"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

6

Schon einmal hatte der alte Mann Gabriel Park besucht, es musste irgendwann in den sp#228;ten neunziger Jahren gewesen sein. Damals wie heute ging es um Mord, und auch damals war ein Tier beteiligt gewesen – eine siamesische Katze, die gewissenhaft dazu ausgebildet worden war, ein seltenes malaysisches Gift zu verabreichen, indem sie mit den Schnurrbarthaaren an den Lippen des Opfers entlangstrich.

In den dazwischen liegenden Jahren war es mit dem gro#223;en alten Herrenhaus abw#228;rts gegangen. Vor dem letzten Krieg hatte ein Brand den Nordfl#252;gel mit seinem turmbewehrten Observatorium zerst#246;rt, aus dessen geschlitztem Augenlid die Baronin di Sforza, eine vornehme, abscheuliche Frau, in den Tod gesprungen war, die wertvolle Siamzuchtkatze heulend an die Brust gedr#252;ckt. Vereinzelt sah man noch geschw#228;rzte Holzbalken wie geputzte Dochte aus dem hohen Gras ragen. Das Haupthaus mit dem umliegenden Weideland war kurz vor dem gegenw#228;rtigen Krieg von einer Institution namens »Nationale Molkereiforschung« in Beschlag genommen worden; ihre kleine, erstaunlich gesunde Herde Galloways war in der Nachbarschaft Gegenstand enormer Skepsis und Belustigung.

Vor vierzig Jahren war eine gro#223;e Dienerschar notwendig gewesen, um das Anwesen in Schuss zu halten, erinnerte sich der alte Mann. Jetzt war niemand mehr da, der den Efeu stutzte, die Fensterrahmen strich oder die fehlenden Ziegel auf dem Dach ersetzte, das sich im Laufe der f#252;nfj#228;hrigen Besatzungszeit durch die Molkereiforschung von einer eindrucksvollen Schornsteinparade in einen verworrenen Strickkorb voller Antennen und Dr#228;hte verwandelt hatte. Die Milchforscher selbst wurden nur selten in der Stadt gesichtet, aber man hatte beobachtet, dass mehrere von ihnen mit dem Akzent ferner zentraleurop#228;ischer L#228;nder sprachen, wo die Tatsache, dass Galloways als Mastrinder f#252;r die Milchproduktion ungeeignet waren, vielleicht nicht hinl#228;nglich bekannt war. Der S#252;dfl#252;gel, durch die angeblichen nationalen Milchbed#252;rfnisse vom Haupthaus getrennt, siechte dahin. Ein oder zwei der noch lebenden Curlewes besuchten regelm#228;#223;ig das obere Stockwerk. Und in der herrlichen alten Bibliothek – eben dem Raum, in dem der alte Mann mit Hilfe einer klug postierten Sardinenb#252;chse das verbrecherische Tier #252;berf#252;hrt hatte – br#252;tete Mr Parkins mit einem guten Dutzend weiterer Geschichtswissenschaftler, die zu alt oder untauglich f#252;r den Krieg waren, in dem weltber#252;hmten, beispiellosen Archiv, das die Curlewe-Familie in den sieben Jahrhunderten ihrer Herrschaft #252;ber diesen Teil von Sussex gef#252;hrt hatte, #252;ber Steuerlisten, Rechnungsb#252;chern und juristischen Dokumenten.

»Es tut mir Leid, Sir«, sagte der junge Soldat. Er sa#223; hinter einem schmalen Metalltisch in einem schmalen Metallh#228;uschen an der zum Anwesen hinauff#252;hrenden Auffahrt. Es war ein H#228;uschen von j#252;ngster, billigster Machart. Man konnte kaum #252;bersehen, dass der Soldat eine Webley im Holster trug. »Aber ohne die entsprechenden Empfehlungen darf ich Sie nicht hereinlassen.«

Der Enkel von Sandy Bellows, dem sturen, unerm#252;dlichen #220;berf#252;hrer von Schwindlern, zog seinen Dienstausweis hervor.

»Ich untersuche einen Mord«, sagte er und klang dabei weniger selbstsicher, als es seinem Ahnen und auch dem alten Mann lieb gewesen w#228;re.

»Das glaube ich gerne«, sagte der Soldat. Einen Moment lang wirkte er ehrlich betr#252;bt #252;ber Shanes Tod, lange genug, um den alten Mann misstrauisch zu machen. Dann nahm das Gesicht des Soldaten wieder ein selbstgef#228;lliges Grinsen an. »Aber ein Polizeiausweis reicht nicht f#252;r eine Genehmigung. Nationale Sicherheit.«

»Nationale – das hier ist doch ein Molkereibetrieb oder etwa nicht?«, rief der alte Mann.

»Milch und Milchproduktion sind f#252;r die britische Kriegsf#252;hrung unverzichtbar«, sagte der Soldat fr#246;hlich.

