"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

5

Sie packte zwei Hemden, zwei Paar Socken und ein Paar s#228;uberlich geb#252;gelter Unterhosen ein. Eine brandneue Zahnb#252;rste. Ein St#252;ck K#228;se, eine Packung Kr#228;cker und eine uralte Schachtel mit den Sultaninen, die er so gerne mochte, aus Zeiten vor der Rationierung, nicht mal eine Hand voll. Sie zog ihr gutes blaues Kleid mit dem Mandarinkragen an und ging nach unten, um den Jungen zu suchen.

Schon vor Brunos Diebstahl hatte Linus die Neigung gehabt, zeitweise zu verschwinden. Er kam ihr weniger wie ein Junge als vielmehr wie der Geist eines Jungen vor, der sich durch das Haus, das Dorf, die Welt stahl. #220;berall besa#223; er Verstecke: in schattigen Winkeln des Kirchhofs, unter dem Dach des Pfarrhauses, selbst im Glockenturm der Kirche. Mit dem Vogel auf der Schulter marschierte er hinaus ins Land, und obwohl ihr das stark missfiel, hatte sie es aufgegeben, ihn davon abhalten zu wollen, denn sie konnte sich nicht #252;berwinden, das arme Kind zu bestrafen. Das brachte sie nicht #252;bers Herz. Au#223;erdem hatte sie ihren Reggie mit einer Strenge erzogen, die ihr nicht leicht gefallen war, und man sah ja, wohin das letztlich gef#252;hrt hatte.

Sie fand den Jungen am Bach neben dem Kirchhof. Dort stand eine vermooste Steinbank, auf der bestimmt schon sechs oder sieben Jahrhunderte lang Dorfbewohner im Schatten der f#252;lligen Eibe gesessen und ihren tr#252;ben Gedanken nachgehangen hatten. Martin Kalb sa#223; neben ihm. Linus hatte Schuhe und Socken abgestreift. Mr Kalb war ebenfalls barfu#223;. Aus irgendeinem Grund ersch#252;tterte Mrs Panicker der Anblick seiner blassen F#252;#223;e, die nackt aus den Umschl#228;gen der feinen grauen Nadelstreifenhose hervorlugten.

»Ich gehe aus«, sagte sie, zu laut. Sie wusste, dass es furchtbar von ihr war, aber sie konnte sich nicht davon abhalten, den Jungen anzuschreien, als sei er taub. »Ich muss Reggie besuchen. Mr Kalb, ich hoffe, dass Sie die Nacht bei uns verbringen werden.«

Mr Kalb nickte. Er hatte ein langes, h#252;bsches Gesicht, offen und dienstbeflissen. Er erinnerte sie an Mr Panicker im Alter von sechsundzwanzig Jahren. »Nat#252;rlich.«

»Sie k#246;nnen in Linus’ Zimmer schlafen. Dort stehen zwei Betten.«

Mr Kalb schaute den Jungen an und hob eine Augenbraue. So als spreche er aus Respekt vor der Stummheit des Jungen so wenig wie m#246;glich mit ihm. Der Junge nickte. Mr Kalb nickte. Mrs Panicker wurde von Dankbarkeit erf#252;llt.

Der Junge zog seinen Block und den gr#252;nen Bleistiftstummel aus der Jacke. Gewissenhaft kritzelte er etwas auf ein Blatt; er schrieb nur mit gr#246;#223;ter Anstrengung und kaute dabei auf der Unterlippe. Kurz betrachtete er, was er zu Papier gebracht hatte, dann zeigte er es Mr Kalb. Mrs Panicker konnte nie etwas mit dem anfangen, was der Junge fabrizierte.

»Er fragt, ob Mr Shane wirklich tot ist«, sagte Mr Kalb.

»Ja«, rief sie beinahe, und dann, leiser: »Das stimmt.«

Mit seinen gro#223;en braunen Augen schaute Linus zu ihr auf und nickte einmal, fast zu sich selbst. Es war unm#246;glich, zu sagen, was er dachte. Das war es fast immer. Obwohl er ihr Leid tat, sie ihn in ihre Gebete einschloss und auf eine sonderbare Weise auch sp#252;rte, dass sie ihn lieb hatte, war irgendetwas an Linus f#252;r sie fremdartiger, als seine Nationalit#228;t oder Religion erkl#228;ren konnte. Auch wenn er ein h#252;bscher Junge und der Vogel ein sch#246;nes Tier war, besa#223; ihre gegenseitige Verbundenheit eine Intensit#228;t, die Mrs Panicker unheimlicher fand als die numerischen Tiraden des Vogels oder die herzergreifende S#252;#223;e seines Gesangs.

