"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

4

Der alte Mann kniete sich auf ein Bein. Auf das linke, das rechte war nicht mehr zu gebrauchen. Er ben#246;tigte verflucht lange daf#252;r, und auf dem Weg nach unten gab das Gelenk ein gr#228;sslich schnalzendes Ger#228;usch von sich. Aber er schaffte es und machte sich ohne Federlesen an die Arbeit. Er zog den rechten Handschuh aus und bohrte den nackten Finger in den blutigen Schlamm, wo Richard Woolsey Shanes Leben versickert war. Dann griff er in die alte, ins Futter seines Capes eingen#228;hte verborgene Tasche und zog eine Lupe hervor. Sie war aus Messing und Schildpatt, und um die Einfassung trug sie die herzliche Inschrift des einzig wahren Freundes in seinem Leben.

Unter unabl#228;ssigem Schnaufen und Grunzen arbeitete er sich durch die zwei Quadratmeter ebener Erde, als handele es sich um die steile Eiswand des Karakorum. Der alte Mann richtete sein geliebtes Brennglas auf jedes Detail um und auf dem t#246;dlichen Fleck zwischen den #252;ppig gr#252;nen Hecken der Hallows Lane, wo Shanes halb gek#246;pfte Leiche am fr#252;hen Morgen von seinem Vermieter Mr Panicker gefunden worden war. Ach, leider war die Leiche bereits entfernt worden, und zwar von ungeschickten M#228;nnern in schweren Stiefeln! Geblieben war lediglich ihr schwacher Abdruck, ein krummes Kreuz im Dreck. Am rechten Reifen des Automobils von Mr Shane – furchtbar protzig f#252;r einen Vertreter von Molkereibedarf – entdeckte der alte Mann auf der wei#223;en Reifenwand das zentripetale Muster m#228;#223;ig nachgedunkelter, fedriger Blutspritzer. Obwohl die Polizei bei der Durchsuchung des Wagens eine Generalstabskarte von Sussex, einen durchsichtigen Gummimelkschlauch, Teile von Ventilen und Leitungen, mehrere Hochglanzprospekte der Lactrola R-5 von Chedbourne amp; Jones sowie ein abgegriffenes Exemplar von Treadleys H#228;ufige Krankheiten bei Milchk#252;hen, 1926er Ausgabe, zutage gef#246;rdert hatte, wiederholte der alte Mann nun diesen Arbeitsgang. Dabei murmelte er unbewusst unabl#228;ssig vor sich hin und wackelte von Zeit zu Zeit mit dem Kopf, als bestreite er die eine H#228;lfte einer Unterhaltung und bringe seinem unsichtbaren Gespr#228;chspartner eine gewisse Ungeduld entgegen. Die gesamte Prozedur erforderte fast vierzig Minuten, doch als der Alte mit dem Gef#252;hl, eine Pause bitter n#246;tig zu haben, aus dem Wagen stieg, hielt er eine scharfe Patrone vom Kaliber .45 f#252;r die h#246;chst fragw#252;rdige Armeepistole und eine ungerauchte Murat-Zigarette in der Hand, eine #228;gyptische Marke, deren Erwerb auf romantische Erfahrungen ungeahnten Ausma#223;es schlie#223;en lie#223;, so sie denn dem Opfer geh#246;rt hatte. Am Ende grub der alte Mann in der mulchigen Erde unter den Hecken herum und fand ein St#252;ck des zerschmetterten Kraniums samt Haut und Haaranhaftungen, das die Polizisten, nun sichtlich verlegen, #252;bersehen hatten.

Ohne zu z#246;gern oder Skrupel zu zeigen, besch#228;ftigte er sich mit dem gr#228;sslichen Beweisst#252;ck. Er hatte Menschen in jeglicher Todesphase und -pose gesehen: eine Dirne aus Cheapside mit durchtrenntem Hals, kopf#252;ber eine Treppe am Themseufer hinuntergest#252;rzt, Blut im Mund und in den Augenh#246;hlen; ein entf#252;hrtes Kind, gr#252;n wie ein Wassergeist, in ein Kanalrohr gestopft; die papieren blasse H#252;lle eines Pension#228;rs, #252;ber einen Zeitraum von zw#246;lf Jahren mit Arsen vergiftet; ein ausgebleichtes Skelett, das, von Raubv#246;geln, Hunden und zahllosen Insekten gepl#252;ndert, im Wald klapperte, die zerfetzte Kleidung flatterte wie eine Fahne im Wind; eine Hand voll Zahn- und Knochenst#252;ckchen auf einer Schaufel blasser, inkriminierender Asche. An dem schiefen X, das der Tod in den Dreck von Hallows Lane gekritzelt hatte, war nichts Bemerkenswertes, ganz und gar nichts.