Der alte Mann drehte sich zu Sandy Bellows’ Enkel um und erkannte zu seinem #196;rger, dass der junge Mann diese unerh#246;rte L#252;ge hinzunehmen bereit war. Der Inspector zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche und schrieb einige Worte auf die R#252;ckseite.

»D#252;rfte ich Sie bitten, Mr Parkins diese Nachricht zu #252;berbringen?«, fragte der Inspector. »Oder sie ihm zukommen zu lassen?«

Der Soldat las die Nachricht auf der R#252;ckseite und #252;berlegte kurz. Dann griff er nach einem schwarzen H#246;rer und sprach leise hinein.

»Was haben Sie geschrieben?«, fragte der alte Mann.

Der junge Inspector hob eine Augenbraue, und es war dem alten Mann, als schaue ihn das Gesicht von Sandy Bellows #252;ber die Jahrzehnte hinweg an, gereizt und belustigt.

»Wissen Sie es nicht?«, sagte der Inspector.

»Werden Sie nicht unversch#228;mt.« Und dann, aus dem Mundwinkel: »Sie haben geschrieben: Richard Shane ist tot.« 


»Es betr#252;bt mich au#223;erordentlich, das zu h#246;ren«, verk#252;ndete Francis Parkins. Sie sa#223;en in einem gro#223;en Raum im hinteren Teil des S#252;dfl#252;gels, direkt unter der Bibliothek. Fr#252;her einmal war hier der Speisesaal der Dienerschaft gewesen; an eben diesem Tisch hatte der alte Mann auf der Suche nach dem Giftmischer das Personal vernommen. Nun wurde der Raum als Kantine benutzt. Gest#252;rzte Teedosent#252;rme. Brotpapier. Ein Gasring f#252;r einen Kessel und der bittere Geruch verbrannten Kaffees. Die Aschenbecher wurden nicht geleert. »War ein netter Kerl.«

»Zweifellos«, sagte der alte Mann. »Aber er war auch ein Vogeldieb.«

Parkins war ein gro#223;er, schlanker Mann, der wie ein Professor in einen teuren, schlecht gepflegten Tweedanzug gekleidet war. Sein Kopf war zu gro#223; f#252;r seinen Hals, der Adamsapfel zu gro#223; f#252;r seine Kehle und die H#228;nde zu gro#223; f#252;r seine blassen, zarten Gelenke. Es waren kluge H#228;nde, geschmeidig, ausdrucksstark. Er trug eine kleine Brille mit Stahlrahmen, und in den Gl#228;sern fing sich das Licht auf eine Weise, die es schwer machte, seinen Blick zu lesen. Allem Anschein nach war er ein ruhiger, ausgeglichener Zeitgenosse. Die Art und Weise, wie Parkins auf die Nachricht vom verschwundenen Papagei reagierte, war alles andere als aufschlussreich, doch vielleicht war ja in seiner Antwort ein Hinweis verborgen.

»Wo ist Bruno jetzt?«, fragte er.

Er z#252;ndete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf einen Berg Zigarettenstummel im Aschenbecher. Das Gesicht mit dem unlesbaren Blick auf den Inspector gerichtet, schenkte er seinem Begleiter nicht die geringste Beachtung, einem untersetzten, sonnenverbrannten Mann, der sich ohne Erkl#228;rung f#252;r seine Anwesenheit bei der Befragung als Mr Sackett vorstellte, Gesch#228;ftsf#252;hrer der Milchforschungseinrichtung. Er nannte Name und Titel, sonst sagte er nichts. Aber er z#252;ndete seine Zigarette hastig wie ein Soldat an und verfolgte das Gespr#228;ch wie jemand, der es gewohnt war, auf strategische Fehler anderer zu lauern. Der alte Mann bezweifelte, dass er jemals eine Kuh aus der N#228;he gesehen hatte.

»Wir hatten gewisse Hoffnung, dass Sie uns das verraten k#246;nnten«, sagte der alte Mann.

»Ich? Haben Sie mich in Verdacht?«

»Ganz und gar nicht«, sagte der Inspector aufrichtig. »Keinen Augenblick lang.«

»Genauso wenig«, sagte der alte Mann, »wie wir glauben, dass Sie komplizierte mathematische Berechnungen #252;ber die H#246;he des Kirchturms im vierzehnten Jahrhundert anstellen.«

Aha. Eine schwache Reaktion. Das Licht in den Brillengl#228;sern erstarb. Parkins warf Mr Sackett, dessen fleischiges Gesicht in seiner v#246;lligen Ausdruckslosigkeit so beredsam wie eine Faust war, einen Blick zu.