Der Junge dr#252;ckte noch ein paar Worte aus dem Bleistiftstummel. Mr Kalb #252;berflog sie seufzend und #252;bersetzte sie.

»Er war nett zu mir«, sagte er.

Mrs Panicker wollte antworten, aber sie schien ihre Stimme verloren zu haben. Irgendetwas in ihrem Brustkorb dr#228;ngte nach oben. Zu ihrer eigenen Scham und Best#252;rzung brach sie dramatisch in Tr#228;nen aus. Es war das erste Mal seit Ende der zwanziger Jahre, dass sie weinte, auch wenn der Allm#228;chtige wusste, dass sie Grund genug dazu gehabt h#228;tte. Sie weinte, weil dieser Junge, dieser irgendwie Versehrte oder geschundene Junge, seinen Papagei verloren hatte. Sie weinte, weil ihr Sohn in einer Zelle unter dem Rathaus sa#223;, als H#228;ftling der Krone. Und sie weinte, weil sie im Alter von siebenundvierzig Jahren, nach f#252;nfundzwanzig Jahren der Ehrfurcht, Entt#228;uschung und Selbstbeherrschung, ein v#246;llig t#246;richtes Interesse an dem neuen Untermieter Mr Richard Shane gefasst hatte, wie eine Figur in einem schl#252;pfrigen Roman.

Sie ging zu dem Jungen und blieb vor ihm stehen. Sie hatte seinen Hintern gewaschen und sein Haar gek#228;mmt. Sie hatte ihn gef#252;ttert und gekleidet und sein Erbrochenes in einer Sch#252;ssel aufgefangen, wenn ihm #252;bel wurde. Aber sie hatte ihn noch nie umarmt. Sie streckte die H#228;nde aus; er beugte sich vor und legte seinen Kopf, ein wenig unbeholfen, an ihren Bauch. Mr Kalb r#228;usperte sich. Sie sp#252;rte die Schwere seines zur Seite gewandten Blicks, w#228;hrend sie den Kopf des Jungen streichelte und versuchte, sich f#252;r den Besuch im Gef#228;ngnis zu wappnen. Es war ihr peinlich, vor dem jungen Herrn vom Hilfskomitee zu weinen. Nach einer Weile warf sie ihm einen kurzen Blick zu und sah, dass er ihr ein Taschentuch darbot. Ein Dankesch#246;n murmelnd, nahm sie es an.

Der Junge zog sich zur#252;ck und beobachtete, wie sie sich die Augen trocken tupfte. Es ber#252;hrte sie auf l#228;cherliche Weise, wie besorgt er zu sein schien. Er tippte an ihre Hand, als wolle er, dass sie dem, was er als N#228;chstes #228;u#223;ern w#252;rde, besonders gro#223;e Aufmerksamkeit schenke. Dann kritzelte er f#252;nf weitere W#246;rter in seinen kleinen Block. Mr Kalb studierte sie mit gerunzelter Stirn. Die Rechtschreibung des Jungen war miserabel, rudiment#228;r. Er verdrehte Buchstaben und ganze W#246;rter, besonders bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er versuchte, sich auf Englisch auszudr#252;cken. Einmal hatte er Mrs Panickers Gatten mit einer schriftlichen Anfrage v#246;llig aus der Fassung gebracht, die folgenderma#223;en lautete: WARUM TOG NOV KRISTEN MAG KEIN JUDEN REDNIK?

»Fragen Sie den alten Mann«, las Mr Kalb vor.

»Was um alles in der Welt soll ich ihn fragen?«, sagte Mrs Panicker. 


