"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

7

Die Bienen sprachen zu ihm, auf ihre Weise. W#228;hrend andere Menschen in ihrem Summen ein nichts sagendes Brummen, einen inhaltsleeren Schall h#246;rten, war es f#252;r ihn ein abwechslungsreicher Bericht, viel sagend, moduliert, ver#228;nderlich und so unverwechselbar wie die einzelnen Steine eines grauen Kieselstrandes. Der alte Mann tastete sich an diesem Ger#228;usch entlang, umsorgte seine Bienenst#246;cke wie ein Strandgutj#228;ger, vorn#252;bergebeugt und staunend. Nat#252;rlich bedeutete der Gesang nichts – ganz so verr#252;ckt war er auch wieder nicht –, aber das hie#223; noch lange nicht, dass er bedeutungslos war. Es war der Gesang einer Stadt, die so weit entfernt von London war wie London vom Himmel oder von Rangun, einer Stadt, in der alle genau das taten, was sie tun sollten, so wie es von ihren #228;ltesten, ehrw#252;rdigsten Vorfahren bestimmt war. Eine Stadt, in der niemals Juwelen, Goldbarren, Kreditbriefe oder Geheimpl#228;ne der Marine gestohlen wurden, in der kein lang verschollener Zweitgeborener oder nichtsnutziger erster Ehegatte mit gerissenen Provinzmethoden aus dem Wawoora-Tal oder vom Witwatersrand zur#252;ckkehrte, um einen alten, reichen Verwandten zu Tode zu erschrecken. Eine Stadt ohne Messerstechereien, Hinrichtungen, Schl#228;gereien, Schie#223;ereien; es gab so gut wie keine Gewalt, von dem einen oder anderen K#246;niginnenmord mal abgesehen. Jeder Tod in der Stadt der Bienen war bereits vor Zehn Millionen Jahren bestimmt und festgelegt worden; kaum geschehen, wurde jeder Tod t#252;chtig und z#252;gig in Leben f#252;r das Volk verwandelt.

Ein Mann, der sich seinen Lebensunterhalt zwischen M#246;rdern und Raufbolden verdient hatte, w#252;rde eine ebensolche Stadt w#228;hlen, um dort den Rest seiner Tage zu verbringen. Er w#252;rde ihrem Lied lauschen wie ein junger Mann, der gerade in Paris, New York oder Rom (oder sogar, wie der alte Mann sich noch schwach erinnerte, in London) eingetroffen ist und auf einem Balkon oder am Fenster eines m#246;blierten Zimmers oder auf dem Dach eines Mietshauses steht, dem Brummen des Verkehrs und den Fanfaren der Hupen lauscht und meint, die Musik seines eigenen, geheimnisvollen Schicksals zu h#246;ren.

Die Erz#228;hlungen der Bienen und das Rasseln seines Atems unter dem Zelt seines Schutzschleiers verhinderte, dass er die lange schwarze Limousine vernahm, die einen Tag nach seinem Gespr#228;ch mit Parkins vorfuhr, so wie er bereits vers#228;umt hatte, sie zu erwarten. Erst als sich der Besucher aus London drei Meter hinter ihm befand, drehte sich der alte Mann um. Leichte Beute, dachte er, emp#246;rt #252;ber sich selbst. Was f#252;r ein Gl#252;ck, dass all seine Feinde tot waren.

Der Mann aus London war wie ein Kabinettsminister gekleidet, bewegte sich jedoch wie ein unehrenhaft entlassener Soldat. Breitschultrig, hellhaarig, blinzelte er, als blicke er gegen eine feindselige Sonne, und der linke Fu#223; in dem edlen Stra#223;enschuh von Cleverley bewegte sich mit einem sonderbaren Scharren, als der Fremde sich den Bienenst#246;cken n#228;herte. Sicher war der Besucher alt genug, um eine gro#223;e Zahl von Feinden zu haben, aber noch nicht alt genug, um sie alle #252;berlebt zu haben. Sein Chauffeur wartete neben dem Wagen mit dem Londoner Kennzeichen und den f#252;r die Verdunkelung schlitzf#246;rmig verklebten Scheinwerfern, die das von der Sonne bedr#228;ngte Blinzeln des Beifahrers nachahmten.

»Werden Sie manchmal gestochen?«, fragte der Mann aus London.

