"Das letzte Rätsel" - читать интересную книгу автора (Chabon Michael)

Zur Erinnerung an Amanda Davis, die diese Zeilen als Erste las.



Es ist ein feiner Unterschied

zwischen Ermittlung und Erfindung.

Mary Joe Salter

3

Sie trafen ihn auf der Holzbank vor seiner Haust#252;r, wo er trotz Hitze mit Hut und Cape sa#223;, die sonnenverbrannten H#228;nde um den Knauf seines Schwarzdornstocks geklammert. Aufbruchbereit. Als h#228;tte er – aber das war unm#246;glich – auf sie gewartet. Sie mussten ihn auf der T#252;rschwelle erwischt haben, als er, die Stiefel geschn#252;rt, Kr#228;fte f#252;r einen sp#228;tmorgendlichen Marsch durch die Downs sammelte.

»Was sind Sie f#252;r einer?«, fragte er Inspector Bellows. Seine Augen waren unglaublich hell. Seine gro#223;e Nase bebte, als nehme er die Witterung seines Besuchs auf. »Heraus mit der Sprache!«

»Bellows«, sagte der Inspector. »Detective Inspector Michael Bellows. Es tut mir Leid, Sie zu bel#228;stigen, Sir. Aber ich bin neu auf der Stelle hier unten, arbeite mich sozusagen noch ein und bin weit davon entfernt, meine F#228;higkeiten zu #252;bersch#228;tzen.«

Bei der letzten Behauptung r#228;usperte sich der Begleiter des Inspectors, Detective Constable Quint, und richtete den Blick h#246;flich in die Ferne.

»Bellows … ich kannte Ihren Vater«, behauptete der alte Mann. Wackeliger Kopf auf d#252;rrem Hals. Auf den Wangen Blut und Pflaster von der hastigen Rasur alter M#228;nner. »Gewiss doch. Im West End. Rote Haare, rotblonder Schnauzer. Spezialisiert auf Betr#252;ger, ich erinnere mich. Nicht ohne Talent, m#246;chte ich meinen.«

»Sandy Bellows«, sagte der Inspector. »Mein Gro#223;vater, um genau zu sein. Wie oft habe ich ihn in den h#246;chsten T#246;nen von Ihnen sprechen h#246;ren, Sir.«

Vielleicht nicht ganz so oft, dachte der Inspector, wie ich ihn deinen Namen habe verfluchen h#246;ren.

Der alte Mann nickte ernst. Das scharfe Auge des Inspectors registrierte eine fl#252;chtige Traurigkeit, eine aufflackernde Erinnerung, die kurz #252;ber das Gesicht des Alten strich.

»Ich kenne sehr viele Polizisten«, sagte er. »Sehr viele.« Er setzte eine heitere Miene auf. »Aber es ist immer wieder eine Freude, einen neuen kennen zu lernen. Und das ist Detective Constable … Quint, nehme ich an?«

Nun richtete er seinen Raubvogelblick auf den Constable, einen d#252;steren, m#252;rrischen Kerl mit einer Kartoffelnase. Wie DC Quint nur selten unterlie#223; kundzutun, hatte er sehr am letzten Detective Inspector gehangen, der traurigerweise verschieden, aber offenbar ein Verfechter der soliden alten Polizeimethoden gewesen war. Quint tippte sich mit dem Finger an die Hutkrempe. Kein gespr#228;chiger Zeitgenosse, dieser DC Quint.

»Nun, wer ist gestorben und wie?«, fragte der alte Mann.

»Ein Mann namens Shane, Sir. Schlag auf den Hinterkopf mit stumpfem Gegenstand.«

Der alte Mann wirkte unbeeindruckt. Vielleicht sogar entt#228;uscht.

»Aha«, sagte er. »Shane, durch Schlag auf Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Verstehe.«

Vielleicht hat er inzwischen doch eine Schraube locker, dachte der Inspector. Ist nicht mehr derselbe, wie Quint sich ausgedr#252;ckt hatte. Ein Jammer.

»Ich versichere Ihnen, Inspector, dass ich nicht im Geringsten senil bin«, sagte der Alte. Er hatte die Gedanken des Inspectors gelesen; nein, das war unm#246;glich. Doch vielleicht seine Miene, seine K#246;rperhaltung gedeutet. »Aber momentan ist die Lage in den Bienenst#246;cken heikel. Es gibt eine, wenn Sie so wollen, Krise. Ich kann die Bienen auf keinen Fall f#252;r ein allt#228;gliches Verbrechen im Stich lassen.«

Bellows warf seinem Constable einen kurzen Blick zu. Der Inspector war so jung und Mord in den South Downs so selten, dass beide Polizisten der Ansicht waren, es habe durchaus etwas nicht Allt#228;gliches, wenn einem Mann hinter dem Pfarrhaus mit einem Sch#252;rhaken oder einem Splintholz der Sch#228;del eingeschlagen wurde.