Nur einmal zuvor hatte sie den alten Mann gesehen, das war 1936, auf dem Bahnhof, als er aus seiner bienentollen Einsiedelei gekrochen war, um f#252;nf gewaltige Lattenkisten in Empfang zu nehmen, die ihm aus London zugegangen waren. Mrs Panicker war an jenem Morgen auf der Reise nach Lewes gewesen, doch als der alte Mann auf den Bahnsteig schlurfte, auf dem die Z#252;ge gen S#252;den hielten, begleitet vom strammen #228;ltesten Sohn seines Nachbarn Walt Satterlee, wechselte sie auf die andere Seite, um ihn besser betrachten zu k#246;nnen. Vor vielen, vielen Jahren hatte sein Name – der mittlerweile selbst den Pomp und die Rechtschaffenheit jener untergegangenen #196;ra heraufbeschwor – die Zeitungen und Polizeibl#228;tter des Empire geschm#252;ckt, doch an jenem Morgen war es sein j#252;ngerer, lokaler Ruf gewesen, der Mrs Panicker auf die andere Seite des Bahnsteigs lockte; er gr#252;ndete fast ausschlie#223;lich auf Legenden #252;ber seine Zur#252;ckhaltung, Reizbarkeit und Feindseligkeit gegen#252;ber allen menschlichen Wesen. D#252;nn wie ein Windhund sei er, hatte sie sp#228;ter ihrem Gemahl berichtet, auch im Gesicht habe er etwas Hundeartiges oder eher W#246;lfisches, seine Augen unter den schweren Lidern seien intelligent, wachsam und blass. Sein Blick h#228;tte Merkmale und Machart des Bahnsteigs, die Texte der angeschlagenen Bekanntmachungen, einen fortgeworfenen Zigarrenstummel und das zerrupfte Starennest in den Sparren des #252;berh#228;ngenden Daches registriert. Und dann h#228;tte er seine w#246;lfischen Augen auf sie gerichtet. Die Gier in ihnen erschreckte sie derart, dass sie einen Schritt zur#252;ck machte und so heftig mit dem Kopf gegen einen Eisenpfahl schlug, dass sie sp#228;ter getrocknete Blutklumpen in ihrem Haar fand. Es sei eine vollkommen unpers#246;nliche Gier, falls es so etwas gebe – an dieser Stelle geriet ihr Bericht unter dem Druck von Mr Panickers Missbilligung ihrer »romantischen Natur« ins Stocken –, eine Gier frei von L#252;sternheit, Appetit, Bosheit oder Wohlwollen. Es war eine Gier, erkannte sie sp#228;ter, nach Information. Und doch wohnte seinem Blick eine Lebendigkeit inne, eine Art k#252;hler Vitalit#228;t, die an Vergn#252;gen grenzte, als habe eine regelm#228;#223;ige, lebenslange Kost prosaischer Beobachtungen die Jugendlichkeit seiner Sehorgane bewahren k#246;nnen. Vorn#252;bergebeugt wie viele gro#223; gewachsene alte M#228;nner, hatte er in einem dicken wollenen Inverness-Cape im prallen Aprilsonnenschein gestanden und sie gemustert, inspiziert, ohne jedes Bem#252;hen, seine Pr#252;fung zu verbergen oder zu verhehlen. Das Cape, erinnerte sie sich, war stark geflickt gewesen, jedoch unter v#246;lliger Missachtung von Muster oder Stoff, und an hundert Stellen mit bunt gemischten farbigen Garnen gestopft.

Alsbald fuhr der Zug aus London ein und spuckte die mit dem altehrw#252;rdigen Namen des Mannes beschrifteten gewaltigen Kisten aus, in die in regelm#228;#223;igen Abst#228;nden runde L#246;cher gestanzt waren. Deutlich lesbar auf der Seite jeder Kiste war die schablonierte Adresse einer Stadt in Texas. Sp#228;ter erfuhr Mrs Panicker, dass die Kisten, unter anderen exotischen Artikeln, schwere Tabletts voller Eier einer bisher in Gro#223;britannien unbekannten Honigbienenart enthielten.

Mr Panickers Antwort, als sie ihren Bericht abgeschlossen hatte, war typisch f#252;r ihn gewesen.

»Es betr#252;bt mich zu h#246;ren, dass unsere guten englischen Bienen seinen Anspr#252;chen nicht gen#252;gen«, hatte er gesagt.