»St#228;ndig.«

»Tut es weh?«

Der alte Mann hob das Netz, damit er kein sch#246;nes, schlichtes Ja auf eine derart d#228;mliche Frage verschwenden musste. Der Mann aus London verbarg den Anflug eines Grinsens in seinem ergrauenden blonden Schnurrbart.

»Wahrscheinlich schon«, sagte er. »Sie m#246;gen Honig, was?«

»Nicht besonders, nein«, sagte der alte Mann.

Der Mann aus London schien sich #252;ber diese Antwort ein wenig zu wundern, doch dann nickte er und gestand, er selbst sei auch kein Liebhaber von Honig.

»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er nach einer Weile.

»Nur zu welcher Gattung und Art Sie geh#246;ren«, sagte der alte Mann. Er hob die Hand zum Schleier, als wolle er ihn wieder herunterziehen. Dann nahm er die ganze Kopfbedeckung ab und klemmte sie sich unter den Arm. »Kommen Sie besser mit rein.«

Der Mann aus London w#228;hlte den Stuhl am Fenster und versuchte unauff#228;llig, zwei, drei Zentimeter frische Luft ins Zimmer zu lassen. Es war der unbequemste Stuhl im Haus, er vereinte die schlimmsten Eigenschaften eines S#228;gebocks und einer Kirchenbank, aber #252;ber den Geruch im Raum machte sich der alte Mann keine Illusionen. Nicht dass er ihn wahrnahm – genau so wenig wie ein B#228;r oder in dem Fall ein Drache den Gestank in seiner d#252;stren H#246;hle bemerkt oder sich daran gest#246;rt h#228;tte.

»Ich kann Ihnen eine Tasse Tee anbieten«, sagte er, obwohl er gar nicht sicher war, dass er das tats#228;chlich konnte. »Ich glaube, mein Bestand stammt aus den fr#252;hen Drei#223;igern. Ich wei#223; nicht, Colonel, ob Teebl#228;tter mit der Zeit bitter werden oder v#246;llig ihren Geschmack verlieren, bin aber einigerma#223;en #252;berzeugt, dass meine nicht mehr zu gebrauchen sind. Liege ich da richtig? Sie sind Colonel?«

»Threadneedle.«

»Colonel Threadneedle. Kavallerie?«

»Berittene Infanterie. Lennox Highlanders.«

»Ah. Also Whisky.«

Der Vorschlag wurde in dem Geist feindseliger guter Laune, der bezeichnend f#252;r seinen bisherigen Umgang mit dem Nachrichtenoffizier gewesen war, gemacht und angenommen, doch qu#228;lte den alten Mann pl#246;tzlich die Angst, ob der Whisky, den er auf so ritterliche Weise angeboten hatte, nicht schon vor Jahren in einem anderen Wohnsitz ausgetrunken worden, ob er vielleicht verdunstet oder zu einer teerigen Paste geworden war, ob es vielleicht gar kein Whisky war oder ob er je existiert hatte. F#252;nf Minuten H#246;hlenforschung in den niederen Regionen des Eckschranks f#246;rderten eine Flasche Glenmorangie ans Tageslicht, bedeckt von einer Staubschicht, die selbst einen Schliemann abgesto#223;en h#228;tte. Zitternd vor Erleichterung stand der alte Mann da und wischte sich mit dem Strickjacken#228;rmel den Schwei#223; von der Stirn. Als junger Mann war es f#252;r ihn eine positive Entwicklung gewesen, wenn er von einer Ermittlung zur#252;ckgepfiffen wurde, es war ein Meilenstein auf dem Weg zur L#246;sung und, mehr noch, ein Ansporn gewesen.

»Gefunden!«, rief er.

Er goss eine gro#223;z#252;gige Menge in ein einigerma#223;en sauberes Glas und reichte es dem Mann aus London, dann lie#223; er sich in seinen Sessel sinken. So wie sich in einem Wollschal der Geruch brennender Bl#228;tter festsetzt, hatte er im Mund noch eine Erinnerung an Scotch. Aber die St#252;tzen, die ihn zusammenhielten, waren so sp#228;rlich und so br#252;chig, dass er Angst hatte, sie zum Wanken zu bringen.