»Meine Herren«, sagte Parkins nach einer Weile, »Inspector, ich versichere Ihnen, dass ich nichts mit dem Tod von Mr Shane zu tun habe, genauso wenig wie mit dem Verschwinden dieses au#223;ergew#246;hnlichen Vogels. In den vergangenen zwei Tagen war ich entweder in meinem Bett oder hier in der Bibliothek, obwohl ich diese Behauptung leider nicht mit einem Beweis belegen kann. Jedoch kann ich Ihnen beweisen, dass meine Forschungsarbeit echt ist. Ich laufe nur rasch nach oben und hole meine Notizen, dann zeige ich Ihnen …«

»Wie hoch ist der Kirchturm zur Zeit?«, fragte der alte Mann.

»Vierzig Meter und achtunddrei#223;ig Zentimeter«, erwiderte Parkins wie aus der Pistole geschossen. Er grinste. Mr Sackett klopfte die Asche von seiner Zigarette.

»Und im Jahre 1312?«

»Ich w#252;rde sagen, f#252;nf Meter weniger, aber das muss noch nachgewiesen werden.«

»Eine komplizierte Frage?«

»Furchtbar«, sagte Parkins.

»Und zweifellos von gro#223;er Wichtigkeit.«

»Leider nur f#252;r B#252;cherw#252;rmer wie mich.«

»Ich nehme an, Bruno konnte Ihnen entscheidende Hinweise geben.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Zahlen«, sagte Inspector Bellows. »Sie haben sie aufmerksam verfolgt, haben sie aufgeschrieben.«

Das Z#246;gern war kurz, aber der alte Mann war von den besten L#252;gnern seiner Generation angelogen worden, zu denen er sich selbst in aller Bescheidenheit ebenfalls z#228;hlte. Dass er die vergangenen drei#223;ig Jahre so gut wie ausschlie#223;lich in der Gesellschaft von Lebewesen verbracht hatte, deren Ehrlichkeit au#223;er Frage stand, schien keine nachteilige Auswirkung auf die Empfindlichkeit seiner Wahrnehmung gehabt zu haben. Parkins log sich um Kopf und Kragen.

»Nur zum Zeitvertreib«, sagte Parkins. »Es steckte nichts dahinter. Es war nur dummes Zeug.«

Im Kopf des alten Mannes begann sich ein zartes, unerbittliches Geflecht von Schlussfolgerungen auszubilden, wie ein Kristall; erschaudernd fing sich darin das Licht in Geistesblitzen und Thesen. Es war die gr#246;#223;te Freude, die das Leben zu bieten hatte, dieses deduktive Kristallisieren, dieses Delirium des R#228;tselns. Schrecklich lange hatte er ohne dieses Hochgef#252;hl auskommen m#252;ssen.

»Was wei#223; Bruno?«, fragte er. »Welche Zahlen lehrte man ihn zu wiederholen?«

»Es tut mir Leid, aber mit derartigen Fragen befassen wir uns hier nicht«, sagte Mr Sackett ruhig.

»Habe ich das so zu verstehen«, sagte der alte Mann, »dass Mr Parkins ein Angestellter oder besser ein Mitglied Ihrer Einrichtung ist, Mr Sackett? Gibt es einen wesentlichen Zusammenhang zwischen normannischer Kirchenbaukunst und dem Melken von Mastrindern, der sich mir entzieht?«

Der Inspector versuchte tapfer, ein Lachen mit einem Husten zu tarnen. Mr Sackett runzelte die Stirn.

»Detective Inspector Bellows«, sagte Sackett, und seine Stimme war noch weicher als zuvor. »Ob ich wohl kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen d#252;rfte?«

Bellows nickte, die beiden erhoben sich und begaben sich auf den Korridor. Kurz bevor Mr Sackett den Raum verlie#223;, drehte er sich um und warf Mr Parkins einen warnenden Blick zu. Parkins err#246;tete.

»Ich nehme an, man wird mich gleich hinausweisen«, sagte der alte Mann.

Aber das Lichtspiel war auf die Gl#228;ser von Mr Parkins’ Brille zur#252;ckgekehrt. Er l#228;chelte d#252;nn. Der Wasserhahn tropfte ins Becken, eine Zigarette in einem erstickten Aschenbecher brannte bis auf den Filter ab und erf#252;llte den Raum mit dem bei#223;enden Geruch von Haar. Kurz darauf kam der Inspector zur#252;ck, allein.

»Vielen Dank, Mr Parkins. Sie k#246;nnen gehen«, sagte er. Dann wandte er sich mit einem entschuldigenden Blick an den alten Mann, und in seiner Stimme hallte auf gewisse Weise das Echo von Mr Sacketts scharfem Kommandoton nach. »Wir sind hier fertig.«

Eine Stunde sp#228;ter wurde Reggie Panicker auf freien Fu#223; gesetzt, alle Anklagepunkte wurden fallen gelassen, und in der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache am darauf folgenden Tag wurde Richard Woolsey Shanes Tod als Unfall deklariert, der nicht n#228;her erl#228;utert wurde.