Und jetzt sa#223; sie neben dem alten Mann in einem Hinterzimmer des Rathauses. Durch das einzige Fenster str#246;mte vom leeren Nachbargrundst#252;ck, wie vom alten Mann angezogen, das Gemurmel von Bienen herein, eindringlich wie der stickige Nachmittag selbst. In den letzten f#252;nfzehn Minuten, die sie auf den H#228;ftling gewartet hatten, hatte der alte Mann seine Pfeife gestopft und an ihr gezogen. Noch nie hatte sie, die in einem Haus mit sieben Br#252;dern und einem verwitweten Vater aufgewachsen war, einen derart stinkenden Qualm einatmen m#252;ssen. Er hing so schwer im Raum wie frisch geschorene Schafswolle und malte Arabesken in das grelle, schr#228;g durchs Fenster fallende Licht.

Sie betrachtete die Ranken von Rauch, die sich im Sonnenlicht wanden, und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Sohn sich daranmachte, jenen feinen, vitalen Mann zu ermorden. Nichts, was sie vor ihrem inneren Auge sah, #252;berzeugte sie. In ihrer Kindheit hatte Mrs Panicker, geborene Ginny Stallard, unabh#228;ngig voneinander die Ermordung zweier M#228;nner erlebt. Das erste Opfer war Huey Blake gewesen, der im Verlauf eines nur halb freundschaftlichen Ringkampfes von ihren Br#252;dern im Piltdown Pond ertr#228;nkt worden war. Das andere war ihr Vater gewesen, Reverend Oliver Stallard, der vom alten Mr Catley w#228;hrend des sonnt#228;glichen Essens erschossen worden war, nachdem Letzterer den Verstand verloren hatte. Obgleich alle Welt ihrem schwarzen Gatten die Schuld am wankelm#252;tigen Wesen ihres einen, einzigen Sohnes gab, vermutete Mrs Panicker, dass es ganz allein ihr Fehler war. Die M#228;nner der Stallard-Familie waren allesamt Taugenichtse oder Ungl#252;cksraben gewesen. Beinahe war sie geneigt zu glauben, es sei ein weiterer Beweis f#252;r den schwachen Charakter ihres Sohnes – auch wenn, wei#223; Gott, keiner n#246;tig w#228;re –, dass es so lange dauerte, Reggie aus der Zelle heraufzubringen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn aufhalten mochte.

Als die trockenen Finger des alten Mannes unerwartet ihren rechten Handr#252;cken ber#252;hrten, zuckte das Herz in ihrer Brust zusammen.

»Bitte«, sagte er mit kurzem Blick auf ihre Hand, und sie merkte, dass sie ihren Ehering abgestreift hatte und fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Offenbar hatte sie schon l#228;nger mit dem Ring auf die Armlehne geklopft, vielleicht von dem Moment an, als sie im Wartezimmer Platz genommen hatte. Schwach hallte der Klang durch ihre Erinnerung.

»Entschuldigung«, sagte sie. Sie musterte die fleckige Hand auf der ihren. Er zog sie fort.

»Ich wei#223;, wie schwer das f#252;r Sie sein muss«, sagte er und l#228;chelte aufmunternd, was sie – erstaunlicherweise – aufmunterte. »Immer mit der Ruhe.«

»Er war es nicht«, sagte sie.

»Das bleibt abzuwarten«, sagte der alte Mann. »Aber bisher, muss ich gestehen, bin ich geneigt, Ihnen beizupflichten.«

»Ich mache mir keine Illusionen #252;ber meinen Sohn, Sir.«

»Daran erkennt man zweifellos vern#252;nftige Eltern.«

»Er hatte eine Abneigung gegen Mr Shane gefasst, das stimmt.« Sie war eine ehrliche Frau. »Aber Reggie fasst eine Abneigung gegen jeden. Er scheint nichts dagegen tun zu k#246;nnen.«

Da #246;ffnete sich die T#252;r, und der arme Reggie wurde hereingebracht. Auf der Wange hatte er ein Pflaster und an der linken Schl#228;fe eine l#228;ngliche Narbe, seine Nase wirkte auch irgendwie zu gro#223; und war auf dem R#252;cken dunkelrot. Kurz durchfuhr seine Mutter die irrige Vermutung, er habe sich diese Verletzungen w#228;hrend seines verh#228;ngnisvollen Kampfes mit Mr Shane zugezogen, und durch den Kopf schoss ihr die fl#252;chtige Hoffnung, auf Notwehr zu pl#228;dieren, doch dann erinnerte sie sich geh#246;rt zu haben, wie Detective Constable Quint ihrem Mann erz#228;hlte, Shane sei von hinten get#246;tet worden, mit einem einzigen Schlag auf den Kopf – es hatte keinen Kampf gegeben. Ein Blick in die Gesichter der Polizisten, die mit starr in die Zimmerecken gerichteten Augen Reggie zu dem leeren Stuhl bef#246;rderten, und ihr kam die wahre Erkenntnis.