»Dieses Land«, hob der Colonel an. »Seinen Feinden vergibt es zu schnell und seine alten Freunde vergisst es zu schnell.« Tief sog er den Dunst der f#252;nf Zentimeter Scotch ein, als wolle er seine Nasenl#246;cher ausr#228;uchern, dann leerte er das Glas zur H#228;lfte. Er st#246;hnte, vielleicht unfreiwillig, und gab einen versonnenen Seufzer der Zufriedenheit von sich: Alles andere behandelten sie so grausam, die dahinfliegenden Jahre. »So sehe ich das wenigstens.«

»Ich hoffe, im Laufe der Jahre hier und dort ein wenig hilfreich gewesen zu sein.«

»Man war der Meinung«, begann der Colonel, »Sie h#228;tten ein Anrecht auf eine Erkl#228;rung.«

»Das ist sehr freundlich.«

»Der Junge ist der Sohn eines gewissen Dr. Julius Steinman, ein Arzt aus Berlin. Der Name sagt mir nichts, aber in psychiatrischen Kreisen …« Er zog ein Gesicht, um seine Meinung von Psychiatern und ihrer Weltsicht kundzutun. Den alten Mann erfreute das Vorurteil, er teilte es jedoch nicht; als #196;rzte lie#223;en Psychiater zweifellos etwas zu w#252;nschen #252;brig, oft aber gaben sie gute Ermittler ab. »Scheinbar behandelte der Mann erfolgreich gewisse Schlafst#246;rungen. Gott wei#223;, wie. Mit Drogen, m#246;chte ich wetten. Jedenfalls blieb dem Jungen und seinen Eltern 1938 die Deportation erspart. Wurden im letzten Moment aus dem Zug geholt, sch#228;tze ich.«

»Da hatte jemand Albtr#228;ume«, sagte der alte Mann.

»Wenig verwunderlich.«

»Ein Mensch, der mit Chiffren und Codes zu tun hat.«

»Zumindest mit etwas h#246;chst Geheimem.« Liebevoll betrachtete der Colonel die verbliebenen zweieinhalb Zentimeter Whisky in seinem Glas, dann sagte er ihnen Lebewohl. »Hielt so lange wie m#246;glich an seinem privaten Judendoktor fest. Und sich damit die schlimmen Tr#228;ume vom Leib. War mit ihm in einer Art Geheimeinrichtung oder Lager kaserniert. Mit der ganzen Familie. Frau, Kind, Papagei.«

»Wo der Papagei so unauff#228;llig und geschickt, wie man es von seiner Art kennt, begann, die Zahlencodes der Kriegsmarine auswendig zu lernen.«

Der Mann aus London wusste Sarkasmus m#246;glicherweise weniger zu w#252;rdigen als schottischen Whisky.

»Man hat sie ihm nat#252;rlich beigebracht«, sagte er. »So lautet jedenfalls die Theorie. Dieser Parkins sitzt scheinbar schon seit Monaten dran. Sobald wir davon erfuhren …«

»… versuchten Sie, Reggie Panicker zu bewegen, das Tier zu stehlen und an Mr Black zu verkaufen, der, so nehme ich an, in Ihren Diensten steht.«

»Meines Wissens nicht«, sagte der Mann aus London, und sein Ton enthielt die h#246;fliche Andeutung, dass sein begrenztes Wissen f#252;r die Zwecke des alten Mannes durchaus gen#252;gte. »Und in Bezug auf den jungen Panicker irren Sie. Damit hatten – wir nichts zu tun.«

»Und Ihnen ist egal, wer Ihren Mr Shane umgebracht hat?«

»Oh nein, ist es uns nicht. Wirklich nicht. Shane war ein feiner Mann. Ein erfahrener Mitarbeiter. Sein Tod ist #228;u#223;erst beunruhigend, nicht zuletzt aufgrund der Folgerung, dass jemand hergeschickt wurde, um den Vogel zur#252;ckzuholen.« Er schien keine Erkl#228;rung f#252;r notwendig zu halten, wer diesen Jemand geschickt haben mochte. »Vielleicht h#228;lt er sich in der Umgebung versteckt. Er k#246;nnte ein Schl#228;fer sein, ein Agent, der schon lange unauff#228;llig im Dorf lebt und arbeitet, schon vor dem Krieg. Genauso gut kann er bereits mitten auf der Nordsee auf dem Heimweg sein.«

»Er k#246;nnte auch in seinem Arbeitszimmer im Pfarrhaus sitzen und hart an der Predigt f#252;r den kommenden Sonntag arbeiten. Eine Predigt, die sich auf das zweite Kapitel Hosea bezieht, Vers eins bis drei.«