Schlie#223;lich verstaute der alte Mann seine Lupe und richtete sich so weit auf, wie ihm m#246;glich war. Zum letzten Mal begutachtete er die Sachlage: die Hecken, der MG unter seiner Staubdecke, das Verhalten der Saatkr#228;hen, die Richtung, die der aus dem Schornstein des Pfarrhauses quellende Rauch nahm. Dann drehte er sich zu dem jungen Inspector um und musterte ihn ausgiebig, ohne etwas zu sagen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Sandy Bellows’ Enkel. Bisher hatte der alte Mann von der Frage abgesehen, ob der Gro#223;vater des Inspectors noch lebte. Er wusste nur zu gut, wie die Antwort lauten w#252;rde.

»Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte der alte Mann. »Erstklassig.«

Der Inspector l#228;chelte, und sein Blick wanderte hin#252;ber zu dem m#252;rrischen Constable Quint, der neben dem kleinen gr#252;nen Sportwagen stand. Der Constable zog an der Spitze seines Schnurrbarts und schaute finster auf die klebrige, purpurrote Pf#252;tze zu seinen F#252;#223;en.

»Shane wurde tats#228;chlich mit beachtlicher Kraft von hinten niedergeschlagen; da liegen Sie richtig. Sagen Sie mir, Inspector, wie bringen Sie das mit Ihrer Theorie #252;berein, der Verstorbene habe den jungen Mr Panicker beim Stehlen des Papageis #252;berrascht?«

Bellows wollte etwas sagen, gab stattdessen aber einen kurzen, m#252;den Seufzer von sich und sch#252;ttelte den Kopf. DC Quint strich den Schnurrbart nach unten, um das L#228;cheln zu verbergen, das sich auf seinen Lippen breit machte.

»Verteilung und H#228;ufigkeit der Schuhabdr#252;cke legen nahe«, fuhr der alte Mann fort, »dass Mr Shane sich in dem Augenblick, als der Schlag ihn traf, mit einiger Hast bewegte und etwas in der linken Hand trug, ich w#252;rde meinen, etwas ziemlich Schweres. Da Ihre Leute seinen Reisekoffer und seine gesamte Habe am Gartentor gefunden haben, als h#228;tte das Gep#228;ck auf die Verladung in den Kofferraum des Fahrzeugs gewartet, und da der Vogelk#228;fig nirgends aufzutreiben ist, halte ich die Schlussfolgerung f#252;r vertretbar, dass Shane, als er ermordet wurde, fliehen wollte, und zwar mit dem Vogelk#228;fig. Vermutlich befand sich der Vogel darin, obgleich ich meine, dass ein gr#252;ndliches Absuchen der Gegend erfolgen sollte, und zwar bald.«

Der junge Inspector drehte sich zu DC Quint um und nickte einmal. Constable Quint lie#223; seinen Schnurrbart los. Er schaute entgeistert.

»Bei allem Respekt, Sir, aber Sie k#246;nnen doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich wertvolle Zeit verschwende, indem ich in die B#228;ume starre und einen …«

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen, Detective Constable«, sagte der alte Mann zwinkernd. Er war nicht geneigt, seine Hypothese – nat#252;rlich nur eine von vielen – darzulegen, dass Bruno, der Graupapagei, geschickt genug sein k#246;nnte, um vor seinem H#228;scher zu fliehen. M#228;nner, insbesondere Polizisten, neigten dazu, Tiere in ihrer F#228;higkeit zu untersch#228;tzen, mit oft beachtlicher Chuzpe die widerw#228;rtigsten Verbrechen und wagemutigsten Kunstst#252;cke durchzuf#252;hren. »Die Schwanzfedern sind nicht zu #252;bersehen.«

Einen Augenblick lang schien Constable Quint nicht in der Lage, die Muskulatur seines Kiefers unter Kontrolle zu bringen. Dann stapfte er den Weg hinunter auf den spalierges#228;umten Torweg zu, der zum Garten des Pfarrhauses f#252;hrte.