Der alte Mann erhob sich und stie#223; mit dem Stiel seiner Pfeife in Richtung ihres Sohnes.

»Wurde dieser Mann verletzt?«, sagte er mit einer Stimme, die selbst in ihren Ohren d#252;nn und gereizt klang, als seien die Pr#252;gel, die ihr Sohn von der Polizei bezogen hatte, von einer moralischen Selbstverst#228;ndlichkeit, die #252;ber jeden zaghaften Protest erhaben war, den er oder jemand anders anmelden mochte. In ihrem Kopf wetteiferte der Schrecken dar#252;ber mit einer tiefen, rauen Stimme, die unabl#228;ssig fl#252;sterte: Das musste so kommen. Das war schon lange abzusehen. Mrs Panicker musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten – ein betr#228;chtliches Talent, ein Leben lang durch fast ununterbrochene #220;bung gest#228;rkt –, um nicht quer durch das Zimmer zu gehen und den misshandelten dunklen Kopf ihres Sohnes in die Arme zu nehmen, und sei es nur, um das verfilzte Gewirr seiner schweren schwarzen Haare zu gl#228;tten.

Die beiden Polizisten, Kommunikanten von Mr Panicker, hie#223;en, wie ihr schlie#223;lich einfiel, Noakes und Woollett; sie schauten den alten Mann mit zusammengekniffenen Augen an, als klebe ein Rest vom Fr#252;hst#252;ck an seiner Lippe.

»Ist gefallen«, sagte der eine, den Mrs Panicker f#252;r Noakes hielt.

Woollett nickte. »War Pech«, sagte er.

»Allerdings«, sagte der alte Mann. Jede Regung wich aus seinem Gesicht, als er die n#228;chste lange, gr#252;ndliche Musterung vornahm. Sein Objekt war diesmal das emp#246;rte Gesicht ihres Sohnes, der den alten Mann mit hasserf#252;lltem Blick anstarrte, was Mrs Panicker nicht sonderlich schockierte; ganz im Gegenteil war sie #252;berrascht zu sehen, dass Reggies Blick schlie#223;lich nachgab und sich auf seine mageren, braunen, auf dem Scho#223; gekreuzten Handgelenke senkte, was ihn viel j#252;nger wirken lie#223; als zweiundzwanzig Jahre.

»Was will sie denn hier?«, sagte er schlie#223;lich.

»Ihre Mutter hat Ihnen ein paar pers#246;nliche Dinge mitgebracht«, sagte der alte Mann. »Ich bin sicher, dass Sie sie gebrauchen k#246;nnen. Aber wenn Sie wollen, werde ich Ihre Mutter bitten, drau#223;en zu warten.«

Reggie hob den Blick, schaute zu ihr hin#252;ber, und in seinem Schmollmund lag etwas Dank#228;hnliches, eine boshafte Dankbarkeit, als sei sie vielleicht doch keine gar so schreckliche Mutter, wie er immer gedacht hatte. Obwohl sie ihrer eigenen Buchf#252;hrung nach – und da war sie gewiss nicht gro#223;z#252;gig zu sich selbst – ihren Sohn nie im Stich gelassen hatte, schien er jedes Mal, wenn sie zu ihm hielt, sonderbar skeptisch und erstaunt Zu sein.

»Ist mir schei#223;egal, was sie macht«, sagte er.

»Ja«, sagte der alte Mann trocken. »Ja, das nehme ich an. Also gut. Aha. Hm. Nun, erz#228;hlen Sie mir doch bitte von Ihrem Freund Mr Black aus London.«

