetzt reiche Leute. »Diebe!« Löb hatte Christoph einmal gezeigt, wie die Judengasse genau auf den Nordturm des Münsters zuführe, das Viertel der Juden sei schon vor tausend Jahren Mittelpunkt der Stadt gewesen. Es werde gesagt, in der alten Römerstadt sei die Judengasse die Hauptstraße gewesen – schon damals hätten Juden als wichtige Leute darin gewohnt. »Die reichen Mörder wollen in die alte Mitte der Stadt, auf die sie immer neidisch waren!«, sagte Philo. Christoph gab keine Antwort. Er hatte seit dem Valentinstag noch wenig geredet. Er grübelte viel. Die beiden standen am dunklen Mühlkanal, in dem – wie lange war das schon her? – der tote Bettler gefunden worden war. Es war kalt geworden. »Weißt du«, sagte Philo, »wenn Abraham und Löb einen Weg gefunden haben, dich zu retten, dann haben sie auch einen Weg gefunden, Esther und Nachum zu retten.« »Aber warum nicht sich selbst und Löb und die anderen?« »Viele Juden sterben für ihren Glauben.« Christoph sagte: »Löb hat einmal erklärt, sonst gehe das Judentum unter. Ich glaube, ich verstehe jetzt ein wenig, was er gemeint hat.« Es gab so viele Fragen. Unten zog langsam das schwarze Wasser. »Warum haben sie mich getrennt von den anderen? – Warum haben sie uns nicht gemeinsam gerettet?« Einzelne Schneeflocken begannen herabzusinken. »Das Bündel hat mir das Leben gerettet. Ich möchte wissen, ob es überhaupt etwas Wichtiges war. Herr Twinger und seine Frau haben miteinander geflüstert, beide hatten nasse Augen, als ich wegging.« Christoph trug das Bündel an seinem Gürtel immer bei sich. Man spürte das Gewicht ja kaum. Sie zogen ein kleines versiegeltes Päckchen aus dem Bündel. Als sie das Siegel gebrochen hatten, fanden sie ein vielfach gefaltetes Pergament, das mit einer abermals versiegelten Kordel umwunden war. Auf dem Pergament stand mit großen lateinischen Buchstaben: Für Christoph. Christoph bebte die Hand, als er auch dieses Siegel brach und die Kordel löste. Er hielt den Atem an. Aber es folgte nichts Geschriebenes mehr. Etwas Hartes fühlte er in ein Seidentuch eingeschlagen, dessen Muster ihm schmerzlich vertraut war: Ein regelmäßiger, rundlicher Klumpen aus sehr klarem Glas, der sich schwer anfühlte, lag in seiner Hand. Christoph stand verblüfft. Was sollte er mit diesem Glas? Er suchte in dem Tuch. Aber es war nichts mehr darin verborgen. So fasste er keinen Gedanken und starrte auf beides, das Glas und Esthers seidenes Tuch. »Mensch!«, sagte Philo. Christoph begriff nicht. »Der Diamant!« Christoph erschrak: Es war der Stein, mit dem Nachum den gefangenen Juden Menli aus Bern hatte auslösen wollen! Unendlich wertvoll war dieser Stein! Er war das Wertvollste gewesen, was Löb Baruch besessen hatte. Sein Glanz! »Deshalb waren in allen Räumen des Hauses die Böden und die Holzvertäfelungen der Wände aufgebrochen. Diesen Stein haben sie gesucht. Herr Dopfschütz kennt ihn. Er ist kostbarer als alles zusammen, was er hat.« »Er gehört nicht mir«, sagte Christoph leise, »er gehört Nachum und Esther oder Elieser in Prag, aber nicht mir.« »Es steht darauf: Für Christoph.« »Auserwähltsein heißt Pflicht, hat Löb gesagt.« »Warum haben sie ihn dir und nicht Nachum und Esther mitgegeben? Er hätte ihnen doch unendlich hilfreich sein können auf ihrer Flucht und zum Neuanfang im Osten«, überlegte Philo. Christoph presste die Hände zusammen: »Der Gedanke ist schlimm, dass es ihnen wahrscheinlich zu unsicher war.« »Ja, das könnte es auch sein«, sagte Philo und setzte sich auf einen Holzpflock; die Flocken fielen dichter. »Sie wollten auf keinen Fall, dass er einem ihrer Peiniger in die Hände fiel.« Sie schauten lange in den wirbelnden Schnee. »Ich muss sie finden.« Die Stadt drüben wurde unsichtbar. Das seidene Tuch war von Esther, der Stein hatte ein wunderbares Leuchten. Er war wie eine schöne Melodie in der Schneeluft, so klar, so rein! |
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