»Was Sie angeht …« Der alte Mann wandte sich an den Inspector. »Sie m#252;ssen versuchen, sich eigene Informationen #252;ber unser Opfer zu verschaffen. Nat#252;rlich will ich den Leichnam sehen. Ich vermute, dass wir m#246;glicherweise …«

Eine Frau schrie, anfangs eindrucksvoll, fast h#228;tte man sagen k#246;nnen, melodisch. Dann zerfiel ihr Schrei in eine Reihe kurzer, keuchender Kl#228;ffer:

Oh oh oh oh oh

Der Inspector lief los, sodass der alte Mann ihm schlurfend und humpelnd folgen musste. Im Garten befanden sich eine Reihe vertrauter Gegenst#228;nde und Lebewesen auf einer Gr#252;nfl#228;che, als habe man sie dort wie Jetons oder Schachfiguren des k#246;niglichen Zeitvertreibs zu einem bestimmten Behufe oder einem sich noch zu erschlie#223;enden Zweck gruppiert. Der alte Mann betrachtete alles und durchlebte einen Moment schwindelnden Schreckens, weil er weder die Anzahl absch#228;tzen noch sich an Namen oder Verwendungszweck erinnern konnte. Jede Faser seines K#246;rpers sp#252;rte, so wie man Schwerkraft oder Tr#228;gheit empfinden mochte, die Unausweichlichkeit seines Versagens. Der Sieg des Alters #252;ber seinen Verstand war kein schlichtes Abstumpfen oder Verlangsamen, sondern eine Vernichtung – als werde eine W#252;stenstadt unter tausend Jahren Treibsand begraben. Die Zeit hatte das kunstvolle Muster seines Intellekts ausgebleicht und nur einen blanken wei#223;en Knochen zur#252;ckgelassen. Der alte Mann bef#252;rchtete, ihm k#246;nne #252;bel werden, und er hob den Knauf seines Stocks an den Mund. Das Messing war kalt an seinen Lippen. Augenblicklich schien der Schreck abzuflauen; das Bewusstsein sammelte sich um den brutalen Geschmack des Metalls, und unvermittelt stellte der alte Mann mit unaussprechlicher Erleichterung fest, dass er lediglich die beiden Polizisten Bellows und Quint, Mr und Mrs Panicker neben der Vogeltr#228;nke, einen gut aussehenden Juden in schwarzem Anzug, eine Sonnenuhr, einen Holzstuhl und einen Wei#223;dornbusch in #252;ppiger Bl#252;te vor sich hatte. Alle schauten zum riedgedeckten Dachfirst des Pfarrhauses empor, wo sich die letzte noch im Spiel befindliche Figur aufhielt.

»Junger Mann, komm da sofort herunter!«

Eine Frau schrie, …, fast h#228;tte man sagen k#246;nnen, melodisch.


Die Stimme geh#246;rte Mr Panicker, der nach Ansicht des alten Mannes wesentlich intelligenter als ein durchschnittlicher Landpfarrer war, aber wesentlich weniger geeignet, sich um die Seelen seiner Sch#228;fchen zu k#252;mmern. Mr Panicker ging ein, zwei Schritte zur#252;ck, als wolle er einen Punkt finden, von dem aus er den Jungen auf dem Dach besser mit einem unheilvollen Blick bannen konnte. Aber die Augen des Pfarrers sind viel zu gro#223; und kummervoll, dachte der alte Mann, als dass dies funktionieren w#252;rde.