»Dieser Shane war bewaffnet, Sir«, sagte DC Quint. »Hatte eine Webley dabei, eine Armeepistole, obwohl er behauptete, und soweit wir sagen k#246;nnen, trifft das auch zu, er w#228;re lediglich Handlungsreisender in Sachen …« Quint zog ein kleines in #214;ltuch geschlagenes Notizbuch aus der Tasche und schaute nach. Der Inspector hatte den Anblick dieses Notizbuches mit seiner sorgf#228;ltigen Bestandsaufnahme v#246;llig bedeutungsloser Fakten bereits hassen gelernt. »… in Sachen Melkmaschinen und Molkereiausstattung.«

»Schlag von hinten«, sagte der Inspector, »offensichtlich. Mitten in der Nacht, als er gerade in sein Automobil steigen wollte. Alle Taschen gepackt, wollte scheinbar ohne eine Erkl#228;rung oder ein Wort des Abschieds verschwinden, obwohl er noch eine Woche zuvor zwei Monatsmieten im Voraus an das Pfarrhaus entrichtet hatte.«

»Das Pfarrhaus, ah, verstehe.« M#252;de schloss der alte Mann die Augen, als seien die Fakten dieses Falls nicht nur allt#228;glich, sondern einschl#228;fernd. »Und zweifellos haben Sie unbesonnenerweise, da Sie in dieser Sache keinen sinnvollen Ratschlag erhalten haben d#252;rften, den voreiligen Entschluss gefasst, den jungen Mr Panicker f#252;r das Verbrechen in Haft zu nehmen.«

Obwohl Inspector Bellows bewusst war, dass er sich wie eine Figur in einer Stummfilmkom#246;die benahm, musste er besch#228;mt feststellen, dass er nicht umhinkonnte, einen weiteren bel#228;mmerten Blick mit seinem Constable auszutauschen. Um zehn Uhr morgens war Reggie Panicker festgenommen worden, drei Stunden nachdem die Leiche von Richard Woolsey Shane aus Sevenoaks, Kent, auf dem Pfad hinter dem Pfarrhaus gefunden worden war, wo der Verstorbene seinen 1933er MG Midget geparkt hatte.

»Ein Verbrechen«, fuhr der alte Mann fort, »f#252;r das der bedauernswerte junge Mann zu gegebener Zeit geh#228;ngt werden wird. Seine Mutter wird weinen, und die Welt wird weiter blind durchs Universum trudeln, und am Ende wird unser Mr Shane trotz allem tot sein. Aber bis dahin, Inspector, muss Nummer vier umgeweiselt werden.«

Er wedelte mit seiner langfingrigen, seesterngleichen Hand voller Warzen und Altersflecken und entlie#223; sie. Schickte sie fort. Er klopfte die Taschen seines knittrigen Anzugs ab: suchte seine Pfeife.

»Ein Papagei ist verschwunden!«, versuchte es Inspector Michael Bellows hilflos in der Hoffnung, dieses Bonbon k#246;nne dem Verbrechen in der unergr#252;ndlichen Wertsch#228;tzung des Alten einen gewissen Glanz verleihen. »Und das hier haben wir beim Sohn des Pfarrers gefunden!«

Aus der Brusttasche zog er die eselsohrige Visitenkarte von Mr Jos. Black, H#228;ndler f#252;r seltene und exotische V#246;gel, Club Row, London, und bot sie dem Alten an, der sie keines Blickes w#252;rdigte.

»Ein Papagei.« Bellows bemerkte, dass es ihm irgendwie gelungen war, den alten Mann nicht nur zu beeindrucken, sondern zu #252;berraschen. Und der Alte sah aus, als sei er begl#252;ckt, in diesen Zustand versetzt worden zu sein. »Aber nat#252;rlich. Ein Graupapagei. Eventuell in Besitz eines kleinen Jungen. Von ungef#228;hr neun Jahren. Deutscher Nationalit#228;t – und j#252;discher Herkunft, m#246;chte ich wetten – und nicht in der Lage zu sprechen.«

Jetzt w#228;re es eigentlich am Inspector gewesen, sich zu r#228;uspern. Emsig hatte DC Quint Einw#228;nde dagegen erhoben, den alten Mann in die Ermittlung einzubeziehen. Genau genommen ist er nicht mehr klar bei Verstand, Sir, das kann ich Ihnen versichern. Aber Inspector Bellows war zu baff, um sich h#228;misch zu freuen. Er kannte die Geschichten, die Legenden, die ber#252;hmten haneb#252;chenen Schlussfolgerungen, die der alte Mann in seiner Glanzzeit vollbracht hatte: mittels Zigarrenasche #252;berf#252;hrte M#246;rder, durch fehlendes Wachhundgebell denunzierte Pferdediebe. So sehr er sich auch bem#252;hte, gelang es dem Inspector nicht, von einem verschwundenen Papagei und einem Toten namens Shane mit durchl#252;ftetem Sch#228;del auf einen stummen kleinen deutschen Juden zu schlie#223;en. Und so verpasste er die Gelegenheit, seinem Constable eins auszuwischen.