»Da gibt’s nichts zu erz#228;hlen«, sagte Reggie. »Ich kenne den Kerl nicht.«

»Mr Panicker«, sagte der alte Mann. »Ich bin neunundachtzig Jahre alt. Das kurze Leben, das mir noch verg#246;nnt ist, w#252;rde ich sehr viel lieber in Gesellschaft von Personen verbringen, die weitaus intelligenter und geheimnisvoller sind als Sie. Erlauben Sie also bitte im Interesse der sp#228;rlichen mir noch verbleibenden Zeit, dass ich Ihnen #252;ber Mr Black von der Club Row in London berichte. Ich nehme an, dass ihm k#252;rzlich etwas #252;ber einen erstaunlichen Papagei zu Ohren gekommen ist, ein ausgewachsenes Tier von guter Gesundheit, das ein beachtliches Imitationstalent und ein Ged#228;chtnis besitzt, welches bei dieser Art weit #252;ber der Norm liegt. W#228;re dieser Vogel nun im Besitz von Mr Black, k#246;nnte er ihn f#252;r eine h#252;bsche Summe an einen Liebhaber hier in Gro#223;britannien oder auf dem Kontinent verkaufen. Daher hatten Sie den Entschluss gefasst, den Vogel zu stehlen, und alles entsprechend vorbereitet, um ihn in der Hoffnung auf Einnahme eines gr#246;#223;eren Geldbetrags an Mr Black zu ver#228;u#223;ern. Wenn ich mich nicht irre, ben#246;tigen Sie dieses Bargeld, um die bei Fatty Hodges aufgelaufenen Schulden zu begleichen.«

Die Worte waren ausgesprochen und zu Boden gefallen, noch ehe Mrs Panickers Gedanken sie auffangen oder den unvermittelten Schock aufhalten konnten, der sie dabei durchfuhr. Nach allgemeiner #220;bereinkunft und #246;ffentlicher Akklamation war Fatty Hodges der schlimmste Mensch in den South Downs. Nicht auszudenken, in welch Unheil er Reggie geritten haben mochte.

Noakes und Woollett starrten vor sich hin; Reggie starrte vor sich hin, alle starrten vor sich hin. Woher konnte der Alte das nur wissen?

»Meine Bienen fliegen #252;berall«, sagte der alte Mann. Er reckte den Hals und rieb sich mit einem trockenen Schaben die H#228;nde – ein Kartenzauberer, der gerade das Ass aus dem #196;rmel gezogen hatte. »Und sie sehen alles.«

Die Schlussfolgerung, dass seine Bienen ihm auch alles erz#228;hlten, blieb unausgesprochen. Mrs Panicker nahm an, dass er bef#252;rchtete, es klinge verr#252;ckt; viele glaubten l#228;ngst, er habe eine Schraube locker.

»Doch ehe Sie das geliebte Tier, den einzigen Freund eines einsamen, verwaisten Fl#252;chtlingskindes, stehlen konnten, kam Ihnen leider der Untermieter Mr Shane zuvor. Als dieser sich mit dem Vogel aus dem Staub machen wollte, wurde er #252;berfallen und get#246;tet. Nun gelangen wir an den Punkt, oder besser gesagt, an einen Punkt, wo die Polizei und ich unterschiedlicher Auffassung sind. Denn selbstredend sind wir ebenfalls unterschiedlicher Ansicht, was die Ratsamkeit betrifft, H#228;ftlinge der Krone zu schlagen, insbesondere solche, die noch nicht verurteilt sind.«

Oh, dachte sie, was f#252;r ein feiner alter Mann! #220;ber seinem Verhalten, seinen Worten, dem Tweedanzug und dem sch#228;bigen Cape schwebte wie der Geruch t#252;rkischen Tabaks die Macht und Rechtschaffenheit des ehemaligen britischen Empires.

»Nun, Sir …«, unterbrach ihn Noakes vorwurfsvoll – oder war es Woollett?

»Ich w#252;rde sagen, dass die Polizei«, fuhr der alte Mann unschuldig und heiter fort, »weitgehend davon #252;berzeugt zu sein scheint, dass Sie es waren, der Mr Shane bei Brunos Abtransport #252;berraschte und ermordete. Ich hingegen glaube, dass es jemand anders war, ein Mann …«

Jetzt wanderten die gierigen Augen des Alten zu Reggies schwarzen Stra#223;enschuhen, die Mrs Panicker am Morgen, als der Tag noch nichts Ungew#246;hnliches verhie#223;, auf Hochglanz poliert hatte.