»He, Kleiner«, rief Constable Quint nach oben. »So wirst du dir den Hals brechen!«

Aufrecht stand der Junge da, die Arme seitlich am K#246;rper, die F#252;#223;e eng nebeneinander, und schwankte auf dem Drehpunkt seiner Abs#228;tze. Er machte keinen traurigen oder verspielten Eindruck, sondern sah schlicht auf seine Schuhe oder auf den Boden weiter unten hinab. Der alte Mann fragte sich, ob er eventuell hinaufgeklettert war, um seinen Papagei zu suchen. Vielleicht hatte der Vogel in der Vergangenheit des #214;fteren Zuflucht auf D#228;chern gefunden.

»Eine Leiter!«, sagte der Inspector.

Der Junge verlor den Halt und rutschte auf dem Hosenboden den langen Riedhang des Daches hinunter auf die Regenrinne zu. Erneut stie#223; Mrs Panicker einen Schrei aus. Im letzten Augenblick bekam der Junge zwei F#228;uste voller Stroh zu fassen und hielt sich daran fest. Mit einem Ruck wurde seine Fahrt gebremst, doch dann gab das Stroh unter seinen H#228;nden nach, und er segelte ins Leere, st#252;rzte nach unten und landete mit einem erschreckenden Knirschen, wie ein an Klippen zerschellendes Fass, auf dem gut aussehenden jungen Juden, der, nach dem Schnitt seines Anzugs zu urteilen, aus London stammte. Nach einem kurzen Moment der Benommenheit stand der Junge auf und sch#252;ttelte die H#228;nde, als kribbelten sie. Dann reichte er eine dem Mann, der b#228;uchlings auf dem Boden lag.

»Mr Kalb!«, rief Mrs Panicker und eilte, eine Hand auf die Halskette #252;ber ihrem Herzen gepresst, an die Seite des eleganten Londoners. »Du lieber Himmel, sind Sie verletzt?«

Mr Kalb ergriff die von dem Kind dargebotene Hand und tat so, als lasse er sich auf die F#252;#223;e ziehen. Obgleich er unter St#246;hnen zusammenfuhr, verlie#223; das Grinsen seine Lippen nicht eine Sekunde.

»Nicht allzu sehr. Vielleicht eine geprellte Rippe. Das ist gar nichts.«

Er streckte die Arme aus, und der Junge machte einen Schritt nach vorne und trat dazwischen. Sichtlich zusammenzuckend, hob Mr Kalb ihn in die H#246;he. Erst als der Junge sich in den Armen des Besuchers aus London wusste, lie#223; er aus Gr#252;nden, die der alte Mann zu gerne verstanden h#228;tte, seinen Gef#252;hlen freien Lauf und betrauerte unbeherrscht und hemmungslos, das Gesicht in Mr Kalbs Schulter verborgen, den Verlust seines Freundes.

Der alte Mann bahnte sich seinen Weg durch den Garten.

»Du da«, sagte er, »kennst du mich noch?«

Mit rotem, geschwollenem Gesicht schaute der Junge auf. Eine zarte Speichelbr#252;cke verband seine Nasenspitze mit dem Aufschlag von Mr Kalbs Jacke.

Der Inspector stellte dem alten Mann den Herrn mit dem traurigen Blick vom Hilfskomitee vor, Mr Martin Kalb. Mrs Panicker hatte sofort nach ihm schicken lassen, als Bruno am Morgen verschwunden war. Als Mr Kalb den Namen des Alten h#246;rte, flackerte in seinen Augen etwas auf, eine schwache Erinnerung. Er l#228;chelte und wandte sich an den Jungen.

»So«, sagte er in einem Deutsch, das der alte Mann mit einer kleinen Verz#246;gerung verstand, und dr#252;ckte dem Jungen ermutigend die Schulter, »dies ist der Mann, der deinen Vogel finden wird. Jetzt musst du dir keine Sorgen mehr machen.«

»Mrs Panicker«, sagte der alte Mann #252;ber die Schulter hinweg – der Frau wich s#228;mtliches Blut aus dem Gesicht, als h#228;tte er sie ohne Alibi ertappt, dabei hatte er sie keinen Moment lang verd#228;chtigt –, »ich m#246;chte mich mit Ihrem Sohn unterhalten. Ich bin #252;berzeugt, dass die Polizei nichts dagegen einzuwenden hat, wenn Sie mich mit einem sauberen Hemd und einer Schachtel Geb#228;ck begleiten.«