Nun warf der Alte mit gesch#252;rzten Lippen einen Blick auf Mr Jos. Blacks Visitenkarte und hielt sie in unterschiedlichen Abst#228;nden zu seiner Nasenspitze, bis er eine geeignete Entfernung gefunden hatte.

»Ah«, machte er und nickte. »Unser Mr Shane #252;berraschte also den jungen Panicker, als der sich gerade anschickte, mit dem Haustier des armen Jungen, das er an diesen Mr Black zu verkaufen hoffte, zu verschwinden. Shane versuchte, ihn davon abzuhalten, und zahlte teuer f#252;r seinen Heldenmut. Fasse ich Ihre Sicht der Dinge treffend zusammen?«

Obwohl das in verk#252;rzter Form die vollst#228;ndige Theorie des Inspectors war, hatte ihn von Anfang an etwas daran gest#246;rt – an den Umst#228;nden des Mordes selbst – und ihn derart umgetrieben, dass er sich gegen den Rat seines Constables zu einem Besuch bei dem quasi legend#228;ren Freund und Widersacher der gesamten Polizeigeneration seines Gro#223;vaters aufgemacht hatte. Im Gro#223;en und Ganzen war ihm die Theorie eigentlich ganz vern#252;nftig erschienen. Doch der Tonfall des alten Mannes lie#223; sie so wahrscheinlich klingen, als wolle er die Tat einer Elfe zuschreiben.

»Offenbar gab es einen Wortwechsel zwischen den beiden«, sagte der Inspector und fuhr zusammen, als er merkte, dass ein uraltes Stottern aus der Zeit seiner Kindheit wieder an die Oberfl#228;che stieg. »Sie haben gestritten. Es kam zu Schl#228;gen.«

»Ja, ja. Nun, ich bezweifle nicht, dass Sie Recht haben.«

Der alte Mann verzog seinen runzligen Mund zu dem unehrlichsten L#228;cheln, das Inspector Bellows je gesehen hatte.

»Wirklich«, fuhr er fort, »es ist ein gro#223;es Gl#252;ck, dass Sie so wenig Unterst#252;tzung von mir ben#246;tigen, denn ich befinde mich, wie Sie wissen m#252;ssen, im Ruhestand. Und zwar seit dem 10. August 1914. Zum damaligen Zeitpunkt, das d#252;rfen Sie mir gerne glauben, war ich weitaus weniger hinf#228;llig als die welke H#252;lle, die Sie heute vor sich sehen.« Wie vor Gericht klopfte er mit seinem Stock gegen die T#252;rstufe. Sie waren entlassen. »Einen guten Tag.«

Und dann drehte der alte Mann mit einem Anflug seiner Schw#228;che f#252;rs Theatralische, die schon die Geduld des gro#223;v#228;terlichen Inspectors auf eine harte Probe gestellt und Schimpftiraden ausgel#246;st hatte, sein Gesicht der Sonne zu und schloss die Augen.

Eine Weile standen die beiden Polizisten da und betrachteten diese schamlose Simulation eines nachmitt#228;glichen Nickerchens. Dem Inspector kam der Gedanke, dass der alte Mann vielleicht gebeten werden wollte. Sein Blick streifte DC Quint. Den versponnenen Einsiedler dem#252;tig anzuflehen war zweifellos kein Schritt, zu dem sich sein verstorbener Vorg#228;nger je herabgelassen h#228;tte. Dennoch: Wie viel konnte man von einem solchen Mann lernen, wenn man nur – Die Augenlider schnellten hoch, und das L#228;cheln verh#228;rtete sich zu etwas Ehrlicherem, Roherem.

»Immer noch da?«, sagte der Alte.

»Sir … wenn ich …«

»Nun gut.« Der alte Mann lachte trocken glucksend in sich hinein. »Ich habe #252;ber die Bed#252;rfnisse meiner Bienen nachgedacht. Und ich glaube, ich werde ein paar Stunden er#252;brigen k#246;nnen. Folglich werde ich Ihnen helfen.« Er hob einen langen, mahnenden Finger. »Um den Papagei des Jungen zu finden.« Umst#228;ndlich und mit einem Gebaren, das von vorneherein jedes Hilfsangebot in die Schranken wies, hievte sich der alte Mann auf die F#252;#223;e, st#252;tzte sich schwer auf seinen vernarbten schwarzen Stock. »Wenn ich dabei zuf#228;llig auf den wahren M#246;rder sto#223;en sollte, nun, dann wird es f#252;r Sie umso besser sein.«