»… ein Mann mit F#252;#223;en, die ein ganzes St#252;ck kleiner sind als die Ihren.«

Reggies Miene verrutschte – die Z#252;ge dieses entt#228;uschten Gesichts, kniescheibenglatt. Reglos bis auf die Augenbraue, die nach oben, und den Mundwinkel, der nach unten gezogen wurde. Jetzt fiel es kurz hinunter, und Reggie grinste, wie ein Junge. Er holte seine gewaltigen Riesenf#252;#223;e unter dem Tisch hervor, streckte sie vor sich aus und bestaunte wie zum ersten Mal ihre eindrucksvolle Gr#246;#223;e.

»Das habe ich den beiden doch die ganze Zeit gesagt!«, rief er. »Sicher, klar, noch ein Tag und ich h#228;tte den Vogel verkauft, Fatty bezahlt, und die Sache w#228;re geritzt gewesen. Aber urspr#252;nglich war die Idee nicht von mir. Parkins h#228;tten sie sich vorkn#246;pfen sollen. Es war seine Brieftasche, in der ich Blacks Karte gefunden habe.«

»Parkins?« Der alte Mann sah die Polizisten an, die mit den Achseln zuckten, dann Mrs Panicker.

»Mein #228;ltester Mieter«, sagte sie. »Im M#228;rz waren es zwei Jahre.« Ihr wurde klar, dass sie Mr Simon Parkins nie wirklich getraut hatte, obwohl er dem Anschein nach nichts Anst#246;#223;iges oder Zwielichtiges besa#223;. Jeden Morgen stand er zur selben Stunde auf, begab sich in die Bibliothek von Gabriel Park, um Schriftrollen oder Frottagen, oder #252;ber was auch immer er bis weit nach Anbruch der Nacht br#252;tete, zu studieren, dann kehrte er zu seinem Zimmer, seiner Lampe und seinem aufgew#228;rmten Abendessen zur#252;ck.

»Haben Sie demnach die Angewohnheit, den Inhalt von Mr Parkins’ Brieftasche zu untersuchen, Reggie?«, fragte Noakes oder Woollett kumpelhaft, aber ein wenig zu verbissen, als f#252;rchte er, ihm entschwinde die Grundlage, Reggie einen Mord anzuh#228;ngen, und hoffe stattdessen, ihm etwas anderes anzuh#228;ngen, ehe es zu sp#228;t war.

Mit h#246;rbarem Knacken drehte der alte Mann seinen Kopf den beiden Polizisten zu.

»Ich m#246;chte auch die beiden Herren bitten zu beachten, dass meine Tage gez#228;hlt sind«, sagte er. »Stellen Sie bitte keine #252;berfl#252;ssigen Fragen. Interessiert Parkins sich f#252;r den Vogel?«

Die Frage war an Mrs Panicker gerichtet.

»Alle interessierten sich f#252;r Bruno«, sagte sie und fragte sich, warum sie #252;ber den Papagei in der Vergangenheitsform sprach. »Alle, au#223;er dem armen Mr Shane. Ist das nicht sonderbar?«

»Sicher interessiert sich Parkins f#252;r ihn«, sagte Reggie. Die Widerspenstigkeit, mit der er den alten Mann anfangs behandelt hatte, war verflogen. »Er hat st#228;ndig was in sein kleines Notizbuch gekritzelt. Jedes Mal, wenn der Vogel mit diesen verdammten Zahlen anfing.«

Zum ersten Mal seit dem Eintreffen auf der Polizeiwache wirkte der alte Mann ernsthaft an dem interessiert, was vor sich ging. Er erhob sich ohne das Gest#246;hne und Gemurmel, das diese T#228;tigkeit bisher begleitet hatte.

»Die Zahlen!« Er legte die Handfl#228;chen aneinander, eine Geste zwischen Gebet und Applaus. »Ja! Das gef#228;llt mir! Der Vogel war es gewohnt, Zahlen zu wiederholen.«

»Den ganzen verfluchten Tag lang.«

»Endlose Zahlenreihen«, sagte Mrs Panicker und #252;berh#246;rte sogar den Kraftausdruck, obgleich einer der Polizisten dabei zusammenzuckte. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie tats#228;chlich viele Male gesehen hatte, wie Parkins ein kleines Notizbuch hervorgezogen und die numerischen Arien niedergeschrieben hatte, die Brunos schwarzer Schnabel mit unheimlich uhrwerkartigem Schnalzen hervorbrachte. »Von eins bis neun, immer wieder, ohne bestimmte Reihenfolge.«

»Und alles auf Deutsch«, sagte Reggie.