»M#246;glich«, sagte der Mann aus London mit einem trockenen Husten, das als echtes Lachen auszugeben er sich sichtlich bem#252;hte. »Ihr junger Freund, der Inspector, hat sich jetzt an den Vater geh#228;ngt.«

»Ja, das liegt nahe.«

»Aber es ist unwahrscheinlich. Der Bursche z#252;chtet Rosen, stimmt’s?«

»Ein verbitterter, entt#228;uschter, eifers#252;chtiger Mann t#246;tet jemanden, den er f#252;r den Liebhaber seiner Frau h#228;lt – das finden Sie unwahrscheinlich. Ein mordender Nazispion, der den Auftrag hat, einen Papagei zu entfuhren, das erscheint Ihnen hingegen …«

»Nun, gut.« Der Colonel sp#228;hte in das leere Whiskyglas, und seine Wangen r#246;teten sich, als sei er gekr#228;nkt worden. »Es ist nur, wenn wir die Gelegenheit h#228;tten, w#252;rden wir es genauso machen, nicht wahr?« Im K#246;rper des Colonels schienen die Streben ein wenig nachgegeben zu haben, doch der alte Mann bezweifelte, dass ein verstaubtes Glas Scotch schuld daran war. Er kannte die Elite des britischen Nachrichtendienstes von den Tagen des »Gro#223;en Spiels« bis zum Knall der ersten Sch#252;sse von Mons. Letzten Endes lief ihr Handwerk auf schlichtes Spiegeln hinaus: Umkehrschl#252;sse, Reflexionen, Echos. Und was man durch einen Spiegel sah, hatte immer etwas Entmutigendes. »Wenn die einen Papagei h#228;tten, der bis zu den Fl#252;gelspitzen mit unserem Marinecode voll gestopft w#228;re, w#252;rden wir mit Sicherheit nichts unversucht lassen, ihn zur#252;ckzubekommen.« Mit einem L#228;cheln, das ihn selbst und das Ministerium, in dem er arbeitete, verh#246;hnte, schaute der Colonel zu dem alten Mann auf. »Oder daf#252;r sorgen, dass er am Spie#223; gebraten wird.«

Als er sich von dem #228;u#223;erst harten Stuhl erhob, krachten die Knochen in seinem Soldatenk#246;rper. Dann schritt er mit einem letzten sehns#252;chtigen Blick auf die Scotchflasche zur T#252;r.

»Wir strengen uns m#228;chtig an, diesen Krieg nicht zu verlieren«, sagte er. »Ein intelligenter Papagei w#228;re bei weitem nicht das Absurdeste, von dem sein Ausgang abh#228;ngen k#246;nnte.«

»Ich habe versprochen, Bruno zu finden«, sagte der alte Mann. »Und das werde ich auch.«

»Falls Sie es schaffen«, sagte der Colonel. Als er die T#252;r #246;ffnete, tastete sich ein langer Streifen Sommernachmittag ins Haus. Der alte Mann h#246;rte den Singsang der Bienen in ihrer Stadt. Das Licht selbst hatte die Farbe von Honig. Der Fahrer auf dem Hof erwachte aus seinem Nickerchen, und der Motor der Limousine erwachte brummend zum Leben. »Die Nation ist Ihnen zu Dank verpflichtet und so weiter.«

»Ich werde ihn dem Jungen zur#252;ckbringen.«

Es kam trotziger heraus, als es dem alten Mann Recht war, qu#228;kend und br#252;chig, und er bereute, es gesagt zu haben. Sein Gast konnte den Satz nicht einmal als hohle Phrase eines alten Kauzes missverstehen.

Der Mann aus London runzelte die Stirn und stie#223; einen Seufzer aus, der verbittert oder bewundernd gemeint sein konnte. Dann sch#252;ttelte er einmal derart heftig den Kopf, dass es normalerweise jedes vernichtende Urteil einschloss, das er im Verlauf des Tages noch w#252;rde f#228;llen m#252;ssen, fand der alte Mann. Der Gast zog einen Fetzen Papier und einen abgenagten blauen Bleistiftstummel hervor. Er kritzelte eine Nummer auf die R#252;ckseite des Zettelchens und stopfte es dann vorsichtig in den Spalt des verzogenen h#246;lzernen T#252;rrahmens. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal um und schaute den alten Mann mit einem sonderbar vertr#228;umten Gesichtsausdruck an.

»Wie Papageienfleisch wohl schmeckt, frage ich mich«, sagte er.