»Und dieser Mr Parkins, in welchem Beruf ist er momentan t#228;tig? Ist er Handelsreisender wie Richard Shane?«

»Er ist Architekturhistoriker«, sagte sie und bemerkte dabei, dass weder Noakes noch Woollett sich die M#252;he machte, irgendetwas schriftlich festzuhalten. Wenn man die beiden so betrachtete, schwitzende Kolosse in blauen Wollm#228;nteln, konnte man meinen, sie w#252;rden nicht einmal zuh#246;ren, von Mitdenken ganz zu schweigen. Vielleicht fanden sie es zu hei#223; zum Denken. Der eifrige kleine Inspector aus London, dieser Bellows, tat ihr Leid. Kein Wunder, dass er den alten Mann um Hilfe gebeten hatte. »Er arbeitet an einer Monographie #252;ber unsere Kirche.«

»Aber gesehen wird er dort nie«, sagte Reggie. »Schon gar nicht sonntags.«

Der alte Mann schaute sie an, erwartete eine Best#228;tigung.

»Momentan erstellt er ein Gutachten #252;ber einige sehr alte Dorfurkunden, die in der Bibliothek von Gabriel Park aufbewahrt werden«, sagte sie. »Ich verstehe leider nicht sehr viel davon. Er versucht, die H#246;he des Kirchturms im Mittelalter zu berechnen. Es ist alles sehr … er hat es mir einmal gezeigt. Es sieht mehr wie Mathematik als wie Architektur aus.«

Langsam lie#223; sich der alte Mann wieder auf den Stuhl sinken, jetzt wirkte er v#246;llig gedankenverloren. Nicht l#228;nger schaute er Mrs Panicker oder Reggie oder, so weit sie es beurteilen konnte, irgendetwas anderes im Raum an. Seine Pfeife war l#228;ngst erloschen, er entz#252;ndete sie erneut mit einer Reihe mechanischer Handgriffe, scheinbar ohne es #252;berhaupt wahrzunehmen. Die vier Menschen, die das Zimmer mit ihm teilten, standen oder sa#223;en herum und warteten in beachtlicher Einm#252;tigkeit darauf, dass er zu irgendeinem Schluss kam. Nach einer vollen Minute kr#228;ftigen Schmauchens sagte er klar und deutlich: »Parkins«, dann hielt er eine kleine gemurmelte Rede, die sie nicht verstand. Er schien sich selbst eine Predigt zu halten. Noch einmal hievte er sich auf die F#252;#223;e, dann steuerte er auf die T#252;r des Wartezimmers zu, ohne einen Blick zur#252;ckzuwerfen. Es war, als h#228;tte er die anderen vollkommen vergessen.

»Was ist mit mir?«, rief Reggie. »Sagen Sie denen, sie sollen mich freilassen, Sie alter Spinner!«

»Reggie!« Mrs Panicker war entsetzt. Bisher hatte er nichts von sich gegeben, was auch nur entfernte #196;hnlichkeit mit einem Ausdruck des Bedauerns #252;ber das Schicksal von Mr Shane hatte. Ohne sich im Geringsten zu sch#228;men, hatte er sein Vorhaben gestanden, einem verwaisten kleinen Judenfl#252;chtling den Vogel zu stehlen, und Mr Parkins’ Brieftasche durchsucht zu haben. Und nun sa#223; er da und beleidigte den einzig wirklich wertvollen Verb#252;ndeten, den er, von ihr selbst abgesehen, je gehabt hatte. »Um Himmels willen. Wenn du nicht einmal jetzt siehst, in welches Schlamassel du dich gebracht hast …«

An der T#252;r drehte sich der alte Mann mit einem ver#228;rgerten kleinen L#228;cheln um.

»Ihre Mutter hat Recht«, sagte er. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur sehr wenige Beweise, die Sie entlasten, aber sehr viele Indizien, die auf Sie zu verweisen scheinen. Diese beiden Herren hier« – er nickte in Richtung Noakes und Woollett – »w#252;rden ein Pflichtvers#228;umnis begehen, wenn sie Sie freilie#223;en. Kurz gesagt, Sie scheinen durchaus schuldig zu sein, Mr Shane umgebracht zu haben.«

Dann setzte er seine Jagdm#252;tze auf und ging, mit einem letzten Nicken in Richtung von Mrs Panicker, nach drau#223;en.